Als die Erde bebte

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Als ein Erdbeben Ambers Welt aus den Angeln hebt, findet sie in den Armen ihres Retters Dax nicht nur Trost. Denn zwischen Gefahr und Zärtlichkeit entflammt ein Feuer der Leidenschaft, das Amber zu verbrennen droht! Soll sie es wagen und mit einem völlig Fremden schlafen?


  • Erscheinungstag 26.01.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745585
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Ort war nicht das, was Amber Riggs erwartet hatte. Doch obwohl sie allein war, blieb ihre Miene beherrscht und verriet nichts von ihrer Enttäuschung. Kontrolle war alles. Ohne sie konnte man kein gutes Geschäft machen, und Amber liebte es, gute Geschäfte zu machen.

Sie stieg aus dem Wagen, ohne Make-up oder Frisur im Rückspiegel zu kontrollieren. Es war keine Eitelkeit, die ihr sagte, dass sie gepflegt aussah. Es war einfach eine Tatsache. Mit Bedacht hatte sie dezente Kleidung und ein ebenso dezentes Make-up gewählt, damit man sie ernst nahm.

Wäre sie eitel, würde sie sich noch immer in dem Lob sonnen, das man ihr heute Morgen in der Zeitung gezollt hatte: Eine ausgezeichnete Maklerin. Die beste im San Diego County. Niemand übervorteilt Amber Riggs.

Wunderbar fürs Geschäft, doch ansonsten bedeutete ihr so eine Lobeshymne nicht viel. Amber liebte ihre Arbeit, und weil sie sie gern tat, brauchte sie von niemandem Anerkennung.

Zumindest redete sie sich das ein.

Jetzt blickte sie auf das verlassene Lagergebäude vor sich und runzelte die Stirn. So gut sie in ihrem Job auch war, aber dieses Objekt an den Mann zu bringen war schon fast unmöglich. Es lag viel zu weit außerhalb.

Doch sie betrachtete es als eine Herausforderung. Immerhin hatte der Besitzer es ihr überlassen, ob sie es vermietete oder verkaufte. Das vergrößerte ihre Möglichkeiten.

Ihre hohen Absätze klapperten laut auf dem Asphalt, als sie näher an das Gebäude heranging. Es verfügte über zwei Stockwerke und bestand größtenteils aus Backstein, was ihm einen gewissen Charme verlieh. Das war gut. Genauso das Kellergeschoss, in dem, wie sie wusste, Büros untergebracht waren. Sie seufzte, als sie hochblickte und das undichte Dach und das teilweise verfallene Mauerwerk bemerkte. Das war weniger gut. Und es gab keine Fenster. Damit wäre der Kunde, der sie heute Morgen angerufen hatte, weil er eine Halle für ein Einkaufszentrum suchte, nicht allzu glücklich.

Amber entschied, dass sie das ausbügeln konnte, indem sie irgendetwas fand, was interessant war. Etwas Ansprechendes. Es war schließlich ihre Stärke, aus allem noch etwas Positives herauszuholen. Ihr beträchtliches Bankguthaben war der Beweis dafür. Für jemanden, der ziemlich früh und mittellos von zu Hause weggegangen war, hatte sie es schon weit gebracht.

Sie schloss die Tür auf und betrat das dunkle Gebäude. Der Strom war abgeschaltet, doch wie immer war Amber auf alles vorbereitet und nahm eine kleine Taschenlampe aus ihrer Handtasche. Nachdem sie sie angeknipst hatte, ging sie an dem Empfangsbereich vorbei in das noch dunklere Lagerhaus. Die unheimliche Stille, die sie umgab, ließ sie erschauern.

Die Dunkelheit hatte ihr schon als Kind Angst gemacht, als sie viel zu viel Zeit allein verbringen musste.

Verflixt, sie wollte nicht schon wieder in Selbstmitleid verfallen. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt. Sentimentale Erinnerungen an ihre Vergangenheit waren nicht angebracht, und sie verbannte sie entschieden aus ihrem Kopf. Der Schein der Taschenlampe wies ihr einen Weg durch den riesigen, leeren Raum, doch es war nur ein kleiner Lichtkegel in dieser absoluten Dunkelheit, und Amber verlor ein wenig von ihrer Selbstbeherrschung. Ihre Handflächen wurden feucht.

Entschlossen hob sie das Kinn und besann sich darauf, dass man ihr einen kühlen Kopf nachsagte. Gut, sie war allein, aber sie würde nicht eher gehen, bevor sie das Gebäude sorgfältig erkundet hatte. Sie brauchte etwas, womit sie ihren potenziellen Kunden locken konnte.

Nachdem sie die Halle durchquert hatte, kam sie an eine Tür, hinter der sich die Treppe zum Kellergeschoss befand. Vielleicht waren ja die Büros dort unten ein guter Kaufanreiz. Sie unterdrückte ihr Unbehagen, richtete den Schein der Taschenlampe auf die Stufen und stieg hinunter in einen weiteren großen, noch dunkleren Raum.

Ein feuchter, muffiger Geruch schlug ihr entgegen.

Von einer bösen Vorahnung ergriffen, blieb sie regungslos am Fuße der Treppe stehen.

In der Ferne glaubte sie eine männliche Stimme rufen zu hören. Doch das konnte nicht sein. Sie war allein.

Wie immer war sie allein.

Plötzlich durchdrang ein gewaltiges Dröhnen den Raum, und mit Ambers Selbstbeherrschung war es vollends dahin. Zum Teufel mit dem Geschäft.

Sie wollte hier nur raus.

Gerade drehte sie sich um, da begann sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen.

Amber kam es so vor, als würde er lebendig und wie ein Monster aus einem Winterschlaf erwachen. Und dieses Monster drohte sie zu verschlingen. Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht und fiel hart hin.

Die Zeit schien stillzustehen.

Die Erde grollte und bebte. Während Amber über den kalten Betonboden schlitterte, dröhnten ihr die Ohren von einem plötzlichen Krachen.

Dann wurde sie gegen eine Mauer geschleudert, und die Sinne begannen ihr zu schwinden.

Das Letzte, was sie noch hörte, war ihr eigenes entsetztes Schreien.

Dax McCall fuhr gern im offenen Auto. Er liebte die Freiheit, mochte es, wenn der Wind ihm durchs Haar wehte, genoss den Duft des Herbstes, den Anblick der sich verfärbenden Blätter und den blauen Himmel über sich.

Er fühlte sich gut, denn er liebte das Leben.

Und Mutter Natur liebte Südkalifornien, vor allem San Diego County, denn obwohl es fast November war, blies ein warmer Wind. Nicht eine Wolke bedeckte den klaren Himmel.

Sonntag. Sein erster freier Tag seit Wochen. Nicht dass er sich beschwerte, denn er liebte auch seinen Job und wusste, dass er der beste Brandinspektor war, den dieses County je gehabt hatte. Doch die Arbeit war aufreibend, und auch wenn er ehrgeizig war, so brauchte er ab und zu eine Ruhepause.

Vielleicht sogar einen Urlaub. Er dachte an die Waldbrände, die in Montana außer Kontrolle geraten waren. Er könnte sich freinehmen und helfen, sie zu bekämpfen. Die wenigsten würden das als Urlaub ansehen, doch im Grunde war Dax immer noch ein Feuerwehrmann. Auch nachdem er sich für eine Laufbahn als Ermittler entschieden hatte, liebte er es, Feuer zu bekämpfen, und nutzte dafür jede Gelegenheit.

Ein Klingeln störte seine friedliche Stimmung. Verdammt. Dax drehte das Radio leiser und schaltete widerwillig sein Handy ein.

„Wehe, es ist nichts Gutes“, sagte er warnend, während er seinen Wagen mit einer Hand langsam durch eine Haarnadelkurve steuerte.

„Das ist ja eine nette Begrüßung.“

Shelley, die älteste seiner fünf neugierigen, herrischen, aber auch sentimentalen und liebevollen Schwestern konnte nur einen Grund für ihren Anruf haben.

„Die Antwort lautet Nein“, erklärte Dax.

Unbeeindruckt lachte sie. „Dax, Liebster, du weißt doch noch gar nicht, was ich von dir will.“

„Oh doch, das weiß ich“, entgegnete er barsch, musste aber lächeln. Er mochte seine Schwestern, selbst wenn sie ihn manchmal in den Wahnsinn trieben. „Dreht es sich zufällig um einen winzig kleinen Gefallen … für eine verzweifelte Freundin?“

„Sie ist nicht verzweifelt.“

„Wir haben das doch schon oft genug besprochen, oder? Hört auf, mich verkuppeln zu wollen.“ Er hatte bereits all seinen wohlmeinenden Schwestern gesagt, dass sie es unterlassen sollten, ihn zu irgendwelchen Blind Dates zu verabreden.

Er war zweiunddreißig Jahre alt und noch immer ledig. Na und? Es störte ihn nicht. Es war ja nicht so, dass es ihm an weiblicher Gesellschaft mangelte. Trotzdem verfolgten seine Schwestern ihn mit ihren Freundinnen. Und Freundinnen der Freundinnen. Und Schwestern der Freundinnen der Freundinnen.

Auch wenn er sich schon seit Langem dagegen wehrte, war er in ihren Augen immer noch das Baby der Familie. Ein einsachtzig großes, achtzig Kilo schweres Baby mit den Muskeln eines Mannes, der fast zehn Jahre lang hart gearbeitet hatte, bevor er zum Ermittler wurde.

Ein interessantes Baby.

„Ich muss aufhören, Shelley“, sagte er, während er um die nächste scharfe Kurve bog.

„Nein, musst du nicht. Du willst nur nicht, dass ich dich mit jemandem zusammenbringe. Komm schon, Dax, deine letzte Freundin sah aus wie eine Barbiepuppe und sprach in diesem albernen Flüsterton, den kein Mensch versteht.“

Er fühlte sich nicht bemüßigt, sich sonderlich zu verteidigen. Warum sollte er nicht bei der Wahrheit bleiben? Er mochte nun mal Blondinen. Vollbusige Blondinen, und soweit er wusste, gab es nichts, was dagegen sprach. „Hey, ich versuche doch auch nicht, dich zu verkuppeln.“

„Vielleicht, weil ich verheiratet bin?“

„Hör mal, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.“ Er gab ein paar zischende Laute von sich. „Die Verbindung ist so schlecht.“

„Wo bist du im Moment?“, erkundigte sie sich, was ihn schuldbewusst grinsen ließ.

„Auf der Landstraße bei der alten Mühle.“ Dax runzelte die Stirn und drosselte das Tempo, als er auf die Mühlenanlage und das Lagerhaus zufuhr. Mindestens zehn Meilen außerhalb der Stadt gelegen und umgeben von Wäldern, hatte das Gelände heutzutage keinen Nutzen mehr.

Es stand schon seit Jahren leer und befand sich auf seiner Liste mit den gefährlichen Grundstücken, auf denen jederzeit etwas passieren konnte. Es war sein Job, Gelände wie dieses von Obdachlosen, randalierenden Jugendlichen und verzweifelten Liebespaaren frei zu halten.

Ein kleiner, schnittiger Sportwagen parkte vor dem Eingang. „Verdammt.“

„Dax McCall!“

„Entschuldige.“ Er fuhr neben den Sportwagen und hielt an. „Ich mach jetzt Schluss, Shelley.“

„Nein, wehe du …“

Lachend drückte er die Aus-Taste und verließ seinen Wagen. Seine Schwester würde mindestens eine halbe Stunde lang schmollen, bevor sie ihn zurückrief. Lange genug, um den- oder diejenigen, die hier herumstreunten, aufzustöbern.

Die Tür zum Gebäude war ohne Schlüssel nicht zu öffnen, und nichts wies darauf hin, dass jemand versucht hatte, das Schloss aufzubrechen. Also war jemand mit einem Schlüssel hereingekommen.

Ein Makler.

Überzeugt, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, schüttelte er den Kopf. Der Mörtel war überall brüchig. Ziegelsteine fehlten. Beim nächsten Sturm konnte das ganze Gemäuer in sich zusammenfallen.

Wer, zum Teufel, sollte so etwas kaufen wollen?

Und warum musste jemand darin herumspazieren? Wütend hämmerte er gegen die Tür und freute sich schon darauf, dem Dummkopf, der ein so baufälliges Gebäude betrat, eine Verwarnung zu erteilen.

Niemand antwortete.

Neugierig ging Dax um das Gebäude herum und rief ab und zu Hallo, doch überall herrschte Stille. Selbst die Wälder schienen plötzlich still zu sein an diesem ungewöhnlich warmen Herbsttag.

Seufzend ging Dax zurück zum Eingang und betrachtete sich das Schloss. Wieder schüttelte er den Kopf.

Mit solch einem lächerlichen Schloss beschworen die Besitzer den Ärger geradezu herauf. Er brauchte weniger als dreißig Sekunden, um es aufzubrechen. Die große Tür quietschte laut in den Angeln, als er sie aufstieß. „Hallo?“

Völlige Dunkelheit und der unangenehme Modergeruch verrieten ihm, dass es keinen Durchzug und damit wohl keinen anderen Ausgang gab.

Er nahm einen Stein, legte ihn vor die geöffnete Tür, damit sie nicht zufiel, und betrat das Gebäude. Wenn ihm nicht gleich jemand antwortete, würde er zurück zum Wagen gehen und eine Taschenlampe holen. Doch er nahm an, dass derjenige, der hier drinnen war, inzwischen froh sein würde, wieder ans Tageslicht zu kommen.

„Bezirksbrandinspektor!“, rief er laut und deutlich. „Kommen Sie raus, das Gebäude ist baufällig.“

Er hörte, wie eine Tür am anderen Ende des Lagerhauses geöffnet wurde, und runzelte die Stirn. „Hey!“

Die Tür wurde zugeschlagen. Fluchend durchschritt Dax die Halle und riss die Tür auf.

Treppen.

Ziemlich weit unten sah er einen schwachen Lichtschein, und er fluchte erneut. „Warten Sie!“ Er betrat die dunkle Treppe und ärgerte sich jetzt, dass er seine Taschenlampe nicht dabei hatte. „Halt!“

Das war das Letzte, was er sagte, bevor das Beben begann und ihn auf der Stahltreppe niederriss.

Geboren und aufgewachsen in Südkalifornien, hatte Dax schon viele Erdbeben erlebt. Er betrachtete sich als erfahren, und trotzdem war es kein gutes Gefühl, so aus heiterem Himmel erwischt zu werden.

Das Beben schien nicht enden zu wollen, und Dax verlor völlig die Orientierung. Zu seinem Ärger konnte er nicht einmal etwas sehen. Unter ihm ratterte und bebte die Treppe, und er hielt sich mit aller Kraft an dem Geländer fest, versuchte gar nicht erst aufzustehen.

Hoffentlich hielt die Treppe. „Bitte, brich nicht unter mir zusammen“, flehte er.

Mindestens sechs Komma Null auf der Richterskala, dachte er und wartete darauf, dass die Erde sich wieder beruhigte.

Das tat sie jedoch nicht. Stattdessen hörte er ein Dröhnen und kurz darauf das Gepolter von fallenden Steinen. Das war ein schlechtes Zeichen.

Ein sehr schlechtes.

Er steckte den Kopf zwischen die Knie und verschränkte die Hände im Nacken, um sich vor den herabstürzenden Steinen so gut es ging zu schützen.

Das Gebäude würde dem Beben nicht standhalten können. Es würde zusammenbrechen und ihn begraben.

Dax betete für das Gebäude und vor allem für die Treppe, an die er sich klammerte, und hoffte und hoffte, jedoch mit einem mehr als unguten Gefühl im Magen.

Er wusste aus Erfahrung, dass ein altes Gemäuer solch einer Naturgewalt nichts entgegenzusetzen hatte.

Ein metallischer Geschmack füllte seinen Mund, und er merkte, dass er sich auf die Zunge gebissen hatte. Überrascht stellt er fest, dass sich in diesem Moment des nahenden Todes nicht sein Leben vor seinen Augen abspulte, sondern dass er an seine Familie denken musste. Sie würden ihn nicht finden, und das würde seine Mutter auch umbringen.

Seine Schwestern würden ihn nie wieder verkuppeln können.

Auf einmal gab die Treppe unter ihm nach, und er fiel.

Und fiel.

Und noch im Fallen hörte er einen Schrei.

2. KAPITEL

Dax landete hart auf seinem bereits lädierten Hinterteil.

Der Fall machte ihn benommen, und die undurchdringliche Dunkelheit verwirrte ihn noch zusätzlich. Als er nach einigen Minuten wieder klar denken konnte, erinnerte er sich sofort an das Zusammenbrechen der Treppe, auf der er gekauert hatte, und wusste, dass das ein Riesenproblem wäre, wenn es ums Herauskommen ging.

Dann erinnerte er sich an den Schrei.

„Hallo! Ich bin der Brandinspektor“, krächzte er und erhob sich vom Boden, keuchend und hustend von dem vielen Staub und Schmutz.

Ohne etwas sehen zu können, fühlte er sich orientierungslos, aber seine Berufsausbildung und seine angeborene Neigung, anderen zu helfen, trieben ihn an. „Hallo!“

„Hier drüben!“

Eine Frau. Himmel, dachte er und kletterte so schnell er konnte über Berge von Stein und Stahl. „Ich komme!“ Seine Lungen brannten inzwischen. „Wo sind Sie?“

„Hier.“ Er hörte sie ebenfalls husten. „Hier!“, rief sie lauter, gerade als er sie erreicht hatte und mit dem Fuß gegen ihr Bein stieß.

„Oh!“ Sie schreckte zurück.

Doch Dax ließ sich nicht beirren. Er hatte Angst um sie. War sie von einem herunterfallenden Stein getroffen worden? Er kniete sich hin, rutschte näher zu ihr und strich mit den Händen über sie.

Sie machte ein undefinierbares Geräusch.

„Wo sind Sie verletzt?“, fragte er, während er begann, sorgfältig und methodisch ihre Arme zu untersuchen, wobei er sich zum wiederholten Male verwünschte, dass er keine Taschenlampe hatte. Anschließend glitt er mit den Händen über ihre Beine und registrierte nebenbei, dass selbst ein Heiliger – was er beileibe nicht war – bemerken würde, was für herrliche Beine das waren. Lang, schlank und wohlgeformt.

„Hey, hören Sie auf!“ Sie schlug nach ihm, und als er zu ihren Hüften kam, rutschte sie zurück und trat nach ihm aus.

Etwas Hartes traf sein Kinn.

Ein Schuh mit hohem Absatz, wenn er sich nicht irrte. Und zum zweiten Mal in kürzester Zeit sah er Sterne. „Halt, ich tue Ihnen nichts“, versicherte er ihr in demselben beruhigenden Ton, in dem er stets auf die Opfer einredete. Aber wenn sie noch so hart zuschlagen konnte, hatte sie sich wohl nichts gebrochen.

„Lassen Sie mich los“, fauchte sie.

„Gleich.“ Mit seinen großen Händen umschloss er ihre schmale Taille. „Sind Ihre Rippen in Ordnung?“

„Ja! Und jetzt nehmen Sie endlich die Finger von mir, damit ich meine Taschenlampe suchen kann.“ Sie schob sich ruckartig von ihm weg und stieß dabei einen unterdrückten Schmerzenslaut aus.

Sofort war Dax wieder bei ihr. „Lassen Sie mich nur noch Ihren Brustkorb untersuchen“, bat er sie ruhig und strich sorgfältig über jede einzelne ihrer Rippen. Alles schien in Ordnung, mit Ausnahme seiner eigenen Atmung, denn es entbehrte nicht einer gewissen Erotik, eine Frau zu berühren, die er noch nie gesehen hatte. Sie schien etwas Besonderes – wohlgeformte, feminine Kurven, weiche Haut und ein süßer, erregender Duft.

Als er versehentlich mit den Fingerknöcheln ihre Brust berührte, entfuhr ihr ein ärgerlicher Laut, und sie stieß ihn von sich. „Da nicht!“

Ihre Schultern schienen in Ordnung zu sein, ebenso ihre Arme, doch an einem Ellenbogen fühlte er eine verräterische Klebrigkeit, die ihm vorhin nicht aufgefallen war. Vielleicht hatte es aber auch jetzt erst angefangen zu bluten.

Professionelles Denken und Handeln vertrieb alle anderen Gedanken. „Sie sind verletzt.“ Er war besorgt, denn sie waren schmutzig, und es gab keinen direkten Weg mehr nach draußen. Es drohte eine Infektion.

„Nein, mir geht es gut.“

Sie klang zwar kühl und beherrscht, doch er spürte, wie sie heftig zitterte. Seltsamerweise berührte ihn dieser Gegensatz. Er griff nach dem Saum seines T-Shirts und zerrte so lange daran, bis er ein großes Stück davon abreißen konnte, das er dann provisorisch um den Arm wickelte. Vielleicht würde das die Wunde ein wenig schützen.

Sie zitterte immer noch.

„Sind Sie wirklich okay?“ Verdammt, er wünschte, er könnte sie sehen. Wenn sie jetzt einen Schock bekäme, konnte er so gut wie nichts für sie tun, und diese Hilflosigkeit zerrte an seinen Nerven.

„Ja. Ich will nur hier raus“, entgegnete sie gepresst.

„Ist Ihnen kalt?“ Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich wieder vor ihm zurück.

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es mir gut geht.“

Es verblüffte ihn, wie beherrscht sie noch immer klang. Wie würden seine Schwestern sich in so einer Situation verhalten? Sie waren niemals leise, niemals ruhig. Und ganz sicher niemals beherrscht. Schon wenn ihnen ein Fingernagel einriss oder ihre neue Frisur nass wurde, brachen für sie Welten zusammen.

Und er musste zugeben, dass die Frauen, mit denen er ausging – und das waren nicht wenige –, seinen Schwestern ziemlich ähnlich waren.

Diese Frau hier vor ihm, die er nicht sehen, sondern nur fühlen konnte, war ihm ein Rätsel.

Sie rutschte noch weiter von ihm fort.

Er hörte, wie sie versuchte, sich aufzurichten. „Vorsichtig“, warnte er sie.

„Keine Angst. Ich werde schon nicht in Ohnmacht fallen.“

Die Verachtung in ihrer Stimme sagte ihm, was sie von dieser speziellen Schwäche hielt.

„Ich hatte eine Taschenlampe dabei. Und die werde ich jetzt suchen.“

Der würdevolle Ton, in dem sie das sagte, brachte ihn zum Lachen. „Nun gut, dann lassen Sie mich beim Suchen helfen“, meinte er und begann den Boden nach der Lampe abzutasten. „Sie sind wirklich verdammt gelassen.“

„Es war nur ein Erdbeben.“

„Na ja, aber ein verdammt heftiges.“

„Fluchen Sie immer so viel?“

„Ja, aber ich versuche mich zu beherrschen.“ Auf den Knien rutschend, drehte er sich um die eigene Achse, und plötzlich bekam er die Taschenlampe zu fassen. Er knipste sie an. Die Birne flackerte und gab kaum noch Licht.

Er holte tief Luft und fluchte erneut.

Sie näherte sich ihm von hinten und klang ungeduldig, als sie sagte: „Ich dachte, Sie wollten sich beherrschen … Oh.“ Sie machte eine Pause. „Das sieht nicht gut aus.“

„Stimmt.“ Das, was er in dem schwachen Lichtstrahl erkennen konnte, war, besser gesagt, beängstigend. „Überhaupt nicht gut.“

Die Treppe war völlig zerstört, und es gab keinen anderen Zugang zum Kellergeschoss, abgesehen von dem riesigen Loch in der Betondecke über ihnen.

Es gab keinen Ausweg. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes lebendig begraben.

„Das ganze Gebäude … ist zerstört, oder?“, fragte sie leise hinter ihm.

Dax überlegte, ob er lügen sollte. Sein erster Instinkt war immer, anderen zu helfen und sie zu beschützen. Doch er glaubte zu wissen, dass er diese Frau hier nicht zu schonen brauchte. „Sieht so aus.“

„Wir werden sterben.“

„Wir haben zumindest noch Sauerstoff“, entgegnete er sachlich, obwohl er ahnte, dass sie jetzt völlig verzweifelt sein musste. „Und die Taschenlampe.“

Wie auf ein Stichwort flackerte die Lampe noch einmal auf, um dann für immer zu erlöschen.

Dax fluchte erneut, und die Frau hinter ihm schnappte entsetzt nach Luft.

Er tastete nach ihrer Hand. Überraschenderweise ergriff sie sie und hielt sie fest.

„Wenn das Beben uns nicht über den Boden und weg von der eingestürzten Decke da hinten geschleudert hätte, wären wir jetzt hinüber“, sagte sie mit nüchterner, leiser Stimme.

Stimmt, dachte Dax und drückte ihre Hand. „Noch leben wir.“

Aber wie lange noch? Tonnen von Steinen lagen auf der Decke über ihnen. Dax hatte keine Ahnung, wie lange sie halten würde. Er glaubte jedoch nicht, dass sie die unausweichlichen Nachbeben überstünde.

„Weiß jemand, dass Sie hier sind?“, fragte er und bemühte sich, seine wachsende Sorge für sich zu behalten.

„Nein.“ Durch ihre miteinander verschränkten Hände spürte er, dass sie erneut zitterte.

Er hatte sich schon häufiger in brenzligen Situationen befunden, das war schließlich sein Job, und bisher war er sehr gut darin gewesen, seine Haut und vor allem die der anderen zu retten. War seine Glückssträhne womöglich gerade zu Ende gegangen?

Bedauern und Wut stiegen in ihm auf, aber er war noch nicht bereit aufzugeben. Um sich zu beruhigen, atmete er tief ein und erstickte fast an den dichten Staubwolken, die noch immer in der Luft hingen. „Kommen Sie, dies hier ist ein Flur, da müssen doch noch mehr Zimmer sein. Vielleicht ist die Luft dort besser.“

Und vielleicht gab es dort einen halbwegs sicheren Platz, wo sie Schutz suchen konnten, wenn die Decke über ihnen gänzlich einstürzen sollte. Vorausgesetzt, sie hatten genügend Sauerstoff, während sie dann auf Hilfe warteten.

„Es gibt zwei Büros, ein Badezimmer und eine kleine Küche“, ratterte sie professionell herunter. „Alles möbliert.“

Dax wünschte, die Taschenlampe wäre nicht ausgegangen, wünschte, er hätte die Frau neben sich anschauen können, bevor das Licht ausging, wünschte, er hätte heute Morgen mehr als nur eine Schüssel Cornflakes gegessen.

„Wir schaffen das schon.“ Sie klang zuversichtlich trotz ihres Zitterns. „Wir warten einfach, bis wir gerettet werden, oder?“

Dax entschloss sich, ihr diesen kleinen Traum zu lassen, einfach weil er selbst noch nicht bereit war, die Tatsachen zu akzeptieren. Doch er gab sich keinen Illusionen hin. Wenn die Decke dem Gewicht der darauf liegenden eingestürzten zwei Stockwerke nicht mehr standhielt, waren sie so gut wie tot.

Mühsam tasteten sie sich durch die absolute Dunkelheit, stiegen über Steinbrocken hinweg und kämpften sich durch den Flur hindurch, während Dax die ganze Zeit darauf wartete, dass die Frau anfing, zu jammern, sich zu beklagen oder womöglich zusammenbrach.

Doch zu seiner großen Verwunderung tat sie nichts von alledem.

Schließlich gelangten sie in einen Büroraum, und nachdem sie sich herumgetastet hatten, stellten sie fest, dass er eine Couch, einen Schreibtisch, zwei Stühle und einige andere nicht identifizierbare Gegenstände beherbergte. Das zweite Büro, das sie danach untersuchten, war kleiner und schien leer zu sein. Die angrenzende Küche schien zu gefährlich, denn der Boden war bedeckt mit heruntergefallenen Sachen und einem umgestürzten Kühlschrank.

Dax kam zu dem Schluss, dass es außer dem ersten Büroraum keinen weiteren sicheren Platz gab. Während er sich dann einen Weg zurück bahnte, folgte die Frau ihm schweigend. Wieder wunderte er sich über ihre Selbstbeherrschung und fragte sich, wo sie diese wohl erworben habe.

Ein entferntes Donnern war die einzige Warnung und veranlasste Amber, sich dem Fremden an den Hals zu werfen. Sie würde sich hinterher wahrscheinlich über ihre panikartige Reaktion ärgern, doch das war im Moment zweitrangig.

Als dann die Erde von Neuem zu beben begann, zog der Mann Amber an sich und ließ sich mit ihr auf den Boden fallen.

„Schnell“, befahl er und stieß sie unter etwas, was sich wie ein hölzerner Schreibtisch anfühlte. Hastig kroch er hinter ihr her.

Sie hatte gerade noch Zeit festzustellen, dass das Beben diesmal weit weniger heftig war als vorhin, da lag schon sein kräftiger Körper auf ihrem. Mit den Händen umfasste er ihren Kopf und drückte ihn schützend an seine Brust.

Noch einmal schien die Zeit stillzustehen, während sie mit geschlossenen Augen das Nachbeben über sich ergehen ließ. Als er den Atem anhielt, wusste sie, dass auch er jetzt mit dem Schlimmsten rechnete. Jeden Moment konnte die Decke über ihnen nachgeben und sie erschlagen.

Doch sie wollte noch nicht sterben und presste sich instinktiv dichter an den warmen, kräftigen Körper des Fremden.

Nach einer Unendlichkeit, Amber hatte jedes Zeitgefühl verloren, hörte das Beben plötzlich auf.

Und genauso plötzlich wurde ihr bewusst, wie nah sie sich waren.

Himmel, sie hatte sich einem Fremden förmlich an den Hals geworfen.

Beschämt hob sie die Arme und versuchte, ihn von sich zu drücken. Sofort rollte er sich von ihr hinunter, blieb aber nur wenige Zentimeter von ihr entfernt unter dem Schreibtisch liegen. Beide wagten sich noch immer kaum zu atmen.

Autor

Jill Shalvis
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