Auch du sollst glücklich sein

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Eine einsame Insel - wie geschaffen für die Liebe. Rotgoldene Sonnenstrahlen beleuchten die Abendwolken. Dunkel heben sich die Palmen gegen das Meer ab. Alicia schmiegt sich in Dexters Arm und genießt ihren Hochzeitstag mit dem Mann, dessen Baby sie erwartet. Alle Sorgen sind vergessen - bis sie einen zärtlichen Brief der intriganten Maddie findet. Nun ist Alicia sicher, dass Dexter nur ihre Rivalin liebt. Und obwohl er sie verzweifelt bittet, bei ihm zu bleiben, verlässt sie ihn. Nach einem letzten Versuch sie zurückzuholen, gibt auch er ihrer Ehe keine Chance mehr. Erst jetzt erkennt Alicia, was sie verliert. Sie kehrt heim, um sich endlich mit Dexter zu versöhnen. Doch da passiert ein Unfall ...


  • Erscheinungstag 06.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746018
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wie sagte sie es ihm am besten? Diese Frage raubte Alicia seit Nächten den Schlaf und ging ihr selbst jetzt nicht aus dem Sinn, als das Telefon klingelte und sie den Hörer abnahm.

„Rowland Computer Software, guten Tag“, meldete sie sich mechanisch. „Was kann ich für Sie tun?“

„Hi, Alicia, hier ist Maddie McDowell. Geben Sie mir Dex.“

Alicia musste über den Befehlston lächeln. Man könnte meinen, die Firma gehört ihr, dachte sie ironisch, bewunderte aber die kühle Selbstsicherheit der Anruferin. „Ich sehe nach, ob er frei ist“, erwiderte sie ebenso kühl und drückte auf die interne Verbindungstaste zum anderen Büro. „Dex, Maddie ist am Apparat. Hast du Zeit, mit ihr zu sprechen?“

„Natürlich. Stell sie durch.“

Beim Klang von Dexter Rowlands tiefer, sinnlicher Stimme überlief Alicia ein wohliger Schauer. Verflixt! dachte sie. Ich schmelze ja schon dahin, wenn ich ihn nur höre!

Nachdem sie die Verbindung hergestellt hatte, blickte sie finster auf das Telefon, als würde es die Schuld an ihrem Gefühlsaufruhr tragen.

Der Anruf schien eine Ewigkeit zu dauern. Möglicherweise kam es ihr aber auch nur so vor, weil sie unter psychischem Druck stand. Sie blickte auf die Uhr. Es war schon fast Mittag. Sobald Dex das Telefonat beendet hatte, würde sie zu ihm hineingehen und mit ihm reden. Sie durfte dieses Gespräch nicht mehr länger hinausschieben.

Das rote Lämpchen des Telefons erlosch, doch Alicia rührte sich nicht. Sie hatte plötzlich Zweifel, ob es klug war, hier im Büro mit der Nachricht herauszuplatzen. Sollte sie nicht besser auf eine günstigere Gelegenheit warten?

Erschrocken fuhr sie zusammen, als plötzlich die Stimme ihres Chefs über die Gegensprechanlage zu vernehmen war: „Alicia, könntest du bitte mal kurz kommen?“

Sie stand auf, strich ihr blaues Sommerkleid glatt und ging zur Tür.

„Ich habe großartige Neuigkeiten!“, empfing Dex sie lächelnd. Er hatte sich in seinem Lederstuhl entspannt zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und war offenbar bester Laune.

Wie attraktiv er ist! dachte Alicia unwillkürlich. Ihr Herz begann jedes Mal schneller zu schlagen, wenn sie in die dunklen Augen ihres Chefs blickte. Ohne sich dagegen wehren zu können, hatte sie sich in den vergangenen Monaten unsterblich in ihn verliebt.

Er war siebenundzwanzig und hätte seinem blendenden Aussehen nach ein Filmstar sein können. Das dunkle Haar trug er modisch kurz geschnitten, und sein Gesicht war nicht einfach nur männlich-schön, sondern verriet Intelligenz und einen starken Charakter. Zudem war er groß und hatte eine athletische Statur, sodass viele Frauen sich auf der Straße nach ihm umdrehten. Er schien sich jedoch seiner Wirkung auf das andere Geschlecht nicht bewusst zu sein. Wahrscheinlich, weil er ganz in seiner Arbeit aufging.

Ob er wohl ahnte, wie sehr sie ihn liebte?

„Maddie war von meinen Entwürfen begeistert.“

„Dessen bin ich sicher“, meinte Alicia lächelnd. „Du bist ja auch ein Genie. Eines Tages wirst du mit einem deiner Computerspiele den großen Coup landen und Millionär werden.“

Dex lächelte jungenhaft. „Ich mag es, wenn du so von mir schwärmst, Alicia Scott“, neckte er sie. „Hast du noch mehr Schmeicheleien auf Lager?“

„Nun …“ Sie stützte sich mit den Händen auf seinen Schreibtisch und beugte sich leicht vor, da sie zu diesem Thema noch einiges zu sagen hatte.

Einen Moment lang musterte Dex sie nachdenklich. Sie hatte das lange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und obwohl sie ungeschminkt war, sah ihre Haut makellos klar und frisch aus, ihre Lippen schimmerten rosig, und ihre langen, dichten Wimpern waren von Natur aus dunkel.

Trotzdem war sie nicht im herkömmlichen Sinne schön, sondern eher apart. In Dex’ Heimat Amerika hätte man sie als „preppy“ bezeichnet, denn sie hatte Klasse und erregte mit ihrer Erscheinung überall Aufmerksamkeit. Vielleicht lag es an ihren strahlend blauen Augen und den hohen Wangenknochen, möglicherweise aber auch an ihrer überdurchschnittlichen Größe und der Anmut, mit der sie sich bewegte.

„Henry Banks und George Mitton sind ganz wild darauf, mit dir ins Geschäft zu kommen. Ihre Briefe liegen in der Postmappe. Außerdem hat jeder der beiden heute schon zweimal angerufen und wollte dich sprechen.“

Dex lächelte ironisch. „Die Zeiten haben sich geändert, stimmt’s?“

„Allerdings.“ Noch vor wenigen Monaten war Dex’ Name angesehenen Unternehmern wie Mitton oder Banks kein Begriff gewesen. Mittlerweile fand er jedoch in Geschäftskreisen respektvolle Beachtung. Das alles war recht vielversprechend.

Alicia beugte sich noch weiter zu ihm hinüber. „Und für welchen von ihnen hast du dich entschieden?“

„Für keinen.“ Er ließ den Blick zu ihrem Ausschnitt schweifen, der den cremefarbenen Spitzenbesatz ihres BHs nicht ganz verbarg. „Maddie McDowell hat mir ein wesentlich interessanteres Angebot gemacht.“

„Tatsächlich?“ Alicia richtete sich auf. Sie wusste selbst nicht, weshalb ihr die Neuigkeit missfiel. Schließlich ging es um geschäftliche Verhandlungen, und davon verstand Dex sehr viel. Sie hingegen war als seine Sekretärin nur für die Organisation des Büros zuständig. Mehr nicht.

„Möchtest du, dass ich Mitton und Banks höfliche Absagen schicke, die dir für später noch eine Option offen halten?“

„Nein.“ Sein Blick ruhte auf dem obersten Knopf ihres Kleides. Er streckte die Hand aus und umfasste ihr schmales Handgelenk. „Ich möchte von dir etwas anderes.“ Sanft streichelte er mit dem Daumen die Stelle, an der ihr Pulsschlag zu spüren war.

Die zarte Liebkosung erregte Alicia. „Was dann?“, fragte sie zögernd und ein wenig verlegen.

Er zog sie um den Schreibtisch herum näher zu sich heran. „Ich glaube, das weißt du.“

„Mein Herr, Sie scheinen zu vergessen, dass wir uns im Büro befinden“, tadelte sie ihn scherzhaft, wehrte sich jedoch nicht, als er sie auf seine Knie zog.

„Das ist allein deine Schuld.“ Seine Stimme klang heiser. „Hatte ich dich nicht gebeten, dich zur Arbeit nicht so verdammt sexy anzuziehen? Du lenkst mich zu sehr ab.“

Alicia blickte an sich hinunter. Ihr knielanges und keineswegs figurbetontes Kleid war alles andere als aufreizend. „Damit lenke ich niemanden ab.“

„Nicht?“ Sanft strich er ihr mit einem Finger über die Wange. Allein von dieser Berührung fühlte Alicia sich wie elektrisiert und spürte, wie ihr ganzer Körper darauf reagierte.

„Dann waren es deine Lobeshymnen auf meinen beruflichen Erfolg.“ Dex ließ den Finger über ihren Hals und am Ausschnitt des Kleides entlang gleiten. „So etwas steigt mir schnell zu Kopf.“

Seine Liebkosungen ließen Alicia erschauern. „Ich werde künftig daran denken“, versprach sie atemlos und küsste ihn.

Ihre Lippen waren weich und verrieten Unsicherheit, doch als Dex die Führung übernahm, wurde der Kuss leidenschaftlich und fordernd. Sie schob die Finger in sein dichtes schwarzes Haar und drängte sich an ihn. Ohne den Kuss zu unterbrechen, begann er ihr Kleid aufzuknöpfen, und sie spürte, wie er ihre Brust umschloss und mit sinnlichem Streicheln die Spitze reizte. Heißes Verlangen durchflutete Alicia.

Das schrille Läuten des Telefons ließ beide jedoch plötzlich auseinander fahren. „Verdammt!“, fluchte Dex leise.

Am liebsten hätte Alicia ihn gebeten, weiterzumachen und das Klingeln zu ignorieren. Ihre Blicke trafen sich. „Ich … ich kann jetzt … nicht abnehmen“, sagte sie stockend.

Dex griff nach dem Hörer. „Dex Rowland“, meldete er sich in geschäftsmäßigem Ton. Er hatte sich bewundernswert schnell wieder gefangen. Kein Mensch hätte vermutet, dass er Sekunden zuvor ebenso wie sie die Kontrolle über sich verloren hatte. Oder hatte sie das nur irrtümlich angenommen?

„Heute Nachmittag?“ Er nahm seine Hand von ihrer Brust und blätterte in seinem Schreibtischkalender. „Nun, ich habe eine Verabredung zum Mittagessen, die ich jedoch absagen kann“, sagte er. „Geht in Ordnung. Bis später.“

Als er auflegte, hatte Alicia bereits ihr Kleid zugeknöpft.

„Tut mir leid, Alli.“

„Schon gut.“

„Das war Maddie. Sie hat ein Treffen mit einem befreundeten Bankier arrangiert. Wir essen zusammen zu Mittag.“

Alicia zog die Brauen hoch. „Das ging ja schnell!“

„Ja, sie ist eine erstaunliche Frau.“

Unwillkürlich verspürte Alicia einen Anflug von Eifersucht, den sie jedoch sofort als kindisch abtat. „Ich hoffe, deine Bewunderung bezieht sich nur auf ihre beruflichen Qualitäten“, meinte sie scherzhaft.

„In dieser Hinsicht kannst du ganz beruhigt sein!“ Er ließ die Hand zu ihrer Brust gleiten. „Wieso hast du dich so schnell wieder angezogen?“ Rhythmisch strich er über den dünnen Seidenstoff und lächelte zufrieden, als sich darunter die harte Brustspitze abzeichnete. „Ich schlage vor, wir machen heute Abend dort weiter, wo wir unterbrochen wurden.“

Sofort fühlte Alicia sich wieder besser. „Eine gute Idee! Weißt du eigentlich, dass heute unser Jahrestag ist?“

Er machte ein betroffenes Gesicht.

„Vor genau zwölf Monaten hast du mich bei MacDales abgeworben“, meinte sie mit schalkhaftem Lächeln. „Hast du das etwa schon vergessen?“

Nun lächelte auch er. „Offen gestanden, ja. Dafür erinnere ich mich umso genauer, dass es noch sechs Monate dauerte, bis ich dich erobert hatte.“

Sein Lächeln vertiefte sich, als er bemerkte, wie sie errötete. In ihren Augen spiegelte sich Unsicherheit wider. Unversehens wurde ihm bewusst, wie jung sie noch war. Gerade mal erst zwanzig.

„Daran erinnerst du dich natürlich!“ Liebevoll richtete sie ihm die Krawatte. „Wir sollten jetzt besser wieder arbeiten“, sagte sie und stand auf.

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich komme dann heute Abend gegen acht zu dir. Ist dir das recht?“

Sie nickte.

„Würdest du mir bitte die Bilanz vom vorigen Jahr heraussuchen und kopieren?“, bat er, als sie zur Tür ging. „Vermutlich brauche ich die Zahlen für die Unterredung mit dem Bankier.“

„Mach ich.“ Sie schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Vorhin, als er sie geküsst hatte, wäre die ideale Gelegenheit gewesen, ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Weshalb hatte sie es nur nicht getan?

Wie von Dex gebeten, suchte sie die Vorjahresbilanz heraus, kopierte sie und legte die Blätter in einen Schnellhefter. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Eine halbe Stunde später kam Dex aus seinem Büro. Alicia entging nicht, dass er sein Jackett angezogen und sich gekämmt hatte. „Kann ich so gehen?“, fragte er lächelnd, als er bemerkte, wie sie ihn musterte.

„Du siehst sehr beeindruckend aus“, versicherte sie mit mildem Spott. „Jedes Haar an seinem Platz. Ganz im Gegensatz zu vorhin.“

„Gut.“ Er ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter. „Maddie ist schon da. Ich mach mich besser auf den Weg.“

„Viel Glück!“ Alicia beobachtete, wie er zur Tür ging. „Dex?“

Ein wenig ungeduldig drehte er sich zu ihr um. „Was ist?“

„Du hast die Bilanz vergessen.“

„Danke, Alli. Was würde ich nur ohne dich anfangen?“ Er lächelte charmant, als sie ihm den Schnellhefter reichte. „Gut möglich, dass es etwas länger dauert. Du kannst heute früher Feierabend machen, aber vergiss nicht, den Anrufbeantworter einzuschalten.“ Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Obwohl Alicia normalerweise nicht neugierig war, konnte sie es sich nicht verkneifen, aus dem Fenster zu sehen.

Unten auf dem Parkplatz wartete Maddie in ihrem silberfarbenen Mercedes-Coupé, dessen Dach sie trotz der im tropischen Cairns unerträglichen Mittagshitze nach unten geklappt hatte. Ihr kurzes dunkles Haar glänzte seidig, und sie trug ein bonbonfarbenes Minikleid. Lächelnd blickte sie Dex entgegen, der soeben das Gebäude verließ.

Er stieg in den Wagen und wurde von Maddie mit einem Kuss auf die Wange begrüßt. Sie unterhielten sich noch kurz, ehe Maddie losfuhr. Dex zog sein Jackett aus und warf es auf den Rücksitz.

Nachdem das elegante Sportcoupé im Straßenverkehr verschwunden war, ließ Alicia unwillkürlich den Blick zu Dex’ altem Kombi unten auf dem Parkplatz schweifen. Kein Wunder, dass er lieber in Maddies Auto zu dem Treffen fuhr.

Er hatte seine gesamten Ersparnisse in die Firma gesteckt und arbeitete hart, um Erfolg zu haben, denn er war sehr ehrgeizig. Abgesehen davon war er in seinem Beruf tatsächlich ein Genie. Mit seinem neuen Computerspiel würde er bald ein Vermögen verdienen, davon war Alicia fest überzeugt. Und wenn Maddie ihm dabei half, mit den richtigen Leuten ins Geschäft zu kommen, umso besser. Niemand würde sich mehr über seinen Erfolg freuen als sie, Alicia.

Ob Dex allerdings ebenfalls in Jubel ausbrechen würde, wenn er erfuhr, dass er in knapp sieben Monaten Vater wurde, wagte sie zu bezweifeln.

2. KAPITEL

In der Wohnung war die Klimaanlage ausgefallen. Seit einer Stunde versuchte Alicia, sie wieder in Gang zu setzen, leider vergeblich. Ihr war von der Hitze schon leicht übel, doch sie ließ sich nichts anmerken.

„Bald kommt Dex“, tröstete sie ihre Schwester. „Er bringt sie bestimmt wieder in Ordnung.“

„Das hoffe ich“, sagte Victoria und seufzte. „Wie soll jemand in dieser brütenden Hitze Schularbeiten machen?“

Alicia sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Vielleicht sollte sie Dex anrufen und ihn bitten, etwas früher zu kommen? Sie griff nach dem Telefon und wählte Dex’ Nummer. Er meldete sich weder in seiner Wohnung noch im Büro. War er immer noch mit Maddie zusammen?

„Ich hole uns Eiswasser“, bot sie an, als sie den Hörer auflegte.

Victoria verzog das Gesicht. „Noch lieber wäre es mir, wenn du mir bei dieser blöden Matheaufgabe helfen könntest.“

„Ansehen kann ich sie mir ja, aber in Mathe war ich auch kein Ass.“ Alicia ging zum Kühlschrank. Als sie ihn öffnete, strömte ihr herrlich kalte Luft entgegen, und sie hätte ihn am liebsten offen gelassen und sich davor gesetzt.

Das Apartment war viel zu klein für sie beide. Es hatte zwei winzige Schlafzimmer, dazwischen lag das Bad, und sonst gab es nur noch das Wohnzimmer, in dem sich zugleich auch die Küche befand. Eine größere Wohnung konnten sie sich nicht leisten, da Victoria noch zur Schule ging und sie beide von Alicias Gehalt lebten.

Alicia wandte sich zu ihrer Schwester um, als diese den Kugelschreiber auf den Küchentisch warf und sich seufzend das lange blonde Haar aus dem Gesicht strich. „Ich kapier es einfach nicht!“

„So schwierig kann es doch nicht sein.“ Alicia schenkte Eiswasser ein, stellte die Gläser auf den Tisch und setzte sich neben ihre Schwester. Obwohl sie nur drei Jahre älter als Vicky war, empfand sie für diese eher mütterliche als schwesterliche Gefühle. Das war so, seit ihre Eltern vor elf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

Schon ab der ersten gemeinsamen Nacht im Waisenhaus hatte Alicia sich für ihre Schwester verantwortlich gefühlt und sich um sie gekümmert. Sie hatte Vicky getröstet und gelernt, sich nicht anmerken zu lassen, wie ihr selbst zumute war. Schon bald erkannte sie, dass es den eigenen Schmerz lindern half, wenn man sich auf andere konzentrierte, und so war sie recht schnell erwachsen geworden.

Als Alicia mit achtzehn das Waisenhaus verlassen durfte, hatte sie Vicky mitgenommen und war mit ihr in dieses Apartment gezogen. Eigentlich fühlten sie sich hier beide ganz wohl. Zumindest solange die Klimaanlage funktionierte und Alicia nicht, wie jetzt aus einem speziellen Grund übel war.

Sie versuchten nun gemeinsam, Vickys Mathematikaufgabe zu lösen, und waren noch immer damit beschäftigt, als Dex kam.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, entschuldigte er sich und küsste Alicia auf die Wange.

Sie sah auf die Uhr und bemerkte erst jetzt, dass es schon kurz vor neun war, fragte jedoch nicht, was ihn aufgehalten hatte.

„Du meine Güte, hier drinnen ist es ja kaum auszuhalten! Was habt ihr mit eurer Klimaanlage angestellt?“

„Nichts. Anscheinend ist sie kaputt.“ Alicia sah zu, wie Dex den Schaltkasten an der Wand öffnete, kurz hineinblickte, auf einige Knöpfe drückte und den Deckel wieder zuklappte. Gleich darauf war ein erster kalter Lufthauch zu spüren.

„Deine Schwester ist zwar eine großartige Sekretärin, aber in technischen Dingen hoffnungslos unbegabt“, erklärte er Vicky und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Sie lächelte. „Danke, Dex. Du bist doch so gut in Mathe. Könntest du mir erklären, was ich hier falsch gemacht habe?“

„Mal sehen.“ Er setzte sich neben sie und las sich die Aufgabe durch.

„Diese blöde Klimaanlage ist unberechenbar“, meinte Alicia sich verteidigen zu müssen. Wieso gab Dex ihr stets das Gefühl, dass sie ohne ihn nur schwer zurechtkam? Sie war immer unabhängig von anderen gewesen – bis sie ihn kennengelernt hatte.

„Der Fehler liegt hier“, sagte Dex zu Vicky und kreuzte mit dem Kugelschreiber eine Zahlenreihe an. „Im Grunde genommen ist alles ganz einfach“, fuhr er fort und erklärte Vicky mit wenigen Worten, wo der Fehler lag.

Verärgert rümpfte Alicia die Nase. „Kaffee, Dex?“

„Danke, gern.“

„Für mich nicht, Alli“, sagte Vicky. „Sobald ich hier fertig bin, gehe ich unter die Dusche und dann ins Bett. Ich bin völlig geschafft.“

Wenn wir allein sind, werde ich ihm als Erstes von dem Baby erzählen, nahm Alicia sich vor, während sie den Kaffee zubereitete. Sie schenkte zwei Tassen voll, reichte eine Dex und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

„Danke, Alli.“ Dex musterte sie kurz. Sie sieht müde aus, dachte er und schalt sich einen Egoisten, weil er ihr in der letzten Zeit die ganze Büroarbeit aufgebürdet hatte. Wenn er sie nicht entlastete, würde sie womöglich kündigen, und er wollte sie auf keinen Fall verlieren.

Er ließ den Blick zwischen den beiden Schwestern hin- und herschweifen. Sie sahen sich sehr ähnlich, waren beide blond und hatten dieselben feinen Gesichtszüge. In Shorts und T-Shirt wirkte Alicia keinen Tag älter als Vicky, und Vicky war mit ihren bald siebzehn Jahren fast noch ein Kind.

„Geschafft!“ Vicky klappte das Buch zu. „Du bist wirklich ein Schatz, Dex! Ich weiß nicht, was Alli und ich ohne dich anfangen würden.“

„Ihr würdet auch ohne mich bestens zurechtkommen“, sagte er ruhig.

Vielleicht müssen wir das, wenn er erfährt, dass ich schwanger bin, schoss es Alicia durch den Kopf, und es gab ihr einen Stich ins Herz. Dex liebte sie nicht. So aufregend und leidenschaftlich ihre Beziehung auch sein mochte, für ihn war sie nur eine weitere Geliebte, nichts Ernsthaftes. Er hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass für ihn eine feste Bindung erst infrage kam, wenn er sich auf seinen beruflichen Lorbeeren ausruhen könnte.

„Heißt das, du heiratest erst, wenn du es dir leisten kannst, faul im Lehnstuhl zu sitzen und deine Pfeife zu rauchen?“ hatte Alicia ihn aufgezogen, als sie zufällig einmal über dieses Thema gesprochen hatten.

Er hatte gelacht. „So ähnlich.“

„War es dir mit keiner deiner Freundinnen jemals ernst?“

Jäh hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. „Ich war einmal verlobt … vor Jahren.“

„Sie muss eine ganz besondere Frau gewesen sein.“

„Oh ja, das war sie.“ Dex schwieg einen Moment und schien auf einmal weit weg zu sein. „Clare und ich kannten uns von klein auf“, erklärte er schließlich. „Wir waren gleich alt, besuchten dieselbe Schule und gingen später zusammen zur Universität. Für mich stand schon früh fest, dass ich sie und keine andere zur Frau haben wollte.“

Alicia erinnerte sich noch gut, wie sehr seine Worte sie damals getroffen hatten. Als sie Dex kennengelernt hatte, hatte es sie nicht weiter gestört, dass er sich nicht binden wollte, denn sie selbst musste ja ebenfalls auf Vicky Rücksicht nehmen. Doch als sie erfuhr, dass es eine Frau gab, die er über alles geliebt hatte und hatte heiraten wollen, war sie sehr niedergeschlagen, weil sie, Alicia, keine so starken Gefühle in ihm zu wecken vermochte.

„Warum hast du sie dann doch nicht geheiratet? Was ist aus ihr geworden?“

„Sie starb an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag bei einem Autounfall. Am Morgen unseres Hochzeitstages.“

Seine Stimme klang ausdruckslos, doch in seinen Augen war ein so tiefer Schmerz zu lesen, dass sich Alicias Eifersucht sofort in Mitgefühl verwandelte. Sie wusste nur zu gut, wie schlimm es war, jemanden zu verlieren, den man liebte.

„Jetzt ist mir nur noch meine Karriere wichtig“, redete Dex rasch weiter, als würde ein Gespräch über seine Arbeit ihm helfen, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. „Ich möchte einmal ganz oben sein und bin bereit, dafür alles einzusetzen. Als verheirateter Mann könnte ich ein solches Risiko niemals eingehen.“

„Ich kann das gut verstehen“, pflichtete Alicia ihm bei. „Mich drängt es ebenfalls nicht, bald zu heiraten. Ich bin gerade mal zwanzig, Dex, und möchte erst einmal beruflich weiterkommen, mir die Welt ansehen und das Leben genießen.“

Damals hatte sie das durchaus ernst gemeint, doch jetzt klangen ihr die eigenen Worte wie Hohn in den Ohren.

„Gute Nacht, ihr beiden“, sagte Vicky und riss damit Alicia aus ihren Grübeleien.

„Gute Nacht, Vicky.“

Nachdem ihre Schwester das Zimmer verlassen hatte, blickte Alicia zu Dex, der ihr gegenübersaß. Er trug noch denselben Anzug wie im Büro. War er etwa direkt von der Besprechung mit Maddie hierher gekommen?

Ihre Blicke trafen sich.

„Ist dir eigentlich klar, dass du ein richtiger Schlauberger bist?“, zog sie ihn auf.

Er verdrehte die Augen. „Mir ist es lieber, wenn du mich als Genie bezeichnest.“

Sie lachte. „Dann berichte mir mal, du Genie, wie das Treffen mit Maddie und ihrem Bankier gelaufen ist.“

„Es hätte nicht besser sein können.“

„Willst du statt des Kaffees lieber ein Glas Wein, um auf deinen Erfolg anzustoßen?“

„Nein, vielen Dank. Ich hatte bereits ein Glas Champagner und muss noch fahren.“

Alicia hätte ihm gern angeboten, bei ihr zu übernachten, ließ es dann aber sein. Er hatte nicht so geklungen, als wäre er gern geblieben. „Wenn ihr mit Champagner angestoßen habt, müsst ihr ja gut vorangekommen sein.“

„Noch ist nichts unterschrieben“, entgegnete er bedächtig. „Ich bin jedoch recht zuversichtlich. In zwei Wochen fliege ich nach Perth und treffe mich dort mit Maddies Geschäftspartnern. Ich hoffe, dass dort ein Vertrag zustande kommt.“

„Tatsächlich?“ Alicia versuchte, halbwegs erfreut zu klingen.

Dex nickte. „Während ich weg bin, musst du hier für mich die Stellung halten.“

Da sie darauf nicht antwortete, runzelte er die Stirn. „Du siehst blass aus. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Ich bin nur ein wenig müde, weiter nichts.“ Sie stand auf, nahm ihre Tasse und schüttete den restlichen Kaffee in den Ausguss. Während sie Dex den Rücken zudrehte, überlegte sie, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie schwanger war.

Entschlossen drehte sie sich zu ihm um. „Dex, ich muss dir etwas sagen.“ Es hörte sich seltsam atemlos an.

„Etwa, dass du vorhast, als Fotomodell zu arbeiten?“

Sie sah ihn verblüfft an.

„Peter war heute Morgen bei mir im Büro, bevor du kamst.“

Alicia runzelte die Stirn. Peter Blake war einer ihrer engsten Freunde und so etwas wie ein Bruder für sie. Er war zwei Jahre älter und im selben Waisenhaus wie sie aufgewachsen. Inzwischen hatte er sich als Fotograf einen Namen gemacht, der über Australiens Grenzen hinausreichte.

„Er hat mir die Fotos gezeigt, die er von dir gemacht hat“, fuhr Dex fort. „Sie sind wunderschön. Ich war sehr beeindruckt.“

„Wirklich?“, fragte sie lächelnd, von seinem bewundernden Blick sowohl verwirrt als geschmeichelt.

„Außerdem hat er mir erzählt, dass er die Fotos an eine große Agentur in Sydney geschickt hat und man dort an dir interessiert sei. Er meinte, du hättest eine große Karriere vor dir und ich würde dir dabei im Weg stehen.“ Dex’ Miene verfinsterte sich. „Ich habe ihm gesagt, dass ich von alldem nichts gewusst hätte, aber irgendwie scheint er mir nicht geglaubt zu haben.“

„Das ist doch völliger Unsinn!“, rief Alicia verärgert und ging zum Tisch zurück. „Peter hatte kein Recht, so mit dir zu reden!“

„Nimmst du das Angebot an und gehst nach Sydney?“

„Nein!“ Sie war wütend auf Peter, weil er hinter ihrem Rücken mit Dex darüber gesprochen hatte. Dabei hatte sie ihm vorige Woche klipp und klar erklärt, dass sie lieber hier in Cairns bleiben wolle und es ihr zu unsicher sei, als Fotomodell zu arbeiten. Nur wenigen Mädchen gelang der Durchbruch. Abgesehen davon gehörte sie mit zwanzig in diesem Beruf sowieso schon fast zum alten Eisen.

„Warum nicht?“

Sie zögerte. „Zum einen möchte ich Vicky nicht gerade jetzt, da die letzten Klassenarbeiten für das diesjährige Zeugnis geschrieben werden, aus ihrer gewohnten Umgebung reißen.“

„Andererseits gibt es in Sydney sehr gute Schulen und eine weltberühmte Universität“, gab Dex zu bedenken.

„Möchtest du mich etwa loswerden?“

Stumm blickten sie sich an. Unwillkürlich fragte Alicia sich, ob Dex etwa der Ansicht war, sie solle das Angebot annehmen.

„Ich möchte einfach nur, dass du glücklich bist“, sagte er sanft. „Wie du weißt, bin ich sehr ehrgeizig und konzentriere all meine Kräfte auf meine Karriere. Ich wäre ein Heuchler, wenn ich dir dasselbe verwehren würde. Jedenfalls werde ich dir nicht im Weg stehen, wenn du … dein Glück in Sydney …“ Er ließ alles Weitere offen und zuckte nur die Schultern.

Für Alicia lag das Glück nicht in Sydney. Sie liebte Dex über alles und wünschte sich nichts sehnlicher, als bei ihm bleiben zu können.

„Wie es aussieht, eröffnen sich für uns beide jetzt neue berufliche Perspektiven“, fuhr Dex fort, als sie nicht antwortete.

Alicia wurde ganz weh ums Herz. Er war kein bisschen in sie verliebt. Es fiel ihr schwer, auf seinen lockeren Ton einzugehen. „Das Problem ist nur, dass diese neuen Wege uns in verschiedene Richtungen führen.“

Unvermittelt streckte er den Arm aus und zog sie auf seinen Schoß. „So ist es schon viel besser“, sagte er rau. „Was gedenkst du also zu tun? Soweit ich Peter verstanden habe, bietet dir diese Agentur in Sydney eine einmalige Chance.“

Autor

Kathryn Ross
Kathryn Ross wurde in Afrika geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in England und Irland. Eigentlich ist sie ausgebildete Therapeutin, aber die Liebe zum Schreiben war stärker, und schließlich hängte sie ihren Beruf an den Nagel. Als Kind schrieb sie Tier- und Abenteuergeschichten für ihre Schwester und Freundinnen. Mit...
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