Anne - verehrt und begehrt

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

England, 1813: Die liebreizende Anne Darlington verzaubert die Sinne von Major lan Sinclair, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Doch lan weiß, dass diese Liebe nicht sein darf! Denn seit einer schweren Kriegsverletzung, verursacht durch die Feigheit von Annes Vater Colonel Darlington, ist lan dem Tode geweiht und kann die junge, betörend schöne Anne niemals glücklich machen. Davon ahnt sie nichts. Sie weiß nur, dass sie vom ersten Moment an, als sie lan - im Testament ihres Vater zu ihrem Vormund bestimmt - begegnet ist, ihr Herz an ihn verloren hat. Und so sind all seine Bemühungen, für Anne während zahlreicher Weihnachtsbälle einen geeigneten Ehemann zu finden, zum Scheitern verurteilt. Denn niemals wird sie einen anderen als lan lieben...


  • Erscheinungstag 07.09.2015
  • Bandnummer 169
  • ISBN / Artikelnummer 9783954460434
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Sinclair Hall, England, Dezember 1813

„Nein, ein Irrtum ist ganz ausgeschlossen, Mr. Sinclair. Sie können sicher sein, dass wir das Testament des Colonel sehr sorgfältig prüften. Es steht zweifelsfrei fest, dass er seine Tochter Ihren verlässlichen Händen anvertrauen wollte.“

Ian Sinclair, ehemaliger Major der Truppen Seiner Majestät in Portugal, presste die wohlgeformten Lippen zusammen, um eine weitere zweifelnde Äußerung zu unterdrücken. Möglich war es immerhin, dass George Darlington ihn zum Vormund seiner Tochter bestimmt hatte, doch war es ebenso unglaublich wie die Tatsache, dass Darlington überhaupt eine Tochter in die Welt gesetzt hatte.

„Und das Kind?“ fragte Ian.

Schließlich sollte ihm seine erste Sorge gelten. Das kleine Mädchen hatte seinen Vater und damit den einzigen Elternteil verloren, den es kannte. Da Ian aber über Darlington gut Bescheid wusste, fragte er sich, wie oft das Kind ihn wohl zu Gesicht bekommen haben mochte, geschweige denn, ob es mit ihm vertraut gewesen war.

„Es lebt in einem vornehmen Pensionat im Norden, in einer etwas abgeschiedenen Gegend, zu der die Familie irgendeine Beziehung haben muss.“

„Vielleicht gibt es dort Verwandte?“ mutmaßte Ian. Es war der erste Hoffnungsschimmer, der ihm winkte, seit er das Gespräch mit George Darlingtons Anwalt begonnen hatte. Der Mann war eigens aus London gekommen, um ihn über die testamentarischen Verfügungen seines verstorbenen Klienten zu unterrichten.

„Meines Wissens nicht. Gewiss sind Sie mit den familiären Verhältnissen Darlingtons besser vertraut als ich, Sir.“

„Eigentlich wusste ich von Colonel Darlington nicht viel“, gab Ian zurück. „Ich kannte nur seinen Ruf bei der Truppe.“

„Sie waren wohl Kampfgefährten“, sagte der Anwalt verständnissinnig.

Ian behielt für sich, wie unzutreffend dieser Begriff für die Beziehung zwischen ihm und Darlington war. Auch wenn der Colonel als Offizier versagt hatte, und nach Ians Meinung war dies in vielfacher Hinsicht der Fall, wollte er von einem Toten nicht schlecht sprechen.

Auch nicht, wenn dieser Mann ihm unversehens ein Kind aufhalste, das Ian nicht kannte und von dessen Existenz er bis zu diesem Tag nichts geahnt hatte.

„Nun habe ich Ihre Zeit schon genug beansprucht“, sagte der Anwalt beinahe in Hochstimmung. „Und ich glaube, dass alle Einzelheiten nun zur jedermanns Zufriedenheit besprochen wurden.“

Ian fragte sich, ob der Mann wirklich so beschränkt oder nur erleichtert war, weil man ihm nicht die Tür gewiesen hatte, als er den Grund seines Besuches enthüllte. Wahrscheinlich war er heilfroh, dass er die Verantwortung für das arme Kind einem anderen aufgebürdet hatte.

„Hier ist die Adresse des Pensionats. Ich glaube, sämtliche anfallenden Kosten wurden bis zum Ende des Semesters beglichen.“

„Das schon sehr nahe ist“, bemerkte Ian, der die Hand nach dem feinsäuberlich geschriebenen Dokument ausstreckte. „Meine Schulzeit liegt schon so lange zurück, dass die Einzelheiten mir nur undeutlich in Erinnerung sind, doch weiß ich noch, dass ich Weihnachten zu Hause verbrachte.“

Der Anwalt schürzte kurz die Lippen, ehe er sagte: „Zweifellos ist Ihr Gedächtnis hervorragend, Mr. Sinclair.“

Dieser gewöhnlichen Bemerkung lag ein Ton zu Grunde, aus dem Ian nicht klug wurde. Er studierte das teigige Gesicht des Mannes und versuchte zu ergründen, was ihn daran störte.

„Wo verbrachte das Kind seine Ferien, wenn es doch keine Angehörigen hatte und sein Vater im Ausland stationiert war?“ fragte er.

„Soweit ich weiß, im Pensionat. Es gibt immer einige Schüler, die aus dem einen oder anderen Grund nicht nach Hause können.“

Das traf auch auf sein eigenes Internat zu, wie Ian noch wusste. In seiner Erinnerung sah er winterbleiche Gesichter, die sich an die Fensterscheiben drückten und zusahen, wie ihre Mitschüler sich aufmachten, die Heimreise durch die in Schnee gehüllte englische Landschaft anzutreten.

„Ich verstehe“, sagte Ian, in Gedanken bei der lautstarken Erregung längst vergangener Sinclair’scher Weihnachtsfeste. Unwillkürlich dachte er auch an ein einsames kleines Mädchen, das womöglich nie richtige Weihnachten auf dem Land erlebt hatte. Zumindest nicht in den letzten, vom Krieg zerrissenen Jahren seines Lebens.

„Ach, machen Sie sich nicht die Mühe, mich hinauszubegleiten“, sagte Darlingtons Anwalt munter, als Ian sich aus seinem Stuhl hochstemmte. „Wie ich sehe, leiden Sie noch an den Nachwirkungen Ihrer Verwundung, und ich möchte nicht …“

Der Anwalt hielt mitten im Satz inne, als er den Blick bemerkte, den Ian einst erfolgreich angewandt, um bei seiner Truppe jeden Verstoß gegen die militärische Disziplin zu ahnden.

Es war ein Blick, der das Opfer aus haselnussbraunen, nach Ians Ansicht wenig bemerkenswerten Augen traf. Umso erstaunlicher war es für ihn, dass dieser Blick nun ebenso wirkte wie einst bei seinen Untergebenen, obwohl er nur ein Jahr lang Gelegenheit gehabt hatte, ihn im Dienst anzuwenden.

Ohne auf den halb vollendeten Satz des Anwalts einzugehen, sagte Ian zuvorkommend: „Ich bringe Sie gern hinaus.“

Nach einem feuchten und bitterkalten Tag verhieß der dunkle, verhangene Dezemberhimmel Schnee. Es war ein Wetter, das Ian die Nachwirkungen seiner Verwundung besonders schmerzlich spüren ließ, wiewohl er selbst sich Mühe gab, diese nach Möglichkeit zu ignorieren, und seine Familie und das Personal es ihm darin gleichtaten.

Es war eine Lektion, die alle während seiner Genesung sehr früh lernen mussten. Seinem Besucher konnte er freilich keinen Vorwurf machen, da dieser nicht ahnte, wie empfindlich ihn jede Anspielung auf seinen Zustand reagieren ließ.

„Kann ich Sie wirklich nicht überreden, Ihre Rückkehr aufzuschieben?“ fuhr Ian fort und ging voraus zur Tür. „Wenn ich mir vorstelle, dass Sie bei diesem Wetter unterwegs sein müssen …“

„Nein, Mr. Sinclair, aber trotzdem vielen Dank für Ihre freundliche Einladung.“

„Dann wünsche ich eine gute Fahrt, Mr. Smythe.“

In der Halle angelangt, sah Ian zu, wie sein Butler dem Gast in den Mantel half. Dann stülpte Mr. Smythe seinen hohen Zylinder über das schüttere eisengraue Haar. Er zog abwehrend die Schultern hoch, als die weite Flügeltür geöffnet wurde und der Dezemberwind feucht und kalt ins Haus fegte.

„Ein elendes Wetter für Mensch und Tier“, sagte Williams, der hinter dem Besucher rasch die Tür schloss.

„Er scheint es recht eilig zu haben, da er meine Einladung, über Nacht zu bleiben, ausschlug.“

„Vielleicht möchte er schleunigst zurück zur Familie“, sagte der Butler.

„Ganz gewiss“, meinte Ian darauf. Ihm fiel ein, dass dies das erste Weihnachtsfest war, das er zu Hause verbrachte, ohne dass ein Mitglied seiner Familie mit ihm gefeiert hätte.

Der Jüngste der Brüder Sinclair befand sich noch bei Wellingtons Truppen auf der Iberischen Halbinsel. Und da er selbst drei Jahre unter diesen Umständen verbracht hatte, wusste Ian genau, wie Sebastian Weihnachten feiern würde.

Falls es geglückt war, Wein zu beschaffen, würde man diesem reichlich zusprechen und dazu vielleicht ein paar zähe Hähnchen verzehren, die erst stundenlanges Schmoren genießbar gemacht hatte. Nach dem Dinner würden sich die Offiziere am Kamin des von Wellington zum Hauptquartier bestimmten Hauses zum Singen von Weihnachtsliedern zusammenfinden, in dicke Uniformmäntel gehüllt, da die feuchte, erbarmungslos durch die Mauern dringende Kälte, die einen bis auf die Knochen frieren ließ, diese unentbehrlich machte.

Ian merkte, dass er in Erinnerung an diese Härten lächelte. Die herzliche Kameradschaft, die diese Männer verband, machte alles erträglicher. Und Sebastian musste das Weihnachtsfest wenigstens nicht allein feiern.

Val natürlich auch nicht. Ians Lächeln wurde breiter, obwohl er es sich versagte, sich genau auszumalen, wie sein älterer Bruder Weihnachten verbringen mochte. Im Jagdhaus der Sinclairs verborgen, schienen Dare und seine Countess entschlossen, ihre Flitterwochen wie einst üblich bis zum Ende des Jahres ihrer Eheschließung auszudehnen.

Und Ian war der Letzte, der seinem Bruder sein junges Glück missgönnt hätte. Dare, der im Verborgenen gegen denselben Feind kämpfte, gegen den Ian und Sebastian mit konventionelleren Waffen angetreten waren, hatte es sich mehr als verdient.

Dennoch wird es ein einsames Weihnachtsfest, dachte Ian, als er zurück ans Kaminfeuer hinkte. Und ungebeten kam die fast vergessene Erinnerung an jene kleinen, bleichen Gesichter, die sich vor so langer Zeit sehnsüchtig an die Fensterscheiben von Harrow drückten. Ein verdammt einsames Weihnachtsfest.

1. KAPITEL

„Verzeihung“, sagte Anne Darlington und hob, auf dem Steinboden kniend, endlich den Blick, in der Hand den verschmutzten Saum von Sally Eddingtons wollenem Unterrock, der gekürzt werden musste, damit die Kleine ihn beim Gehen nicht über den Boden schleifte. Ihre Näharbeit, die sie verrichtete, während die Sechsjährige den Unterrock anbehielt, hatte sie so in Anspruch genommen, dass sie den ersten Teil der Nachricht, die die Vorsteherin ihr überbringen ließ, überhörte.

„Es ist dein Vormund“, sagte Margaret Rhodes wichtigtuerisch. „Er ist gekommen, um dich über Weihnachten nach Hause zu holen.“

„Wie schön für dich, Sally“, sagte Anne. Sie nähte hastig einen großen Stich, beendete ihr Werk mit einem festen Knoten und biss den Faden ab, ehe sie hinzusetzte: „Ich wusste gar nicht, dass du heute abreisen sollst.“

Tatsächlich hatte sie gar nicht gewusst, dass Sally einen Vormund hatte. Anne konnte sich deutlich erinnern, dass das kleine Mädchen die letzten Ferien im Internat verbracht hatte. Es gab nur eine Hand voll Zöglinge, die das mussten, und da Anne selbst immer zu ihnen gehörte, wusste sie, wer die anderen waren. Und kannte deren Geschichte.

Den Verlust der Mutter, meist im Kindbett nach dem nächsten, zu rasch empfangenen Kind. Die neuerliche Heirat des Vaters etwa. Oder sein mangelndes Interesse.

Anne nahm an, dass auch sie in letztere Kategorie fiel, doch hatte sie schon längst aufgehört, sich über das Desinteresse ihres Vaters den Kopf zu zerbrechen. Tatsächlich war sie ihm dankbar für die Erziehung, die er ihr angedeihen ließ, auch wenn sie auf seine Nähe verzichten musste. Erst vor kurzem hatte Mrs. Kemp ihr hier eine Stelle als Lehrerin für das kommende Schuljahr angeboten.

Dann werde ich nie fortgehen müssen, dachte Anne zufrieden. Sie zupfte Sallys Rock zurecht und strich das karottenrote Kraushaar glatt, von dem das Sommersprossengesicht der Kleinen umrahmt war.

„Aber ich gehe nicht fort“, sagte Sally, deren Augen bei dieser Vorstellung ganz rund wurden.

„Nicht sie, du Dummchen“ , berichtigte Margaret den Irrtum. „Dich holt er ab.“

Anne drehte den Kopf und sah nun erst Margaret an. „Mich?“ wiederholte sie erstaunt.

„Und Mrs. Kemp sagt, dass du ihn nicht warten lassen darfst.“

Anne wollte protestieren, ließ es dann aber sein. Was immer im Gange sein mochte, es war eine Abwechslung in der üblichen nachmittäglichen Routine des Naseputzens und Abhörens von Hausaufgaben.

Entweder erlaubten sich die Mädchen einen Scherz, oder es handelte sich um einen Irrtum. So oder so, wenn sie mitging, war es unterhaltsamer als ihre gegenwärtige Tätigkeit.

„Na, da kann ich ihn natürlich nicht warten lassen“, sagte Anne munter. „Sicher ist er aus London gekommen.“

„Das weiß ich nicht“, vertraute Margaret ihr an. „Aber er kam in einer schicken Kalesche mit dem flottesten Vierergespann, das man sich vorstellen kann.“

„Wenn Mrs. Kemp dich so reden hört, wirst du ganz flott was zu hören bekommen“, warnte Anne die Kleine.

Sie milderte die Ermahnung mit einem Lächeln und lief auch schon, gefolgt von den kleinen Mädchen, den breiten Korridor entlang. Kein gutes Beispiel, hätte Mrs. Kemp gerügt, zumal von jemandem, der Lehrerin werden wollte.

Da aber die Pensionatsvorsteherin nicht zugegen war, sah Anne keinen Grund, nicht zu laufen und ihre überschüssige Energie abzureagieren, die sich durch das vom Wetter bedingte Eingeschlossensein aufgestaut hatte. Wie froh würde sie sein, wenn der Frühling kam und sie wieder Felder und Wälder durchstreifen konnte.

Als sie sich der offenen Tür des Büros näherte, verlangsamte sie ihren Schritt und steckte ein paar lose Strähnen in den ordentlichen Knoten, dem sie entschlüpft waren, richtete die Schultern ihres Kleides aus billigem Wollstoff zurecht und strich das Leibchen glatt. Dann warf sie einen hastigen Blick hinter sich, um Margarets Erscheinung zu prüfen, wohl wissend, dass diese nach Mrs. Kemps Meinung sicher verbesserungswürdig war.

Sie hatte Recht. Der Kittel des jüngeren Mädchens war nicht zugeknöpft. Anne drehte sich um und versuchte, die Zehnjährige rasch ein wenig zurechtzumachen.

Margarets verblüffter Ausdruck hätte sie warnen müssen, doch bemerkte sie nichts, bis es zu spät war. Ein leises Aufstöhnen war zu hören, nachdem sie gegen etwas Festes gestoßen war.

Gegen jemanden, wie ihr zu spät klar wurde, als sie sich rasch umdrehte. Gegen jemand sehr Großen, der elegant und modisch gekleidet war, wie sie – obschon Provinzlerin – mit einem Blick feststellte, von den blank polierten, quastengeschmückten hohen Stiefeln bis zu den breiten Schultern des erstklassig geschnittenen Gehrockes aus marineblauem, feinem Tuch. In Anbetracht des Wetters musste er dazu zweifellos einen Mantel mit mehrfachem Schulterkragen und einen hohen Biberfilzzylinder tragen, die er sicher in Mrs. Kemps Büro abgelegt hatte.

„Ach, du meine Güte“, stieß sie hervor. „Hoffentlich habe ich Ihnen nicht wehgetan.“

Er sah zwar nicht so aus, als könnte man ihm leicht etwas anhaben, doch hatte sein Aufstöhnen schmerzlich geklungen. Und der angespannte Zug um den schön geformten Mund verriet ebenfalls großes Unbehagen.

Erst als er den Mund verzog und diesen Eindruck zunichte machte, blickte Anne auf und sah seine Augen. Sie waren braun und lächelten so unverkennbar wie seine Lippen.

Lächelnde Augen. Sie hatte diesen Ausdruck aus einem Roman, von dessen Lektüre Mrs. Kemp natürlich nichts wissen durfte. Bis heute hatte Anne nicht gewusst, was er bedeutete. Bis jetzt. Ihr Herzschlag geriet ein wenig aus dem gewohnten Rhythmus.

„Ich glaube, ich habe Ihren Angriff überlebt“, sagte er.

„Aber eigentlich sollte man immer in die Richtung schauen, in die man geht. Nur um zu vermeiden, dass man über das Unerwartete stolpert.“

Anne lachte. „Bedenken Sie aber, wie langweilig es wäre, wenn man immer nur in die Richtung schaute, die man einschlägt. Ich muss gestehen, dass ich es vorziehe, rücklings durchs Leben zu gehen.“ Am liebsten hätte sie hinzugesetzt: Auf diese Weise begegnet man so interessanten Menschen, doch war sie nicht sicher, ob sich das weltläufig oder nur keck anhörte.

Und während sie mit diesem Dilemma beschäftigt war, ließ er den noch immer lächelnden Blick von ihr zu Margaret gleiten. Anne schluckte ihre Enttäuschung hinunter und sah ihre kleine Freundin auch an. Margarets braune Augen waren noch immer groß, ja sogar so rund, dass ihr Blick fast ungezogen wirkte, als sie den Besucher offenen Mundes anstarrte.

„Guten Tag“, sagte der Besucher.

„‘Tag“, antwortete Margaret.

Die Selbstsicherheit, mit der sie Anne die Nachricht überbracht hatte, war verschwunden – kein Wunder, da sich hier nicht oft jemand blicken ließ, der auf den ersten Blick als den Oberen der Gesellschaft zugehörig zu erkennen war.

„Ich weiß zwar nicht genau, wie ich es schaffte“, sagte der elegante Gentleman an Margaret gewandt, „doch gelang es mir, Mrs. Kemp hinsichtlich meiner Identität und meiner rechtlichen Position als dein Vormund zufrieden zu stellen. Sie ist einverstanden, dass wir aufbrechen, sobald du fertig bist. Da ich unangekündigt kam, könnte ich mir denken, dass das Packen einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte, doch hoffe ich, dass du dich beeilst, da das Wetter sich mit jeder Minute verschlechtert.“

Margaret schwieg. Als er geendet hatte und sekundenlang Stille eintrat, löste sie widerstrebend den Blick von seinem Gesicht und blickte Anne an.

„Sie holen nicht mich“, sagte sie und deutete mit einem zitternden Finger auf Anne. „Das ist Anne Darlington.“

Sein Blick folgte der Richtung, in die sie zeigte, und als Anne ihm begegnete, sah sie, dass in seinen Augen kein Lächeln mehr lag. In ihnen lag nun dasselbe Erstaunen wie in Margarets, doch auch so wirkten sie ungemein ansprechend, wie sie fand.

Sie sind Anne Darlington?“ fragte er sichtlich verblüfft.

Der Name steht jetzt fest, dachte Anne, die versuchte, sich einen Reim auf alles zu machen.

„Das bin ich“, sagte sie und neigte zustimmend den Kopf in der Hoffnung, diesem Eingeständnis damit einen Hauch von Würde zu verleihen.

„Die Tochter Colonel Darlingtons?“

„Kannten Sie meinen Vater, Sir?“

Wieder trat Stille ein.

„Ich diente mit Ihrem Vater unter Wellington, Madam. Darf ich Ihnen zu Ihrem Verlust mein Beileid aussprechen?“

Anne, die noch nie im Leben mit Madam angesprochen worden war, fand es ziemlich schockierend, doch abgesehen davon, dämmerte ihr allmählich, um was es ging. Vielleicht war der Mann tatsächlich ihr Vormund. Vielleicht hatte ihr Vater in jüngeren Jahren für den Fall seines Todes einen Freund dazu bestimmt. Und nun war dieser Fall eingetreten …

„Danke“, sagte sie verhalten.

Da sie ihren Vater seit über sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte und davor auch nur selten, hatte sie die Trauer um ihn als unwirklich empfunden und sich von der Nachricht seines Todes, die erst vor zwei Monaten eingetroffen war, rasch erholt.

„Mein Name ist Ian Sinclair. Das Testament Ihres Vaters bestimmte mich zu Ihrem Vormund.“

Wie sonderbar, dachte Anne. Nicht ‚Ihr Vater bat mich‘, was zu erwarten gewesen wäre, sondern ‚Das Testament Ihres Vaters bestimmte mich‘.

„Und Sie willigten ein?“

„Colonel Darlington war ein … Waffengefährte.“

Anne wunderte sich über das kurze Zögern, doch hatte sie von militärischen Dingen keine Ahnung. Offenbar hatte ihr Vater unter seinen Bekannten denjenigen ausgewählt, den er für genügend vertrauenswürdig hielt, sich um sie zu kümmern.

Sie fragte sich, vor wie vielen Jahren diese Entscheidung getroffen worden sein mochte. Angesichts von Mr. Sinclairs Meinung, Margaret sei sein Mündel, drängte sich ihr sogar die Frage auf, ob ihr Vater sich überhaupt gemerkt hatte, wie alt sie war. Geburtstage hatte er sich ohnehin nie merken können. Tatsächlich hatte er sich kaum ihrer Existenz erinnert.

„Wie Sie sehen, Mr. Sinclair, brauche ich wohl kaum mehr einen Vormund“, sagte sie forsch. „An meinem nächsten Geburtstag werde ich zwanzig, und Mrs. Kemp bot mir einen Posten als Lehrerin an. Natürlich konnte mein Vater von diesem Angebot nichts wissen, da es nach seinem Tod gemacht wurde.“

„Sie korrespondierten also regelmäßig mit Ihrem Vater?“

Der Blick seiner haselnussbraunen Augen lag eindringlich auf ihr, und aus irgendeinem Grund sah Anne sich genötigt, ihm die Wahrheit zu sagen.

„Nein“, antwortete sie mit Nachdruck.

„Ich verstehe.“

Obwohl Anne so gut wie ihr ganzes Leben unter Mädchen zugebracht hatte, deren Eltern sich nicht mit ständig wechselnden Gouvernanten und Hauslehrern belasten wollten, hatte sie sich schließlich eingestehen müssen, dass das völlige Fehlen von Interesse seitens ihres Vaters äußerst ungewöhnlich war. Die meisten Zöglinge erhielten wenigstens gelegentlich Briefe oder Geschenke oder bekamen dann und wann Besuch. In all den Jahren, die sie auf der Fenton School verbracht hatte, hatte es nichts dergleichen für sie gegeben.

„Es tut mir sehr Leid, dass Sie diese Fahrt vergebens machen mussten“, sagte Anne. „Zumal bei so unsicherem Wetter.“

Er presste die Lippen zusammen, und wieder fielen Anne die tief eingegrabenen Linien auf. Sie fragte sich, wie alt er sein mochte, doch war etwas an seinem Gesicht, das sich trotz des Anflugs von Grau an den Schläfen seiner dunkelbraunen Haare jedem Versuch einer Schätzung entzog. Wenn seine Augen lächelten, wirkte er jung, nun aber …

„Ehrlich gesagt, fürchtete ich mich vor einsamen Weihnachten“, sagte er und lächelte ihr wieder zu.

Anne hatte die Feiertage nicht gefürchtet, da sie die Ruhe zu schätzen wusste, die dann herrschte. Es würden nur wenige Mädchen im Haus bleiben, und einige von ihnen waren wie Sally noch klein. Da Anne der älteste und am längsten hier lebende Zögling war, hatte man ihr schon lange die Vorbereitungen für die Festtage übertragen, eine Aufgabe, auf die sie sich freute.

Doch rührte etwas an der Erklärung des eleganten Gentleman so an ihr Herz wie Sallys heimliche Tränen in den ersten hier verbrachten Nächten. Aber wer bist du, Anne Darlington, dass du mit einem wie ihm Mitleid empfindest? schalt sie sich geringschätzig.

„Könnte ich Sie nicht überreden, mit mir zu kommen?“ fuhr Ian Sinclair fort. „Sie ahnen ja nicht, wie sehr mein Personal sich freut, über die Feiertage einen Gast zu beherbergen. Leider war mein Leben in letzter Zeit für den Geschmack meiner Leute viel zu ruhig. Sie rechnen mit Ihrer Ankunft, um Weihnachten auf althergebrachte Weise mit allem Drum und Dran feiern zu können.“

Mein Leben in letzter Zeit. Allmählich konnte Anne sich einen Reim auf die kleinen, doch viel sagenden Hinweise machen. Ian Sinclair kannte ihren Vater vom Krieg auf der Iberischen Halbinsel her. Da er nach England zurückgekehrt war, während die britischen Truppen noch um einen entscheidenden Sieg in Spanien kämpften, konnte es nur einen Grund geben. Einen Grund, der die leidvollen Furchen in seinem Gesicht und vielleicht auch den fast unhörbaren Seufzer erklärte, als sie gegen ihn geprallt war.

Wenn es etwas gab, das Anne Darlington noch verlässlicher ans Herz griff als ein weinendes Kind, dann war es ein leidendes Wesen. Hätte es nicht Mrs. Kemps strikte Regeln gegeben, die Schule wäre während Annes jahrelanger Anwesenheit zur Zuflucht aller herrenlosen Hunde und verletzten Eichhörnchen geworden.

Unwissentlich und ohne bewusste Absicht hatte Ian Sinclair eine Einladung ausgesprochen, der Anne nicht widerstehen konnte.

„Dann möchte ich Sie nicht enttäuschen“, sagte sie tapfer, „schon gar nicht in dieser freudenreichen Zeit.“

Es ist nicht das, worauf ich mich eigentlich einließ, dachte Ian, während er in Mrs. Kemps Büro auf Anne wartete.

Und Anne selbst hatte ihm willig die ideale Rechtfertigung geliefert, diese Farce nicht länger aufrechtzuerhalten. Aus irgendeinem Grund aber hatte ihn nichts so sehr bewogen, sie zum Mitkommen zu drängen, als das, was er behauptet hatte, dass nämlich sein Personal sich über einen Gast zu Weihnachten freuen würde. Und er konnte nur annähernd ahnen, wie seine Leute reagieren würden, wenn er nicht mit dem erwarteten Kind, sondern mit einer jungen Frau zurückkam.

„… werde sie aufrichtig vermissen, Mr. Sinclair. Nicht dass ich Anne ihre Chance missgönne“, sagte Mrs. Kemp und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Sie ist eine ungewöhnlich intelligente und warmherzige junge Frau, die alles Gute verdient. Ich freue mich sehr, dass sie den ihr gebührenden Platz in der Gesellschaft einnehmen wird. Ich fürchtete schon, ihrem Vater wäre nicht klar gewesen, wie wichtig es ist, ihr eine Saison zu ermöglichen.“

Die Worte hätten nicht ernüchternder sein können. Ian war am Morgen in der Erwartung von zu Hause aufgebrochen, ein kleines Mädchen über die Feiertage mitzubringen. Und plötzlich sah er sich ohne Vorwarnung der Aufgabe gegenüber, eine junge Dame in die Gesellschaft einzuführen, eine Rolle, für die er denkbar ungeeignet war.

Schließlich war sein Kontakt mit dem ton durch seinen Militärdienst und seine langwierige Genesung sehr abgekürzt worden. Er hatte natürlich Bekannte innerhalb dieses elitären Kreises, was es aber bedeutete, George Darlingtons Tochter eine anständige Saison zu bieten, ging weit über das hinaus, was er im Sinn hatte, als er zu dieser hirnverbrannten Fahrt aufbrach.

‚Sentimentaler Esel‘, hätte Sebastian ihn gescholten. Und Dare hätte ihm vorgehalten, dass sich niemand um Anne Darlingtons Erziehung kümmern würde, wenn er sich als Folge einer ausgedehnten Fahrt durch den Schneesturm den Tod holte. Obwohl sie nicht viel Erziehung benötigte, wie Ian sich eingestehen musste.

Tatsächlich war sie bereits erwachsen. Die meisten Mädchen ihres Alters waren verheiratet und damit beschäftigt, den ersehnten Erben für ihre Ehemänner hervorzubringen. Nur weil sie jahrelang hinter den Toren der Fenton School versteckt gelebt hatte, hieß das noch lange nicht, dass die Gesellschaft sie nicht als Frau sehen würde.

„Ihre Saison?“ widerholte er und überlegte erschrocken, was er von diesen Dingen wusste.

Viel war es nicht. Natürlich hatte er mit Debütantinnen getanzt. Das wurde von jedem Mann seines Standes erwartet, doch hatte niemals die Verantwortung auf ihm gelastet, ein junges Mädchen in die Gesellschaft einzuführen. Und er wurde das Gefühl nicht los, Mrs. Kemp erwarte es von ihm.

„Aber natürlich“, sagte Mrs. Kemp. „Die Familie ihrer Mutter war sehr angesehen. Ihr Großvater war Viscount. Und die Darlingtons waren ebenso vornehm, glaube ich. Annes Vater freilich …“ Mrs. Kemp ließ zartfühlend eine Pause eintreten und zog eine Braue hoch. „Waren Sie mit ihm befreundet, Mr. Sinclair?“

„Er war ein Bekannter“, sagte Ian vorsichtig.

Er war entschlossen, für sich zu behalten, was er von Darlington hielt. Hätte er es geäußert, hätte es sich ungünstig auf Darlingtons Tochter ausgewirkt, die diesen Makel nicht verdiente.

„Ach so“, sagte Mrs. Kemp leise. „Ich konnte mir nicht denken, dass Sie beide …“ Wieder schwieg sie und begegnete Ians Blick mit völligem Verständnis. „Er hat Anne schrecklich vernachlässigt. Würde ich das Mädchen charakterlich nicht so hoch schätzen, hätte ich es schon vor Jahren wegschicken müssen, da er seinen finanziellen Verpflichtungen nur unzulänglich nachkam.“

„Seine Anwälte erwähnten, dass er das Schulgeld bezahlt habe“, sagte Ian, der eine Aufwallung von Zorn gegen Annes Vater verspürte.

„Das Schulgeld schon, aber darüber hinaus gar nichts. Was seine Kleidung betraf, war das arme Kind auf unsere Großherzigkeit angewiesen.“

„Mrs. Kemp, Sie können versichert sein, dass Ihnen alles aus dem Erbe Darlingtons erstattet wird. Da ich aber seine Neigung zu Glücksspiel und anderen … Lastern kenne, vermag ich nicht zu sagen, wie viel vorhanden ist. Aber Ihre Güte wird Ihnen vergolten, selbst wenn ich alles aus meiner Tasche bestreiten müsste.“

„Mr. Sinclair, ich will kein Geld, und Ihres schon gar nicht. Aber ich möchte, dass Anne ihre Chance bekommt, glücklich zu werden. Eine Chance, die sie mehr als verdient. Sie ist ein gutes Kind von warmherzigem und großzügigem Wesen. Ich wünschte, jemand würde dafür sorgen, dass sie in Lebensumstände gerät, die ihrer Geburt eher angemessen sind als das, was wir ihr hier bieten können. Versprechen Sie mir, dass Sie Ihr Bestes tun werden, ihr diese Chance zu bieten?“

Ian war auf gut Glück in den Norden aufgebrochen, seinen Gefühlen folgend und von dem Wunsch getrieben, einem einsamen Kind festliche Weihnachten zu bereiten. Und nun wurde ihm etwas ganz anderes abgefordert. Ihm war zwar nicht ganz klar, was es bedeutete, eine junge Frau durch eine Saison zu geleiten, doch wusste er genau, was ein solches Unternehmen bezweckte.

Mrs. Kemp bat ihn, für Anne Darlington einen Ehemann zu finden. Als ihr Vormund konnte er in Wahrheit nichts weniger für das Mädchen tun, um die mit dieser Stellung verbundene Verpflichtung zu erfüllen.

„Sie haben mein Wort“, sagte er leise.

„Was für eine Chance, Anne. Eine unglaubliche Gelegenheit. Meine Liebe, versprich mir, dass du alles tun wirst, um sie zu nützen“, sagte Mrs. Kemp.

„Leider verstehe ich nicht ganz … ich meine … es ist ja nur ein Weihnachtsbesuch“, sagte Anne zweifelnd und lächelte der Vorsteherin zu, in der sie so etwas wie einen Mutterersatz gefunden hatte, da sie ihre eigene Mutter mit vier Jahren verloren hatte und kurz danach auf die Fenton School geschickt worden war.

„Das mag anfangs Mr. Sinclairs Absicht gewesen sein, doch machte ich ihm klar, dass seine Verantwortung viel weiter reicht. Schließlich ist er dein Vormund und muss dafür sorgen, dass du passend untergebracht wirst.“

Anne schüttelte den Kopf, noch immer nicht sicher, wovon Mrs. Kemp sprach. „Passend untergebracht?“ wiederholte sie. „Ich dachte, wir wären uns einig, dass ich kommendes Semester hier als Lehrerin anfange.“

„Ach, meine Liebe, das lässt sich wohl kaum mit dem vergleichen, was dir jetzt geboten wird. Ich finde es fabelhaft, dass dein Vater den Weitblick besaß, eine so gute Wahl zu treffen. Er tat es aber, und nun liegt es an dir, deine Rolle zu

spielen.“

„Meine Rolle?“

„So ist es – es geht darum, dir die gesellschaftliche Stellung zu verschaffen, die dir dank deiner Geburt zusteht. Wir beide wissen, dass du manchmal recht eigensinnig sein kannst. Ich will damit nur sagen, dass du dich von Mr. Sinclair leiten lassen musst, da er nur dein Interesse im Auge hat, wie ich dir versichern kann.“

„Aber Mrs. Kemp, Sie wissen, dass ich hier sehr glücklich bin. Natürlich freue ich mich, dass ich Mr. Sinclair in seinem Heim zu Weihnachten besuchen darf, da es sein Wunsch ist. Aber zu glauben, ich würde dort ständig wohnen oder mich von seiner Großmütigkeit abhängig machen, kann nicht in unserem Sinn sein. Glauben Sie mir, das Leben, wie ich es mir wünsche, ist hier, auch wenn Sie und er der Meinung sein mögen, ich hätte das Recht auf etwas anderes.“

„Du kannst nicht bewerten, was du nicht kennst. Und du stehst im Begriff, in eine Welt einzutreten, von der du nichts weißt. Anfangs mag sie dir Angst einflößend erscheinen, aber …“ Sie sprach nicht weiter und machte ein besorgtes Gesicht. Dann legte sie ihre Hand auf Annes Wange und umfasste sie, als wäre sie eines der kleineren Mädchen, die Trost suchten. „Ach, meine Liebe“, sagte sie mit Nachdruck, „es ist eine so große Chance. Ich beschwöre dich, das Beste daraus zu machen, komme, was da wolle.“

Tröstlich klingt das aber gar nicht, dachte Anne, die Mrs. Kemps Hand erfasste und ihre Lippen darauf drückte.

„Das werde ich“, sagte sie und lächelte der alten Dame zu. „Ich verspreche es. Eigensinnig oder nicht, ich werde zu tun trachten, was Mr. Sinclair für das Beste hält.“

Erst als sie wirklich in der Kutsche saß, auf deren Verdeck ihr Reisekoffer festgebunden war, und eine dicke Felldecke auf ihren Beinen lag, wurde Anne richtig klar, was ihr widerfuhr. In einem Internat aufgewachsen, in dem Regeln und Disziplin vorherrschten, hatte sie sich als Halbwüchsige oft genug Abenteuer zusammenfantasiert. Aber nichts an ihrem bisherigen Leben hatte sie darauf vorbereitet, ein Abenteuer tatsächlich zu erleben.

Und doch saß sie nun in einer Kutsche mit einem Mann, den sie eben erst kennen gelernt hatte, und fuhr einem für sie völlig unbekannten Ziel entgegen. Mrs. Kemps Versicherung, dass sie die Unterlagen des Anwalts geprüft habe, und ihre offenkundige Erregung über die Möglichkeiten, die Mr. Sinclairs Interesse eröffnete, waren ihr beruhigend erschienen, solange Anne sich in der sicheren und vertrauten Umgebung des Internats befunden hatte.

Nun aber war sie mit ihrem „Beschützer“ allein, und die Schauergeschichten von Entführungen, die sie mit schaudernder Wonne gelesen hatte, erschienen ihr nun allzu wirklich. Und nicht wenig Furcht einflößend.

„Nun, ist es bequem?“ fragte Mr. Sinclair und lächelte ihr vom Sitz gegenüber zu. Seine Frage bremste ihren Fantasieflug.

„Natürlich“, sagte sie wahrheitsgemäß.

Die Kutsche war nicht nur elegant ausgestattet, sondern auch sehr gut gefedert. Trotz der Kälte, die draußen herrschte, war das Innere mindestens so behaglich wie ihr Zimmer im zweiten Stock der Fenton School, doch mit jeder Meile, die sie zurücklegten, vermisste sie die vertraute Umgebung mehr.

„Gut“, sagte er.

Er hatte seinen Hut abgenommen und auf den Sitz neben sich gelegt. Nachdem sie ein Stück schweigend hinter sich gebracht hatten, lehnte er den Kopf zurück und schloss die Augen, womit er Anne gestattete, seine Züge diesmal im wenig schmeichelhaften Tageslicht zu studieren.

Sie war sicher, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte. Ian Sinclair hatte wegen einer Verwundung den Abschied nehmen müssen und war noch nicht völlig genesen. Sie hatte sein leichtes Hinken bemerkt, als sie zur Kutsche gegangen waren.

Dunkle Schatten lagen unter den langen Wimpern. Sein Gesicht war zu schmal, und unter seiner unnatürlich dunklen Haut lag ein Hauch Grau. Er presste die Lippen aufeinander, wie um einen Schmerz zu unterdrücken, den sie fast spüren konnte.

Und dennoch war es ein Gesicht, das unbestreitbar anziehend wirkte. Die Nase war so fein geformt wie sein Mund, die Stirn hoch und edel, das Kinn markant. Wie alt er auch sein mochte – und Anne konnte sein Alter so wenig schätzen wie zuvor –, Ian Sinclair war ein sehr gut aussehender Mann. Und er war ihr Vormund.

Sie fragte sich, ob das Gesetz vorsah, dass man mit neunzehn noch einen Vormund hatte. Natürlich hatte sie keine Ahnung und musste sich darauf verlassen, dass der Anwalt ihres Vaters und Mrs. Kemp von diesen Dingen mehr verstanden als sie. Keiner hatte Vorbehalte bezüglich dieses Arrangements geäußert.

Sie wandte den Kopf und blickte hinaus auf die vorübergleitende Landschaft. Der Schnee, der sich seit Tagen ankündigte, fiel nun wirklich, und wieder wunderte sie sich, dass Mr. Sinclair in seinem wenig gefestigten gesundheitlichen Zustand diese Reise unternommen hatte.

Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn bewog, eines Mädchens wegen, das er nicht kannte, dieses kühne Abenteuer auf sich zu nehmen. Verantwortungsbewusstsein vermutlich. Ein Gefühl der Verpflichtung ihrem Vater gegenüber, der sein Freund gewesen war.

Er hatte gesagt, sie seien Waffengefährten gewesen. Sie würde ihm Fragen über das Leben ihres Vaters bei der Armee stellen. Vielleicht würde Mr. Sinclair ihr helfen, endlich den Mann besser zu verstehen, der sie in die Welt gesetzt und dann verlassen hatte. Zumindest konnte er ihr mehr über ihren Vater erzählen, als ihr jetzt bekannt war. Nicht einmal sein Aussehen war ihr im Gedächtnis geblieben.

Anne wusste, dass sie ihrer Mutter ähnelte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, von wem sie es zum ersten Mal zu hören bekommen hatte, doch hatte sie es ihr Leben lang gewusst. Und je erwachsener sie wurde, desto ähnlicher wurde das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, jenem, dessen Bild sie in einem Goldmedaillon an ihrem Hals trug. Es war das einzige Vermächtnis ihrer Mutter.

Sie fasste danach und umschloss es mit den Fingern. Wenigstens etwas, das vertraut sein wird, wenn ich mein Ziel erreicht habe, dachte sie, den Blick absichtlich auf die Landschaft und nicht auf das hübsche, von Schmerzen gezeichnete Gesicht Ian Sinclairs richtend.

2. KAPITEL

„Ich fürchte, da lässt sich nichts machen“, sagte der Kutscher. Seine Stimme klang hohl und wie aus großer Entfernung unter dem Gefährt hervor. „Es ist die Achse. Die kann hier nicht repariert werden. Jemand muss losreiten und Hilfe holen.“

Ian presste die Lippen zusammen, um die Flüche zurückzuhalten, die ihm auf der Zunge lagen. Er hatte vor langer Zeit erfahren müssen, dass Verwünschungen nur eine Übung in Nutzlosigkeit darstellten. Und in den letzten vierzehn Monaten war diese schmerzliche Lektion öfter wiederholt worden, als ihm lieb sein konnte.

„Na schön. Ich fürchte, dass diese Aufgabe euch beiden zufällt“, sagte Ian und schloss damit den Stallburschen in die Anweisungen mit ein. „Nehmt das Leitgespann, und sucht in der Nähe ein anständiges Haus, das Miss Darlington Unterkunft bieten kann. Wenn es keines gibt, reitet ihr weiter und schafft von der nächsten Poststation irgendein Gefährt herbei.“

„Auf dieser Wegstrecke werden Gasthäuser unsere einzige Möglichkeit sein“, meinte der Kutscher, der unter dem Wagen hevorgekrochen war und nun mit behandschuhten Händen schmutzigen Schnee von den Knien schlug. „Ich kann mich nicht erinnern, eine Behausung gesehen zu haben, die einer jungen Dame als anständiges Quartier dienen könnte.“

„Wenn das Unwetter kommt, wird jede Behausung anständig sein. Zumindest besser als die Kutsche.“

„Ich kann reiten“, sagte Anne.

Aufblickend sah Ian sie in der offenen Kutschentür stehen. Ihr Atem umgab ihr Gesicht als weiße Wolke. Er erwog, sie zu ermahnen, lieber im Inneren zu bleiben und die Kälte nicht einzulassen. Mit dem Einfall der Dunkelheit würde es trotz der Decken und der soliden Bauweise des Wagens sehr ungemütlich werden.

Ja, es waren vier Pferde vorhanden. Ian überlegte, ob er Anne mit dem Kutscher wegschicken sollte. Nach der Mühsal des Tages war er so gut wie sicher, dass er sich nur schwer im Sattel halten würde. So ungern er es sich eingestand, musste er doch zugeben, dass Kälte und Nässe bereits ihren Tribut forderten.

Reiten gehörte zu den Vergnügungen, die ihm seit seiner Verwundung versagt waren. Natürlich gehörte es zu jenen, die er am bittersten vermisste.

„Ich glaube, wir bleiben lieber beim Wagen“, sagte er laut und lächelte, als handelte es sich nur um eine kleine Unbequemlichkeit. „Es kann nicht lange dauern, bis Hilfe eintrifft. Im Wageninneren sind wir vor der Kälte geschützt, der wir auf einem Ritt unweigerlich ausgesetzt wären.“

„Mr. Sinclair, Sie können versichert sein, dass der Ritt mich nicht krank machen wird. Ich bin aus härterem Holz geschnitzt, als es den Anschein hat“, sagte Anne, sein Lächeln erwidernd.

Das mag stimmen, dachte Ian. Sie hatte weder Zustände bekommen, noch sich über die Verzögerung beklagt. Dafür war er ihr unendlich dankbar. Im Moment hatte er andere Sorgen und konnte auf Hysterie verzichten. Vermutlich würde sie den Ritt trotz der Kälte mit Bravour meistern.

Das war auch nicht der Grund, weshalb er vorgeschlagen hatte, im Wagen zu bleiben. Er war der Grund, und nicht Anne.

Er wusste, dass er sie in der Obhut des Kutschers auf dem dritten Pferd losschicken konnte. Falls es aber unterwegs kein passendes Haus als Unterkunft gab und sie Quartier in einer Poststation nehmen musste, würde sie ihren Ruf und vielleicht sogar ihre Sicherheit aufs Spiel setzen. Von seinen Bedienten konnte er nicht erwarten, dass sie Anne verteidigten. Dies war seine Pflicht als Vormund, und Pflichterfüllung war für Ian Sinclair eine Selbstverständlichkeit.

„Ich glaube, wir warten lieber hier. Und sorgen dafür, dass die Kälte nicht in den Wagen dringt.“

Sie begegnete seinem Blick mit großen Augen, und ihre Wangen röteten sich leicht, da sie seinen letzten Satz als Rüge aufgefasst hatte.

Und vielleicht war es eine, gestand Ian sich ein. Aber vielleicht war es nur die Folge des tief reichenden Schmerzes in seinem Bein, der sich mit jeder Minute steigerte, die er mitten auf dieser grässlichen leeren Straße stand und überlegte, was er mit seinem Mündel anfangen sollte, einer jungen Frau, die ihm geradezu aufgedrängt worden war, und zwar ausgerechnet von dem Mann …

„Natürlich“, sagte Anne.

Sie trat zurück und schloss die Tür so fest, dass das ganze Gefährt schwankte. Ian vernahm das rasch unterdrückte Auflachen des Stallknechtes und beachtete es nicht weiter. Zögernd und mit etwas weniger verkniffenem Mund begegnete er resigniert dem mitfühlenden Blick des Kutschers.

„Den Ritt schaffe ich nicht“, gestand er widerstrebend ein. „Als Miss Darlingtons Vormund bin ich der Meinung, dass sie hier bei mir bleiben sollte. Aber es wird verdammt kalt, wenn die Nacht kommt“, sagte er und blickte durch den Schnee zu den tief hängenden Wolken auf. „Beeil dich, Mann.“

Er zog einen kleinen Geldbeutel aus der Manteltasche und ließ den Inhalt auf seine Hand gleiten. „Falls das nicht reichen sollte, versprich den Leuten das Blaue vom Himmel, aber hole jemanden vor Einbruch der Dunkelheit herbei.“

„Mr. Sinclair, wir lassen Sie nicht im Stich“, versprach der Stallknecht.

„Ich rechne damit“, sagte Ian und schlug ihm auf die Schulter.

Major Sinclair hatte es sehr gut verstanden, seine Truppe zu Höchstleistungen anzuspornen. Nun aber war die Lage ein wenig anders, und es hingen Menschenleben davon ab, dass die zwei Männer die ihnen gestellte Aufgabe so rasch als möglich erfüllten.

„Wir holen Hilfe, Sir“, sagte John. „Mr. Sinclair, Sie bleiben am besten in der Kutsche, dann wird Ihnen beiden nichts passieren. Wir werden im Handumdrehen wieder da sein. Sicher wird es nach ein paar Meilen ein Haus geben, und wenn nicht, dann ein Stück weiter eine Poststation.“

Ian nickte. Er wünschte, er hätte nur halb so viel Zuversicht aufbringen können wie der Kutscher. War man selbst in der Lage zu handeln, schätzte man den Ausgang eines Abenteuers natürlich immer günstiger ein. Ian freilich hatte enge, wenn auch erzwungene Bekanntschaft mit lange währender Tatenlosigkeit machen müssen und musste sich auch weiterhin wie seit über einem Jahr damit abfinden.

„Fort mit euch“, sagte er. „Und viel Glück.“

Er drehte sich um und ging schleppenden Schrittes zur geschlossenen Kutschentür, wo die Erinnerung an den Knall, mit dem diese zugeworfen worden war, ihm trotz der misslichen Lage, in der sie steckten, ein Lächeln entlockte. Er widerstand der Versuchung anzuklopfen, öffnete stattdessen die Tür und zog sich unter Zuhilfenahme seines Stockes und der Kraft seines rechten Armes die Trittstufen hinauf.

Anstatt ihm bei dem ungelenken Manöver zuzusehen, starrte Anne Darlington geflissentlich auf der anderen Seite aus dem Fenster. Da es nichts zu sehen gab außer schneebedeckten Bäumen und Sträuchern, die in der früh einfallenden Dämmerung wie dunkle Schatten wirkten, entsprang ihre Konzentration auf die Landschaft vermutlich weniger deren Schönheit als ihrem Zorn und ihrer Verlegenheit über seine vermeintliche Schelte.

„Sie sind fort“, sagte er und ließ sich dankbar auf dem Sitz nieder.

Er streckte sein Bein aus und unterdrückte ein leises Aufatmen, als er sofort Erleichterung spürte. Obwohl Anne die Tür kurz geöffnet hatte, war das Innere noch immer warm im Vergleich zu der kalten Luft draußen. Und hier war der Wind nicht zu spüren.

Er wandte den Kopf und betrachtete ihr Profil. Sie hatte ihn noch immer keines Blickes gewürdigt, und im Moment empfand er ihren Unmut als wahren Segen. Er gönnte ihm eine Weile, sich von der Kälte und der Mühe des Einsteigens zu erholen, und gab ihm die Gelegenheit, sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

Just als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, drehte Anne sich um und sah ihn an. Als ihm schien, ihr Blick würde sich verändern und das zornige Blitzen einem Ausdruck des Mitgefühls weichen, musste er feststellen, dass er ihren Zorn bei weitem vorzog.

„Es tut mir Leid, dass ich die Tür geöffnet habe“, sagte sie. „Ich ahnte ja nicht, dass wir vielleicht gezwungen sein würden, mehrere Stunden im Wagen zu verbringen.“

„Hoffentlich kommt es nicht dazu. Sicher gibt es in der Nähe ein Haus, das uns Schutz bietet.“

„Und wenn nicht?“

„Dann wird man vom nächsten Wirtshaus einen Wagen herbeischaffen. Das dürfte nicht lange dauern. Bis dahin müssten wir uns hier warm halten können“, sagte er.

„Und Sie? Werden Sie …“

Die leisen Worte verstummten. Vielleicht war seine Enttäuschung in seinen Augen sichtbar, oder sie las in ihnen Widerstreben, über seinen Zustand zu sprechen. Jedenfalls hielt sie seinen Blick nur kurz fest, schaute sodann wieder aus dem Fenster und gab vor, den rasch dunkel werdenden Wald zu betrachten.

Nach einem Augenblick der Reue ob seiner Zornaufwallung und ihrem folgenden Rückzug, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Fenster auf der anderen Seite zu. Die Dämmerung wich der Nacht, während Ian Sinclair auf die Rettung wartete, die er seiner Schutzbefohlenen so zuversichtlich versprochen hatte.

Mit jeder Minute, die verstrich, war die Temperatur gesunken, und entsprechend hatte Ians Besorgnis zugenommen. Als er schließlich gedämpftes Hufgetrappel hörte, das auf der schneebedeckten Straße näher kam, war seine Erleichterung fast spürbar.

Zumindest bis ihm klar war, dass er darüber hinaus nichts hörte. Keinen Wagen. Keine Geräusche, die man einer Kutsche oder auch nur einem Bauernwagen hätte zuordnen können. In der Dunkelheit merkte er, wie Anne, die immer wieder eingenickt war, sich bewegte. Ian streckte die Hand aus und berührte die Decke auf ihren Knien.

„Pst“, sagte er warnend und lauschte angestrengt, um aus den immer näher kommenden Geräuschen klug zu werden.

Ian hätte nicht zu sagen vermocht, was sein Unbehagen als Erstes weckte. Vielleicht der Umstand, dass es keinen Zuruf oder Gruß von John oder dem Pferdeburschen gab. Mit wachsendem Unbehagen suchte Ian in der Seitentasche der Kutsche nach der stets vorhandenen Reisepistole.

Wollte man einschlägigen Schauergeschichten glauben, war man auf Überlandstraßen vor Räubern nie sicher. Dennoch hatte Ian seine Zweifel, ob die Waffe jemals aus ihrem Beutel geholt worden war. Er konnte nur hoffen, John hätte dafür gesorgt, dass sie geladen und schussbereit war.

Trotz seiner Besorgnis wurde Ian zunehmend zuversichtlicher, als er die Pistole in der Hand spürte. Nachdem er sie eilig aus ihrer Ölleinwandhülle gewickelt hatte, lag sie ihm schwer und vertraut wie seine Armeepistole in der Hand. Und er hatte immer als guter Schütze gegolten.

Noch immer hatte er keinen grüßenden Zuruf vernommen, obschon der Hufschlag schon ganz nahe war. Und auch sonst kein Wort. Er rückte näher zur Tür und drehte sich in ihre Richtung, die Pistole in seinem Schoß, darüber seine Rechte, obwohl man die Waffe in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

Mit der Linken griff er nach Annes Arm und versuchte, ihr wortlos zu verstehen zu geben, sie solle sich auf seinem Sitz hinter ihn setzen, damit er ihr außer mit der Pistole zusätzlich mit seinem Körper Schutz bieten konnte. Schließlich hatte er nur einen Schuss.

Alle seine Sinne richteten sich auf die Vorgänge vor der geschlossenen Tür. Mit dem Einfallen der Dunkelheit hatte Ian die Jalousien heruntergezogen, um die durchdringende Kälte abzuhalten, ein Vorgehen, das er nun bedauerte.

Man hörte leises Klirren von Zaumzeug, ein Geräusch, das rasch erstickt wurde, vermutlich von einer behandschuhten Hand. Wieder zog Ian an Annes Arm, drängender diesmal, und nun verstand sie, glitt lautlos auf seinen Sitz und drückte sich hinter ihn. Er atmete erleichtert auf.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine Fackel in den Wagen gesteckt. Sie kam seinem Gesicht so nahe, dass Ian sengende Hitze spürte. Das plötzliche Licht blendete ihn. Er wich unwillkürlich zurück, um der Helligkeit und der Flamme zu entgehen, die auf seinen Kopf gerichtet schien.

Er spürte Anne hinter sich tief Luft holen und machte sich auf ihren Aufschrei gefasst. Aber offenbar stimmte es, was sie gesagt hatte, und sie war aus härterem Holz geschnitzt, als es den Anschein hatte. George Darlington mochte feige gewesen sein, seine Tochter aber war es nicht.

„Nun, was haben wir denn da?“ fragte die Stimme hinter der Fackel. „Sieh einer an, Kumpel. Mir scheint, in dieser verlassenen Kutsche sitzen zwei Passagiere.“

Während der Mann sprach, gewöhnten Ians Augen sich an das Licht der Fackel, und das Gesicht trat in den Brennpunkt. Es war kein beruhigender Anblick. Trotz seiner Jahre bei der Armee, die bekanntermaßen nicht eben die Elite der Unterschicht für ihre Truppen rekrutierte, war Ian niemals eine ärgere Halunkenvisage untergekommen.

Die Bemerkung des Mannes verriet, dass er mindestens einen Begleiter haben musste. Ians Blick glitt zu der Dunkelheit jenseits des Fackelscheins. Da er die zweite Gestalt hinter der ersten kaum ausmachen konnte, wandte er seine Aufmerksamkeit rasch wieder dem zu, der gesprochen hatte.

„Und einer ist ein Frauenzimmer“, sagte der Fackelträger.

Beim letzten Wort hatte sich sein Ton unmerklich verändert. Gewalttätigkeit hatte in der Luft gelegen, seitdem die Tür ohne Vorwarnung aufgerissen worden war, doch schien nun die Bedrohung deutlicher und gezielter. Ian stockte das Blut in den Adern.

Indes, seine Angst zeichnete sich in seiner Miene auch nicht andeutungsweise ab. Seine Züge zeigten jene Gelassenheit, die er auch vor einem drohenden Gefecht an den Tag gelegt hatte. Seinerzeit hatte er sich stets zu dieser Ruhe gezwungen, um seinen Leuten die Zuversicht zu vermitteln, er wüsste genau, was zu tun sei. Jetzt versuchte er, mit dieser Fassung den Gegner einzuschüchtern.

„Wir warten auf unsere Vorreiter“, erklärte er in aller Ruhe. „Sie müssten jeden Moment eintreffen.“

„Vorreiter?“ fragte der Fackelträger mit einem hastigen Blick über die Schulter. „Wir sind keinem begegnet.“

„Vielleicht sind Sie aus der anderen Richtung gekommen“, wandte Ian ein.

Der Schneewind fegte durch die offene Tür, und die Flamme der Fackel leckte ins Wageninnere, als wollte sie die Insassen erreichen. Der beißende Qualm des mit Pech getränkten Lappens, der um einen abgebrochenen Ast gewickelt war, erfüllte die Luft.

„Vielleicht können wir Ihren Wagen in Schwung bringen“, sagte der Fackelträger. „Wie wär’s, wenn Sie beide aussteigen und wir uns die Sache ansehen.“

Autor

Gayle Wilson
<p>Gayle Wilson hat zweimal den RITA® Award gewonnen. 2000 und 2004 in der Kategorie „Romantic Suspense Novel“. Im Angesicht, dass sie zweimal den RITA® - Award gewonnen hatte, wurde sie für 50 andere Preise nominiert oder damit ausgezeichnet. Gayle Wilson hat einen Master – Abschluss in Lehramt. Sie arbeitet als...
Mehr erfahren