Als wäre es unsere erste Nacht

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Was für ein Geschenk des Schicksals! Der italienische Unternehmer Stefano Moretti kann es kaum fassen: Vor einem Monat schien seine Ehe mit Anna unweigerlich gescheitert, weil seine Frau überzeugt war, dass er sie betrog. Doch jetzt hatte Anna einen Unfall und kann sich an nichts mehr erinnern. Ist das die Chance, auf die Stefano so sehr gehofft hat, um seine verloren geglaubte Liebe zu retten? Er wird seine Noch-Ehefrau, die er immer noch voller Verlangen begehrt, verführen, als wäre es das erste Mal!


  • Erscheinungstag 16.01.2018
  • Bandnummer 2319
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708832
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wie viel habe ich bloß getrunken?

Anna Robson umfasste ihren Kopf mit beiden Händen. Hinter ihren Schläfen hämmerte es wie verrückt. Und zu allem Überfluss fühlte sie auch noch eine Beule an der rechten Seite. Hatte sie sich irgendwo den Kopf gestoßen?

Sie zermarterte sich das Hirn, konnte sich aber nur an Bruchstücke des vergangenen Abends erinnern. Sie war mit Melissa ausgegangen. Glaubte sie zumindest. Aber doch, sicher, sie war mit ihrer Schwester nach ihrer gemeinsamen Yogastunde noch auf einen Drink in eine Bar gegangen, wie jeden Donnerstagabend.

Ein kurzer Blick zur Uhr auf ihrem Nachttisch ließ sie auffahren. Oh Gott, ihr Handywecker hätte schon vor über einer Stunde klingeln sollen! Wo, um Himmels willen, war er nur?

Hektisch blickte sie sich um, ohne die geringste Spur von ihrem Telefon zu entdecken. Dafür spürte sie, wie ihr Magen sich plötzlich umdrehte.

Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad.

Danach hockte sie keuchend auf dem nackten Fliesenboden und barg das Gesicht in den Händen. Was war letzte Nacht passiert? Normalerweise trank sie nicht viel, schon gar nicht an einem Wochentag. Ein Glas Weißwein vielleicht, aber damit hatte es sich auch schon. Jetzt allerdings fühlte sie sich, als hätte sie ein halbes Dutzend Flaschen intus.

So konnte sie auf gar keinen Fall ins Büro gehen!

Doch dann fiel ihr ein, dass Stefano und sie ein Meeting mit einem Technik-Startup-Unternehmen hatten, das er eventuell kaufen wollte.

Er hatte sie beauftragt, Recherchen über die Firma anzustellen und eine abschließende Bewertung vorzulegen. Stefano verließ sich auf ihr Urteil. Von ihrer Meinung hing ab, ob er in eine Firma investierte oder die Sache noch einmal überdachte.

Sicher würde er ihren Report bereits erwarten, damit er ihn vor dem Meeting in Ruhe studieren konnte. Sie würde ihm die Sachen per Mail senden und Krankheit vorschieben müssen.

Nachdem sie das Apartment, das sie sich mit Melissa teilte, auf den Kopf gestellt hatte, war ihr jedoch klar, dass sie ihren Laptop im Büro vergessen haben musste. Also musste sie Stefano anrufen. Er konnte die Datei selbst öffnen. Sie würde ihm einfach das Passwort geben, obwohl sie zu neunundneunzig Prozent sicher war, dass er es ohnehin bereits gehackt hatte.

Dafür musste sie nur ihr Telefon finden.

In der Küche stieß sie auf eine schicke Handtasche, die auf der Anrichte lag. Daneben ein Umschlag, auf dem ihr Name stand.

Sie blinzelte, weil ihr Blick immer wieder verschwamm, und holte den Brief aus dem Kuvert. Sie überflog die Worte, doch irgendwie ergaben sie keinen Sinn.

Warum bat Melissa sie um Entschuldigung wegen eines Trips nach Australien?

Australien?

Melissa machte sicher einen Scherz auf ihre Kosten. Anders konnte Anna sich das nicht erklären. Allerdings schrieb ihre Schwester, dass sie ihre Mutter besuchen wollte, die sie beide zehn Jahre zuvor einfach im Stich gelassen hatte. Das war keineswegs besonders komisch.

Zumindest eine Sache aber erklärte der Brief. Offenbar war Anna gestern Abend auf dem eisglatten Bürgersteig ausgerutscht. Jedenfalls schrieb Melissa, dass sie vor dem Haus gestreut hatte, damit das nicht noch einmal passierte.

Anna betastete die Beule an ihrem Kopf. Sie hatte absolut keine Erinnerung daran, gestürzt zu sein. Oder an irgendwelches Glatteis.

Bisher war das Novemberwetter eher mild gewesen, doch als sie jetzt zum Küchenfenster hinausschaute, sah sie, dass alles mit einer dicken Schicht Eis überzogen war.

Ihr Kopf hämmerte noch immer zu sehr, als dass alles für sie irgendeinen Sinn ergab. Darum legte sie den Brief beiseite und warf einen Blick in die Handtasche.

Die Geldbörse, die sie schon seit zehn Jahren besaß, lag nicht darin. Sie war das letzte Geschenk ihres Vaters gewesen, bevor er starb.

Haben Melissa und ich die Handtaschen getauscht?

Das wäre nichts Besonderes. Anna und Melissa borgten sich ständig Dinge. Ungewöhnlich war nur, dass sie sich nicht daran erinnern konnte. Aber sie mussten getauscht haben, denn ganz unten in der hübschen Handtasche stieß Anna auf ihr Handy.

Sie nahm es heraus und sah eine Benachrichtigung über fünf verpasste Anrufe. Sie entsperrte das Gerät – besser gesagt, sie versuchte es. Falsche PIN. Beim zweiten Versuch dasselbe Ergebnis. Mit einem Seufzen ließ sie das Gerät zurück in die Handtasche fallen. Das brachte alles nichts. In Momenten wie diesem bereute sie es, ihren Festnetzanschluss abgemeldet zu haben.

Also schön, sie würde sich ein Taxi nehmen, ins Büro fahren, Stefano erklären, dass es ihr wirklich schlecht ging, und sich dann wieder auf den Heimweg machen.

Bevor sie sich anzog, nahm sie noch zwei Kopfschmerztabletten und betete, dass ihr empfindlicher Magen sie nicht gleich wieder loswerden wollte.

Wenn sie abends ins Bett ging, legte sie ihre Kleidung immer über einen Stuhl im Schlafzimmer. Jetzt blinzelte sie überrascht. Wo kam dieses Kleid her? Egal. Vermutlich gehörte es ebenfalls Melissa. Anna fehlte die Energie, irgendetwas anderes herauszusuchen, also streifte sie es über. Es war schwarz, langärmelig und knielang. Und es sah gar nicht mal schlecht aus, wie sie feststellte, als sie es endlich hineingeschafft hatte.

Verflixt, mein Kopf!

Sie verzichtete auf Make-up und fuhr sich lediglich einmal mit der Bürste durchs Haar. Auf dem Schuhregal im Hausflur fand sie ein paar ausgefallene schwarze Stiefel mit Plateausohlen vor, die sie noch nie gesehen hatte. Vermutlich ebenfalls Melissas. Und die hatte sicher nichts dagegen, wenn sie sich die Teile ausborgte. Es war wirklich praktisch, dass sie dieselbe Schuh- und Konfektionsgröße hatten.

Anna schloss die Haustür ab und stieg vorsichtig die Stufen zum Bürgersteig hinunter. Zu ihrem Glück fuhr gerade ein freies Taxi durch ihre Straße.

Sie ließ sich vom Fahrer gegenüber des futuristisch aussehenden Wolkenkratzers nahe der Tower Bridge absetzen, in dem Stefanos Europazentrale ihren Sitz hatte. Während sie an der Ampel darauf wartete, die Straße überqueren zu können, hielt eine schwarze Mercedes-Limousine auf der anderen Seite.

Der Portier trat vor und öffnete die hintere Tür. Anna beobachtete, wie Stefano ausstieg.

Die Ampel sprang auf Grün um, und sie ging wie von selbst los, ohne Stefano dabei aus den Augen zu lassen.

Hinter ihm stieg eine hochgewachsene Blondine aus dem Wagen. Anna war sich ziemlich sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Trotzdem kam sie ihr bekannt vor, und zwar in einer alles anderen als positiven Art und Weise.

Erst als andere Passanten sie anrempelten oder sich leise fluchend an ihr vorbeidrängten, bemerkte sie, dass sie mitten auf der Straße abrupt stehen geblieben war.

Sie presste beide Hände flach auf den Bauch, als ihr Magen wieder zu rebellieren begann, und ging weiter.

Durch die große Drehtür gelangte sie ins Foyer des Gebäudes, legte ihre Tasche auf den Scanner und wartete darauf, dass sie vom Sicherheitsmann freigegeben wurde. Dann ging sie geradewegs zu den Toiletten, betrat die erste freie Kabine und übergab sich.

Kalter Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper. Es war eine idiotische Idee gewesen, überhaupt ins Büro zu fahren. Ihr Kater … war es überhaupt ein Kater? Jedenfalls hatte sie sich noch nie so elend gefühlt.

Nachdem sie die Kabine verlassen hatte, wusch sie sich die Hände und spülte sich den Mund mit kaltem Wasser aus. Ein Blick in den Spiegel bestätigte, was sie sich bereits gedacht hatte: Sie sah furchtbar aus. Das Gesicht kreidebleich, das dunkle Haar fiel ihr strähnig auf die Schultern und …

Anna blinzelte irritiert. War ihr Haar über Nacht gewachsen? Wohl kaum. Sie steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und verließ die Toiletten. Möglichst unauffällig huschte sie in den nächsten freien Aufzug und drückte den Knopf für das dreizehnte Stockwerk.

Ihr entging nicht, dass die Gespräche der anderen Anwesenden in der Fahrstuhlkabine verstummten und sich alle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sah sie wirklich so schlimm aus? Erleichtert atmete sie auf, als die gesamte Gruppe den Lift ein Stockwerk unter ihr verließ.

Sie ging zwischen den Schreibtischen hindurch auf das Büro zu, das sie sich mit Stefano teilte. Konnte man Blicke wie brennende Pfeile im Rücken fühlen? Anna war sich dessen beinahe sicher. Einige der anderen Angestellten starrten sie regelrecht an, ein paar davon mit offenem Mund.

Um Himmels willen, sie wusste ja, dass sie nicht unbedingt in Topform war, aber war es nicht ziemlich unhöflich, so ungeniert zu gaffen?

Suchend blickte sie sich nach Chloe um, ihrer neuen persönlichen Assistentin, die jedes Mal regelrecht in Panik geriet, wenn Stefano auftauchte. Die Arme würde sicher nicht erfreut sein zu erfahren, dass sie Annas Pflichten für den Tag übernehmen musste.

Anna hatte keine eigene Assistentin haben wollen, sie war schließlich selbst eine! Doch Stefano hatte ihr in den anderthalb Jahren, seit er sie von Levon Brothers abgeworben hatte, zahllose zusätzliche Verantwortungen übertragen. Am Ende hatte er sie dabei erwischt, dass sie regelmäßig bis neun im Büro saß, und ein Machtwort gesprochen.

„Bekomme ich dann auch eine neue Jobbezeichnung?“, hatte sie frech wissen wollen – und war dafür mit einer Beförderung zur leitenden PA und einer ansehnlichen Gehaltserhöhung belohnt worden.

Vielleicht versteckte Chloe sich in der Kammer, in der sie das Büromaterial aufbewahrten, und wartete auf Annas Eintreffen. Anna unterdrückte ein Seufzen. Das Mädchen würde sich früher oder später an Stefano gewöhnen müssen. Wie es aussah, eher früher als später.

Überhaupt war es den meisten Angestellten so ergangen wie ihr. Zu Anfang waren alle wie gelähmt vor Furcht und Ehrerbietung. Doch nach einer Weile entspannten sie sich und konnten vernünftige Gespräche mit ihm führen.

Anna selbst hatte diese Stufen übersprungen, die Wirkung, die Stefano auf andere ausübte, aber zu oft miterlebt, um nicht Mitgefühl für die armen Seelen zu empfinden, die ihm zum ersten Mal begegneten.

Sie ließ die Bürotür hinter sich ins Schloss fallen und blieb abrupt stehen. Für einen Augenblick vergaß sie sogar das Hämmern hinter ihren Schläfen und ihren aufgewühlten Magen.

Als Stefano ihr den Job angeboten hatte, war dies unter der Bedingung geschehen, dass sie sich ein Büro mit ihm teilen müsste. Sie hatte aus einer Laune heraus erwidert, dass sie nur einverstanden wäre, wenn er ihre Seite des Raumes in verschiedenen Pflaumentönen gestalten ließe.

An ihrem ersten Tag hatte sie ein Büro betreten, dessen Wände zu einer Hälfte cremefarben und zur anderen in verschiedenen Schattierungen von Pflaumenblau gestrichen waren.

Heute war alles cremefarben.

Sie hatte gerade ihren Schreibtisch erreicht, als die Tür aufflog und Stefano hereinplatzte. Die Aura, die ihn umgab, war eindeutig düster und bedrohlich.

Bevor Anna auch nur ein Wort sagen konnte, warf er die Tür mit einem lauten Knall wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was, zum Teufel, tust du hier?“, wollte er wissen.

Sie stöhnte auf. „Nicht du auch noch“, sagte sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Frustration. „Ich glaube, ich bin gestürzt. Ich weiß, ich sehe heute nicht gerade wie ein Supermodel aus, aber könnten wir nicht einfach so tun, als ob?“

Es war so etwas wie ein Insider-Joke zwischen ihnen. Jedes Mal, wenn Stefano versuchte, sie zu einem Date zu überreden, ließ Anna ihn abblitzen. Üblicherweise erinnerte sie ihn bei der Gelegenheit daran, dass er bevorzugt mit bildschönen, langbeinigen Supermodels ausging, während sie selbst noch nicht einmal die Eins-sechzig-Marke geknackt hatte.

„Du würdest dir bei dem Versuch, mich zu küssen, den Nacken verrenken“, hatte sie einmal im Scherz zu ihm gesagt.

Und er hatte sofort erwidert: „Warum finden wir das nicht gleich heraus?“

Sie hatte die Situation nie wieder erwähnt. Allein die Vorstellung, ihn zu küssen, war mehr, als sie selbst erlauben durfte. Ein einziges Mal hatte sie sich gestattet, einem entsprechenden Tagtraum nachzuhängen. Es hatte eine ganze Woche gedauert, bis sie die Schmetterlinge im Bauch und das Herzklopfen, das sie in seiner Nähe verspürte hatte, wieder in den Griff bekommen hatte.

Es ließ sich nicht leugnen: Ihr Boss war unglaublich attraktiv. Er war mehr als einen Kopf größer als sie, mit so dunklem Haar, dass es beinahe schwarz wirkte, einer geraden, eleganten Nase und einem Kinn, so scharf, dass es in Marmor gemeißelt zu sein schien.

Seine Augen hatten die Fähigkeit, jeden Menschen mit nur einem Blick zu fesseln. Sie waren von einem Grün, das je nach Stimmung zwischen hell und dunkel wechselte.

Heute waren sie so finster, wie Anna sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Doch ihr Kopf hämmerte noch immer zu heftig, um auch nur zu versuchen, seine Stimmung zu deuten. Die Schmerztabletten schienen überhaupt nicht zu wirken.

Mit einem Ächzen ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. Dabei fiel ihr noch etwas auf, das ganz eindeutig nicht richtig war.

Die Unordnung auf ihrem Tisch.

Anna hinterließ keine Unordnung. Niemals. Es machte sie verrückt, wenn nicht alles an seinem korrekten Platz war. Und …

„Warum sind da Fotos von Katzen auf meinem Schreibtisch?“

Sie war eher ein Hunde- als ein Katzen-Mensch. Hunde waren treu. Hunde verließen einen nicht einfach.

„Chloes Schreibtisch“, sagte er mit einer Stimme, die kalt und schneidend wie Eis klang.

Anna neigte den Kopf zur Seite und blinzelte. Ihr Blick verschwamm immer wieder.

„Hör auf, dich über mich lustig zu machen“, bat sie. „Ich bin nur zwanzig Minuten zu spät dran, und mein Kopf …“

„Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich die Frechheit besitzt, in diesem Zustand hier aufzukreuzen“, fiel er ihr ins Wort.

„Ich fühle mich entsetzlich, ja, aber ich habe meinen Laptop hiergelassen und musste den Bericht noch an dich schicken. Du wirst das Meeting mit Chloe zusammen halten müssen.“

Er verzog keine Miene. „Ist das deine neue Taktik?“

Eine Sache mochte sie besonders an ihm: Er redete nie lange um den heißen Brei herum, sondern kam stets ohne Umschweife zum Punkt. Warum musste er also ausgerechnet jetzt anfangen, in Rätseln zu sprechen?

„Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.“

Er kam auf sie zu. „Haben Sie Schauspielunterricht genommen, Mrs. Moretti?“

„Mrs. …“ Was? Sie verstand überhaupt nichts mehr. Was ging hier eigentlich vor? „Bin ich heute Morgen in einer anderen Dimension aufgewacht, oder was?“

Das klang gar nicht so abwegig, wenn sie so darüber nachdachte. Seit dem Moment, in dem sie heute Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, schien irgendwie nichts richtig zu sein. Melissas Brief mit der Nachricht, dass sie nach Australien geflogen war, und nun das hier. Was war bloß mit Stefano los?

Er stand jetzt direkt vor ihrem Schreibtisch und blickte finster auf sie hinab. „Wenn das ein neues Spielchen von dir ist, dann erklär mir die Regeln, damit ich weiß, wie mein nächster Zug aussehen soll …“

Stefano beobachtete, wie Annas Augen groß wurden. Offenbar hatte sie in den vier Wochen, in denen er sie nicht gesehen hatte, ihre Unschuldsmiene perfektioniert.

Einen ganzen Monat war es nun her, dass sie ihn in seinem eigenen Sitzungssaal gedemütigt hatte, nur um dann aus seinem Leben zu verschwinden.

Er beugte sich vor und stützte die Hände auf dem Tisch ab. Dabei musterte er ihr schönes Gesicht, das ihn vom ersten Augenblick an in den Bann gezogen hatte.

„Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Langsam erhob sie sich. „Ich gehe jetzt nach Hause. Hier liegt ganz offensichtlich ein Missverständnis vor – ich kann nur nicht sagen, bei wem von uns.“

Sie war wirklich speziell.

„Du solltest übrigens auch nach Hause gehen“, meinte sie und musterte ihn unsicher. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass du betrunken bist.“

Kurz überlegte er, ob sie vielleicht betrunken war. Sie sprach undeutlich und wirkte unsicher auf den Füßen.

Aber nein, das hier war wieder eines ihrer boshaften kleinen Spielchen. Sie versuchte, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen, aber dieses Mal würde er sie nicht gewinnen lassen. Er hatte die Regeln neu geschrieben.

Eines musste man ihr lassen: Sie war wirklich auf eine clevere Art und Weise durchtrieben. Sie hatte das alles sorgfältig geplant. Achtzehn Monate hatte sie seine Annäherungsversuche ignoriert. Achtzehn Monate! Danach hatte er sie so verzweifelt besitzen wollen, dass er bereit gewesen war, sie zu heiraten, nur um sie ins Bett zu bekommen.

Vor allem aber hatte er geglaubt, sie zu kennen. Hatte geglaubt, ihr vertrauen zu können. Er, der schon in jungen Jahren gelernt hatte, dass man niemandem vertrauen durfte.

Sie hatte es darauf angelegt, ihn zu heiraten. Und das alles nur, damit sie ihm Ehebruch vorwerfen und die Scheidung einreichen konnte – nicht ohne ihn bei diesem Schritt noch vor seiner gesamten Belegschaft bis auf die Knochen zu blamieren.

Er konnte nicht glauben, dass er tatsächlich so dumm gewesen war, auf sie hereinzufallen.

Als sein Anwalt ihm mitteilte, dass seine zukünftige Exfrau ihn auf ein Vermögen verklagen wollte, wäre er beinahe zu ihr gefahren, um sie zur Rede zu stellen. Es hatte all seine Willenskraft gebraucht, um es nicht zu tun.

Stefano war kein Mann, der wartete, bis Probleme sich von allein lösten. Er ging die Dinge direkt an und reagierte. So war es schon immer gewesen. Als Junge hatte es ihn immer wieder in Schwierigkeiten gebracht, weil er nicht gewusst hatte, wann man besser den Mund hielt.

Doch er hatte es geschafft, beinahe zwei Wochen durchzuhalten und den Brief ihres Anwalts zu ignorieren. In zehn Tagen wären sie ein Jahr verheiratet und somit in der Lage, sich rechtmäßig scheiden zu lassen. Dann, und erst dann, würde Anna erfahren, was er bereit war, ihr zu geben.

Nichts.

Er würde sie für all die Lügen und Täuschungen bezahlen lassen. Und erst wenn er sich sicher sein konnte, dass sie ebenso gedemütigt und erniedrigt worden war wie er selbst, würde er es gut sein lassen.

Einhundert Millionen Pfund und mehr für noch nicht einmal ein Jahr Ehe? Diese Frau hatte wirklich Nerven.

Doch ganz gleich, was sie auch getan hatte, es änderte nichts an dem Verlangen, das er empfand. Anna war noch immer die anziehendste Frau der Welt. Klassisch schön, mit schulterlangem kastanienfarbenem Haar und hohen Wangenknochen. Ihre Lippen waren voll, ihre Haut samtig und weich. Sie hatte allen Grund, selbstverliebt und arrogant zu sein. Doch sie schien ihre Schönheit gar nicht zu realisieren.

Anna Moretti, geborene Robson, die Frau mit dem Gesicht und dem Körper einer Göttin und der Zunge einer Viper. Clever und intrigant, süß und liebenswert, würde sie für alle Zeiten ein Rätsel für ihn bleiben.

Er verachtete sie.

Und er vermisste sie in seinem Bett.

Noch immer konnte er kaum glauben, dass sie nach ihrem Auftritt vor vier Wochen tatsächlich die Frechheit besaß, einfach in dieses Gebäude spaziert zu kommen.

„Ich bin nicht betrunken.“ Er atmete tief durch, und ein Hauch von ihrem Duft stieg ihm in die Nase. Es war derselbe Geruch, der in seinen Kissen und Laken festsaß und auch nach mehrfachem Waschen einfach nicht verschwinden wollte. Er hatte das Problem am Ende gelöst, indem er neue Bettwäsche gekauft hatte. „Aber solltest du Schwierigkeiten mit deinem Gedächtnis haben, helfe ich dir gern dabei, deine Erinnerungen ein bisschen aufzufrischen.“

Ihre Augen weiteten sich alarmiert, doch er gab ihr keine Gelegenheit zu reagieren. Stefano schlang die Arme um sie, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihren Mund.

In seiner Umarmung wurde sie stocksteif. Er lächelte. Wenn Anna unbedingt Spielchen spielen wollte, bitte sehr. Aber dieses Mal war nicht sie es, die das Ruder in der Hand hielt.

Er fühlte ihre weichen Lippen und spürte ihre vollen Brüste anseinem Körper. Ihre Nähe, ihre Wärme, ihren Duft … Das Blut in seinen Adern verwandelte sich in flüssiges Feuer, und der Wunsch, sie zu bestrafen, verwandelte sich in pures Verlangen.

Doch ehe mehr passieren konnte, drehte Anna abrupt den Kopf zur Seite und unterbrach den Kuss. Im nächsten Moment kollidierte ihre rechte Hand mit seiner linken Wange.

„Was denkst du eigentlich, was du da tust?“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wirkte schockiert und fuchsteufelswild zugleich. „Du bist …“ Ihre Stimme versagte.

„Was bin ich?“ Er hob eine Braue und versuchte verzweifelt, die Kontrolle zu bewahren. Er hatte ganz vergessen, dass ein einziger Kuss das Potenzial hatte, ihn in einen hormongesteuerten Teenager zu verwandeln.

Sie blinzelte, und als sie ihn dann anblickte, war die Wut aus ihrem Blick Furcht gewichen. Auf einmal war sie totenblass. „Stefa…“

Sie schwankte.

„Anna?“

Er schaffte es gerade noch, sie aufzufangen, ehe sie auf dem Boden aufkam.

2. KAPITEL

Anna hatte die Einlieferung ins Krankenhaus wie in einer Art Dämmerzustand miterlebt, war immer wieder kurz aufgewacht und gleich wieder eingeschlafen. Als sie nun in ihrem sterilen Krankenhauszimmer erwachte, fühlte sie sich viel klarer als den ganzen Tag über. Das Hämmern in ihrem Kopf war abgeflaut. Was seine Stelle eingenommen hatte, war allerdings kaum angenehmer: Angst.

Sie musste die Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass sie allein war.

Die Erinnerung an Stefanos Kuss überfiel sie. Es war ein beinahe schon brutaler Kuss gewesen. Höhnisch. Und definitiv mehr, als ihr ohnehin schon mitgenommener Körper ertragen konnte.

Sie war zusammengebrochen.

Stefano hatte sie aufgefangen.

Offenbar glaubte er aus irgendeinem Grund, dass sie verheiratet waren – zumindest hatte sie ihn immer wieder so etwas sagen hören. Und das Krankenhauspersonal schien demselben Irrtum aufzusitzen.

Anna zwang sich nachzudenken. Der ganze Tag kam ihr surreal vor, und sie erinnerte sich nur an winzige Details. Daran, wie Stefano sie auf sein Bürosofa gelegt und dabei laut gebrüllt hatte, dass irgendjemand einen Notarzt rufen solle.

Er war im Krankenwagen mitgefahren. Hatte an ihrer Seite gestanden, als sie wieder wach und aufnahmefähig genug gewesen war, um die Fragen der Ärzte zu beantworten, die alle möglichen Tests mit ihr durchführten. Er war sogar bei einigen Untersuchungen dabei gewesen. Und hätte zwischen ihnen nicht diese düstere Anspannung in der Luft gelegen, wäre sie dankbar für seine Gegenwart gewesen. Vor allem, da Melissa nicht aufgetaucht war.

Wo, zum Teufel, steckte ihre Schwester? Es war schlichtweg ausgeschlossen, dass sie in einem Flugzeug nach Australien saß. Das hätte sie niemals getan, ohne vorher mit ihr zu sprechen, da war Anna sicher. Auf gar keinen Fall. Davon abgesehen, lebten sie zusammen. Anna hätte es auf jeden Fall gewusst.

Sie verstand die Welt nicht mehr.

Da war dieser Ehe-Blödsinn, bei dem es sich um eine Art schlechten Scherz handeln musste. Aber seit wann hasste Stefano sie? Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Trotz seiner offensichtlich ehrlichen Sorge um ihre Gesundheit fühlte es sich an, als würde ein scharfer Wachhund sie bewachen und jedes Mal, wenn er in ihre Richtung blickte, die Zähne fletschen.

Die Tür wurde geöffnet, und der Arzt von vorhin betrat den Raum, dicht gefolgt von Stefano.

Annas Herz fing an, schneller zu schlagen. Die beiden sahen aus wie zwei Verschwörer. Hatten sie hinter ihrem Rücken über sie geredet?

„Was stimmt nicht mit mir?“, fragte sie.

Der Arzt hockte sich auf den Rand ihres Bettes und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Sie haben eine Gehirnerschütterung von Ihrem Sturz letzte Nacht.“

„Ich erinnere mich aber an keinen Sturz“, sagte Anna. „Meine Schwester hat etwas davon in ihrem Brief geschrieben … Haben Sie Melissa erreicht?“

„Ihr Flugzeug ist noch nicht gelandet.“

„Sie kann nicht an Bord sein.“

„Ist sie aber“, meldete Stefano sich zu Wort. Er saß auf dem Besucherstuhl, einen halben Meter vom Bett entfernt. Seine Haltung war die eines Mannes, der jedes Recht besaß, sich hier aufzuhalten. Anscheinend hatte die kurze Pause von ihr ihm gutgetan, denn er sah jetzt weniger wie ein wütender Wachhund aus. Er wirkte … entspannter. Nicht unbedingt glücklich, aber durchaus zufrieden. „Melissa hat sich einen Monat freigenommen, um nach Australien zu gehen und den fünfzigsten Geburtstrag eurer Mutter zu feiern“, erklärte er schließlich.

„Unmöglich.“ Sie verspürte einen heftigen Stich bei dem Gedanken. „Das hätte sie niemals getan. Nicht, ohne mit mir darüber zu sprechen.“

„Wahrscheinlich hat sie sogar mit Ihnen darüber gesprochen“, schaltete sich der Arzt ein. „Ihre Untersuchungen waren ergebnislos.“

„Was soll das heißen?“

„Dass es keinerlei Blutungen oder sonstige Verletzungen gibt, über die wir uns Sorgen machen müssen. Aber es deutet alles darauf hin, dass Sie unter einer retrograden Amnesie leiden.“

„Amnesie?“ Anna hob eine Braue. „Ich werde also nicht verrückt?“

Das Lächeln des Arztes sah mehr wie eine Grimasse aus. „Nein. Aber wie es aussieht, haben Sie die Erinnerung an etwa ein Jahr Ihres Lebens verloren.“

Anna atmete erleichtert auf. Mit einer Amnesie konnte sie klarkommen. Das war immer noch besser als die Alternative, die ihr im Lauf des Tages immer wahrscheinlicher vorgekommen war. Nämlich, dass sie schlicht und ergreifend dabei war, den Verstand zu verlieren.

Autor

Michelle Smart
Michelle Smart ist ihrer eigenen Aussage zufolge ein kaffeesüchtiger Bücherwurm! Sie hat einen ganz abwechslungsreichen Büchergeschmack, sie liest zum Beispiel Stephen King und Karin Slaughters Werke ebenso gerne wie die von Marian Keyes und Jilly Cooper. Im ländlichen Northamptonshire, mitten in England, leben ihr Mann, ihre beiden Kinder und sie...
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