Auf verbotenen Wegen

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Lillith schwebt in Lebensgefahr, seit sie einen Mord beobachtete. Nur in den Armen von Deegan Galloway - ein Mann, der in der Unterwelt so zu Hause ist wie auf den Bällen der feinen Gesellschaft - scheint sie sicher. Doch wie lange noch? Können sie gemeinsam dem Täter das Handwerk legen, ehe Lillith sein nächstes Opfer wird?


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764982
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

San Francisco, Januar 1880

Der Lärm aus den benachbarten Kneipen war im Laufe des Abends verebbt. Langsam kroch der Nebel von der Bucht in die Straßen und verwandelte die engen Gassen in eine düstere Unterwelt, in der man spurlos verschwinden konnte. Schon mancher war von einem Matrosenwerber im Schutz der Nacht entführt worden. Andere fielen alltäglichen Verbrechen zum Opfer oder wurden im Auftrag einer der hiesigen Bandenbosse beseitigt.

Belle Tauber zog sich den abgetragenen Schal enger um die Schultern. Sie lehnte an der kalten, feuchten Mauer eines schäbigen Häuschens und beobachtete, wie ihr letzter Freier in dieser Nacht in den Nebel hinausstolperte. Es muss mein Glückstag sein, dachte sie spöttisch. Die Hälfte der Männer, die Severn ihr an diesem Abend geschickt hatte, war rasch zufriedenzustellen gewesen und hatte sich genauso schnell wieder verdrückt. Einer war sturzbetrunken umgefallen, noch ehe er sich ausgezogen hatte. Zwei weitere Kerle mussten unsanft hinausbefördert werden, da sie das Bewusstsein verloren, noch bevor viel geschehen war. Belle hatte es geschafft, den besinnungslosen Männern die Taschen zu leeren, während Severn höchstwahrscheinlich ihren anderen Freiern die Wertsachen abgeknöpft hatte, als sie durch die dunklen Gassen nach Hause wankten.

Belle verschwendete kaum einen Gedanken an die unglücklichen Opfer. Jeder, der die düsteren Straßen von Barbary Coast betrat, wusste, worauf er sich einließ. Man musste für das Privileg, hier sein zu dürfen, immer bezahlen. Ob mit dem Leben oder bloß mit Geld – das bestimmte das Schicksal.

Hoffentlich fand Severn nicht heraus, dass Belle ein paar Münzen aus den abendlichen Einnahmen für sich selbst zurückbehalten hatte. Die Vorstellung, was er sonst mit ihr machen würde, jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Noch blieb ihr Zeit, das Geld zur übrigen Ausbeute zu legen. Dann konnte sie wenigstens sicher sein, dass Severn sie nur begehrlich anfassen würde – und nicht, um sie grün und blau zu prügeln.

Wenn die Sonne aufging und ihre Strahlen den dichten Nebel aufzulösen begannen, würde Belle ein Jahr älter sein. Sie bezweifelte, dass sich die anderen Frauen vom Hurenhaus an ihren Geburtstag erinnerten. Miss Lilly würde ihn aber bestimmt nicht vergessen. Sie hatte Belle versprochen, ihr einen Abzug des Fotos zu bringen, das sie vor einer Woche von ihr gemacht hatte. Es sei ein passendes Geschenk zum zwanzigsten Geburtstag, hatte Miss Lilly freundlich gemeint.

Belle wusste, dass ihr die Tätigkeit, der sie nachging, bereits seit Langem jeglichen Anflug von Jugend und Schönheit geraubt hatte. Deshalb musste sie auch in dieser Absteige arbeiten und konnte sich nicht mehr in dem teuren Bordell zeigen, wo Madame Belles Unschuld an den höchstbietenden Mann verkauft hatte. Damals war sie noch hübsch gewesen. Das Foto, das Miss Lilly von ihr gemacht hatte, würde ihr wohl deutlich vor Augen führen, dass ihre Schönheit für immer vergangen war.

Sie entschloss sich, Severn das Geld, das sie zurückbehalten hatte, doch nicht zu geben. Schließlich war ein wenig Kapital ihre einzige Möglichkeit, irgendwann einmal dieses Leben hinter sich zu lassen. Der mickrige Betrag reichte allerdings noch nicht aus, um Severn zu entkommen. Sie musste darauf warten, dass eines Tages ein Mann auftauchte, der ihm sein Revier streitig machen würde. Erst dann besaß Belle eine echte Chance, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Wieder lief es ihr eisig über den Rücken. Sie zog sich den Schal noch fester um die Schultern. Am besten war es, wenn sie jetzt ins Haus ging, denn die schmutzigen Fetzen, die sie am Leib trug, schützten sie nicht vor der Kälte der Nacht. Severn geriet immer schrecklich in Wut, wenn sie krank war. Eine Frau, die an Schüttelfrost litt, verdiente kaum genug Geld, um ihren Zuhälter zufriedenzustellen. Und für sie selbst würde dann gar nichts mehr übrig bleiben. Leise, um die anderen, die bereits schliefen, nicht zu wecken, betrat Belle das Haus.

Aus Severns Zimmer ertönte das laute Lachen eines Mannes. Severn antwortete mit seinem üblichen Gemurmel, sodass Belle nicht verstehen konnte, was er sagte. Wahrscheinlich sahen sich die Männer die große Sammlung stereoskopischer Erotikbilder an, die Severn besaß. Es waren dreidimensionale Aufnahmen molliger, halb nackter oder völlig entkleideter Frauen, die sich in unvorstellbaren Positionen dem Betrachter entgegenrekelten. Severn benutzte die Fotos manchmal, um das Blut eines Freiers in Wallung zu versetzen. Auf diese Weise trieb er den Preis für die Dienste einer seiner Huren noch einmal beträchtlich in die Höhe. Wenn der Mann, der gerade wieder lachte, tatsächlich ein weiterer Kunde war, hoffte Belle, dass er eine der anderen Frauen und nicht sie verlangte. Sie wollte gerade die Tür zu ihrer kleinen Kammer schließen, als sie ein anderes Geräusch hörte – das Klingen von herabfallenden Münzen.

Es hielt erstaunlich lange an, und vor Belles innerem Auge stiegen sogleich Bilder von Geld und Flucht auf. Wie magisch angezogen schlich sie zu Severns Zimmertür, wobei ihre bloßen Füße auf den Fußbodenbrettern keinerlei Geräusch machten. Prahlte Severn etwa vor dem Gast mit seinem Reichtum? Und wer war der andere Mann überhaupt? Es war sehr gefährlich, in diesem Viertel der Stadt mit seinem Geld anzugeben. Selbst diejenigen, die behaupteten, Freunde zu sein, zögerten meist nicht, einem Mann den Dolch in die Brust zu stoßen, wenn sie sich dadurch ein Zwanzigdollar-Goldstück – oder auch weniger – aneignen konnten.

Die Tür war nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt. Der schmale Spalt war gerade breit genug, um Belle einen Blick in den von Gaslicht erhellten Raum zu gewähren.

Severn saß am Tisch und war gerade dabei, die letzten Goldmünzen, die noch vor ihm lagen, in ein Säckchen aus grober Jute zu schieben. Als er damit fertig war, reichte er den Beutel dem Mann gegenüber und nahm stattdessen ein Glas Whiskey in Empfang. Seine große, schlaksige Gestalt wirkte entspannt, sodass man kaum vermutet hätte, welche Kraft dieser Mann in Wahrheit besaß. Während Belle neugierig ins Zimmer spitzte, hob Severn sein Glas und prostete seinem Besucher zu. „Auf eine weitere erfolgreiche Nacht!“, verkündete er.

„Du feierst zu früh, mein Freund“, sagte der andere Mann.

Auch wenn ihr der schmale Spalt nur gestattete, eine Schulter und den Hinterkopf des Fremden zu sehen, war sich Belle doch sicher, seine Stimme zu kennen. Aber im Moment konnte sie den Gast noch nicht einem bestimmten Gesicht oder Namen zuordnen.

„Und du feierst viel zu selten“, entgegnete Severn. „Wann fängst du endlich damit an, deinen Erfolg zu genießen?“

„Erst wenn ich wirklich ein Vermögen verdient habe“, murmelte der Fremde. Er stand auf. „Wenn ich unvernünftig viel ausgäbe, würde sich das Blatt gegen mich wenden. Und du weißt, Karl, dass mir das gerade jetzt nicht gefiele.“

„Gehst du schon?“, fragte Severn.

„Ich muss“, erwiderte sein Gast und drehte sich ein wenig zur Tür hin.

Belle stockte vor Verblüffung der Atem, als sie ihn erkannte. Beinahe hätte sie seinen Namen laut ausgerufen, so überrascht war sie. Ihr blieb gerade noch Zeit, sich lautlos zurückzuziehen, ehe die Tür zu Severns Zimmer weiter geöffnet wurde.

Mit klopfendem Herzen warf Belle noch einen letzten Blick in den dunklen Hausgang, bevor sie in ihrer Kammer verschwand. Eine Holzplanke knarzte unter ihrem leichten Schritt.

Der geheimnisvolle Mann am anderen Ende des Flurs drehte sich rasch um, als er das leise Geräusch vernahm. Er erblickte noch den Zipfel eines Rocks, ehe Belle die Tür geschlossen hatte und sich zitternd dagegenlehnte.

So sah sie nicht, dass der Fremde Severn schweigend ein Zeichen gab, bevor er im nächtlichen Nebel verschwand.

1. KAPITEL

Lillith Renfrew runzelte finster die Stirn, als sie dem Droschkenkutscher den geforderten Betrag reichte. Er war wesentlich höher als das, was sie früher für die gleiche Fahrt von ihrem Zuhause in der Franklin Street bis hierher bezahlt hatte. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Mann die Summe auszuhändigen. Sie hatte keine Zeit, wie ein Fischweib zu feilschen, denn als sie einen Blick auf ihre zierliche Taschenuhr warf, stellte sie fest, dass sie für ihr Treffen mit Belle Tauber bereits spät dran war.

Der Kutscher steckte schweigend die Münze in die Jackentasche.

„Sie kommen doch wie vereinbart in einer Stunde zurück?“, fragte Lilly und hob ihre Ausrüstung aus dem Gefährt. Nachdem sie sich ihre zwei Taschen, in denen sich fotografische Platten und Fotografien befanden, kreuzweise über die Brust gehängt hatte, schulterte sie die schwere Kamera mit dem sperrigen Stativ.

„Verlassen Sie sich darauf!“, rief ihr der Kutscher zu und fuhr eilig davon. Lilly war sich sicher, dass sie ihn nie mehr wiedersehen würde. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von einem Droschkenfahrer allein in Barbary Coast zurückgelassen wurde. Manche Männer dachten sich eben überhaupt nichts dabei, eine anständige junge Dame im schlimmsten Viertel San Franciscos im Stich zu lassen.

Vielleicht sah sie auch nicht so hilflos wie andere Frauen aus. Oder nicht so anständig. Schließlich trug sie ihre ganze fotografische Ausrüstung selbst. Welche Dame aus dem Bürgertum beschäftigte sich denn schon mit der Wissenschaft der Kamera und verfolgte auch noch die Absicht, sich damit finanziell über Wasser zu halten? Jedenfalls keine, die Lilly bekannt gewesen wäre. Sie kannte auch keine Angehörige des sogenannten schwachen Geschlechts, die kräftig genug gewesen wäre, um die schwere Kamera und das fotografische Zubehör ohne Hilfe zu tragen. Auch ihre Schwester und ihre Eltern hatten noch nie von einer ähnlichen Frau wie Lilly gehört, was sie ihr immer wieder klarzumachen versuchten.

Manchmal kam es ihr fast so vor, als ob die Mitglieder ihrer Familie nur ein einziges Thema kannten: Lillys Unfähigkeit, sich so wie andere Damen ihres Standes zu benehmen. Dieser Vorwurf führte stets zu derselben Schlussfolgerung: Solange sie derart eigensinnig ihren Weg verfolgte, brauchte sie sich nicht zu wundern, wenn sie keine Verehrer hatte.

Niemand schien je auf den Gedanken zu kommen, dass Lilly genau das war, wozu ihre Familie sie gemacht hatte. Sie besaß die große Gestalt ihres Vaters und ihres Bruders. Und ihre unweiblich anmutende Kraft war das Ergebnis vieler Jahre anstrengender Pflege an ihrer kranken Mutter, die im Rollstuhl saß. Es war im Grunde nicht verwunderlich, dass Lilly keine Verehrer vorweisen konnte. Schließlich gab es außerhalb des engen Bekanntenkreises ihrer Eltern keinerlei gesellschaftliche Beziehungen, die sie hätte ausbauen können. Wie sollte sie einen passenden jungen Mann kennenlernen, wenn sie meist damit zu tun hatte, den ältlichen Freundinnen ihrer Mutter Tee einzugießen oder einen alten Geschäftsfreund ihres Vaters zu unterhalten?

Zugegebenermaßen besaß sie nicht die strahlende Schönheit ihrer Schwester oder ihres Bruders. Lilly war nicht nur zehn Jahre nach Edmund und fast neun Jahre nach Vinia auf die Welt gekommen; man hatte sie eindeutig auch übersehen, als es um die Verteilung der körperlichen Vorzüge gegangen war.

Statt blonde Locken wie ihre Geschwister zu haben, hatte sie braunes Haar, das sich nur lockte, wenn sie eine Brennschere benutzte. Während Edmund und Vinia Augen aufwiesen, die den Betrachter an einen Sommerhimmel denken ließen, erinnerten Lilly ihre eigenen Augen eher an einen Regentag. Gutmütige Matronen beschrieben sie als stattlich, denn ihre Nase war zu lang, ihre Kinnlinie zu ausgeprägt, und ihre Wangenknochen waren zu hoch. Um all dem noch die Krone aufzusetzen, hatte sie das Linkische ihrer Mädchentage behalten und war im Gegensatz zu anderen jungen Frauen ihres Alters ohne anschauliche weibliche Rundungen.

Lilly seufzte. Das waren also die Gründe, warum sie höchstwahrscheinlich sicher und unbelästigt durch Barbary Coast laufen konnte. Außerdem war auch ihr Geldbeutel nicht besonders schwer. Der unverschämte Preis, den der Kutscher verlangt hatte, machte es ihr nun unmöglich, sich eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen zu leisten, bevor sie wieder eine Droschke nach Hause nahm. Wenn Edmund nicht angeboten hätte, ihr die Glasplatten, Chemikalien, das Albuminpapier und die Kartonagen zu bezahlen, hätte sie den Leuten, die sie porträtiert hatte, keinen Abzug schenken können.

Das brachte sie wieder auf Belle Tauber, die vermutlich bereits auf sie wartete. Während Lilly die Straße entlangeilte, überlegte sie, ob der jungen Frau wohl das Passepartout mit den feinen Goldlinien gefallen würde, das ihr Foto nun umgab. Sie hatte sich zu dieser Umrahmung entschlossen, weil Belle heute Geburtstag hatte. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass sie sechs Jahre jünger als sie selbst war. Lilly hätte eher angenommen, sie sei zehn Jahre älter als sie, so verlebt sah sie bereits aus.

Die junge Frau, die auf der Stufe zur Hintertür des Hurenhauses saß und geduldig wartete, wirkte so anders als die Prostituierte, die Lilly kennengelernt hatte, dass sie zwei Mal hinschauen musste. Belle hatte dasselbe abgetragene Kleid an und den dünnen Schal um die Schultern gelegt wie sonst auch. Die Veränderung stammte nicht nur von dem frisch gewaschenen Haar, das sie sich hochgesteckt hatte, sie schien vielmehr von einer Aufregung ergriffen zu sein, die sie vorher noch nie gezeigt hatte. Als sie Lilly erblickte, sprang sie auf und eilte ihr mit unnatürlich funkelnden Augen entgegen. Einen kurzen Moment lang schimmerte auf einmal wieder ihre frühere Schönheit durch.

„Oh, Miss Lilly! Ich hatte schon Angst, dass Sie nicht kommen würden!“, rief Belle.

Für einen Augenblick hatte Lilly den Eindruck, dass die Prostituierte den Standesunterschied zwischen ihnen vergessen hatte und die Fotografin in die Arme schließen würde. Doch das geschah nicht, was ihr ein wenig wehtat. Von ihren Lebensumständen einmal abgesehen, gab es wenig Unterschiede zwischen ihnen beiden. Weder Lilly noch Belle waren so unabhängig, wie sie sich das wünschten. Im Lauf der Wochen, die sie sich nun bereits kannten, hatte sie die heruntergekommene Frau ins Herz geschlossen. Belle hielt aber stets einen gewissen Abstand zu ihr. Das machte es unmöglich, auf eine wirkliche Freundschaft zu hoffen.

„Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, sagte Lilly und legte rasch die Kamera beiseite, um ihre Tasche mit den Fotografien durchsuchen zu können. „Meine Schwester weiß genau, wie wichtig mir mein einziger freier Nachmittag ist. Aber wenn sie kommt, um sich um meine Eltern zu kümmern, erzählt sie mir trotzdem jedes Mal die banalsten Dinge über ihre Kinder, sodass ich nie rechtzeitig wegkomme.“

Belle lächelte. „Mütter klagen gern, Miss Lilly. Ich hätte es bestimmt auch getan, wenn ich meine Kinder hätte behalten dürfen.“

Lilly wusste, dass es keine Worte dafür gab, die junge Frau über ihren Verlust hinwegzutrösten. „Ich halte es dennoch für rücksichtslos von ihr“, sagte sie. Endlich hatte sie die richtige Fotografie gefunden. „Hier ist sie. Alles Gute zum Geburtstag, Belle! Ich hoffe, dir gefällt das Bild, das ich ausgewählt habe.“

„Sie haben jedenfalls ziemlich viele gemacht“, erwiderte Belle, die erfreut das Bild in Empfang nahm. „Ich hatte schon befürchtet, ich sei so hässlich, dass Ihre Kamera mich nicht aufnehmen wollte.“

Lilly hatte tatsächlich viele Fotos gemacht. Einige zeigten Belle mit so schweren Blutergüssen, dass auch eine dicke Puderschicht sie nicht zu verbergen vermochte. Als sie eine Aufnahme für die Prostituierte gesucht hatte, war es ihr nicht leichtgefallen, ein Porträt zu finden, das etwas vorteilhafter wirkte.

„Oh, Miss Lilly!“ Belle seufzte zufrieden. Als sie von der sorgfältig gestellten Fotografie aufsah, standen ihr Tränen in den Augen. „Sie haben mich wieder schön werden lassen“, flüsterte sie gerührt.

„Unsinn“, widersprach die Fotografin entschlossen. „Du weißt genau, dass eine Fotografie nur das wiedergibt, was auch in Wirklichkeit da ist.“

„Ich nehme das Bild mit, wenn ich weggehe, und werde es immer in Ehren halten“, versprach die Frau.

Lilly schaute von ihrer Tasche auf, die sie gerade zumachen wollte. „Du gehst weg von hier? Wann?“

„Sobald ich mit einem gewissen Gentleman gesprochen habe“, erklärte Belle ihr fröhlich. „Ich weiß nämlich etwas über ihn, was ich nicht wissen sollte.“

„Du hast vor, jemanden zu erpressen?“ Lilly hielt vor Schrecken die Luft an. „Aber, Belle, das kannst du doch nicht tun. Das ist nicht richtig.“

Das Lächeln der jungen Frau erstarb. „Und was diese Männer jeden Tag mit mir machen – ist das vielleicht richtig?“

„Natürlich nicht“, entgegnete die Fotografin. „Es ist nur …“

„Sie und ich stammen aus verschiedenen Welten, Miss Lilly. Sie besuchen dieses Viertel nur. Ich lebe hier, und man kommt hier nicht heraus, wenn man nicht ein paar Zwanzigdollar-Goldstücke zusammenhat.“

Lilly trieb sich bereits lange genug in Barbary Coast herum, um zu wissen, dass es der Traum beinahe jeder Frau war, von hier einmal entkommen zu können. Doch dieser Traum würde für die meisten niemals in Erfüllung gehen. Belle wollte nun selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen. Aber Lilly hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass so etwas in dieser Gegend fast immer scheiterte.

„Sei vorsichtig, Belle“, beschwor sie ihre Bekannte. „Es ist gar nicht so wichtig, ob es richtig oder falsch ist, was du da planst. Auf jeden Fall ist es sehr gefährlich.“

Die Prostituierte lächelte schwach. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Miss Lilly. Ich kenne diesen Mann gut genug, um zu wissen, dass ihm sein Ruf über alles geht. Er bedeutet ihm sogar mehr als Geld. Es wird bestimmt klappen, und dann bin ich weg von hier. Etwas Besseres kann es gar nicht geben.“

„Hast du mit diesem Mann schon gesprochen?“

Belle schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Ich weiß aber, wo ich ihn heute Abend finden kann. Sobald er mich bezahlt hat, werde ich die Stadt verlassen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen.“

Und wenn er sie nicht bezahlte? Lilly fragte sich, ob Belle diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Auch wenn sie selbst ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Angelegenheit hatte, so wusste sie doch, dass es sinnlos sein würde, mit der entschlossenen Frau zu streiten. Vielleicht würde sie in Belles Lage genauso waghalsig handeln.

Lilly schloss die Prostituierte rasch in die Arme und freute sich, als sie nach einem kurzen Zögern die Umarmung erwiderte. „Dann hoffe ich, dass dein neues Leben so wird, wie du dir das erträumst.“

„Ich danke Ihnen, Miss Lilly. Ich weiß, dass es so sein wird.“ Belle kicherte plötzlich nervös. „Schlimmer als mein bisheriges Leben kann es wohl kaum sein, nicht wahr?“

Das stimmte wahrhaftig, aber doch beruhigte es Lilly keineswegs. Belles Plan barg unzählige Gefahren in sich. Hätte sie doch nur nicht noch weitere Fotografien zu verteilen und den Zeitungsjungen versprochen, dass sie heute eine Aufnahme von ihnen machen würde! Aber schließlich hatte Belle wesentlich mehr Erfahrung im Umgang mit Männern als sie selbst. Die junge Frau würde schon wissen, worauf sie sich da einließ.

Lilly schulterte die Kamera. „Ich wünschte, ich könnte noch etwas bleiben, aber …“

„Ich verstehe schon“, versicherte ihr Belle. „Vielen Dank für die Fotografie.“

„Das ist doch gern geschehen. Ich hoffe, du genießt noch deinen restlichen Geburtstag.“ Mit diesen Worten drehte sich Lilly um und ging die Gasse dorthin zurück, woher sie gekommen war.

„Das tue ich bestimmt, vor allem wenn ich den anderen Mädchen mein Foto zeige!“, rief ihr Belle ausgelassen hinterher.

Lilly winkte ihr noch einmal zu und bog dann um eine Ecke in die Hauptstraße ein.

Der Plan der Prostituierten gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie war gerade einmal ein gutes Dutzend Schritte die belebte Pacific Street entlanggegangen, als sie sich entschloss, doch zu Belle zurückzukehren. Nichts war so wichtig, als die Frau davon zu überzeugen, dass Erpressung nicht die Antwort auf ihre Gebete sein konnte. Sie wollte sie zu Tee und Kuchen einladen und lieber mit der schweren Kamera auf der Schulter nach Hause laufen, als ihre Pflicht als Freundin zu versäumen. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, sie zu überreden, einen weniger gefährlichen Weg einzuschlagen, um Barbary Coast verlassen zu können.

Lilly drehte sich rasch um und eilte um die Ecke zu der menschenleeren Gasse zurück, in der Belle wohnte. Ihr dunkelbraunes Kostüm war kaum von den im Schatten gelegenen Hauswänden zu unterscheiden.

Als sie das Sträßchen betrat, stellte sie fest, dass Belle noch nicht ins Haus hineingegangen war. Sie hatte den Kopf nach unten gebeugt und betrachtete so versunken die Fotografie, dass sie offenbar den Mann gar nicht bemerkte, der aus dem Gebäude hinter ihr trat.

Es war ein schlaksiger, wenn auch nicht auffallend großer Bursche. Da er keinen Hut trug, konnte Lilly erkennen, dass sein dunkles Haar bereits dünn wurde und sich Geheimratsecken auszubilden begannen. Seine Hose hatte eine ähnliche schlammgraue Farbe wie das Pflaster, während sein Hemd zu den Ziegelsteinen der umliegenden Häuser passte. Er trug keinen Bart, und sein Gang wirkte so selbstsicher und gewandt, dass er in einem Viertel wie Barbary Coast deutlich ins Auge stach.

Auf einmal schien Belle zu merken, dass sich ihr jemand näherte. Sie drehte sich um und ließ die Hand sinken, in der sie die Fotografie hielt; das Bild verschwand in den Falten ihres Rocks. Da sie keinerlei Angst beim Anblick des Mannes zeigte, war Lilly überhaupt nicht darauf vorbereitet, als dieser plötzlich mit einer blitzschnellen Bewegung ein Messer hervorholte und der Prostituierten damit den Hals durchschnitt.

Lilly stand vor Schock wie gelähmt da. Der Mann nahm sein Opfer fast zärtlich in die Arme, als es leblos zusammensackte. Ihr Porträt fiel Belle aus der Hand und wurde vom Wind in die Gasse getragen.

Deegan Galloway stand auf der Straßenseite, die der vom Geschäft des Leichenbestatters gegenüberlag, und betrachtete den Blumenschmuck. Die Trauerdekoration schien geschmackvoll zu sein. Jedenfalls so geschmackvoll, wie das den verschwenderischen Bürgern von San Francisco, die durch den Bergbau und die Eisenbahn reich geworden waren, entsprach. Prahlerei und Aufschneiderei waren geradezu unerlässlich, denn es war das Ende einer Ära. Norton der Erste – selbst ernannter Kaiser der Vereinigten Staaten – war tot.

Wenn man nach den langen Reihen der Trauernden und den üppigen Blumengestecken urteilte, sah es ganz so aus, als würde der alte Exzentriker sehr vermisst werden. Seit Jahren hatte er von der Großzügigkeit der Bewohner von San Francisco gelebt. Er hatte umsonst in den Restaurants der Stadt gegessen und war von den Schneidern ohne Entgelt eingekleidet worden. Norton hatte es geschafft, angenehm zu leben, ohne auch nur einen Cent selbst verdienen zu müssen.

Deegan hatte Norton in der Vergangenheit deshalb oftmals beneidet. Doch das war noch vor seinem eigenen Wandel gewesen. Inzwischen war er eine Art Handelsvertreter für seinen besten Freund, den wohlhabenden englischen Baron Garrett Blackhawk, geworden. Mit diesem Posten hatte er auch Zugang zu einem Bankkonto erhalten, was ihn besonders gefreut hatte. Zum Glück war die Stellung ziemlich anspruchslos, sodass sie im Grunde das perfekte Arrangement für einen arbeitsscheuen Burschen wie ihn darstellte. Aber wahrscheinlich kannte Garrett ihn nach all den gemeinsamen Abenteuern, die sie in den letzten zwei Jahren durchlebt hatten, zu gut, um etwas wie ehrliche Arbeit von Deegan zu erwarten.

Das Geld und die ehrbar klingende Geschäftsverbindung zwischen ihnen waren schlicht und einfach eine Belohnung. Deegan war sich nicht sicher, ob er sie dafür bekam, weil er Garrett in Mexiko unzählige Male das Leben gerettet hatte, oder für seine unerschütterliche Treue, die er auch unter ungewöhnlichen Umständen während ihrer Reise nach England gezeigt hatte, oder vielleicht weil Garrett vor Kurzem Winona Abbot geheiratet hatte – die einzige Frau, in die sich Deegan jemals verliebt hatte. Er vermutete, dass am ehesten der letztere Grund zutraf. Als er seinen Freund und dessen atemberaubend schöne Gattin so glücklich zusammen erlebte, waren ihm plötzlich seine eigenen Mängel deutlich vor Augen gestanden. Anstatt sich länger zu quälen, beschloss er, das strahlende Paar noch in Boston zu verlassen. Kaum hatte ihr Schiff dort angelegt, befand sich Deegan bereits in einem Zug in Richtung Westen.

Seitdem war er sehr beschäftigt. Er hatte ein Büro gemietet und einen eifrigen jungen Buchhalter eingestellt, der sich dort aufhalten sollte, während er sich selbst wieder in die feine Gesellschaft von San Francisco stürzte. Die Familie Winonas war sehr bemüht gewesen, die Wogen zu glätten, die sein letztes Erscheinen in dieser erlesenen Runde ausgelöst hatte. Auch das war eine Belohnung – diesmal dafür, dass er ihrer Tochter das Leben gerettet hatte. Er wurde inzwischen so liebenswürdig in den besten Häusern der Stadt aufgenommen, dass er sich manchmal fragte, ob ihn noch irgendjemand mit dem Ganoven in Verbindung brachte, der es gewagt hatte, mit den Gefühlen zweier reicher Erbinnen zu spielen.

Deegan war so sehr Teil dieser Welt geworden, dass niemand im „Pacific Club“ auch nur auf die Idee gekommen wäre, ihn zu fragen, woher eigentlich das Geld stammte, das er für die Beerdigung des Kaisers beigesteuert hatte.

Dieser Aufstieg war für einen jungen Mann nicht übel, der ursprünglich in den erbärmlichsten Saloons der Stadt gesungen hatte, um sich eine Mahlzeit zu verdienen. Er war auch nicht davor zurückgeschreckt, den Gästen die Geldbörsen abzunehmen, wenn die Münzen, die ihm auf die Bühne geworfen wurden, einmal nicht ausreichten.

Natürlich wusste niemand etwas von seinen diebischen Anfängen. Das war ein Geheimnis, das er keinem anvertraute. Es gab nur eine einzige Person aus dieser Zeit, die sich noch an ihn erinnerte, und sie hatte selbst zu viel zu verlieren, als dass sie dieses Wissen an die Öffentlichkeit gebracht hätte.

Sosehr sich Deegan auch nach dem sorglosen Leben, das er nun führte, gesehnt hatte, so fühlte er sich doch nicht ganz zufrieden. Trotz der Unzahl von Einladungen, die er regelmäßig erhielt, und trotz seiner Beliebtheit bei den Damen und Herren der Gesellschaft fehlte ihm etwas ganz Entscheidendes.

Er hatte eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was es eigentlich war. Und als er die Antwort darauf wusste, verblüffte sie ihn. Er vermisste die Gefahren seines alten Lebens. Nach den Jahren der Abenteuer langweilte Deegan seine eigene Ehrbarkeit.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erwiesen die Trauernden Norton noch immer die letzte Ehre. Es gab so viele Kränze und Gestecke, dass der Sargdeckel beinahe zu blühen schien. Seit sieben Uhr morgens war die Kette der Gäste nicht abgerissen, und auch jetzt kamen noch immer Hunderte.

Deegan blieb lieber, wo er war. Nortons Beerdigung hatte seine sonst gute Stimmung gedämpft – etwas, das erst sehr wenige Ereignisse in seinem bisher einunddreißig Jahre währenden Leben getan hatten.

„Entschuldigung“, murmelte ein Mann, als er einer Gruppe Trauernder auswich und dabei an Deegan stieß.

Auch wenn er nichts gespürt hatte, so wusste Deegan doch aus Erfahrung, dass ihm seine Brieftasche entwendet worden war. Als er in die Uhrentasche griff, war natürlich auch die Uhr verschwunden.

Der Dieb war ein kleiner Bursche, der einen unauffälligen schwarzen Anzug und ein gestärktes Hemd trug; sein Bowlerhut saß ihm gerade auf dem Kopf. Obgleich Deegan den Taschendieb Charlie Wooton seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte er ihn doch ohne Schwierigkeiten.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Deegans Mundwinkel. Vielleicht war das seine Rettung. Anstatt die Aufmerksamkeit der Menge auf den Diebstahl zu lenken, folgte er unauffällig dem kleinen Mann, der sich einen höchst profitablen Weg durch die Trauernden bahnte.

Wooton brachte zwei Häuserblöocks zwischen sich und seine unwissenden Opfer, ehe er einen kleinen Kolonialwarenladen betrat. Er nickte dem Besitzer kurz zu und mischte sich dann unter die Kunden. Dabei steuerte er zielsicher auf einen Vorhang zu, der ein Hinterzimmer vom übrigen Geschäft trennte. Deegan trat ganz dicht hinter seinen alten Freund, als dieser den Vorhang beiseiteschob.

„Ich dachte, es gäbe so etwas wie Ganovenehre“, sagte er leise und hielt Wooton am Arm fest.

Der Taschendieb drehte sich um und blickte so drein, als ob er ehrlich überrascht sei, festgehalten zu werden. Das täuschte jedoch, denn insgeheim wartete er vermutlich nur gespannt darauf, die nächste Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. „Verzeihen Sie, aber …“, begann er. Dann schwieg er plötzlich, und ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. „Verdammt! Wenn das nicht Digger O’Rourke ist! Was, zum Teufel, treibt dich denn in diese Gegend?“

Deegan lockerte seinen festen Griff nicht. Er erklärte Wooton auch nicht, dass er inzwischen unter einem anderen Namen bekannt war. „Ich bin dir gefolgt, mein Guter“, antwortete er mit einer Stimme, die plötzlich einen leicht irischen Akzent aufwies.

„Mir gefolgt?“ Wooton runzelte die Stirn. „Warum denn das?“

„Aus dem gleichen Grund, warum dir jemand anderer folgen würde, Charlie. Ich will meine Brieftasche wieder. Und meine Uhr.“

Die Miene des Taschendiebs wirkte völlig unschuldig. „Hast du die Sachen verloren? Verdammt, Digger, das ist zu dumm.“

Deegan grinste und strich über die Taschen in Wootons Jacke. „Wirklich schade“, stimmte er zu und holte den Inhalt der Innentasche heraus. Er hielt dem Dieb eine besonders prall gefüllte Geldbörse vor die Nase. „Ein ziemlich guter Fang, wie ich sehe.“

Der kleine Mann versuchte ihm die Börse zu entreißen.

Deegan hielt sie außer Reichweite. „Meine Sachen, wenn ich bitten darf“, sagte er.

Wooton sah sich rasch zum Ladenbesitzer um. „Also gut“, meinte er schließlich. „Aber nicht hier. Hier könnte uns jederzeit ein Constabler beobachten.“

Er schob den Vorhang beiseite. Nachdem die beiden ins Hinterzimmer getreten waren und den Vorhang wieder zugezogen hatten, leerte der Dieb seine Taschen und legte alles vor sich auf einen wackeligen Tisch. Schon bald stapelten sich die Uhren und Brieftaschen.

„Such dir deine Sachen heraus“, forderte er Deegan auf und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

Deegan warf ihm die volle Börse zu und nahm seine eigenen Besitztümer wieder an sich. „Wenn du hier und da deinen Opfern ins Gesicht blicken würdest, unterliefe dir kein solcher Fehler.“

Wooton schüttelte den Kopf. „Aber dann werden die Leute aufmerksam. Trusty und ich haben dir das schon beigebracht, als du noch ein kleiner Junge warst. Wie hätte ich dich auch mit deinen Koteletten erkennen sollen, wenn du mich nicht angesprochen hättest?“

Das war zwar eine Lüge, aber Deegan wollte sie durchgehen lassen. Selbst mit seinen lohfarbenen Koteletten und dem gepflegten Schnurrbart sah er nicht viel anders aus als damals. Er war zwar größer und kantiger geworden, aber er hatte noch immer so einprägsame Gesichtszüge, dass sie für einen Mann in Wootons Gewerbe ausgesprochen schädlich sein konnten.

„Hast du Hannah in letzter Zeit gesehen?“, erkundigte er sich interessiert bei seinem alten Lehrmeister.

Wooton war damit beschäftigt, seine Beute genauer unter die Lupe zu nehmen. „Nein, in letzter Zeit nicht. Weißt du eigentlich, dass sie nicht mehr in der Horizontalen arbeitet? Sie behauptet, genug angespart zu haben, um sich zurückziehen zu können. Aber einer Hure, der das gelungen ist, muss ich erst begegnen. Ich vermute, dass Hannah einen Kerl gefunden hat, der sie aushält. Aber sie ist noch immer nicht von Barbary Coast weggezogen.“

Was sie eigentlich mit dem Geld tun könnte, das ich ihr geschickt habe, dachte Deegan.

„Vielleicht hat ihr der alte Trusty etwas hinterlassen“, sagte Wooton. „Er hatte immer eine Schwäche für sie.“

Deegans Miene versteinerte sich. Trusty O’Rourke – der Mann, der sein Mentor gewesen war, sein Vaterersatz. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er jeden Dollar, den Deegan oder Hannah ihm brachten, versoffen hatte.

Wooton öffnete gerade eine besonders auffällig verzierte Taschenuhr. Er grinste. „Schau dir das an“, sagte er angetan. „Was man doch alles so findet!“

Deegan trat zu dem schmutzigen Fenster und zog den verblichenen Store beiseite, um auf die Straße zu schauen. „Wohnt sie noch immer in denselben Zimmern?“, fragte er.

„Wer? Hannah? Ja, das tut sie.“ Er steckte die Uhr zufrieden in die Westentasche. „Von der alten Bande sind nicht mehr viele übrig geblieben. Diejenigen, die nicht von einer Kugel oder den Gendarmen erwischt wurden, hat sich ein Matrosenwerber geschnappt. Ich bin auch einmal nach Honolulu abgehauen, als mir hier der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, nachdem Trusty ins Gras gebissen hat. Damals warst du schon nicht mehr dabei – oder?“

„Nein.“ Obwohl Wootons Tonfall ihm deutlich verriet, dass er sich brennend dafür interessierte, was in der Zwischenzeit mit seinem Lehrling passiert war, wollte Deegan seine Neugierde nicht befriedigen.

„Ich wette, dass Hannah dich gern wiedersehen würde“, sagte der Dieb. „Scheinst dich ja gut gehalten zu haben. Sie wäre bestimmt stolz auf dich.“

Deegan fragte sich, ob sie das tatsächlich wäre. Er nahm eher an, dass sie wütend auf ihn war, weil er einfach verschwunden war und ihr nur Geld schickte, ohne sich jemals die Mühe zu machen, sie aufzusuchen. Es würde sie wahrscheinlich besonders ärgern, wenn sie erfuhr, dass er bereits seit einiger Zeit wieder in San Francisco war und sich nicht bei ihr gemeldet hatte.

Er bezweifelte, dass sie verstehen könnte, wie sehr er seine frühen Jahre und jedermann, der damit in Zusammenhang stand, vergessen wollte. Jedermann – außer sie.

Vielleicht war es wirklich ein Glück gewesen, dass er gerade dann Wooton getroffen hatte, als er sich besonders unruhig fühlte. „Gehst du noch immer in den ‚Albatros‘, Charlie?“

Wooton setzte sich seinen Bowlerhut wieder auf. „Nicht mehr, seitdem mir der Wirt eine seiner speziellen Mischungen verabreichte und mich an einen Kapitän verkaufte. Warum? Willst du ein paar alte Freunde besuchen?“

„Vielleicht“, murmelte sein Freund vage. Da Wooton ihn nun so elegant und teuer gekleidet gesehen hatte, war es besser, nicht schon im Voraus einen Besuch in Barbary Coast anzukündigen. Auch wenn Charlie sich darum bemühte, es zu verbergen, so war Deegan doch nicht das neidische Blitzen in seinen Augen entgangen, als er den schimmernden Zylinder, das seidene Halstuch und den taubengrauen Rock begutachtet hatte. Diese Kleidungsstücke wiesen ihn als einen Gentleman aus, was man von dem alten Dieb nicht behaupten konnte.

Deegan wollte nicht als Erster den Kolonialwarenladen verlassen. Er zögerte sein Gehen so lange hinaus, bis sich Wooton verabschiedete. Kaum war der kleine Mann aus der Tür, folgte er ihm wieder. Er wollte sicherstellen, dass Charlie ihn weder in seinem Büro noch in seiner Junggesellenwohnung im teuren „Palace Hotel“ sah. Je weniger Leute den Taschendieb und Saloon-Sänger Digger O’Rourke mit Deegan Galloway, dem Dandy der guten Gesellschaft, in Verbindung brachten, desto besser …

Plötzlich Wooton über den Weg zu laufen – das ließ Erinnerungen an seine früheren Tage in ihm hochsteigen. Vor allem Erinnerungen an Hannah McMillan und alles, was er ihr verdankte.

Er würde seinen erst vor Kurzem gewonnenen guten Ruf aufs Spiel setzen, wenn er sie besuchte. Es bestand durchaus die Gefahr, dass seine früheren Kumpane ihn erkannten oder – was noch schlimmer wäre – dass er einem seiner neuen Bekannten, die in Barbary Coast nach einem sündigen Vergnügen Ausschau hielten, über den Weg liefe. Digger war jemand gewesen, der sich um nichts scherte, aber bei Deegan war das etwas anderes.

Das hoffte er zumindest.

Doch eine Stunde später stand er bereits mitten in seinem alten Viertel. Wieder einmal war der Geruch der Gefahr zu stark für ihn gewesen, um ihn zu missachten. Er blieb an der Kreuzung der Sansome und der Jackson Street stehen und blickte auf den schmalen Durchgang zwischen zwei rußverschmutzten Gebäuden. Dahinter konnte er das verfallene Haus sehen, wo vor zwanzig Jahren Trusty O’Rourke, Hannah und er ein paar Zimmer bewohnt hatten. Dort lebte Hannah auch jetzt noch.

Die Unruhe, die ihn schon seit einiger Zeit erfasst hatte, führte ihn nun zu seinen Wurzeln zurück. Doch die Vorstellung, wie kühl Hannah ihn vielleicht begrüßen würde, ließ ihn einen Moment innehalten und nachdenken. Er war damals verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Mitten in der Nacht hatte er das bisschen Geld, das Trusty noch nicht verspielt oder vertrunken hatte, mitgenommen und war gegangen. Eine Woche später war es Deegan zu Ohren gekommen, dass man Trusty tot mit einem Messer zwischen den Rippen aufgefunden hatte. Hannah war also plötzlich allein und ungeschützt. Damals hatte Deegan einem wohlhabenden Bankier seine dicke Brieftasche entwendet und Hannah sogleich den Inhalt zugeschickt. Doch anstatt nach Barbary Coast zurückzukehren, hatte er sich den Staub von den Straßen der Stadt aus den Kleidern geschüttelt und war abgereist. Er hatte in der Zwischenzeit Hannah mehr als genug Geld zukommen lassen, damit sie seinem Beispiel folgen konnte, doch sie war stets dortgeblieben.

Wie würde sie jetzt aussehen? So hübsch und fröhlich wie damals? Oder erschöpft und eingefallen wie so viele der Frauen, die dazu gezwungen waren, ihren Körper feilzubieten?

Zögernd wippte Deegan auf seinen Absätzen vor und zurück und hätte beinahe sein Gleichgewicht verloren, als ein Wirbelwind, in braunen Wollstoff gehüllt, um die Ecke sauste und gegen ihn prallte.

Die Frau warf einen entsetzten Blick über ihre Schulter, drehte sich dann um und klammerte sich an Deegan, wobei sich ihre Fingernägel tief in den festen Stoff seiner Jacke gruben. „Helfen Sie mir“, keuchte sie. „Ein Mann …“

Deegan legte den Arm um ihre schmale Taille, um sie zu beruhigen. Er schaute in zwei Augen, die so strahlend und hell wie das vom Mond beschienene Meer waren. Die Frau sah ihn flehend und verängstigt an, doch seltsamerweise schien sie ihm zu trauen.

Wahrscheinlich würde er es noch bedauern, doch Deegan entschloss sich, dem Flehen in ihrer Stimme nicht zu widerstehen. Oder vielleicht war es auch das Versprechen einer drohenden Gefahr, das er in ihren Augen sah.

Er blickte sie aufmerksam an und zog sie dann mit sich. „Still, meine Liebe“, warnte er sie und eilte mit ihr durch den schmalen Spalt zwischen den Gebäuden.

2. KAPITEL

Lilly sah noch immer das Gesicht von Belle Taubers Mörder vor sich. Er hatte hochgeblickt und sie dabei entdeckt, wie sie sein Verbrechen im Schatten des Hauses beobachtet hatte. Und dann …

Alles, was sie seit diesem entsetzlichen Moment getan hatte, war in einen dichten Nebel gehüllt. Sie wusste nicht einmal, wohin ihre panische Flucht sie geführt hatte. Doch der starke Arm, der sie nun umfasste, hatte etwas Beruhigendes – ganz so, wie auch die gelassene Stimme ihres unbekannten Retters.

Sie fragte sich gerade, ob es tatsächlich klug gewesen war, sich ihm einfach zu überantworten, als er sie vorsichtig hochhob und ihr dabei rasch die Hand auf den Mund legte, als sie verängstigt aufschreien wollte.

„Still“, befahl er ihr.

Sein singender Tonfall hörte sich an, als sei er belustigt, weshalb Lilly ihn verwirrt ansah.

„So ist es gut“, sagte er und setzte sie und ihre schwere Kamera hinter einem Stapel leerer Holzkisten auf dem Boden ab.

Aus Angst schwieg Lilly. Sie wusste, dass Belles Mörder sie gesehen hatte. Wenn er die Leiche der Prostituierten nicht erst hätte beiseiteschaffen müssen, wäre es für ihn bestimmt nicht schwierig gewesen, sie einzuholen. Er war sogar so schnell, dass Lilly seine Schritte vernommen hatte, noch ehe sie ganz aus der Gasse heraus gewesen war.

Nur wenige Augenblicke waren seitdem vergangen. Jetzt befand sie sich in einer anderen Gasse und verspürte eine solche Furcht wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Nur der Mann mit der melodischen Stimme stand zwischen ihr und dem Tod.

Er lehnte sich gelassen an die schmutzige Ziegelwand ihr schräg gegenüber und achtete nicht mehr auf sie. Stattdessen zog er einen Beutel Tabak und Zigarettenpapier aus der Innentasche seiner Jacke und begann sich eine Zigarette zu drehen.

Im nächsten Moment stürzte bereits Belles Mörder um die Ecke. Er starrte die Gasse entlang. Wenn er auch nur ein Stückchen von Lillys Rock oder das Ende ihres Stativs sah, wäre es um sie geschehen. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sicherzugehen, dass sie völlig verborgen war. Voll Entsetzen beobachtete sie ihren Verfolger durch die Ritzen zwischen den aufgestapelten Kisten. Sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Der Schock hatte ihr jedes Detail seiner Gesichtszüge ins Gedächtnis gebrannt, und sie würde ihn bestimmt nie mehr vergessen. Seine Miene wirkte bedrohlich.

Ihr Retter schenkte dem Mann jedoch kaum einen Blick. Er schien ganz auf seine Zigarette konzentriert zu sein.

„He!“, rief der Mörder ihm zu. „Haben Sie eine Frau gesehen, die hier entlanggerannt ist?“

„Eine Frau?“, erkundigte sich Lillys Wohltäter, wobei seine Stimme plötzlich einen deutlichen irischen Akzent aufwies. „Ist sie hübsch?“

Der Mörder warf ihm einen finsteren Blick zu. „Verdammt“, fluchte er und suchte mit den Augen die Straße und dann von Neuem die Gasse ab.

Lilly widerstand der Versuchung, sich noch tiefer in den Schatten der Mauern zurückzuziehen. Sie befürchtete, dass eine Bewegung seine Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte. Seine Augen funkelten vor Wut. Fast hätte man glauben können, dass er ein Gehilfe des Teufels wäre, der gekommen war, um ihre Seele zu holen.

„Sie hat ein dunkles Kleid an“, sagte er. „Und sie trägt vermutlich irgendetwas Schweres mit sich. Wenn sie nicht gerannt ist, hat sie zumindest heftig geatmet.“

„Ah“, seufzte der Ire zufrieden. „So mag ich die Frauen – heftig atmend.“ Er blickte wieder auf seine Zigarette. „Aber rennend? Vielleicht haben Sie das Mädchen nicht gut behandelt, wenn sie Ihnen weggelaufen ist.“

„Haben Sie die Frau jetzt gesehen oder nicht?“, fuhr der schlaksige Mann ihn ungeduldig an.

Lillys Retter schien die Ungeduld des anderen nicht weiter zu berühren. „Nein, leider nicht“, erwiderte er gelassen.

Der Mörder stieß wieder einen Fluch aus. Lilly fing zu zittern an. Als der Mann einen Moment später jedoch davonging, seufzte sie erleichtert auf.

„Vorsicht“, warnte sie der Ire, als sie sich bewegte. Er entfachte ein Streichholz an der Hausmauer und senkte dann den Kopf, um sich die Zigarette anzuzünden. „Er ist noch immer dabei, Sie zu suchen“, sagte er mit leiser Stimme, wobei nun der auffallende Akzent fehlte. „Ich werde es Ihnen sagen, wenn die Luft rein ist. Im Augenblick können Sie es sich jedenfalls bequem machen.“

„Danke“, flüsterte Lilly.

„De nada“, erwiderte er.

Die weich klingenden spanischen Worte hatten etwas Beruhigendes. Sie entspannte sich ein wenig und betrachtete den Mann, der nun perfekte Rauchringe in die Luft blies. Seine ganze Haltung vermittelte den Eindruck, als ob er sich niemals Sorgen machte. Lilly beneidete ihn fast darum.

Wie es sich für einen hilfreichen Ritter gehörte, sah er sehr gut aus. Sein markantes Gesicht strahlte trotz der scharfen Linien eine angenehme Sanftheit aus. Er wirkte wie jemand, der oft und gern lächelt. Sein Haar war hellbraun und gut geschnitten. Er musste also erst vor Kurzem in diesem Teil der Stadt aufgetaucht sein. Während der Wochen, die Lilly mit Besuchen in Barbary Coast verbracht hatte, war ihr immer wieder aufgefallen, wie liederlich die Männer aussahen, die sich hier herumtrieben. Obgleich sie vermutete, dass es auch Angehörige der Oberschicht hierher zog, sah man während der Nachmittagsstunden so jemanden eigentlich nie – von Reverend Isham einmal abgesehen, der auf den Straßen des Viertels seine Predigten hielt.

Dieser Mann hier war anders. Seine Kleidung war nicht nur gut geflickt, sondern wirkte auch zu sauber, um bereits lange in seinem Besitz sein zu können. Wahrscheinlich hatte er sie in einem der vielen Läden gekauft, die gebrauchte Kleidung anboten.

Seine abgelaufenen Stiefel und der zerknautschte Filzhut erweckten allerdings den Anschein, als ob sie bereits eine ganze Zeit lang von ihm getragen worden wären. Die breite Krempe des Huts verbarg den oberen Teil seines Gesichts, und man konnte nur einen Schnurrbart und breite Koteletten erkennen.

Obwohl Lilly seine Augen nicht recht zu sehen vermochte, vermutete sie, dass sie dunkel waren und eine gewisse Gerissenheit widerspiegelten. Sie beobachtete, wie er den Bewegungen von Belles Mörder genau folgte, während dieser die Straße auf und ab lief und dabei immer wieder am Eingang zur Gasse vorbeikam. Der ruhige Blick ihres Retters hatte etwas so Tröstliches an sich, dass sie für einen Moment tatsächlich aufatmete.

„Da haben Sie sich aber einen aufbrausenden Liebhaber angelacht“, sagte der Ire.

„Einen Liebhaber!“, empörte sich Lilly.

„Still! Der Kerl hört Sie sonst.“

„Er ist nicht mein Liebhaber“, flüsterte sie hitzig. „Er ist ein Mörder.“

Der Mann zog an der Zigarette. „Das glaube ich gern.“ Es klang allerdings nicht besonders überzeugt.

„Ich habe gesehen, wie er eine Frau umgebracht hat“, erklärte sie.

„Wirklich? Dann sind Sie besser still, oder es wird Ihnen nicht anders ergehen, meine Gute. Er kommt nämlich gerade zurück.“

Lilly erstarrte. Die Geräusche der Straße hallten in ihren Ohren wider. Sie zitterte. Ohne das Sonnenlicht war die Januarluft kalt und unangenehm. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, wie sie da so auf ihren Taschen lag und die Kamera fest umklammert hielt. Eine Ecke des Apparats drückte ihr in die Rippen. Sie schloss die Augen und betete im Stillen.

Deegan zog ein letztes Mal an der Zigarette und warf dann die noch brennende Kippe auf die Straße. Der finstere Bursche, der das Mädchen in seine Arme getrieben hatte, sah anscheinend ein, dass es zwecklos war, weiterzusuchen. Er betrat einen Saloon auf der anderen Straßenseite. Dort wollte er vermutlich sein Pech mit einer Flasche Rum und in den Armen einer anderen Frau vergessen. Auch wenn der Mann einen so verschlagenen Gesichtsausdruck hatte, dass man ihm etwas so Böses wie einen Mord zutraute, bezweifelte Deegan, dass er wirklich ein Mörder war. Er musste dem Mädchen allerdings einen großen Schrecken eingejagt haben.

Die junge Frau ließ keinen Laut von sich hören. Schon seit zehn Minuten kauerte sie mucksmäuschenstill in der Ecke. Ihr Herz klopfte wahrscheinlich mindestens genauso heftig wie das seine. Doch während sie vor Angst verging, war er vor Aufregung ganz erhitzt. Genau dieses Gefühl drohender Gefahr hatte er schließlich in Barbary Coast gesucht. Obgleich die Euphorie allmählich nachließ, fiel es ihm schwer, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken.

Beinahe wie der heilige Georg hatte er eine Frau vor einem bösen Ungeheuer gerettet, wobei er jedoch nichts anderes als seinen Verstand eingesetzt hatte. Es machte ihm gar nicht so viel aus, dass dieses Abenteuer sehr kurz und harmlos gewesen war. Wenn der Mann seine entlaufene Freundin später noch einmal zu finden versuchte, würde er das zweifelsohne auch schaffen. Für den Moment jedoch war sie frei, und ihm wurde auf einmal klar, dass er bisher noch kaum einen Blick auf sie geworfen hatte.

Er ging leise zu ihr. Sie schien sich tatsächlich noch kaum bewegt zu haben, was ihn erstaunte. Schließlich hatte sie viel Temperament gezeigt, als sie ihn vorher zurechtgewiesen hatte. Sie war beleidigt gewesen, nachdem er ihren Verfolger als ihren Liebhaber bezeichnet hatte. Nun kam ihm die Idee, dass der Kerl ein Verwandter von ihr sein könnte, der sie zähmen sollte. Es wäre wirklich schade, wenn ihm das gelänge, dachte Deegan lächelnd.

Doch im Grunde ging es ihn nichts an. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, das Unvermeidbare für einen Augenblick hinauszuzögern. Den Frauen in Barbary Coast wurde der Wille früher oder später sowieso gebrochen. Er hatte es bei Hannah und den anderen beobachtet, als er hier aufgewachsen war. Wenn es nicht durch die Gewalttätigkeit ihrer Männer geschah, passierte es wegen ihrer Liebe für dieselben Scheusale.

Deegan zog ein paar Holzkisten beiseite und hockte sich neben die Frau. Sie schien erstarrt zu sein und hielt die große Kamera verzweifelt an ihre Brust gepresst, während sie die Augen fest geschlossen hatte. Der Saum ihres braunen Rocks war nach oben geschlagen, sodass er zwei feste Schnürstiefel und eine hübsch geformte Wade, die in einem dunklen Strumpf steckte, sehen konnte.

„Er ist weg“, sagte er leise.

Sie öffnete die Augen und sah ihn verängstigt an. „Wirklich?“, flüsterte sie.

„Wirklich“, beteuerte er. Dann löste er ihre Finger von der Kamera.

Sie schien gar nicht zu merken, was er tat. Stattdessen schaute sie durch die Ritzen zwischen den Kisten auf die Straße, um zu sehen, ob er die Wahrheit gesprochen hatte. Als sie den Mann nirgends erblickte, seufzte sie erleichtert. Ihre Lippen bebten, und es schien fast so, als wollte sie weinen. „Danke.“

„Gern geschehen.“ Deegan stellte die Kamera auf das Stativ und bot dem Mädchen seine Hand, um es auf die Füße zu ziehen. Sie ließ ihn sofort wieder los. Was ganz untypisch für die Frauen in Barbary Coast war – sie zierte sich anscheinend vor einem unbekannten Mann. Anstatt sich an ihn zu klammern, lehnte sie sich erschöpft an die Mauer und schien sich zu sammeln.

Deegan nutzte die Zeit, um sie genauer zu betrachten. Sie war keineswegs jene Art Mädchen, für die er sie zuerst gehalten hatte. Ihre Augen waren wahrscheinlich das Schönste an ihr, und das nicht nur wegen ihrer ungewöhnlichen blauen Farbe, sondern auch wegen der langen dichten Wimpern. Ihr Gesicht wurde eher durch Charakter als durch Schönheit ausgezeichnet. Sie war groß, was ihm bei einer Frau gut gefiel. Ein Schmutzfleck verunstaltete ihre zarte Wange. Ihr Mund war leicht geöffnet und lud geradezu zum Küssen ein. Die ganze Haltung der Frau deutete auf eine gute Erziehung hin und schien nichts mit dem Leben im Harem eines Zuhälters gemein zu haben. Wenn er sie zuvor genauer betrachtet hätte, wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, dass sie vor ihrem Liebhaber weggelaufen sein könnte. Allerdings ist es eine Schande, wenn sie noch nie einen Liebhaber gehabt hat, dachte er träumerisch, während er ihre hübsche Figur in Augenschein nahm.

Eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars fiel ihr in die Stirn, während der Rest der Haare in einem Dutt hochgesteckt war. Ihr braunes Kleid war schlicht, und der hohe Kragen, der sich um den schönen langen Hals legte, betonte noch ihre Eleganz. Das Kleid stammte eindeutig von einem guten Schneider, und auch der kaffeebraune Stoff war viel zu weich, um von einer Frau in Barbary Coast getragen zu werden. Sie trug keinerlei Schmuck, und statt des für Damen üblichen Beutels hatte sie zwei große Taschen umgehängt.

Sie wirkte sehr ungewöhnlich, und Deegan fand sie erfrischend attraktiv.

Er nahm ein Taschentuch heraus und reichte es ihr. „Sie sollten sich die Wange abwischen, ehe Sie zu Ihren Freunden zurückkehren“, sagte er.

„Zu meinen Freunden?“ Sie sah ihn verwirrt an, als sie das makellos weiße Stückchen Stoff entgegennahm. „Ja, natürlich. Aber zuerst muss ich mit der Gendarmerie sprechen, um den Mord an Belle anzuzeigen.“ Sie schwieg einen Moment, dann sah sie ihn mit großen Augen an. Plötzlich klammerte sie sich mit einer Hand an seinen Arm. „Sie müssen mit mir kommen. Zusammen können wir diesen Mann bestimmt identifizieren. Ich werde sein Gesicht niemals vergessen. Und ich bin mir sicher, dass auch Sie ihn genau gesehen haben.“

Obwohl Deegan vor ein paar Monaten eng mit einem Agenten der „Pinkerton Detective Agency“ zusammengearbeitet hatte, war er nicht gerade erpicht darauf, mit Polizisten zu tun zu haben. Er befürchtete nämlich, dass ihn jemand als Digger O’Rourke entlarven könnte.

Ein Windstoß fuhr durch die enge Gasse und spielte mit dem Rock der Frau. Sie hielt ihren Hut fest, damit er ihr nicht vom Kopf geblasen wurde.

„Die Gendarmerie kann noch warten“, erklärte Deegan. „Wir sollten uns stattdessen vor diesem Sturm retten. Vielleicht könnten wir irgendwo etwas Wärmendes trinken.“

„Ein Tee würde mir jetzt guttun“, stimmte sie zu, während sie das Band ihres Huts unter dem Kinn zusammenknüpfte.

Ein Whiskey wäre ihm eigentlich lieber gewesen.

„Glauben Sie, dass es in der Nähe der Gendarmerie ein Café gibt?“, fragte sie und begann sich ihre Kamera aufzuladen.

Deegan hatte nicht vor, das herauszufinden. „Wenn Sie mir gestatten“, sagte er und nahm ihr die Kamera ab. Sie sah etwas unsicher aus, als wüsste sie nicht, ob sie ihm den wertvollen Gegenstand überlassen sollte. Doch nach einem Augenblick ließ sie die Kamera los, und er legte sie sich auf die Schulter. Es überraschte ihn, wie schwer das Gerät war.

„Ich glaube nicht, dass es sehr klug wäre, jetzt schon durch die Straßen zu laufen“, sagte Deegan. „Ihr wild entschlossener Freund hält sich vielleicht noch in der Nähe auf.“

Sie runzelte die Stirn. „Sie haben recht. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber ich kann doch nicht warten, während Belles Leiche …“ Mit einem Mal wurde sie aschfahl und begann ein wenig zu wanken.

Deegan, der bereits mit der Kamera zu kämpfen hatte, konnte nichts weiter tun, als sie am Ellbogen zu nehmen und festzuhalten.

„Danke“, sagte sie. „Schon der Gedanke daran …“ Sie verstummte und fing leicht zu zittern an. „Vielleicht setze ich mich besser hin.“

Sie sah ganz so aus, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Deegan warf einen Blick auf die Straße, dann in die Gasse und fasste einen Entschluss. Wahrscheinlich würde er ihn später noch bereuen.

„Hören Sie zu. Ich heiße Galloway. Ich wollte gerade eine alte Freundin besuchen, die hier im nächsten Haus wohnt. Wenn Sie sich bis zu Hannah aufrecht halten, können Sie sich dort nicht nur hinsetzen, sondern auch eine Tasse Tee bekommen.“

Die Frau lächelte schwach. „Ich glaube, dass ich es so weit schaffe.“

Autor

Beth Henderson
Keiner, der Beth heute trifft, würde glauben, sie sei schüchtern.“ Aber ich bin's“, behauptet sie. „Steck mich in einen Raum mit Wildfremden, und ich werde in der nächsten Wand verschwinden.“ Kaum zu glauben bei einer Frau, die ständig vor Publikum darüber spricht, wie man am besten Liebesromane schreibt. Sie hat...
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