Auf der Suche nach dem Glück - 6-teilige Miniserie

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Erst nach einigen Umwegen finden die Mitglieder der Familie Dalton das, was im Leben wirklich zählt: Liebe, Vertrauen, und eine Familie, auf die man bauen kann!

Miniserie von LAURIE PAIGE

WER BIST DU, SCHÖNE FREMDE?

SCHICKSAL, WAHRHEIT, LEIDENSCHAFT

TRAUMPRINZ MIT VERGANGENHEIT

MIT DIR WILL ICH ES WAGEN ...

ZÄRTLICHE KÜSSE IM MONDSCHEIN

DER ORT, AN DEM DIE LIEBE WOHNT


  • Erscheinungstag 28.11.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536134
  • Seitenanzahl 649
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Wer bist du, schöne Fremde? erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de
Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2003 by Olivia M. Hall
Originaltitel: „SHOWDOWN!“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA , Band 57
Übersetzung: Patrick Hansen

Umschlagsmotive: Soft_Light, Veronika Zimina / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2022

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783751520621

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Letzter Versuch“, versprach Zack Dalton seiner imaginären Glücksgöttin, obwohl er nicht viel Hoffnung hatte, dass sie es sich anders überlegte.

Auch was Frauen betraf, war die Göttin ihm in letzter Zeit nicht gerade freundlich gesinnt gewesen. Der bittere Nachgeschmack auf seiner Zunge erinnerte ihn an guten Wein, der sauer geworden war. Er ignorierte ihn. Ebenso wie den Stich ins Herz, der ihn begleitete. Sein Herz – das hatte er einer Frau anvertraut und es letzten Sommer zurückerhalten, nachdem seine Verlobte Angehörige in Denver besucht, dort irgendeinen reichen Typen kennengelernt und ihn auf der Stelle geheiratet hatte.

So viel zu Vertrauen, Treue und wahrer Liebe.

Zacks Onkel Nick sagte immer, dass man aus allem das Beste machen sollte. So gesehen war er wahrscheinlich noch gut davongekommen. Herz und Stolz waren lädiert, aber reparabel.

Er fütterte den Automaten mit seinem letzten Vierteldollar und starrte auf die Walzen, bis sie zum Stillstand kamen. Nichts. Okay, also war es ihm nicht bestimmt, reich zu werden. Und das hatte vermutlich seine guten Gründe, philosophierte er und schmunzelte über seinen Galgenhumor.

Zack schaute auf die Uhr. Mitternacht. Dass er an einem Spielautomaten saß, hatte einen einfachen Grund: Las Vegas war wirklich eine Stadt, die nie schlief, und auch ihn ließ sie kein Auge zutun. Zu viele Lichter, zu viele Menschen, zu viel Lärm rund um die Uhr.

Er hatte seinen Job hier erledigt und konnte sich morgen auf den Heimweg machen. Vielleicht sollte er sich vorher etwas ausruhen. Vorausgesetzt, er fand den Fahrstuhl, der ihn vom Kasino zu seinem Zimmer brachte, das hoch über dem Neonglitzern des berühmten Strips lag. Zack sah sich um und suchte nach einem Hinweisschild.

„Sie haben eine Münze fallen gelassen“, sagte eine höfliche, sehr weibliche und sehr sanfte Stimme hinter seiner linken Schulter.

Er drehte sich auf dem Hocker um und blickte in zwei Augen mit so langen falschen Wimpern, dass er sich fragte, wie die Kellnerin es schaffte, die Lider zu heben. Die Wimpern warfen dunkle Schatten, sodass er ihre Augenfarbe nicht erkennen konnte. Der Rest ihres Make-ups war ebenso übertrieben; sie verdankte ihm offensichtlich künstliche Bräune und rosige Wangen. Ihr blondes Haar hatte dunkle Ansätze.

Obwohl er eher auf natürliche Frauen stand, weckte der Schönheitsfleck an ihrem Mundwinkel sein Interesse. Dieser und ihr voller, weicher Mund mit dick aufgetragenem Lippenstift ließen sie überraschend verletzlich wirken.

Noch überraschender war sein plötzliches Bedürfnis, sie zu berühren, als müsste er sich davon überzeugen, dass sie wirklich existierte. Hinzu kam der genauso starke Wunsch, sie zu küssen.

Wow! So viel Bier hatte er doch gar nicht getrunken. Jedenfalls nahm er das an.

„Sir?“, sagte sie mit der sanften Stimme, die überhaupt nicht zu ihrer verlebten Erscheinung passte.

Er nahm den Vierteldollar, schob ihn in den Schlitz und drückte auf die Taste, während er beobachtete, wie sie einem Mann drei Automaten weiter einen Drink servierte. Ihr provokant geschnittenes Outfit ließ reichlich Haut frei. Sie hatte glatte Schultern und eine schmale Taille, schlanke Hüften und feste Oberschenkel in einer Netzstrumpfhose.

Er nahm sich einen Moment, um die Beine zu bewundern.

Eine Glocke ertönte, und Münzen fielen mit lautem Klirren in den Ausgabeschacht. Andere Spieler starrten ihn an, einige neidisch, manche lächelnd. Mit gerunzelter Stirn schaute er auf das Gerät. Als er sich wieder umdrehte, war die Kellnerin verschwunden.

Über der Ausgabe blinkte eine Zahl. Sein Gehirn war wie in Watte gehüllt, als er versuchte, sechshundert durch vier zu teilen und seinen Gewinn zu errechnen.

„Junge, Junge, hundertfünfzig Scheine“, half der Mann zu seiner Linken ihm auf die Sprünge. „Nicht schlecht für zwei Stunden Arbeit, was?“

Angesichts der Tatsache, dass er einen entflohenen Häftling aus Idaho nach Vegas zurückgebracht hatte, war das wirklich ein angenehmer Bonus. Die Deputies hatten am Montag ausgelost, wer den Auftrag übernehmen sollte, und er hatte gewonnen. Oder verloren, je nachdem, wie man es betrachtete.

Aber jetzt hatte er eindeutig gewonnen, und deshalb schuldete er der Kellnerin ein großes Trinkgeld. Als er aufstand, drängten sich vier fröhliche Paare an ihm vorbei. Ein Mann stieß gegen seinen Arm. Sechshundert Vierteldollarmünzen landeten auf dem Fußboden.

„Ups, Entschuldigung“, sagte der Fremde, ohne es zu meinen. „Hey, toller Gewinn.“

Fünf Minuten lang herrschte Chaos, während die acht Touristen seine Münzen aufsammelten und zurück in den Eimer warfen. Irgendwie erinnerten sie ihn an die Hühner, die sein Onkel Nick auf der Seven Devils Ranch hielt.

Geduldig wartete er, bis die lärmenden Pärchen fertig waren und davongingen. Als er zur Seite blickte, befand sich ein reizvoller Po direkt vor ihm. Die Kellnerin kniete vor den gegenüberliegenden Automaten und holte Münzen darunter hervor.

Zacks Augen wurden erst groß, dann schmal, als er auf ihren linken Oberschenkel unterhalb des knappen, eng sitzenden Kostüms starrte. Er machte drei Schritte und bückte sich, als würde er ebenfalls nach Vierteldollars suchen. Aus der Position konnte er sehen, wo der Oberschenkel in eine hinreißende Hüfte überging.

Ja, unter dem Netz war eine Narbe zu erkennen. Er ging in die Hocke. Die Narbe war gezackt, mit drei Spitzen. Ihm stockte der Atem, während sein Puls sich beschleunigte.

„Meine Güte“, murmelte er blinzelnd. Heute Abend hatte er wirklich unglaubliches Glück. Er hob eine Hand und strich mit einem Finger über …

Die Kellnerin schrie auf und richtete sich ruckartig auf.

„Finger weg, Buddy“, befahl ein Mann vom Sicherheitsdienst, packte ihn am Kragen und zog ihn unsanft hoch. Sein Partner stand neben ihm und ließ Zack nicht aus den Augen.

„Alles gut“, versicherte Zack dem Mann. „Sie ist meine Cousine.“

Der Wachmann sah die Kellnerin an.

„Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen“, versicherte sie schockiert und wich zurück.

„Das stimmt, aber ich kenne dich“, erklärte Zack so ruhig wie möglich. „Die Narbe an deinem … Po ist ein eindeutiges Erkennungszeichen.“

„Wir kümmern uns um ihn“, sagte der Wachmann zu ihr.

Sie verschwand in der Menge, während Zack festgehalten und verhört wurde. „Wohnen Sie in diesem Hotel?“, fragte der ältere.

„Ja.“

„Brauchen Sie Hilfe, um Ihr Zimmer zu finden?“

„Ich will nicht auf mein Zimmer“, entgegnete Zack. „Ich habe Onkel Nicks Tochter gefunden und muss sie jetzt nach Hause bringen. Auf die Ranch“, fügte er vorsichtshalber hinzu. „Seven Devils Mountain. Idaho.“

„A-Zelle“, sagte einer der beiden.

„Richtig. Soll ich den Bericht schreiben?“, fragte der andere. „Es ist Freitag. Du hast heute Abend früher frei.“

Der erste Mann seufzte. „Ich erledige das, bevor ich verschwinde.“

Zack begriff, dass Protest sinnlos war, als sie ihn in einen Raum am Ende eines schmalen Korridors führten. Plötzlich musste er an mögliche Schlagzeilen denken: Auswärtiger Cop in Kasino festgenommen, nachdem er eine Frau …

Der Rest des Gedankens ging verloren, als die Tür hinter ihm knallte und verriegelt wurde. Zwei Dinge wurden ihm klar. Erstens, die A-Zelle war ein Ort, an dem betrunkene Gäste ihren Rausch ausschliefen. Zweitens, die Wachleute glaubten, dass er in die Ausnüchterungszelle gehörte. Offenbar hatte er die Situation nicht gut genug erklärt.

Ein Ledersofa und ein Sessel waren die einzigen Möbel hier. Er setzte sich, den Eimer mit den Vierteldollars noch in der Hand.

Eins fiel ihm sofort auf: Es war still hier drin. Kein Verkehr. Keine Sirenen. Kein Gelächter oder fremde Stimmen vor seiner Schlafzimmertür. Einfach nur herrliche Stille.

Er gähnte. Seit vier Tagen hatte er keine Nacht mehr durchgeschlafen.

Hannah „Honey“ Carrington beendete ihre Schicht um zwei Uhr morgens. Sie gab ihr Bargeld ab und ging in den Umkleideraum. Sie verstaute die Geldschürze in einem Regal, wechselte die Schuhe und zog ein Shirt und einen langen Rock über ihrer Arbeitskleidung an. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und eilte hinaus.

„Hey, Bert“, sagte sie zu dem Mann vom Sicherheitsdienst, der auch gerade Feierabend machte.

„Hey, Honey.“

„Sag mal, was ist aus dem Typen geworden?“, fragte sie. „Der Kerl, der behauptet hat, er sei mein Cousin.“ Sie hatte sich im Kasino schon so manchen Spruch anhören müssen, aber der hier war neu.

Bert runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Bill hat sich darum gekümmert.“ Plötzlich sah er besorgt aus. „Oh.“

„Was?“

„Bill ist vorhin noch angerufen worden. Seine Frau bekommt ein Baby. Deshalb wollte er auch früher gehen. Ich kann nur hoffen …“ Er brach ab und eilte davon.

Obwohl Honeys Instinkt ihr riet, sich nicht einzumischen, folgte sie ihm. Der große, schlaksige Fremde war höflich zu ihr gewesen. Er sah gut aus, und sie fand ihn interessant. Er hatte eine belustigte Gelassenheit an sich – als würde er über die Unwägbarkeiten des Lebens lachen.

Dann hatte er gesagt, sie sei seine Cousine. Das hatte ihr Misstrauen geweckt und sie daran erinnert, dass sie Menschen gegenüber vorsichtiger sein musste.

Als Bert die Zelle entriegelte, ging sie mit ihm hinein. Ein leises Schnarchen begrüßte sie.

Der Fremde lag auf dem Sofa und schlief fest, der Eimer mit den Münzen stand auf seinem Bauch und hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

„Wenigstens klettert er nicht die Wände hoch“, murmelte Bert. „Sir? Sir?“, rief er. „Zeit zu gehen. Aufstehen.“

Der Fremde erwachte, hielt den Eimer fest und setzte sich auf. „Was ist los?“

„Sie können gehen“, erwiderte Bert. „Wissen Sie, wo Sie wohnen?“

„Klar. Hier. Zimmer zweitausendacht.“ Er zog die Schlüsselkarte heraus.

„Gut. Zum Fahrstuhl geht es hier entlang.“

Der Fremde bemerkte sie erst jetzt und lächelte erfreut. Seine Augen waren blau, das Haar war dunkel, etwas zu lang und auf verlockende Weise zerzaust. Sie spürte eine ungewohnte Anspannung, als er sie ansah.

„Hi, Cousine.“

„Tut mir leid, ich bin nicht Ihre Cousine.“

Der Mann strahlte eine angenehme Offenheit und Selbstsicherheit aus, als wüsste er, wohin er gehörte, und wäre damit zufrieden. Irgendwie beneidete sie ihn darum. Einen Moment lang schwebten die gewohnte Verzweiflung und Verletzlichkeit über ihr.

Sie fühlte sich ganz allein auf der Welt. Arme Kleine, verspottete sie sich. Sie hatte eine Tante und eine Cousine, die ihr zwar nicht nahestanden, aber immerhin gab es sie. Sie hatte einen Bruder, wusste aber nicht, wo er war oder ob er tot oder lebendig war. Als Undercover-Agent beim FBI hatte er einen Beruf, der ihn oft in Gefahr brachte und daran hinderte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Sie hatte gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen.

„Sie haben die Narbe“, sagte der Fremde.

Die Haut an ihrem Oberschenkel kribbelte. „Die hatte ich schon als Kind.“

„Ich weiß. Seit Sie drei waren.“

Honey starrte ihn an. Woher wusste er das?

„Zeit zu gehen“, warf Bert ein und ging zur Tür. „Schaffen Sie es allein auf Ihr Zimmer?“

„Ja, danke.“ Der Fremde sah sie wieder an. „Haben Sie jetzt frei?“

Sie nickte.

„Das ist gut. Wir müssen reden.“ Er zog die Stiefel an, erhob sich geschmeidig und überragte Bert um gute zehn Zentimeter. „Wie wäre es mit etwas zu essen? Ihr Freund kann mitkommen.“ Er zeigte auf den Wachmann.

„Ich fahre nach Hause“, sagte Bert.

„Ich auch.“ Sie ging zur Tür.

Der Fremde runzelte die Stirn und zog eine Brieftasche aus der Gesäßtasche. Zu ihrer Überraschung zeigte er ihnen eine Polizeimarke. „Zackary Nicholas Dalton“, stellte er sich vor.

Bert betrachtete die Marke. „Sie sind Deputy Sheriff? Aus Idaho?“

„Richtig. Ich war dienstlich hier und wollte mich heute Morgen auf den Heimweg machen.“ Er wandte sich ihr zu. „Aber vorher muss ich mit Ihnen reden. Es ist wichtig.“

Honey schüttelte den Kopf. „Ich bin hundemüde. Und ich bin nicht Ihre Cousine.“

„Sie könnten es sein. Erinnern Sie sich, wo Sie geboren wurden? Oder wer Ihre Eltern waren?“

Sie zögerte. Adam und sie waren Waisen geworden, als sie drei und ihr Bruder dreizehn gewesen waren. Ihr Vater war bei einer Schießerei in einer Bar ohne eigene Schuld getötet worden. Er und ein Freund waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zwei Jahre später war ihre Mutter an einer seltenen Lungenentzündung gestorben, gegen die Antibiotika nicht halfen.

„Also?“, drängte der Gesetzeshüter.

„Natürlich weiß ich das.“

„Sind sie am Leben?“

Die Frage verblüffte sie. Ihre Blicke trafen sich.

„Aha.“ Er deutete ihr Schweigen richtig. „Sind sie nicht.“

„Das … muss nichts bedeuten.“

„Erinnern Sie sich an sie?“, beharrte der Deputy.

„An meinen Vater nicht, aber an meine Mutter“, erwiderte sie, als er sie skeptisch musterte. „Ein paar Dinge jedenfalls.“

„Wie alt waren Sie, als sie starb?“

Honey hätte fast geantwortet, beherrschte sich aber gerade noch. Ihre Vergangenheit ging diesen Mann nichts an.

Bert wedelte ungeduldige mit der Hand. „Gehen wir.“ Er schob sie aus der Zelle, knallte die Tür zu und warf Honey einen unsicheren Blick zu.

„Fahren Sie nach Hause“, sagte sie zu ihm. „Ich komme klar.“

„Wo können wir reden?“, fragte der Deputy aus Idaho und hielt sie mit einer Hand zurück.

„Gar nicht.“ Sie eilte hinter dem Wachmann her. „Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich rufe wieder den Sicherheitsdienst.“

„Hören Sie, ich weiß, es klingt seltsam, aber meine Cousine hat wirklich eine dreizackige Narbe am Bein. Sie ist mit drei Jahren in Glasscherben gefallen. Ein paar Monate später wurde sie vom Ort eines Verkehrsunfalls weggebracht. Das war kurz vor ihrem vierten Geburtstag.“

„Weggebracht?“

„Entführt. Ihre Mutter ist bei dem Unfall an einer einsamen Stelle des Highways ums Leben gekommen. Irgendein Perverser hat sich das Kind geschnappt.“

Entsetzt starrte Honey ihn an. „Wie lange ist das her?“

„Zweiundzwanzig Jahre. Tink wird jetzt sechsundzwanzig. Wie alt sind Sie?“

Panik erfasste sie, als wäre sie tatsächlich die verschwundene Cousine und ihre Vergangenheit eine Lüge. Sie schüttelte den Gedanken ab. „Fünfundzwanzig, aber ich bin nicht die Person, die Sie suchen.“ Sie hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. Ihre Leben war auch ohne diesen Mann kompliziert genug. „Ich bin es nicht. Wirklich nicht. Es kann nicht sein.“

„Onkel Nick hatte einen Herzinfarkt“, sagte der Deputy betrübt. „Als er bewusstlos war, hat er dauernd etwas von Tink gemurmelt. Die Familie – ich habe zwei Brüder und drei Cousins – hat beschlossen, sie zu finden. Sind Sie sich ganz sicher?“

„Ja. Das mit Ihrem Onkel tut mir leid.“

„Ja, er ist der Größte. Er hat sechs Waisen zu sich genommen und uns als seine eigenen Kinder aufgezogen. Selbst nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, hat er uns nie im Stich gelassen, kein einziges Mal.“

Seine Geschichte glich ihrer, war aber doch ganz anders. Als Waisen hatten Adam und sie bei ihrer einzigen Angehörigen gelebt, einer Tante, die sie nie gewollt und sie es nie hatte vergessen lassen. Honey seufzte.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich muss los.“ Sie eilte davon.

In ihrem Einzimmerapartment zog sie sich zum Schlafengehen um. Stundenlang auf Stiletto-Absätzen herumzulaufen war extrem ermüdend. Sie hasste den Rauch und Lärm des Kasinos. Im Moment gab es in ihrem Leben sehr wenig, das sie genießen konnte.

Aus irgendeinem Grund musste sie an den attraktiven Polizisten denken – an sein selbstsicheres Lächeln, den Humor in seinen Augen, die Liebe zu seinem Onkel. Sie spürte, dass er ein zutiefst anständiger Mensch war, genau wie ihr Bruder …

Plötzlich kamen ihr die Tränen. Du meine Güte, der Deputy mit den himmlischen Augen hatte sie wirklich aus der Fassung gebracht.

Na ja, auch das ging vorbei. Sie weinte so gut wie nie. Weder Tränen noch Wünsche hatten an ihrem Leben etwas geändert.

Sie putzte sich die Zähne, holte den Laptop heraus und checkte ihre E-Mails.

Sie hielt den Atem an, als sie die verschlüsselte Nachricht von ihrem Bruder sah. Hastig öffnete sie die Mail, die wie die Ankündigung eines Schlussverkaufs wirkte. Datum und Uhrzeit des Beginns waren der Zeitpunkt, zu dem er sie anrufen würde. Dass er so mit ihr in Verbindung trat, bedeutete, dass sein Undercover-Einsatz äußerst gefährlich war.

Auch für sie.

Doch egal, was passierte, sie würde auf keinen Fall in ein „sicheres“ Haus zurückkehren. Dort hatte sie gelebt, bevor sie aus L. A. fortgegangen war. Sie hatte sich wie im Gefängnis gefühlt – keine Besucher, keine Anrufe, kein Schritt vor die Tür.

Nein danke.

Die Lieblingsstrafe ihrer Tante war gewesen, sie und Adam stundenlang ins Schlafzimmer zu sperren. Als Kind hatte Honey oft Angst gehabt, vergessen zu werden. Adam hatte gesagt, dass sie tapfer sein mussten, also hatte sie gelernt, ihre Furcht zu verbergen. Aber es war schrecklich gewesen.

Sie schloss die Augen, als das alte Gefühl in ihr aufstieg, Nach einem Moment schüttelte sie die Verzweiflung ab. Adam konnte auf sich aufpassen. Sie konnte es auch. Niemand würde die wasserstoffblonde Kellnerin mit der wahren Hannah Smith in Verbindung bringen.

Nein! Sie durfte sich nicht als Hannah Smith sehen. Sie hatte einen falschen Namen und eine falsche Identität. Bis auf Weiteres war sie Honey Carrington.

Der Deputy wartete am Personaleingang, als Honey am nächsten Abend um sechs zur Arbeit kam. Sie zögerte, als sie ihn sah, und dachte an einen Film über einen Stalker, den sie neulich im Fernsehen gesehen hatte.

„Keine Angst“, sagte er lächelnd und hob die Hände. „Ich bin harmlos. Können wir reden?“

„Ich dachte, Sie sind auf dem Weg nach Hause.“

Er schloss sich ihr an. „Haben Sie Zeit für einen Kaffee?“

Unentschlossen rang sie die Hände. Ihr Bruder hatte angerufen. Er wollte sie in einem sicheren Haus an der Ostküste unterbringen. Sie hatte sich geweigert. Er war wütend auf sie gewesen.

Vor einem Monat war seine Tarnung aufgeflogen. Deshalb hatte sie ihren Job bei der Tanztruppe, mit der sie im Theater des Kasinos auftreten sollte, aufgeben und als Kellnerin anfangen müssen.

Im Gefolge eines riesigen Skandals war das FBI vom Chef der Abteilung für interne Ermittlungen bei der Polizei von Los Angeles um Hilfe gebeten worden. Daraufhin war ihr Bruder in einen Ring krimineller Polizisten eingeschleust worden. Die Bande hatte von Honeys Existenz erfahren und wollte sie benutzen, um Adam zu enttarnen. Er hatte sie mehrfach davor gewarnt, was passieren würde, wenn sie einen von ihnen aufspürten.

Natürlich würde sie alles tun, um ihren Bruder zu schützen. Der Fremde war Polizist, aber ohne jede Verbindung zum verbrecherischen Milieu in Los Angeles. Er bot ihr die optimale Chance, ihr Problem zu lösen. Sollte sie sie ergreifen?

Sie hatte Adam ins Vertrauen gezogen, und er fand, sie sollte es tun. Er hatte den Deputy überprüft und festgestellt, dass er sauber war. Vor einer Stunde hatte er ihr erzählt, dass die Daltons eine angesehene Familie waren, die seit Generationen als Rancher in Idaho lebte.

Wenn sie sich nicht unter den Schutz des FBI stellen wollte, musste sie an einen Ort gehen, wo niemand sie so leicht finden würde. Wer, so hatte er gefragt, würde auf die Idee kommen, in Idaho nach ihr zu suchen?

„Ja, ich habe ein paar Minuten“, sagte sie, um die schwierige Entscheidung noch etwas hinauszuschieben.

„Wissen Sie, wo der Coffeeshop ist? Ich laufe hier immer nur im Kreis.“

Sie lächelte. „Das ist Absicht. Sie müssen immer an den Automaten und Spieltischen vorbei, um irgendwohin zu gelangen.“ Sie steuerte das Café an. „Erzählen Sie mir von Ihrer Cousine“, bat sie, als sie saßen.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie ist mit dreieinhalb nach einem Autounfall verschwunden, bei dem ihre Mutter getötet wurde. Als Hilfe eintraf, war Tink nirgendwo zu sehen.“

„Vielleicht ist sie einfach losgelaufen und hat sich verirrt“, sagte Honey.

Er zuckte mit den Schultern. „Wir wissen, dass noch jemand am Unfallort war. Die Polizei hat Reifenspuren und Stiefelabdrücke gefunden, direkt daneben die Abdrücke von Kinderschuhen. Ein Mann in einem Pick-up wurde an jenem Morgen an einer Tankstelle gesehen. Der Wagen hatte ein Kennzeichen aus Kalifornien. Woher haben Sie die Narbe an Ihrem Bein?“

Der abrupte Themenwechsel ließ Honey blinzeln. „Meine Tante hat erzählt, dass mein Cousin mich geschubst hat und ich auf eine zerbrochene Flasche gefallen bin.“

„Ihre Tante?“

Honey nickte, mit den Gedanken noch immer bei dem kleinen Mädchen, das verschwunden war. Sie wusste, wie es sich anfühlte, allein und verlassen zu sein.

„Was ist mit Ihren Eltern?“ Er beugte sich vor.

„Sie sind gestorben.“

„Wie? Wann?“

„Mein Vater wurde als Unbeteiligter in einer Bar erschossen. Meine Mutter wurde ein paar Jahre später krank. Das ist alles lange her“, sagte sie, um Nachfragen abzuwehren. „Ich war fast vier und weiß nur noch, dass meine Mutter ins Krankenhaus kam und nie zurückgekehrt ist.“

„Die Frau, die sagte, sie sei Ihre Tante …“

„Sie ist meine Tante.“

„Hat sie Kinder?“

„Einen Sohn. Er ist sechs Jahre älter als ich. Nach ihm konnte Tante May keine Kinder mehr bekommen.“

„Hmm.“

„Was denn?“

„Vielleicht wollte sie trotzdem noch ein Kind, ein kleines Mädchen, um die Familie zu komplettieren. Was ist, wenn sie dafür bezahlt hat?“

Honey verzog keine Miene. Ihre Tante hatte es gehasst, sie und ihren Bruder im Haus zu haben. Sie hatte kein Geld für sie ausgeben wollen, obwohl sie jeden Monat einen Scheck vom Jugendamt bekam, um für die beiden Waisen zu sorgen.

„Das halte ich für unwahrscheinlich“, antwortete sie und wünschte, sie wäre gewollt und geliebt gewesen. Wenn Wünsche Flügel wären …

„Kommen Sie mit mir auf die Ranch, und reden Sie mit Onkel Nick“, drängte er. „Vielleicht erinnern Sie sich an etwas. Wenigstens einen schönen Urlaub kann ich Ihnen versprechen. Frische Bergluft. Tolle Ausblicke. Stille. Niemand, der Sie belästigt.“

War ihm bewusst, wie verlockend das klang? „Ich muss arbeiten.“ Sie zögerte. Sie durfte ihn nicht ausnutzen. „Das mit Ihrer Cousine tut mir leid. Ich hoffe, Sie finden sie.“

„Danke.“

Mit nachdenklichem Gesicht ließ er sie gehen. Honey war sich der Narbe an ihrem Bein bewusst, als sie ihn im Café zurückließ.

Idaho. Gesten Abend hatte sie sich den Bundesstaat auf der Landkarte angesehen. Er war weit entfernt von allem, was sie kannte. Der Onkel, den der Deputy so sehr mochte, hatte offenbar eine Ranch. Es hörte sich paradiesisch an, wie eine Zuflucht für eine erschöpfte Seele.

Frieden. Stille. Sicherheit.

Oh ja, sie war versucht, so unglaublich versucht.

2. KAPITEL

Um zehn kannte Zack sich im Kasino aus und hatte einen Plan. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass die Kellnerin Tink war, dann musste er sie überzeugen, mit ihm nach Hause zu fahren und mit Onkel Nick zu reden.

Er wartete vor dem Umkleideraum auf sie. Eigentlich müsste sie bald Pause machen. Sein Instinkt behielt recht. „Hi“, sagte er, als sie auftauchte.

Ihr Kopf zuckte hoch, eine Hand flog an den Hals. Eine Sekunde lang sah sie aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht, dann verschwand die Verunsicherung hinter der Maske aus dickem Make-up.

„Oh, Sie sind es. Der Deputy.“

„Zack Dalton“, erinnerte er sie. „Der Cousin.“ Er warf ihr einen fragenden Blick zu. Würde sie ihm ihren Namen nennen oder den Sicherheitsdienst rufen?

Sie zögerte nur kurz. „Ich heiße Hannah Carrington. Man nennt mich Honey.“

„Honey“, wiederholte er so sachlich wie möglich. „Sollen wir essen? Ich bin am Verhungern.“

„Sie wollen mich begleiten?“

Er lächelte. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich lade Sie ein. Ich habe meine Vierteldollars gewechselt. Außerdem habe ich eine Idee, die ich gern mit Ihnen besprechen möchte.“

Im Coffeeshop musterte er sie, während sie in die Speisekarte schaute. Ihre absurd langen Wimpern warfen Schatten auf das Rouge an den Wangen. Er fragte sich, wie Onkel Nick auf diese „angemalte“ Frau reagieren würde.

Ihr voller Mund mit seiner zarten Sinnlichkeit passte nicht recht zu dem Eindruck, den das Make-up und das knappe Kostüm vermittelten. Wer war die wahre Honey Carrington? Die Widersprüche machten ihn neugierig. Selbst wenn sie nicht Tink war, wollte er mehr über diese rätselhafte Frau wissen.

Nachdem sie bestellt hatten, holte er tief Luft. „Habe ich Ihnen erzählt, dass mein Onkel Nick kürzlich einen Herzinfarkt hatte?“

„Ja. Deshalb suchen Sie seine Tochter.“

„Richtig. Ich glaube, Sie könnten sie sein.“ Er hob eine Hand, um ihren Protest abzuwehren. „Sie haben die Narbe. Ihre Eltern sind beide tot. Sie wurden von jemandem aufgezogen, der sich als Angehörige ausgegeben hat. Was, wenn sie nicht ihre Tante war? Wenn Sie entführt und auf einem Schwarzmarkt für Kleinkinder verkauft wurden?“

„Das ist doch … lächerlich.“

Aber sie klang nicht mehr so sicher. „Vielleicht ist etwas schiefgelaufen, und Sie sind nicht dort gelandet, wo Sie sollten. Vielleicht musste der Kidnapper in Deckung gehen und hat Sie bei einer Freundin abgegeben, ist aber nie zurückgekehrt. Wo wurden Sie geboren?“

„Kalifornien.“

„Sind Sie sich sicher?“

Verwirrt sah sie ihn an. Ihre Augen waren blau, hellblau mit silbrigen Punkten. Sein Herz schlug schneller. Tink hatte blaue Augen.

„Meine Tante“, begann sie leise und zögerte. „Meine Tante musste mir eine Geburtsurkunde besorgen, als ich in die Schule kam. Sie musste beeiden, dass ich ihre Nichte bin. Sie hat gesagt, ich sei zu Hause geboren worden, ohne Arzt, mit einer Hebamme. Offenbar ist die Geburt nicht registriert worden.“

Zack hielt den Atem an. Damit war für ihn die Sache klar. „Sie müssen mit Onkel Nick reden. Ich bezahle Sie. Fünfhundert Dollar. In bar und ohne Abzüge, für zwei Wochen Ihrer Zeit. Natürlich bekommen Sie auch Kost und Logis.“

Sie schwieg.

„Vielleicht führt es zu nichts, aber wenn die Möglichkeit besteht, dass Sie Tink sind, müssen wir sie in Betracht ziehen. Einen zweiten Infarkt überlebt Onkel Nick vielleicht nicht. Wenn Sie seine Tochter sind, würden Sie es nicht wissen wollen?“

Ihre Lippen zitterten kurz, bevor sie sie zusammenpresste. „Doch“, erwiderte sie fast unhörbar. „Ich würde es wissen wollen.“

Er dachte an seine mageren Ersparnisse. „Heute ist der sechste August. Ich gebe Ihnen tausend, wenn Sie den Rest des Monats bleiben.“

„Ich will Ihr Geld nicht“, entgegnete sie ernst. „Ihre Cousine heißt Tink?“

„Theresa. Sie wollte lieber Tinker Bell genannt werden, und daraus wurde Tink.“

„Sie erinnern sich an Sie?“

„Natürlich. Ich war acht, als sie verschwand.“

Honey nickte und starrte auf den Tisch. Zack wartete und sah, wie ihre Brust sich hob und senkte. Ihr Blick war düster. „Na gut“, sagte sie schließlich. „Ich komme mit. Idaho, richtig?“

„Ja.“ Er seufzte erleichtert. „Es ist nicht das Ende der Welt“, versicherte er ihr. „Warum sind Sie einverstanden?“

„Ich hasse die Arbeit im Kasino.“

Es klang ehrlich. Er lächelte. „Was haben Sie für eine Kündigungsfrist?“

„Dreißig Minuten.“

„Großartig. Können wir morgen früh um sechs aufbrechen?“ Verdutzt sah sie ihn an. „Na gut, um sieben. Schaffen Sie das? Wo soll ich Sie abholen?“

„Wir treffen uns hier in der Lobby. Um sechs.“ Sie nahm die Hände vom Tisch, damit die Kellnerin ihr Essen servieren konnte. „Ich brauche die Anschrift und Telefonnummer der Ranch. Damit ich meine Tante informieren kann.“

„Kein Problem.“ Er gab sie ihr, bevor er in seinen Burger biss. Endlich war ihm die Glücksgöttin wohlgesinnt.

Aber was, wenn diese Frau nicht seine verschollene Cousine war? Wenn sie nur schnelles Geld machen wollte? Nein, sie hatte das Geld abgelehnt, das er ihr angeboten hatte. Was konnte sie sonst wollen? Er hatte sie dazu gedrängt, also konnte sie es kaum geplant haben. Und mal ehrlich, Betrügerinnen suchten sich als Opfer wohl kaum Rancher aus Idaho und Deputy Sheriffs!

Er wog die Beweise ab. Sie hatte die Narbe. Ihre Eltern waren tot. Ihre Geburtsurkunde war fragwürdig. Also konnte sie es durchaus sein. Oder auch nicht. Für Onkel Nick musste er das Risiko eingehen.

Um halb sechs am Sonntagmorgen stellte Honey die zwei Koffer und eine Tasche mit ihrer gesamten Habe ins Büro ihrer Vorgesetzten neben dem Pausenraum. Es war noch kein Schichtwechsel, deshalb war niemand da. Sie wollte nicht, dass ihre Kolleginnen sie so sahen. Sie trug eine ausgebeulte Hose, ein Tanktop und ein Shirt mit langen Ärmeln, das Haar war unter einem Baseballcap verborgen, nur der falsche dunkle Pferdeschwanz war zu erkennen. Sie fand, dass sie sich ausreichend verkleidet hatte, um auf den ersten Blick als Junge durchzugehen, aber wer sie kannte …

Mit gesenktem Kopf eilte sie zum Fahrstuhl. Oben angekommen, schob sie eine Nachricht unter Zacks Zimmertür hindurch.

Sie öffnete sich sofort. „Was ist?“

Verblüfft schaute sie ihn an, bevor sie den Kopf wieder senkte. „Ich wurde gebeten, Ihnen diese Nachricht zu bringen, Sir“, sagte sie mit tieferer Stimme als sonst und zeigte auf den Umschlag.

„Warten Sie“, befahl er.

Sie erstarrte.

Er hob den Umschlag auf und überflog die Nachricht. Dann reichte er ihr zwei Jetons im Wert von je einem Dollar.

„Keine Antwort“, sagte er und schloss die Tür.

Sie atmete auf und ging zum Fahrstuhl zurück. Sie hinterließ ihr Personalabzeichen und einen Zettel, dass sie wegen eines Notfalls in der Familie abreisen musste, und trug ihr Gepäck zum Ausgang.

Zack kam pünktlich. „Wo ist sie?“, fragte er.

„Ich soll Sie zu ihr bringen.“ Honey zog das Cap etwas tiefer ins Gesicht, als er sie genauer betrachtete.

„Das ist ihr Gepäck“, fügte sie rasch hinzu.

Er nickte, griff nach der Tasche und überließ ihr die beiden Koffer. Sie folgte ihm mit so langen – und männlichen – Schritten wie möglich.

Sie luden das Gepäck in einen schwarzen Geländewagen. Honey stieg ein, schnallte sich an und setzte eine Sonnenbrille auf. Sie registrierte das kugelsichere Glas und die Abtrennung zwischen Vordersitzen und Rückbank. Eine Sekunde lang fragte sie sich, ob er sie nach hinten setzen würde. Dorthin, wo Gefangene transportiert wurden.

Der Deputy setzte sich ans Steuer, startete den Motor und fädelte sich in den schwachen Verkehr auf dem Strip ein.

Honey seufzte erleichtert. Bestimmt rechnete niemand damit, dass sie Las Vegas in einem Wagen verließ, an dem ein Sheriffsstern prangte.

„Okay, wo ist sie?“, fragte Zack.

„Hier.“ Sie nahm die Sonnenbrille ab.

Er hielt an einer roten Ampel und drehte sich zu ihr. Die junge Frau, die er für einen Mann gehalten hatte, lächelte zufrieden.

Ihre Augen waren silberblau, die Wimpern und Brauen goldbraun. Am Mundwinkel saß ein winziges Muttermal, und das Gesicht war ohne jedes Make-up. Sie sah frisch und jung aus und ganz anders als die Kellnerin im Kasino.

„Was geht hier vor?“, fragte er scharf.

„Nichts“, sagte sie unschuldig.

Zu unschuldig. „Sie sehen ganz anders aus.“

„Das Kasinokostüm musste ich tragen. Jetzt kann ich meine eigenen Sachen anziehen.“

Es wurde grün, und er fuhr weiter. „Das sind Ihre üblichen Sachen? Für wie dämlich halten Sie mich?“

Er unterdrückte den Zorn. Ein guter Polizist musste die Fakten aus der Distanz betrachten. Er gelangte zu einer logischen Schlussfolgerung.

Inzwischen hatten sie den Highway erreicht, auf dem mehr Verkehr als in der Stadt herrschte. Kurz vor einer Abfahrt hielt er am Rand und ließ den Motor laufen. „Wovor laufen Sie weg?“

Sie hatte sich im Griff, das musste er ihr lassen.

„Das tue ich nicht“, sagte sie.

„Okay. Vor wem laufen Sie weg?“

„Vor niemandem.“

„Entweder Sie sagen es mir, oder ich setzte Sie hier ab, und Sie können zu Fuß zum Kasino zurückkehren.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wir haben eine Abmachung – ich verbringe den Rest des Monats auf der Ranch Ihres Onkels. Das wollen Sie doch, oder?“

Er schaute ihr in die Augen. Hätte ihr voller Mund nicht ganz leicht gezittert, hätte er die ganze Sache abgeblasen. Trotzdem musste er sie warnen. „Wenn Sie versuchen, meiner Familie zu schaden, werfe ich Sie so schnell hinaus, dass Ihnen schwindlig wird.“

„Wie könnte ich das tun? Ich kenne Ihre Familie ja nicht mal.“ Sie funkelte ihn an. „Falls Sie es sich anders überlegt haben, bringen Sie mich wenigstens zu meinem Apartment zurück, bevor meine Vermieterin die Kündigung findet.“

„Sie haben nicht vor, nach Las Vegas zurückzukehren?“

„Die Welt ist groß. Bisher kenne ich nur Kalifornien und Nevada. Und bald Idaho, wenn Sie die Wahrheit gesagt haben.“

Er fuhr weiter. Die Ranch war sechzehn Autostunden entfernt. Er wollte es vor Mitternacht schaffen.

Vom Regen in die Traufe.

Honey wehrte sich gegen die finstere Stimmung, die sie zu befallen drohte, während die Meilen an ihr vorbeiflogen. Andere Fahrer verlangsamten ihr Tempo, sobald sie den Geländewagen als Polizeifahrzeug erkannten.

Am späten Vormittag hielten sie, um zu tanken und sich Kaffee und einen Snack zu besorgen. Als Honey den Deputy nach ihrer Route fragte, erwiderte er, dass er über Twin Falls nach Boise und dann über Land- und Nebenstraßen zur Ranch fahren wollte, und gab ihr eine Karte.

Neugierig erkundigte sie sich nach der abgelegenen Ranch. Er erzählte ihr von seinem Leben mit einem strengen, aber liebevollen Onkel und unzähligen Cousins. Als ihr die Fragen ausgingen und seine Antworten kürzer ausfielen, hörte sie auf zu fragen. Im Stillen beneidete sie ihn um seine Kindheit und fühlte sich noch einsamer als zuvor, während sie mit dem attraktiven Deputy ins Ungewisse fuhr.

Den Rest des Tages verfolgte sie ihre Route auf der Straßenkarte. Sie tankten wieder und aßen zu Mittag und zu Abend. Sie spürte, dass ihr Reisegefährte ihr nicht traute, und konnte es ihm nicht verdenken. Dass sie ihn ausnutzte und sein Angebot annahm, obwohl sie nicht seine gesuchte Cousine war, bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Aber sie musste ihren Bruder schützen, und das war wichtiger als Zacks Sorge um seinen Onkel. Schließlich hatte er darauf bestanden, dass sie mitkam, und sie wollte den Daltons wirklich nicht schaden.

Während er fuhr, musterte sie ihn unauffällig. Er war attraktiv. Er trug keinen Ring und hatte bei seiner Aufzählung von Familienmitgliedern keine Ehefrau erwähnt. Hätten sie beide sich unter anderen Umständen kennengelernt, hätten sie sich vielleicht ineinander verliebt und sogar geheiratet.

Ich bin immer eine Romantikerin gewesen, dachte sie seufzend. Als er ihr einen Blick zuwarf, rang sie sich ein Lächeln ab. Ihr Leben war nicht so einfach, wie es aussah. Alles Wünschen, Hoffen und Träumen änderte nicht das Geringste daran.

Je länger der Tag dauerte, desto müder wurde sie. In der Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen. Als ihr Kopf nach vorn fiel, zuckte sie zusammen. „Fahren wir die ganze Nacht hindurch?“

„Wir können im nächsten Ort rasten, wenn Sie möchten.“

„Wie weit ist es noch bis zur Ranch?“

„Vier oder fünf Stunden.“

„Dann halte ich durch. Sind wir schon in Idaho?“

„Fast.“

Danach schwieg sie. Einen Moment lang fühlte sie sich so wie damals, als die Sozialarbeiterin sie und Adam im Haus ihrer Tante zurückgelassen hatte. Aber diesmal konnte sie sich nicht an der Hand ihres Bruders festhalten. Jetzt war sie ganz allein.

Ein beleuchtetes Schild, das sie in Idaho willkommen hieß, sauste in der Dunkelheit an ihnen vorbei. Irgendwann hörte sie Zacks Stimme, ohne die Worte zu verstehen.

„Was haben Sie gesagt?“

„Sie können den Sitz etwas nach hinten kippen“, wiederholte er lauter.

Sie tat es und schlief sofort ein.

Ein Fluchen weckte sie. Sie hielt sich reflexartig an ihm fest und spürte seinen Oberschenkelmuskel, als er scharf bremste, der Wagen schleuderte und abrupt zum Stehen kam.

„Was ist passiert?“, fragte sie und ließ sein Bein los.

Er schnaubte. „Die Straße ist überflutet. Bleiben Sie sitzen.“ Er zog Schuhe und Socken aus, stieg aus und überprüfte, wie tief das Wasser war.

Kalte Luft strömte ins Innere. Regen prasselte aufs Dach. Fröstelnd zog Honey das Shirt fester um sich. Der August war in Idaho eindeutig kälter als in Las Vegas.

Der Deputy setzte sich wieder ans Steuer. Ein Windstoß drang herein. Sie sah sich um. Nirgendwo war ein Haus zu sehen, kein entfernter Lichtschein ließ erkennen, dass irgendwo Menschen lebten.

Hagel traf die Windschutzscheibe. „Es ist kalt“, sagte sie zitternd.

„Ja. Wir sitzen hier fest, bis die Straße wieder frei ist.“

Er trocknete sich die Füße mit einem Taschentuch ab, zog Schuhe und Socken an, startete den Motor und parkte an einer Stelle, von der aus man in ein flaches Tal und den langen Gebirgszug dahinter schaute. Um sie herum erhellten Blitze die Landschaft.

„Was soll das heißen, wir sitzen fest?“, fragte sie.

„Wir können nicht weiterfahren.“

„Dann kehren wir eben um“, schlug sie vor. Die Situation war ihr unheimlich.

„Wohin denn?“

„In den letzten Ort, durch den wir gekommen sind. Wir können in einem Motel absteigen, bis das Gewitter vorbei ist.“

Er schüttelte den Kopf. „Der letzte Ort war ein ödes Nest mit einer Tankstelle, die nicht geöffnet hatte.“

„Kein Motel?“ Panik stieg in ihr auf. Sie holte tief Luft.

„Da gab es nichts.“ Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad.

„Was jetzt?“, fragte sie ein paar Minuten später.

„Fünfzehn oder zwanzig Meilen vor uns ist eine Stadt. Das ist ziemlich weit, um zu Fuß Hilfe zu holen. Vorausgesetzt, wir schaffen es durchs Wasser.“ Er sah sie an. „Die Strömung ist stark, aber ich könnte es vermutlich schaffen.“

Er wollte sie hier zurücklassen? Ihre Panik verstärkte sich. „Vielleicht geht das Wasser bald zurück.“

„Wahrscheinlich nicht vor morgen früh.“

Er griff nach dem Sprechgerät des Polizeifunks. Sie hörte nur ein Knistern, das jedes Mal lauter wurde, wenn es am Horizont blitzte. Er versuchte es auf mehreren Frequenzen, bekam aber keine Antwort.

Als das Gewitter näher kam, schaltete er den Funk aus. „Zu gefährlich“, murmelte er.

„Was ist mit meinem Handy?“ Sie holte es aus der Tasche. Aber auch hier war nur ein Rauschen zu hören – und eine automatische Ansage. „Außer Reichweite“, flüsterte sie resigniert.

Er wirkte nicht überrascht. „Selbst wenn wir hier Netz hätten, wäre es vermutlich überlastet.“ Er streckte sich gähnend. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Ich habe einen Schlafsack dabei.“

Er stieg wieder aus, öffnete die Heckklappe und kletterte hinein. Dann legte er die Rückbank um und breitete den Schlafsack darauf aus.

„Sie können es sich hier bequem machen und schlafen“, sagte er.

Stumm beobachtete sie, wie er ihr Gepäck hinter den Vordersitzen aufstapelte.

„Tut mir leid, keine Kissen.“ Er sah sie an. „Ihr Bett ist fertig.“

„Wo wollen Sie schlafen?“

„Vorne.“

Das war nicht fair. „Sie sind größer als ich. Gehen Sie nach hinten. Ich bleibe hier.“

Er zerrte einen dicken Parka aus seiner Reisetasche und zog ihn an. „Ich will die Lage im Blick behalten. Entschuldigen Sie mich bitte kurz“, sagte er und verschwand mit einer Taschenlampe zwischen den Bäumen am Straßenrand.

Als er zurückkam, gab er ihr die Taschenlampe, stieg ein und knallte die Tür zu. Sie saß fast eine Minute lang da, bevor sie ebenfalls in die Büsche ging.

Es nieselte nur noch, aber der Wind hatte nicht nachgelassen. Bei ihrer Rückkehr zögerte sie kurz, dann kletterte sie nach hinten, da er sich bereits auf den Vordersitzen ausgestreckt hatte.

Selbst mit dem Schlafsack als Decke war ihr kalt. Der Wind ließ den Wagen erzittern und heulte in den Bäumen. Abgesehen davon war es totenstill. Honey fragte sich, wo ihr Bruder war und ob er in einem Bett lag. Sie dachte an ihre Tante, die keine zwei zusätzlichen Kinder gewollt hatte, und an ihren Cousin, der sie schikaniert hatte, bis Adam ihm eine blutige Nase verpasst hatte. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sie immer in den Schlaf gesungen hatte.

Ihre Augen wurden feucht. Um sich abzulenken, schaute sie auf den nächtlichen Himmel, an dem das Gewitter nach Osten zog. Hier draußen konnte ein Mensch sterben, ohne dass jemand es erfuhr. Adam würde vielleicht nie erfahren, was aus ihr …

Hör auf! Es war sinnlos, trübsinnig zu werden. Was machte es schon, dass sie sich noch einsamer als sonst fühlte? Es gab Schlimmeres.

Ihre Muskeln schmerzten vor Erschöpfung, und die Füße verwandelten sich langsam in Eisklumpen. Sie schlief ein, aber nach einer Weile erwachte sie frierend und vor Angst wimmernd.

„Honey? Wachen Sie auf. Sie träumen“, sagte eine seltsam vertraute Stimme.

„Ein Albtraum“, erwiderte sie heiser. „Ich war in der Arktis oder irgendwo. Es war so kalt, dass ich dachte, ich erfriere. Meine Füße fühlen sich an wie Eiswürfel“, versuchte sie zu scherzen.

„Haben Sie einen Mantel oder so was?“

Sie holte ihren alten Trenchcoat heraus, zog ihn an und kroch bis zum Hals unter den Schlafsack.

„Geben Sie mir meine Tasche, bitte“, bat er. „Ohne Kissen kann ich nicht schlafen.“

Sie hörte die Sicherheitsabtrennung aus Draht klappern, dann erkannte sie im blassen Licht des Mondes, dass er eine Hälfte heruntergeklappt hatte. Sie reichte ihm die Nylontasche hindurch. Er quetschte sie zusammen, bis er mit der Form zufrieden war, und legte sich wieder hin.

Zack wusste, dass man vor Angst frieren konnte, und bedauerte, dass die Reise abenteuerlicher geworden war, als er geplant hatte. „Ich mache es uns mal warm.“

Er startete den Motor und stellte die Lüftung so ein, dass die warme Luft nach hinten strömte. Dann schaltete er das Radio ein. Nichts.

„Ist das Wasser schon gesunken?“, fragte Honey.

„Noch nicht.“

Nach ein paar Minuten hörte er sie seufzen und spürte, wie sie sich etwas entspannte. Sie war eingeschlafen.

Plötzlich wurde ihm heiß. Es war eine Weile her, dass er zusammen mit einer Frau auf so engem Raum übernachtet hatte. Nicht, dass sie beide im physischen Sinn miteinander schliefen. Aber er war sich ihrer Nähe bewusst.

Er hatte viel und hart gearbeitet. Die Sommer waren immer hektisch, weil Touristen sich häufig in kritische Situationen brachten. Im Winter mussten sie verirrte Jäger suchen, und ein Frühlingsblizzard hatte für Einsätze rund um die Uhr gesorgt. Ans Ausgehen hatte er seit Monaten nicht mehr gedacht.

Und jetzt war er hier, mitten in der Nacht, im Nirgendwo, im Wagen, mit einer Frau, die er in der Kasinohauptstadt der Welt gefunden hatte, um sie nach Hause mitzunehmen, wo sie vielleicht bald Teil seiner Familie wurde. Das bereitete ihm Sorgen. Er wollte nicht, dass Onkel Nick enttäuscht wurde, falls er ihr zu Unrecht vertraute.

Er ging die Fakten durch: Die wohlgeformte Kellnerin mit dem dicken Make-up war verschwunden, jetzt war sie eine schlanke Frau, die er kurze Zeit für einen Jungen gehalten hatte. Sehr kurze Zeit. Ohne Make-up war sie hübscher und wirkte sanfter.

Genau das beunruhigte ihn. Sie hatte etwas Verletzliches, und er wurde das Gefühl nicht los, das sie viel Zuwendung und Zärtlichkeit brauchte. Und er war immer jemand gewesen, der sich um streunende Hunde und Katzen kümmerten, die ihm über den Weg liefen.

Als der neue Tag anbrach, bewegte sich Honey im Schlaf und gab einen leisen Laut von sich. Das Verlangen durchfuhr ihn wie ein Stromschlag, und er fühlte, wie heftig sein Körper auf ihre Nähe reagierte.

Verdammt, vielleicht ist sie meine Cousine, warnte er seine Libido. Aber da er nicht mit ihr aufgewachsen war, würde es ihm schwerfallen, sie so zu sehen, wenn sie es tatsächlich war.

Falls nicht, gab es andere Möglichkeiten.

Sie bewegte sich wieder und schob den Schlafsack von sich. Er stellte den Motor ab. Schlagartig wurde es still. Er hörte sie erneut seufzen.

Wenn er sie jetzt weckte, wer würde sie sein? Kellnerin? Cousine? Wildfang? Oder Liebhaberin?

Nichts davon.

Das war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief und von etwas Schönem träumte, das er längst vergessen hatte.

3. KAPITEL

Honey erwachte stöhnend. Ihr Reisegefährte schmunzelte.

„Die Ladefläche ist kein sehr bequemes Bett“, sagte er fröhlich. „Nicht mal mit einem Schlafsack.“

„Das habe ich gemerkt.“ Sie blinzelte in das fahle Tageslicht über den Bergen. „Wie spät ist es?“

„Spät. Kurz nach fünf. Ich möchte vor Mittag zu Hause sein.“

„Warum?“

„Arbeit“, erklärte Zack geduldig. „Ich muss Sie zur Ranch bringen und zurück in die Stadt fahren.“

„Ohne mich würden Sie nicht zur Ranch fahren?“

„Nein.“

„Sie leben nicht bei Ihrem Onkel?“

„Nicht dauerhaft. Ich habe ein Zimmer in der Stadt.“

Sie sah ihm nach, als er ausstieg und ans Heck ging.

„Tut mir leid, dass es so kalt ist“, sagte er, als er die Heckklappe öffnete. Er nahm einen kleinen Campingkocher heraus und setzte Wasser aus einer Plastikflasche auf.

„Tee oder Kaffee?“, rief er.

„Kaffee.“

„Zucker? Milchpulver?“

„Ein Stück Zucker, bitte.“ Vorsichtig schlug sie den Schlafsack zurück. Die Luft fühlte sich eisig an.

„Ich bringe Ihnen den Becher.“

Sie nippte am heißen Gebräu, während er die Straße checkte und für sicher befand. Das Wasser war an keiner Stelle tiefer als fünfzehn Zentimeter. Sie machte sich frisch und verschwand kurz zwischen den Bäumen.

„Sie denken wohl an alles – Schlafsack, Kocher, Kaffee, Tee“, sagte sie, als sie auf den Vordersitzen ihre Becher leerten.

„Wer in den Bergen lebt, muss auf Unwetter vorbereitet sein.“

„Haben Sie viel Schnee in Idaho?“

Er lächelte auf seine ganz spezielle Art – humorvoll, mehr als nur etwas sexy und irgendwie geheimnisvoll. Es war sein Lächeln gewesen, das es ihr erleichtert hatte, ihm zu vertrauen. Und er hatte sich in der Nacht als perfekter Gentleman erwiesen.

„Nicht so viel wie anderswo, aber es reicht. Ziehen Sie den Parka an. Ich will nicht, dass Sie sich erkälten.“

Sie war froh, dass er ihr Vertrauen nicht enttäuscht hatte. Heutzutage gab es so wenige Menschen, auf die sich zu verlassen wagte.

„Bereit?“, fragte er.

Sie nickte und sah, wie er einen Blick auf ihr Haar warf. Da sie es nicht mehr unter dem Cap verbergen musste, ließ sie es auf die Schultern fallen.

„Sie sehen ganz anders aus als im Kasino.“

Sie hob das Kinn. „Das war Arbeit.“

„Oder um Ihre wahre Identität zu verbergen?“

Ihr Herz schlug schneller. Sie wollte antworten, ließ es dann aber. Wenn man sich unsicher war, was man sagen sollte, hielt man besser den Mund. Er musterte sie kurz, dann startete er den Motor und fuhr auf die Straße. Fast drei Stunden später erreichten sie einen Stausee, an dessen Ufer sich eine kleine Ortschaft schmiegte. Honey schlug die Karte auf und fragte, wo sie waren.

„Lost Valley. Der Ort versorgt die Rancher und die Touristen auf ihrem Weg zum Yellowstone und den Tetons oder im Sommer zum Hells Canyon.“

Im Winter musste es hier wie in einer Tiefkühltruhe sein. Sie stellte sich vor, tagelang eingeschneit zu sein. Wie von selbst fiel ihr Blick auf Zack, und ihr Herz schien mal wieder einen Satz zu machen.

„Dalton“, sagte sie plötzlich. „Gab es nicht im Wilden Westen eine Bande, die so hieß?“

„Ja. Aber wir stammen von dem Familienzweig der Guten ab.“ Sein Lächeln war ansteckend. „Wir sind fast zu Hause.“

Sie ließ den Blick über das friedliche Tal zwischen den majestätischen Gipfeln, den See und die immergrünen Bäume wandern. „Es ist schön hier. Der schönste Ort, den ich je gesehen habe.“

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu.

„Nun ja, bisher war ich nur in Südkalifornien und dann Nevada, jedenfalls in Las Vegas, bis gestern“, gab sie zu. „Aber die Berge haben mich schon immer fasziniert. Die gewaltigen Naturkräfte, die sie geschaffen haben.“

„Ja, es ist faszinierend.“

Sie wusste nicht, ob er sarkastisch war oder es ernst meinte. „Lebt Ihr Onkel allein auf der Ranch?“

„Nein, mit meinen beiden Zwillingsbrüdern. Meine Cousins leben in Boise, kommen aber oft zu Besuch.“

„Wie viele Cousins haben Sie?“

„Drei.“

Honey spürte ein Kribbeln im Nacken. Zack, seine zwei Brüder, die drei Cousins und Onkel Nick. Das machte sieben. Sieben Daltons und die sieben Gipfel der Seven Devil Mountains, wie die Berge hier hießen.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Nein, die Berge sind nicht nach meiner Familie benannt.“

Während sie um Berge herum und durch Canyons fuhren, ging Honey auf, dass sie den Weg zurück in den Ort niemals allein finden würde. Endlich überquerten sie auf einer Holzbrücke ein ausgetrocknetes Flussbett, und vor ihnen erstreckte sich ein flaches, von bewaldeten Gebirgskämmen umgebenes Tal.

Auf einer Anhöhe, von hohen Pinien geschützt, lag ein aus Naturstein und Baumstämmen errichtetes Ranchhaus mit zwei Seitenflügeln und einer großen Veranda.

„Wir sind zu Hause“, sagte Zack. „Da ist Onkel Nick.“

Ein älterer Mann betrat die Veranda. Sein Haar war weiß, das Gesicht gebräunt und faltig. Er war so groß wie Zack, aber seine Haltung wirkte fast jugendlich. Honey schätze ihn auf Ende sechzig oder Anfang siebzig.

„Was ist mit Ihren Eltern passiert?“, fragte sie.

„Sie sind gestorben, als wir jung waren.“

„Wie?“

„Mein Vater und meine Mutter waren zusammen mit dem Bruder meines Vaters und seiner Freundin zu Besuch auf der Ranch und hatten uns Kinder mitgebracht. Eines Abends wollten sie in der Stadt ausgehen. Es gab eine Lawine, und sie haben es nicht zurückgeschafft. Da Onkel Nick der einzige Angehörige war, mussten er und Tante Milly sechs weitere Kinder aufziehen.“

„Tante Milly ist die, die bei dem Autounfall getötet wurde? Und ihr kleines Mädchen wurde gekidnappt?“

„Ja.“

Honey dachte an das, was ihrer Familie widerfahren war. Wie sie war Zack ein Waisenkind, das von einem Angehörigen aufgenommen worden war.

„Das mit Ihren Eltern und den anderen tut mir leid“, sagte sie.

„Es ist lange her.“

„Wie alt waren Sie?“

„Sieben.“

Sie wollte ihn fragen, wo er gelebt hatte, bevor er auf die Ranch gekommen war, aber er parkte und stieg aus.

„Warten Sie hier“, befahl er und warf die Wagentür zu.

Mit klopfendem Herzen sah sie ihm nach, als er seinen Onkel begrüßte und auf den Wagen zeigte. Der Onkel schaute herüber. Die beiden redeten noch eine Weile, dann winkte Zack sie heran.

Widerstrebend ging sie zu ihnen und wartete darauf, dass der ältere Mann ihr vorwarf, eine Lügnerin und Opportunistin zu sein. Er musterte sie gründlich. Als er den Arm ausstreckte und ihr Kinn anhob, schaute sie ihm in die Augen.

Er lächelte. „Sie glauben also, Sie könnten Tink sein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Neffe glaubt es. Ich bin Hannah Carrington. Jeder nennt mich Honey.“

„Zack hat mir erzählt, wo und wie er Sie kennengelernt hat“, sagte sein Onkel nachdenklich. „Ihre Eltern sind tot, und Sie haben bei einer Tante gelebt?“

„Ja, das stimmt.“

Er tätschelte ihre Wange, was sie unter normalen Umständen nicht zugelassen hätte, aber von diesem freundlichen alten Gentleman war es tröstend. Wie sein Neffe war er ein Kümmerer.

„Ich bin froh, dass Sie hier sind“, fuhr er fort. „Zeig ihr das Rosenzimmer, Zack. Ich stelle das Mittagessen auf den Tisch.“

„Darfst du auf sein und kochen?“, fragte Zack.

„Der Doc hat mir erlaubt, jede...

Autor

Laurie Paige
Laurie Paige lebte mit ihrer Familie auf einer Farm in Kentucky. Kurz bevor sie ihren Schulabschluss machte, zogen sie in die Stadt. Es brach ihr das Herz ihre vierbeinigen Freunde auf der Farm zurück lassen zu müssen. Sie tröstete sich in der örtlichen Bibliothek und verbrachte von nun an ihre...
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