Alle meine Träume erfüllen sich

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Als Claire sich in den vermögenden Unternehmer Rick Fraser verliebt, wächst mit jedem Tag ihr Wunsch, dass Rick ihre zärtlichen Gefühle erwidert. Ihr sehnlichster Traum scheint tatsächlich in Erfüllung zu gehen: Denn Rick macht ihr aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag ...


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777258
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mom, darf ich Helen mit nach Hause nehmen? Wir möchten zusammen spielen! Und es wäre so schön, wenn sie auch zum Tee bei uns bleiben könnte …“

Claire sah in die bittenden blauen Augen ihrer sechsjährigen Tochter Lucy. Wie schon so oft in den vergangenen Wochen dachte Claire dankbar an die schicksalhafte Wende, die ihr Leben genommen hatte. Eine unbekannte Großtante war gestorben, und die Testamentsvollstrecker hatten Claire wie durch ein Wunder in der Riesenstadt London ausfindig gemacht und ihr mitgeteilt, dass sie ein Häuschen auf dem Lande geerbt hatte. So war Claire mit ihrer Tochter in den kleinen Ort Chadbury St. John gezogen.

Lucy war regelrecht aufgeblüht. Aus dem mageren, blassen Kind war ein rotwangiges, lebhaftes Geschöpf geworden, das jetzt sogar eine Freundin gefunden hatte. Die erste Freundin!

In London lebten Mutter und Tochter einsam und freudlos in einer grauen unpersönlichen Mietskaserne. Claire besaß damals gerade so viel Geld, dass es zum Wohnen und Essen reichte. Ihre Zukunft war ungewiss gewesen.

Und dann wurde ein Märchen wahr! Claire erbte das Häuschen und dazu noch eine kleine Monatsrente aus der Lebensversicherung ihrer Tante. Manchmal fiel es ihr direkt schwer, diesem Glück zu trauen. Sie fürchtete, dass alles nur ein schöner Traum war, aus dem sie bald erwachen würde …

Claire schüttelte den Kopf. „Heute nicht, Lucy. Helens Mutter wird sich Sorgen machen, wenn sie nicht nach Hause kommt. Das verstehst du doch, nicht wahr?“

„Aber Helen hat gar keine Mutter“, erwiderte Lucy eifrig. „Sie lebt bei ihrem Daddy, doch der ist nur selten zu Hause.“

Claire betrachtete Helen, die sich schüchtern an Lucy drängte. Das kleine Mädchen besaß große braune Augen, die ängstlich dreinblickten. Ihr feines braunes Haar war zu zwei unordentlichen Zöpfen geflochten. Das Kleid wirkte viel zu groß und hing formlos um den schmalen Körper.

Ob Helens Eltern geschieden sind, fragte sich Claire neugierig. Sie dachte an ihr eigenes Schicksal. Hier im Dorf akzeptierte man sie ohne Schwierigkeiten als junge Witwe. Claire hatte erfahren, dass dies durchaus nicht selbstverständlich war. Die meisten Leute zogen ihre eigenen Schlüsse, wenn sie einer jungen Frau mit Kind begegneten.

„Ach, Mom, bitte, lass Helen mitkommen“, drängte Lucy ungeduldig.

„Nein, Darling, nicht heute. Helen wird ganz bestimmt zu Hause erwartet.“

„Nur Mrs. Roberts ist da“, sagte Helen jetzt ganz traurig. „Sie gibt mir zum Tee immer nur Toast mit Butter. Niemals Kuchen oder Gummibärchen. Sie sagt, nur kleine Babys mögen Gummibärchen.“

Claire musste ein Lächeln unterdrücken. Gummibärchen waren Lucys große Leidenschaft, und Claire sorgte dafür, dass sie immer einen kleinen Vorrat im Hause hatte.

„Mrs. Roberts ist die Haushälterin von Helens Daddy“, erklärte Lucy mit wichtiger Miene. „Er ist viel unterwegs, wegen seiner Arbeit, und Mrs. Roberts passt auf Helen auf.“

„Sie kann mich nicht leiden“, bemerkte Helen mit ausdrucksloser Stimme.

Es überraschte Claire, dass dieses sechsjährige Mädchen schon mit der Resignation einer Erwachsenen sprach. Claire schaute das Kind noch einmal prüfend an. Sie spürte deutlich, dass Helen in jeder Beziehung vernachlässigt wurde.

Claire ergriff Lucys Hand und wandte sich zum Gehen. Aber als sie Helens traurigen Blick auffing, änderte sie ihre Meinung. „Wenn Helen nicht zu weit weg wohnt, dann können wir sie begleiten und Mrs. Roberts um Erlaubnis bitten“, meinte sie entschlossen.

Beide Mädchen sahen sie glückstrahlend an. Claire zögerte nicht lange, nahm auch Helen an die Hand, und gemeinsam gingen sie los.

Was mag das für ein Vater sein, der seine kleine Tochter ohne Begleitung nach Hause gehen lässt, dachte Claire. Gewiss, Chadbury St. John war ein kleiner Ort, doch sehr einsam gelegen. Und täglich standen Berichte von Verbrechen in den Zeitungen. Claire zitterte ein wenig, obgleich die Sonne noch warm schien. Achtzehn Jahre alt war sie damals, als Lucy gezeugt wurde. Nach dem Gesetz galt sie als Erwachsene. Tatsächlich aber lebte Claire wohl behütet und wurde von ihren Eltern, die sie stets vor der rauen Wirklichkeit beschützten, über alles geliebt. Vater und Mutter waren bei ihrer Geburt schon ein älteres Ehepaar. Claire hatte sie abgöttisch geliebt.

Dann passierte dieser schreckliche Unfall, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, der ihr die Eltern nahm, das Heim und eine gesicherte Existenz.

Ursprünglich wollten die Eltern Claire nach der Schule auf die Universität schicken. Aber nach dem furchtbaren Unglück besaß Claire weder die Mittel noch die Kraft, an eine akademische Ausbildung zu denken. Sie musste das kleine Haus verkaufen, um den Rest der Schulden zu tilgen. Von einer Minute zur anderen wurde Claire grausam aus der Geborgenheit ihres Elternhauses gerissen und in eine schwierige, neue Realität versetzt. Zu dem Schmerz über den Verlust der Eltern kam die Gewissheit einer ungewollten Schwangerschaft.

Als Claire nicht mehr weiter wusste, war sie in ihrer Verzweiflung zu ihrem alten Hausarzt gegangen. Er empfahl ihr unter den gegebenen Umständen einen sofortigen Abbruch der Schwangerschaft. Zuerst stimmte Claire zu. Aber als er sie im Krankenhaus anmelden wollte, war Claire in Tränen ausgebrochen und einfach davongelaufen.

Natürlich wurde alles dadurch noch schwieriger. Niemand konnte verstehen, dass Claire ihr Baby behalten wollte. So wurde sie zu allem übrigen Kummer immer einsamer. Aber sie bedauerte ihren Entschluss nicht. Als Lucy geboren wurde, reichten Claires Geldmittel noch für ein knappes Jahr. Danach musste sie Sozialhilfe in Anspruch nehmen und eine feuchte, hässliche kleine Wohnung beziehen. Nur die Liebe zu ihrem Kind ließ sie diese trostlose Umgebung ertragen. Als die Nachricht von der Erbschaft kam, hatte Claire an ein Wunder geglaubt.

Schwere Jahre der Bewährung lagen hinter ihr. Claire musste erkennen, dass das Leben unerträglich hart sein konnte. Aus dem naiven, jungen Mädchen war eine reife Frau geworden, die eine feine Antenne für das Leid entwickelt hatte. Gewiss begriff sie deshalb das kleine Mädchen neben sich so gut und bemerkte den stillen Kummer, der Helen quälte.

„Mom, Helen wohnt in diesem großen Haus mit dem weißen Tor!“ rief Lucy aufgeregt, als sie die Hauptstraße verließen und in einen Privatweg einbogen.

Claire kannte das Haus. Schon in der ersten Woche hatte sie mit Lucy ihre neue Umgebung erkundet. Helens Elternhaus war das schönste und auffallendste Gebäude im Ort, eine alte Villa aus der Tudor-Zeit, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erneuert, umgebaut und modernisiert worden war.

Claire spürte, wie sich Helens Finger in ihrer Hand verkrampften. Sie sah das Kind an und wusste sofort, dass Helen ihr Zuhause keinesfalls liebte.

„Wir dürfen nicht an der Haustür klingeln“, flüsterte Helen und sah Claire ängstlich an. „Mrs. Roberts erlaubt das nicht. Wir müssen den Hintereingang benutzen.“

Claire schwieg. Sie fand Mrs. Roberts Anweisung sehr merkwürdig. Zögernd gingen sie an gepflegten Blumenbeeten vorbei zum hinteren Eingang. Claire klingelte kurz.

Es dauerte einige Minuten, bis eine grauhaarige Frau mit misstrauischem Gesichtsausdruck die Tür öffnete.

„Sie sind gewiss Mrs. Roberts“, begann Claire. „Ich heiße Claire Richards. Meine Tochter Lucy und ich möchten Helen zum Tee einladen. Sind Sie damit einverstanden?“

Mrs. Roberts musterte Claire kritisch. Ihr Blick wanderte missbilligend über das alte T-Shirt und die ausgeblichenen Jeans. „Meinetwegen“, sagte sie schließlich mürrisch.

Claire fühlte sich unbehaglich. Sie hatte den ganzen Vormittag über im Garten gearbeitet und es nicht für nötig gehalten, andere Sachen anzuziehen.

„Aber bringen Sie das Mädchen rechtzeitig zurück“, sagte Mrs. Roberts warnend. „Ihr Vater kommt heute wieder. Es darf also nicht spät werden.“

„Keine Sorge. Helen wird ihren Daddy pünktlich begrüßen können“, versicherte Claire rasch.

„Das ist unwichtig“, widersprach Mrs. Roberts grob. „Auf ihren Vater wartet viel Arbeit. Dabei stört sie nur! Natürlich hätte die Mutter sie mitnehmen sollen. Aber offensichtlich war der zweite Mann dagegen.“ Mrs. Roberts Miene wurde weicher, dabei war es ganz klar, wem ihr Verständnis galt. „Also blieb die Last bei Mr. Fraser. Und mir. Wie oft habe ich Helens Vater schon gesagt, dass mir hier alles zu viel wird. Das große Haus. Der Garten. Das Kind. Er sollte wieder heiraten. Ein Mann wie er braucht eine Frau. Geld genug besitzt er ja!“ Mrs. Roberts verzog das Gesicht. Es machte sie nicht sympathischer. „Na ja, gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man. Vermutlich sind ihm alle Frauen nach dieser Enttäuschung zuwider. Seine Exfrau machte sich jedenfalls nichts aus ihr. Auch ihr Vater hat lieber Ruhe – und seine Arbeit.“

Claire legte liebevoll den Arm um Helens schmale Schulter. Nur mit Mühe konnte sie ihre Empörung unterdrücken. Wie gemein Mrs. Roberts in Helens Gegenwart redete. So, als ob das Kind ein überflüssiger, lästiger Gegenstand sei. Laut sagte Claire: „Ich bringe Helen nach dem Tee zurück. Sollte ihr Vater vorher kommen, ich wohne bei den New Cottages, Haus Nummer fünf.“ Sie nickte kurz mit dem Kopf und verließ rasch mit den beiden Kindern das Grundstück. Helen hielt den Kopf zur Seite gewandt, und Claire war sicher, dass sie Tränen in den Augen hatte.

Schweigend überquerte Claire mit den Kindern die Hauptstraße und bog dann in eine Nebengasse ein. Sie versuchte, gelassen auszusehen. Innerlich zitterte sie jedoch immer noch vor Wut über diese herzlose Mrs. Roberts.

„Mrs. Roberts lügt“, flüsterte Helen mit schwankender Stimme. „Mein Daddy hat mich doch lieb! Sie sagt das bloß, weil sie mich nicht leiden kann. Aber – aber meine Mom mochte mich nicht. Das ist wahr. Sonst hätte sie mich ja nicht verlassen, oder?“ Helen sah Claire Hilfe suchend an.

Claire blickte stumm in die großen fragenden Kinderaugen und fühlte sich auf einmal sehr hilflos. Was sollte sie Helen antworten? Sanft drückte sie die Hand des kleinen Mädchens. „Ich finde es prima, dass Lucy und du Freundinnen geworden seid. Ihr ergänzt euch fabelhaft. Lucy hat keinen Daddy und du keine Mutter.“ Claire bemerkte erleichtert, dass Helens Gesichtchen aufleuchtete und auch Lucy wieder fröhlich aussah. Bald schon plapperten die Kinder, als wenn es niemals einen Kummer gegeben hätte.

Claire erlaubte, dass die beiden bis zum Tee in den Garten gingen. Sie selbst saß in der Küche, hörte das unbeschwerte, fröhliche Kinderlachen, während die Gedanken auf sie einstürmten. Vor ihr lag der letzte Kontoauszug. Durch die Erbschaft des Hauses und der kleinen Rente verfiel der Anspruch auf staatliche Unterstützung. Die monatliche Rentensumme deckte gerade ihren Lebensunterhalt. Sparsames Wirtschaften war ihr noch nie schwer gefallen, weil sie es seit Jahren nicht anders kannte.

Claire seufzte. Wie gern würde sie einen Halbtagsjob annehmen. Aber sie hatte ja nichts gelernt, und selbst wenn sie eine Ausbildung vorzuweisen hätte, hier im Dorf gab es keine Arbeit. Sie hätte nach Bath fahren müssen, das zwanzig Meilen entfernt lag.

Claire schüttelte den Kopf und stand auf. Es wurde Zeit, den Tee vorzubereiten. Voller Stolz blickte Claire auf mehrere Gläser mit eingemachtem Obst. Im Garten standen einige Bäume, die Claire am Wochenende abgeerntet hatte. Mit viel Freude hatte sie nach alten Rezepten ihrer Mutter die Früchte verarbeitet.

Als Claire zur Welt kam, war ihre Mutter schon über vierzig und ihr Vater sogar noch älter. Sie verlebte eine wunderschöne Kindheit. Die Liebe ihrer Eltern umhüllte ihr Leben wie eine wärmende Sonne. Fassungslos hatte Claire dem Polizeibeamten zugehört, als er ihr von dem tödlichen Unfall der Eltern berichtete. Ein betrunkener Fahrer hatte ihn verursacht. Damals glaubte Claire, ihre Kraft sei mit dem Tod der Eltern erloschen. Sie hatte den Lebensmut verloren, bis …

„Mom, wir haben Hunger!“ Lucys lebhafte Stimme riss Claire aus den Gedanken. Zufrieden sah sie den beiden Mädchen zu. Mit gesundem Appetit aßen sie gerade gebutterten Toast mit Spiegeleiern.

„Ihr mögt doch bestimmt noch etwas Süßes“, meinte Claire lachend und holte zur Begeisterung der Kinder selbst gebackene Plätzchen mit Aprikosenmarmelade hervor. Die Kuchenteller garnierte Claire mit bunten Gummibärchen.

„Mrs. Roberts backt niemals Kuchen oder Biskuits. Sie sagt, Süßigkeiten seien ungesund“, beklagte sich Helen und stopfte viele Gummibärchen auf einmal in den Mund.

Claire versuchte, ernst zu bleiben. Auch sie war der Meinung, dass Gummibärchen nicht unbedingt zu den gesündesten Lebensmitteln gehörten. Aber die Freude, die sie den Kindern bereiteten, fand sie wichtiger.

Zum Schluss bekam jedes Kind noch ein Glas frische Milch. „Damit ihr gesund bleibt“, sagte Claire und lachte verschmitzt. Die Mädchen stürzten die Milch hinunter, dabei verschüttete Helen ein wenig von der weißen Flüssigkeit. Erstarrt hielt sie inne und sah Claire mit schreckensweiten Augen an.

„Was hast du, Helen? Das bisschen Milch wische ich ganz schnell wieder weg. Es ist nicht schlimm, wenn mal etwas daneben tropft“, sagte Claire lächelnd und strich Helen beruhigend übers Haar. Das arme Kind, dachte sie, was ist das nur für ein Leben in einem großen, leeren Haus zusammen mit dieser unangenehmen Mrs. Roberts!

„So, ihr beiden, jetzt geht bitte hinauf ins Bad, putzt eure Zähne und wascht die Hände. Lucy, du weißt, wo die neue blaue Zahnbürste liegt. Helen kann sie benutzen“, erklärte Claire und stellte das Geschirr zusammen.

Das Haus war sehr klein, aber gemütlich. Im Erdgeschoss gab es nur ein Wohnzimmer und die geräumige Küche mit Essplatz. Vom Flur aus führte eine Holztreppe ins Obergeschoss. Zwei kleine Schlafzimmer und ein winziges Bad nahmen den Raum ein.

Claire störte die Enge nicht. Sie liebte das kleine Haus von Herzen. Es war ihr erstes eigenes Heim seit Lucys Geburt und dem Verkauf ihres Elternhauses. Wenn sie hier aus den schmalen Fenstern sah, konnte sie über sanfte Wiesen oder auf die Straße hinausblicken, wo zahlreiche ähnliche Häuschen aus dem achtzehnten Jahrhundert dicht nebeneinander standen. Jedes Haus besaß einen Vorgarten mit vielen bunten blühenden Blumen. Augenblicklich war es die Zeit der Dahlien und Astern …

Chadbury St. John war ein Ort, der noch das Gefühl einer intakten Umwelt vermittelte. Allerdings nur für die älteren Menschen und die Kinder. Junge Leute, die eine Ausbildung oder einen Job suchten, mussten in die Städte ziehen. Im Dorf gab es keine Arbeitsplätze. Man redete davon, dass die wenigen Behörden aufgelöst und in größere Gemeinden integriert werden sollten. Es gab noch eine kleine Post, ein Lebensmittelgeschäft mit Kurz- und Schreibwaren, eine Gaststätte und die Schule. Claire runzelte die Stirn. Sie hoffte inständig, dass man wenigstens die Schule behielt, zumal sie noch Kinder aus zwei Nachbarorten aufnahm. Lucy fühlte sich so wohl dort. Die Lehrer waren freundlich und verstanden es, das Interesse der Kinder am Lernen zu wecken. Aber wenn es tatsächlich zur Schließung kommen würde, wohin dann mit Lucy?

Claire erwachte aus ihren Gedanken, als draußen jemand heftig an die Tür klopfte. Sie ging durch den Flur und öffnete. Vor ihr stand ein groß gewachsener Mann, zu dem sie aufblicken musste. Er trug einen grauen maßgeschneiderten Anzug mit passender Krawatte. Das dichte Haar des Fremden schimmerte schwarz. Er besaß große graue Augen und schaute streng auf Claire herab. Verwirrt fuhr sie über ihr zerzaustes kastanienbraunes Haar. Sie spürte, dass sie verlegen wurde, weil er sie so kritisch musterte, und schämte sich der alten, engen Jeans und des T-Shirts, das ihren zierlichen Oberkörper mehr enthüllte als verbarg. Es war lange her, dass ein Mann sie eingehend und abschätzend betrachtet hatte.

Der Mann bemerkte ihre Hilflosigkeit. „Mir wurde gesagt, dass sich meine Tochter bei Ihnen aufhält?“ eröffnete er das Gespräch.

Claire wunderte sich sehr über die schroff gestellte Frage. Sie hatte doch die Erlaubnis von Mrs. Roberts eingeholt. „Ihre Tochter …“

„Ja, meine Tochter“, unterbrach der Mann sie ungeduldig. Er sah jetzt richtig böse aus. „Mrs. Roberts sagte mir, dass sie sich …“

„Ja, ja, natürlich. Sie sind Helens Vater.“ Dieser Mann brachte Claire völlig aus dem Gleichgewicht und ohne zu wissen warum, erfassten sie Schuldgefühle.

„Mein Name ist Rick Fraser“, stellte sich der Mann, jetzt etwas verbindlicher, vor. „Und wer sind Sie?“

„Claire Richards.“

„Mom, wir sind schon fertig mit Zähneputzen und Händewaschen.“ Lucy kam laut polternd die Treppe hinunter. Als sie den Fremden erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen, hob den Kopf und starrte den großen Mann lange verlegen an. Helen, die kurz nach ihr erschien, rannte freudestrahlend auf ihn zu.

„Daddy, das ist Lucy, meine beste Freundin“, rief sie lebhaft. „Stell dir vor, zum Tee gab es Plätzchen mit Marmelade. Lucys Mutter hat alles selbst gemacht …“ Helen verstummte plötzlich. Claire bemerkte, wie sich die Augen des Kindes fragend weiteten. „Daddy, Mrs. Roberts hat Lucys Mutter erzählt, dass du mich nicht magst. Sie lügt doch, nicht wahr, Daddy?“ Helen schien den Tränen nahe zu sein.

Die grauen Augen des Mannes spiegelten Wut und Ärger wider. Rick Fraser hob Helen auf den Arm.

„Es geht mich natürlich nichts an“, begann Claire impulsiv, „aber warum suchen Sie nicht eine gute Erzieherin für Helen? Dieses Kind braucht …“ Claire schwieg sofort, als sie in Mr. Frasers Augen blickte. Sein Gesicht wirkte jetzt undurchdringlich. Er betrat den Flur und setzte Helen wieder ab.

„Helen, du kannst noch mit – mit Lucy ein wenig in den Garten gehen. Ich möchte mit Lucys Mutter etwas besprechen.“

Artig folgten die Mädchen seinem Vorschlag. Claire blieb nichts anderes übrig, als Mr. Fraser ins Wohnzimmer zu bitten. Er setzte sich in den angebotenen Sessel, und Claire sah, dass er müde und erschöpft wirkte. Wie alt mochte er sein? Anfang Dreißig vielleicht. Ob er Geschäftsmann war? So sah er eigentlich nicht aus. Er besaß einen sportlichen, muskulösen Körper.

„Es tut mir Leid, Mrs. Richards, dass Ihnen Helen zur Last gefallen ist“, begann Mr. Fraser zerstreut. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts und holte eine lederne Brieftasche hervor. „Bitte, gestatten Sie, dass ich Ihnen die Auslagen ersetze.“ Claire erschrak. Mr. Fraser wollte ihr doch tatsächlich Geld zustecken! Dieser Mann musste sich sehr großartig vorkommen!

„Helen bedeutete keine Last für mich“, erwiderte Claire abweisend. „Meine Tochter Lucy wollte sie unbedingt zum Tee einladen. Deshalb bat ich Mrs. Roberts um Erlaubnis.“

Mr. Fraser steckte die Brieftasche langsam wieder weg. „Sie sind Alleinerzieherin, Mrs. Richards?“ fragte er misstrauisch.

„Ja. Aber was hat das …“

„Gut. Dann möchte ich hier und jetzt etwas klarstellen. Es interessiert mich nicht, was Mrs. Roberts Ihnen erzählt haben mag. Aber seien Sie versichert, dass ich weder eine Mutter für Helen noch eine zweite Frau für mich suche.“

Claire brauchte eine Weile, bis sie die volle Bedeutung der Worte verstand. Dann errötete sie vor Wut über eine solche Unterstellung. Dieser arrogante Mann glaubte allen Ernstes, dass sie Helen eingeladen hatte, um an ihn heranzukommen! Claire trat einen Schritt näher und sah Mr. Fraser direkt ins Gesicht. Nein, sie täuschte sich nicht. Er erwiderte ihren prüfenden Blick mit Kälte und Ablehnung.

„Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, Mrs. Richards?“ Fraser erhob sich und rückte seine Krawatte zurecht.

„Sehr klar, Mr. Fraser“, antwortete Claire mit eisiger Stimme. Ihre grünen Augen funkelten vor unterdrückter Wut. Unbewusst schüttelte sie die rotbraunen Locken. Als sie erneut zu ihm aufsah, entdeckte sie in seinem Blick einen merkwürdigen Ausdruck. Zynismus und Zweifel, Misstrauen und ein gewisses Interesse konnte sie erkennen.

Claire fühlte sich erschöpft. „Ich kann Ihnen versichern, dass Sie von mir nichts Derartiges zu befürchten haben“, meinte sie ruhig. „Das Allerletzte, was ich suche, wäre ein Ehemann. Lucy und ich sind sehr glücklich und zufrieden miteinander. Wir kommen allein zurecht. Konnte ich mich ebenfalls klar genug ausdrücken, Mr. Fraser?“

Er sah sich schweigend in dem kleinen Wohnzimmer um, und Claire wurde es zunehmend unbehaglicher. Sie wünschte nichts sehnlicher, als dass Mr. Fraser endlich verschwand. Die Art, wie er sich im Zimmer umblickte, machte sie verlegen. Claire liebte die altmodischen Möbel ihrer verstorbenen Großtante. Sie strahlten Behaglichkeit und Atmosphäre aus. Sie spürte Rick Frasers kritischen Blick, mit dem er sie jetzt wieder anschaute.

„Übrigens habe ich Helen mitgenommen, weil sie mir Leid tat“, sagte Claire.

Fraser bedachte ihre Worte mit einem wütenden Blick.

„Ja, sie tat mir sehr Leid“, fuhr Claire unbeirrt und mit ruhiger Stimme fort, „auch wenn Ihnen das nicht gefällt, Mr. Fraser. Helen mag keine materielle Not kennen, aber sie ist einsam und für ihr Alter zu viel allein. Mrs. Roberts scheint ausgesprochen kinderfeindlich zu sein. Ich hatte den Eindruck, dass Helen sich vor ihr fürchtet.“

Rick Frasers Gesichtszüge wirkten wie versteinert. „Helen braucht Ihr Mitleid nicht“, antwortete er scharf. „Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie meine Tochter hereinholen könnten. Es wird Zeit, dass wir gehen.“

Helen verstand natürlich nichts von der Spannung zwischen ihrem Vater und Lucys Mutter. Scheu legte sie zum Abschied ihre dünnen Ärmchen um Claire und drückte sich hastig an sie. Claire erwiderte die Umarmung trotz der kalten Blicke, mit denen Mr. Fraser die Szene beobachtete.

Während Claire Lucy zu Bett brachte, schwelgte das kleine Mädchen in seliger Vorfreude auf gemeinsame Abenteuer, die sie mit ihrer neuen Freundin Helen erleben wollte. Gut, dass morgen Samstag ist, dachte Claire. Die Schule ist geschlossen, und Lucy wird Helen erst am Montag wiedersehen. Wahrscheinlich hat Mr. Fraser Helen inzwischen schon erklärt, dass sie den Kontakt zu Lucy abbrechen muss.

Immer wieder schüttelte Claire verständnislos den Kopf, sobald ihr Rick Frasers Ängste einfielen. Wenn er wüsste, wie wenig er von mir zu befürchten hat. Niemals werde ich den Wunsch haben, eine Beziehung zu einem Mann aufzunehmen.

Claire hatte bisher nur eine einzige sexuelle Erfahrung hinter sich – von der sie schwanger wurde. Sosehr sie das Kind auch liebte, an den Vorgang seiner Zeugung konnte Claire nur mit Schaudern denken. Sie wollte niemals wieder eine intime Beziehung eingehen und verdrängte deshalb den Gedanken an eine Ehe. Sex spielte in Claires Leben überhaupt keine Rolle. Ihre Abneigung war so groß, dass sie sich noch nicht einmal in Gedanken damit befasste.

Nach Lucys Geburt hatte ihr der Arzt eine Therapie empfohlen. Aber Claire konnte nicht mit einer fremden Person über ihre intimsten Gefühle sprechen. Ja, sie hatte noch nicht einmal die Kraft, über dieses Kapitel nachzudenken. Wenn sie weiterleben wollte, musste sie das Vergangene ruhen lassen. Und genau das hatte sie bisher getan.

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
Mehr erfahren