Baccara Collection Band 415

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VERLIEB DICH NIE IN EINEN MILLIARDÄR von NAIMA SIMONE
Er sieht gut aus, ist verführerisch - und er macht ihr einen Antrag! Aber Witwe Isobel weiß: Sie darf sich auf keinen Fall in Milliardär Darius King verlieben. Er will sie schließlich nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem verstorbenen Freund heiraten. Oder etwa nicht?

SO GEHEIMNISVOLL UND SO VERLOCKEND von DEBORAH FLETCHER MELLO
Ein Kuss, und um Star-Designer Tinjin Braddy ist es geschehen. Als er sexy Model Natalie unverhofft wiedertrifft, beginnt er eine heiße Affäre mit ihr. Dann verschwinden die Entwürfe für seine neue Kollektion. Steckt etwa Natalie dahinter?

WARUM BEGEHRE ICH DICH SO SEHR? von LAUREN CANAN
Ally will ihre Ranch zurück, nur deshalb willigt sie in eine Scheinehe mit Seth Masters ein. Denn der Milliardär ist ihr Feind - seine Familie hat ihr die Ranch weggenommen. Dumm nur, dass Seth in ihr dieses gefährlich sinnliche Begehren weckt …


  • Erscheinungstag 28.01.2020
  • Bandnummer 415
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726607
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Naima Simone, Deborah Fletcher Mello, Lauren Canan

BACCARA COLLECTION BAND 415

NAIMA SIMONE

Verlieb dich nie in einen Milliardär

Ihre schlanke Figur mit den verführerischen Kurven – Milliardär Darius King begehrt Isobel Hughes, wie er noch nie eine Frau begehrt hat. Doch sie hat das Leben seines besten Freundes zerstört, und das kann er ihr niemals verzeihen. Um dessen Sohn zu schützen, bietet er Isobel trotz allem eine Zweckehe an. Aber kann er ihren Reizen auf Dauer widerstehen?

DEBORAH FLETCHER MELLO

So geheimnisvoll und so verlockend

Als Supermodel Natalie am Flughafen in New York strandet, genießt sie den Flirt mit sexy Star-Designer Tinjin Braddy. Und muss feststellen: Sein Kuss hat in ihr ein sehnsüchtiges Verlangen nach mehr geweckt. Überraschend trifft sie ihn wieder – und verbringt bald leidenschaftliche Nächte in seinen Armen. Aber kann sie es wagen, dem Playboy ihr Herz zu schenken?

LAUREN CANAN

Warum begehre ich dich so sehr?

Milliardär Seth Masters braucht eine Frau, ansonsten verliert er seinen Anteil am Erbe, so steht es im Testament. Kurzentschlossen macht der überzeugte Junggeselle der bezaubernden Ally ein Angebot: Sie wird für drei Monate seine Frau, anschließend trennen sich ihre Wege für immer. Die Frage ist nur: Wie soll es ohne Ally für ihn weitergehen?

1. KAPITEL

Delilah. Jezebel. Yoko. Monica.

Wenn man sowohl der älteren als auch der jüngeren Geschichte glauben konnte, waren dies alles Frauen, die angeblich einen mächtigen Mann zu Fall gebracht hatten. Isobel Hughes verzog das Gesicht. Bestimmt würden eine Menge Leute in diesem Herrenhaus an der Nordküste auch Isobels Namen auf diese Liste setzen.

Sie unterdrückte einen Seufzer und ging die Treppen des herrschaftlichen Hauses hinauf, das genauso gut in der französischen Provinz hätte stehen können. Umgeben von vielen Hektar gepflegten Landes, verströmte das Anwesen eine Aura von Dekadenz und Reichtum. Und obwohl es nur zwei Autostunden von Isobels kleinem Apartment in South Deering entfernt war, schien es doch auf einem anderen Planeten zu liegen.

Ich schaffe das. Ich habe keine andere Wahl.

Sie holte noch einmal tief Luft und blieb stehen, als sich die hohen bunten Glastüren öffneten und ein imposanter Mann heraustrat. Sein Smoking saß tadellos, trotzdem hatte Isobel keinen Zweifel, dass er zur Security gehörte.

Der Sicherheitsdienst hatte die Aufgabe, die exklusive Elite der High Society von Chicago zu schützen und den Pöbel von der Du Sable City Gala fernzuhalten.

Isobel war nervös bis in die Fußspitzen, denn sie gehörte zu dem gemeinen Fußvolk, das hier eigentlich nichts zu suchen hatte.

Sie verzog ihr Gesicht zu einer höflichen Maske und hielt dem Mann ihre Einladung hin. Während er das dicke elfenbeinfarbene Papier mit der Goldschrift überprüfte, stand sie wie paralysiert da und musste sich anstrengen, ihre verschwitzten Hände nicht an dem bodenlangen schwarzen Kleid abzustreifen, das sie in einem Secondhandladen gefunden hatte.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie eine echte Einladung bekommen hätte. Damals war sie noch mit Gage Wells verheiratet gewesen, dem Sohn einer der ältesten und reichsten Familien Chicagos. Und sie hatte geglaubt, Gage wäre ihr schöner Prinz, der Mann, der sie so liebte, wie sie ihn vergötterte. Doch dann hatte sie erkennen müssen, dass dieser Prinz schlimmer als ein Frosch war – er war eine Schlange mit einer gespaltenen Zunge.

Isobel schloss kurz die Augen. Das, was hier auf sie zukam, erforderte ihre volle Konzentration. Gage war seit zwei Jahren tot, und sie war schon lange nicht mehr Teil dieses gesellschaftlichen Zirkels, der sie sowieso nie akzeptiert hatte. Daher war sie jetzt auch dazu gezwungen gewesen, sich einer Täuschung zu bedienen.

Normalerweise beschränkten sich die illegalen Fertigkeiten ihres Bruders auf das Fälschen von Führerscheinen oder Geburtsurkunden, nicht auf Einladungen zu Galas. Aber offensichtlich hatte er gute Arbeit geleistet, denn der Mann winkte sie durch. Isobel bedankte sich im Stillen bei ihrem Bruder.

Als sie die große Halle aus weißem Marmor betrat, drangen Flöten- und Geigenklänge an ihr Ohr. Goldene Kacheln in Form eines blühenden Lotus zierten den Fußboden, während ein prächtiger Kronleuchter an der Glasdecke alles in märchenhaftes Licht tauchte. Zu beiden Seiten des Raumes führten Wendeltreppen mit kunstvollen schmiedeeisernen Geländern in den nächsten Stock.

Doch das Betrachten der Umgebung verzögerte nur das Unvermeidliche.

Und das Unvermeidliche wartete im Ballsaal auf sie, aus dem neben der Musik angeregte Gespräche und Gelächter erklangen. Wie von Geisterhand öffneten sich die Glastüren für sie.

Doch plötzlich merkte sie, wie ihr übel wurde. Ihr Magen drehte sich um.

Du kannst immer noch gehen. Es ist nicht zu spät.

Aber dann erschien ihr das Bild ihres Sohnes und erfüllte ihr Herz mit großer Liebe. Aiden war ein Geschenk – ihr Geschenk. Sie würde alles für ihn tun und alles für ihn ertragen.

Nur seinetwegen wollte sie die Familie ihres toten Ehemanns aufsuchen und ihren Stolz den Leuten opfern, die sie verachteten. Sie hatte die Todsünde begangen, arm zu sein und sich in Gage Wells zu verlieben.

Nun, für diesen Verstoß hatte sie bezahlt. Und zwar nicht zu knapp.

In den letzten Jahren hatte sie immer wieder versucht, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen, hatte Fotos von Aiden geschickt. Aber sie hatten nichts von ihr und ihrem Jungen, den sie für einen Bastard hielten, wissen wollen.

Am liebsten hätte auch sie Gages Familie ignoriert. Doch um ihres Sohnes willen, damit er nicht hungern und frieren musste, hatte sie diesen schweren Gang angetreten, selbst wenn sie sich damit den Zorn und die Verachtung der Familie Wells zuziehen würde.

Isobel war für diesen Kampf bereit, einen Kampf, den sie nicht verlieren durfte.

Verdammt, nein. Das kann doch nicht wahr sein.

Darius King umfasste den Champagnerkelch in seiner Hand noch fester, sodass der zarte Stiel fast zerbrach.

Schock und Unglaube ließen ihn erstarren. Fassungslos blickte er zu der zierlichen Brünetten am anderen Ende des Saals hinüber, die gerade einen Kellner anlächelte, nachdem er ihr ein Glas Wein gereicht hatte. Obwohl Darius sie nur ein paarmal getroffen hatte, erkannte er dieses Lächeln, das immer ein wenig schüchtern war. Trotz ihrer sinnlichen Lippen.

Isobel Hughes!

Nicht Wells. Diesen Namen hatte sie nicht verdient, denn sie hatte ihn in den zwei Jahren, in denen sie mit seinem besten Freund verheiratet gewesen war, nur mit Schmutz beworfen.

Sein Erstaunen wich einer unbändigen Wut. Wie konnte sie es wagen, dieses Haus zu betreten, als würde es ihr gehören? Und als hätte sie die Familie ihres Mannes nicht an den Rand des Ruins getrieben?

„Oh, mein Gott“, stieß in diesem Moment Gabriella Wells aus, die neben ihm stand. „Ist das nicht …?“

„Oh ja“, erwiderte Darius grimmig und wandte sich Gages Schwester zu, die für ihn wie seine eigene war. „Das ist sie.“

„Was zum Teufel macht sie hier?“, fragte Gabriella fassungslos. „Und wie ist sie überhaupt hereingekommen?“

„Keine Ahnung.“

Doch er würde es herausfinden. Und dann würden Köpfe rollen. Denn der Sicherheitsdienst war schließlich engagiert worden, um die hier versammelten Politiker, Promis und Unternehmer vor ungebetenen Gästen zu schützen. Aber anscheinend hatten sie ihren Job nicht gemacht, sonst wäre Isobel nicht hier.

„Wie kann sie es wagen, hier aufzutauchen?“, fragte Gabriella empört. „Ich hatte gehofft, wir wären sie endlich los, als sie nach Kalifornien gezogen ist. Wahrscheinlich will sie Dad und Mutter wieder bis aufs Blut aussaugen. Na, der werde ich mal …“ Sie wollte sich schon in Bewegung setzen, doch Darius hielt sie am Arm fest.

„Nein“, sagte er bestimmt und schüttelte den Kopf. Gabriella funkelte ihn mit ihren grünen Augen an, die ihn so sehr an Gage erinnerten. Es war offenkundig, dass sie die Frau hasste, die ihren Bruder so sehr verletzt hatte.

„Wir dürfen jetzt keine Szene machen“, sagte er eindringlich. „Denk an deine Eltern!“

Der Ärger in ihrer Miene machte einer gewissen Besorgnis Platz, und sie nickte. Schließlich hatte Baron Wells, ihr Vater, erst im letzten Jahr einen Herzinfarkt erlitten. Darius war fest davon überzeugt gewesen, dass der Anlass dafür sein Kummer über den plötzlichen Tod seines Sohnes bei einem Autounfall gewesen war. Sowie die Tatsache, dass Gages Vater zu viel arbeitete, seine Mahlzeiten nur unregelmäßig zu sich nahm und viel zu wenig Sport trieb.

In den letzten Monaten hatte es so ausgesehen, als wäre er wieder der Alte geworden. Doch eine gewisse Fragilität war geblieben, und Darius wollte sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen könnte, wenn Baron die Witwe seines toten Sohnes erblickte.

„Ich werde mit den Sicherheitsleuten sprechen und sie bitten, diese Frau nach draußen zu bringen“, erklärte er ruhig, obwohl es in ihm tobte. „Kümmere dich um deine Eltern und sorge dafür, dass sie von all dem nichts mitbekommen.“

Ja, er würde Isobel Hughes rauswerfen lassen. Aber vorher würde er noch ein paar Worte mit ihr wechseln. Diese hinterlistige Schlange hatte Glück gehabt, dass er sie vor zwei Jahren nicht mehr zu fassen gekriegt hatte. Doch er hatte sich um Gages Familie kümmern müssen, die untröstlich über den Verlust ihres geliebten Sohnes gewesen war. Daher hatte er sie entkommen lassen, zusammen mit dem Baby, von dem niemand sicher war, ob es tatsächlich von Gage war. Aber jetzt …

Jetzt war sie wieder aufgetaucht, und alles war möglich.

Sie hatte ihnen den Fehdehandschuh hingeworfen, und er würde ihn sich mit Freude schnappen.

„Okay“, stimmte Gabriella ihm zu und umfasste seine Hand. „Ich danke dir.“

„Kein Problem. Wir gehören zur Familie und kümmern uns umeinander.“

Sie nickte, drehte sich um und verschwand in der Menge.

Darius beobachtete, wie Isobel im Begriff war, durch die hohen Glastüren hinaus auf den Balkon zu treten. Gut, dann wusste er ja, wo er die Sicherheitsleute hinschicken konnte.

Eigentlich war es unfair, dass eine so unmoralische Frau, die anscheinend keinerlei Gewissen besaß, gleichzeitig so schön sein konnte. Aber wenn sie nicht diese unglaublich zarte Haut und diese verführerischen Kurven gehabt hätte, würde es ihr wohl auch nicht gelingen, einen Mann nach dem anderen in ihren Bann zu ziehen.

Schon immer hatte Darius ihr schulterlanges braunes Haar bewundert, das im Licht der Kronleuchter noch stärker glänzte als sonst. Sein Blick glitt über das eng anliegende schwarze Kleid mit dem tiefen Ausschnitt und über ihre schmale Taille, die er mit beiden Händen hätte umspannen können. Schon bei ihrem ersten Treffen, als er Trauzeuge bei der übereilten Eheschließung gewesen war, hatte er sich gewundert, wie eine so zierliche Frau eine so umwerfend weibliche Figur haben konnte. Damals hatten ihm ihre Kurven sehr gefallen. Doch jetzt verachtete er ihre Figur aus ganzem Herzen, denn er wusste, dass sie eine Falle war, mit der Isobel ihre Beute an Land zog.

Aber ihre Züge … er hatte sofort an Arben denken müssen, die Elfenkönigin aus dem „Herrn der Ringe“. Das tiefe Blaugrau ihrer Augen verstärkte den Eindruck überirdischer Zartheit. Doch ihr Mund, diese unglaublich sinnlichen Lippen sprachen eine andere Sprache als die Unschuld, die Isobel im ersten Moment ausstrahlte. Ja, ihre Lippen und das, was sie versprachen, konnten einen Mann um den Verstand bringen, so viel stand fest.

Darius biss die Zähne zusammen, denn er hasste sich selbst für die Lust, die er plötzlich empfand. Für das Begehren, das ihn bei Isobels Anblick überfiel. Hatte er immer noch nicht gelernt, dass sich hinter einem hübschen Gesicht tiefste Herzlosigkeit verstecken konnte? Und die schwärzeste aller Seelen? Diese Lektion hatte ihm schließlich seine Exfrau beigebracht.

Und zu dieser Sorte von Frauen gehörte auch Isobel Hughes.

Als ob sie ihren Namen gehörte hätte, hob Isobel den Kopf und sah über die versammelten Gäste hinweg. Wahrscheinlich suchte sie nach Baron Wells und seiner Frau Helena. Doch wenn sie glaubte, dass er sie auch nur in die Nähe von Gages Eltern lassen würde, hatte sie in Kalifornien wahrscheinlich zu viel Gras geraucht. Denn Darius hätte alles getan, um die beiden zu beschützen. Leider war ihm das bei seinem Freund nicht gelungen, was seit zwei Jahren wie eine offene Wunde in ihm schwärte. Niemals wieder würde er zulassen, dass diese Frau den Menschen, die er liebte, etwas antat. Seiner Familie.

Bei diesem Gedanken setzte er sich in Bewegung. Er musste diese Scharade so schnell wie möglich beenden und Isobel wieder zurück in das Loch schicken, aus dem sie gekrochen war.

Entschlossen bahnte er sich den Weg zum Eingang und wartete dort auf den Security-Chef. Nach ein paar Minuten blickte er stirnrunzelnd auf seine Uhr. Der Mann hätte längst da sein müssen.

Doch dann …

Dunkelheit.

Völlige Dunkelheit.

Undeutlich vernahm Darius überraschte Rufe und Schreie, aber das ohrenbetäubend laute Pochen seines Herzens übertönte alles andere.

Er stolperte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Panisch suchte er nach seinem Handy, fand es jedoch nicht. Verdammt, er musste es im Auto vergessen haben. Das passierte ihm sonst nie. Nie …

Die Dunkelheit umschloss und erdrückte ihn förmlich.

Luft.

Er brauchte Luft! Verzweifelt löste er die Fliege an seinem Hals.

Doch mit jedem Atemzug wurde die Beklemmung unangenehmer. Im Bruchteil von Sekunden war sein schlimmster Albtraum wahrgeworden.

Er war im Dunkeln gefangen.

Allein.

Und er ertrank darin.

2. KAPITEL

Blackout.

Stromausfall. Verschlossene Türen.

Bleiben Sie ruhig.

Aufgeregte Stimmen draußen vor dem Waschraum drangen an Isobels Ohr. Schnell griff sie nach ihrem Handy und sah, dass die Batterie fast leer war.

Mit zitternden Fingern schrieb sie hastig eine SMS.

Mom, ist alles okay? Wie geht es Aiden?

Wie schon so oft wünschte sie sich, ein Smartphone zu haben, statt dieses billigen Wegwerfhandys. Augenblicke später erhielt sie eine Antwort.

Ihm geht’s gut, Liebling. Mach dir keine Sorgen. Er schläft tief und fest. Bleib, wo du bist. Das ist nur ein größerer Stromausfall, und man hat uns gesagt, wir sollten in der Wohnung bleiben. Hab dich lieb. Pass gut auf dich auf!

Erleichtert ließ Isobel sich auf die kleine Bank im Waschraum sinken. Zum ersten Mal seit alles dunkel geworden war, konnte sie wieder durchatmen.

Sie knipste die Lampe auf ihrem Handy an und richtete den Lichtstrahl auf die Tür. Die tiefe Dunkelheit schien das Licht zu verschlucken, aber dann erblickte sie die Klinke und seufzte. Bestimmt war es im Flur etwas heller. Wenigstens würde sie dort nicht das Gefühl haben, von den engen Wänden erdrückt zu werden.

Sie erhob sich, drückte auf die Klinke und riss die Tür auf. Kaum war sie im Flur, erlosch der schwache Lichtstrahl auch schon wieder.

„Verdammt“, fluchte sie leise und schüttelte das Handy. Doch ohne Erfolg, es blieb tot.

Frustriert holte Isobel tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. In den zwei Jahren, die sie in Los Angeles verbracht hatte, hatte sie sich einen guten Orientierungssinn zugelegt. Der Ballsaal lag links von ihr, das wusste sie. Um dorthin zu gelangen, musste sie sich nur an der Wand entlangtasten.

Kein Problem. Das kriegte sie hin.

Wahrscheinlich.

Vielleicht.

Mit zögernden Schritten schob sie sich an der Wand entlang. Eigentlich müsste sie gleich den angrenzenden Flur erreichen.

Doch in diesem Moment stieß sie gegen ein festes Hindernis und streckte im Reflex die Hände aus. Es war eine Person. Eine ziemlich große Person, nach der Breite der Schultern zu urteilen.

„Oh Gott, tut mir leid!“ Sie zog sofort die Arme zurück und merkte, wie Hitze ihren ganzen Körper durchströmte. Sie hatte soeben in der Dunkelheit einen Mann angefasst.

Entsetzt trat sie einen Schritt zurück, stolperte dabei jedoch über den Saum ihres langen Kleides und stieß erneut mit der harten Brust zusammen. „Verdammt, ich …“

Doch die Entschuldigung erstarb auf ihren Lippen, als sie ein schweres, heiseres Keuchen hörte. Es drang durch die Dunkelheit an ihre Ohren und ließ sie erstarren. Noch immer lagen ihre Hände auf der Brust des Fremden, die sich in einem schnellen, unnatürlichen Tempo hob und senkte.

Isobel riss ihren Kopf zurück und starrte auf die Stelle, wo sein Gesicht sein müsste. Doch sie musste seine Züge nicht studieren, um zu verstehen, dass es dem Mann nicht gut ging. Fast klang sein Keuchen, als wäre er verwundet.

Es war so schrecklich, dass sie ihn am liebsten getröstet hätte, auch wenn es sich um einen Fremden handelte. Doch sie merkte, dass sie ihn berühren und versuchen musste, seinen Schmerz zu lindern.

Daher legte sie ihm eine Hand aufs Herz und griff mit der anderen nach seiner Hand, um sie zu drücken.

„Hallo“, flüsterte sie. „Ein komisches Zusammentreffen, oder? Offensichtlich ist in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen. Das hier könnte auch der Beginn einer romantischen Komödie sein, denken Sie nicht auch?“

Der Mann antwortete nicht, und sein Atem ging noch immer stoßweise. Aber seine Finger schlossen sich um ihre und drückten sie so fest, als würde sein Leben davon abhängen. Als wäre sie sein Rettungsanker.

Jetzt war Isobel auch klar, was mit ihm los war. Kein Zweifel, er hatte eine Panikattacke. Leider hatte sie keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen. Doch er hatte schließlich auf ihre Stimme reagiert, deshalb redete sie einfach weiter. „Die meisten Männer machen sich ja nichts aus romantischen Komödien. Aber ich bin sicher, Sie haben ‚Pretty Woman‘ gesehen, oder?“

Erneut drückte er ihre Hand, und sein Stöhnen wurde ein wenig leiser. Gut. Das musste doch ein positives Zeichen sein, oder?

„Oder ist ‚Dirty Dancing‘ vielleicht mehr nach Ihrem Geschmack?“, plapperte sie weiter und wurde dafür mit einem leisen Glucksen belohnt.

Es warf ein Echo in die Dunkelheit, verhallte in dem leeren Flur wie ein Überschallknall. Aber vielleicht kam es Isobel auch nur so vor, weil sie sich gewünscht hatte, es zu hören. Das war ihr bis zu diesem Moment gar nicht klar gewesen.

Sie unterdrückte ein Lachen und beschloss, lieber mit dem weiterzumachen, was bisher funktioniert hatte. Zu reden. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie seit über zwei Jahren, außer mit ihrer Familie, mit kaum einem Fremden ein Wort gewechselt hatte. Die schreckliche Erfahrung hatte sie gelehrt, Unbekannten gegenüber vorsichtig zu sein. Besonders wenn sie gut aussahen. Denn das letzte Mal, als sie einem schönen Menschen vertraut hatte, war sie in einer lieblosen und trostlosen Ehe gelandet.

Aber in der Dunkelheit …

In der Dunkelheit gab es eine Art Freiheit, in der sie ihre sonstigen Vorbehalte loslassen konnte. Hier konnte sie aus dem geschützten Raum, den sie sich geschaffen hatte, heraustreten. In der Dunkelheit gab es keine Wertung. Wenn dieser Mann vor ihr die Gala besuchte, bedeutete es höchstwahrscheinlich, dass er aus einer reichen Familie stammte. Aus der Art von Familie, die sie einmal in einem goldenen Käfig gefangen gehalten hatte. Doch hier war das alles egal. Hier waren nur zwei Menschen, die einander festhielten, um die Situation zu überstehen.

„Ich persönlich stehe ja auch sehr auf Science-Fiction-Filme, so wie ‚Avatar‘“, fuhr sie fort. „Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie einen Lieblingsfilm?“

Sie hielt die Luft an und wartete gespannt auf seine Reaktion. Ein Teil von ihr wollte sehen, ob seine Panikattacke endlich vorbei war. Aber der andere Teil wollte – nein, musste – seine Stimme hören. Und sie wollte wissen, ob die Stimme zu seiner Statur passte.

Während eines Stromausfalls in einem Herrenhaus gefangen zu sein … nun, bestimmt waren die außergewöhnlichen Umstände der Grund ihres Verlangens. Denn es war Jahre her, seit sie neugierig auf irgendetwas war, das mit einem Mann zusammenhing.

„Der ‚Terminator‘.“

Oh. Wow. Diese Stimme. Fast noch dunkler als die tiefschwarze Dunkelheit, die sich über die Stadt gelegt hatte. Tiefer als die Tiefen des Ozeans. Wie die samtene Umarmung einer Verheißung.

Eine gefährliche Stimme.

Eine, die eine andere Person aufforderte, Handlungen zu begehen, für die sie sich im hellen Licht des Tages vielleicht schämen würde. Handlungen, die diese Person nur in der Nacht mit all ihren Schatten und Geheimnissen genießen würde.

Isobel schloss die Augen, und ihre Lippen öffneten sich wie von selbst. Als ob sie diese gleichzeitig raue und sanfte Stimme einatmen könnte. Als ob sie sie schmecken könnte.

Als ob sie ihn schmecken könnte.

Was, zum Teufel?

Dieser total verrückte Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie konnte ihm nicht entkommen. Sie riss die Augen auf und starrte ins Nichts. Zum zweiten Mal an diesem Abend dankte sie Gott. Weil niemand sie sehen konnte. Weil niemand ihre peinliche Reaktion auf die Stimme eines Mannes mitbekommen hatte.

„Oh, ein Klassiker“, sagte sie leichthin. „Aber kein Science-Fiction-Film.“

Diesmal vernahm sie ein Schnauben. „Ja, und? ‚Avatar‘ ist ja schließlich auch keine romantische Komödie.“

„Irgendwie haben Sie mir besser gefallen, als Sie nichts gesagt haben“, gab sie zurück.

Er lachte laut auf, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Verdammt, dieses Lachen machte seine Stimme noch verführerischer. Begehren durchströmte sie und ließ ihre Knie weich werden.

Sie erstarrte. Nein. Unmöglich. Es war Ewigkeiten her, dass sie diese innere Hitze verspürt hatte.

Wenn sie auch nur einen Funken Verstand hatte, sollte sie sich von diesem Mann lösen und Distanz schaffen. Denn damals hatte ihr Begehren dazu geführt, dass sie sich verliebt hatte. Und diese Verliebtheit hatte zu einem herzzerreißenden Verrat geführt, von dem sie sich noch immer nicht erholt hatte.

Nein, sie sollte sich davon überzeugen, dass es diesem Mann hier gut ging, und dann verschwinden. Schließlich musste sie sich um ihren Sohn kümmern. So etwas wie sexuelle Lust hatte keinen Platz in ihrem Leben.

Du sitzt hier in der Dunkelheit mit ihm fest, es ist kein Date.

Eine Nacht. Nur eine Nacht.

Sie seufzte. Und blieb.

„Stimmt was nicht?“ Sie spürte eine große Hand auf ihrer Schulter, und sie zuckte zusammen.

„Nein, alles okay“, stieß sie hervor. „Es sind nur meine Schuhe. Sie sehen toll aus, aber für meine Füße sind sie die Hölle.“ Sie beugte sich vor und zog erst den einen, dann den anderen aus.

Er schmunzelte erneut. „Wie heißen Sie?“ Mit dem Daumen begann er jetzt, kleine aufreizende Kreise auf ihrer Haut zu beschreiben.

Isobel biss sich auf die Lippe. Sengende Hitze ging von seiner Berührung aus, und bis jetzt hatte sie gar nicht gewusst, dass ihre Schulter eine erogene Zone war. Komisch, was sie so alles in der Dunkelheit herausfand.

Wonach hatte er sie noch gefragt? Ach ja, nach ihrem Namen.

Plötzlich war sie alarmiert. Denn natürlich wusste sie, wie Gages Familie auf ihre Anwesenheit hier reagieren würde. Es war zwar schon zwei Jahre her, aber der Skandal hatte damals die gesamte High Society von Chicago erschüttert.

Erneut schloss sie kurz die Augen, als ob sie damit die Wunde verdrängen könnte, die ihre Seele noch immer vergiftete. Denn es war schrecklich für sie gewesen, dass alle sie als eine Frau gesehen hatten, die nur aufs Geld aus war.

„Warum wollen Sie wissen, wie ich heiße?“, fragte sie.

Kleine Pause. „Weil ich wissen möchte, bei wem ich mich bedanken kann. Und da wir uns noch nicht einmal zehn Minuten kennen, wäre ‚Liebling‘ wohl ein bisschen voreilig.“

„Oh, ich habe nichts gegen Liebling“, stieß sie hervor. Der Griff um ihre Schultern verstärkte sich, woraufhin sich ihr Unterleib sofort voller Verlangen zusammenzog. „Damit wollte ich sagen, hier in der Dunkelheit brauchen wir keine Namen. Wir können andere sein als die, die wir in Wirklichkeit sind. Und irgendwie gefällt mir diese Idee.“

Isobel wusste, wenn er ihren richtigen Namen erfuhr, würde er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Daher war es ihr lieber, dass er sie für eine schüchterne Debütantin hielt.

Er wanderte mit der Hand ihren Nacken hinauf und umfasste ihren Hinterkopf. Ihr entfuhr ein leichtes Seufzen.

„Versteckst du dich etwa, Liebling?“ Er wechselte unmittelbar zum Du.

Die Frage klang ein bisschen verrückt, denn schließlich war die ganze Stadt gerade in Dunkelheit gehüllt. Aber sie verstand, worauf er hinauswollte. Und der Mangel an Licht machte es ihr leichter, ehrlich zu sein.

„Ja“, hauchte sie und wappnete sich bereits für seine Zurückweisung.

„Mach dir keine Sorgen, deine Geheimnisse sind bei mir genauso sicher wie du.“ Er schwieg einen Moment lang, während seine Fingerspitzen auf ihre Kopfhaut drückten: „Genauso wie ich bei dir sicher bin.“

Oh Gott.

Sein Geständnis, die Verletzlichkeit, die darin lag, ging ihr zu Herzen.

„Behalte deinen Namen für dich“, sagte er dann. „Trotzdem vielen Dank, Liebling.“ Er senkte den Kopf und legte seine Stirn an ihre.

„Ich …“ Sie schluckte, und ein Schauer lief ihr den Rücken herunter. Ob es aus Lust geschah oder eine Warnung war, hätte sie nicht sagen können. Wahrscheinlich beides. „Kein Problem. Das hätte doch jeder getan“, flüsterte sie.

Erneut hörte sie ihn schmunzeln. „Da irrst du dich. Die meisten Menschen denken nur an sich selbst. Oder sie versuchen, eine Situation auszunutzen.“

Darauf entgegnete sie nichts. Denn auch wenn sie gern widersprochen hätte, wusste sie doch, dass er die Wahrheit sagte. Auch sie war einmal eine naive Einundzwanzigjährige gewesen, die an das Gute im Menschen geglaubt hatte. Doch dann hatte sie sich in Gage verliebt, und er war zu ihrer Droge geworden. Der Entzug von ihm hätte sie fast zu dem Stück Nichts gemacht, das sie in seinen Augen ohne ihn sowieso war.

Um den Gedanken zu vertreiben, beugte Isobel sich herunter und suchte auf dem Boden nach ihrer Clutch. Als sie sie gefunden hatte, öffnete sie sie und stellte triumphierend fest, dass sie einen Schokoriegel mitgenommen hatte. Natürlich für Aiden, der immer nach irgendwelchen Süßigkeiten verlangte.

Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie konnte sie nur mit Mühe zurückdrängen. Nur weil sie Hilfe für ihren Sohn gesucht hatte, war sie überhaupt hierhergekommen. Doch sie war kläglich gescheitert. Für den Moment hatte der Stromausfall sie zwar gerettet, doch sie wusste auch, dass es keinen Ausweg gab. Um Aidens willen musste sie die Familie Wells konfrontieren.

„Woran denkst du gerade?“, fragte der Fremde sie in diesem Moment und unterbrach ihre verzweifelten Gedanken.

Isobel räusperte sich und ließ sich auf dem Boden nieder. Stumm zog sie am Saum seiner Hose. Er akzeptierte die Einladung und setzte sich neben sie. Sie tastete im Dunkeln nach seiner Hand, und als sie sie gefunden hatte, gab sie ihm die Hälfte des Schokoriegels.

„Was ist das?“, fragte er erstaunt.

„Unser Dinner“, gab sie zurück und biss ein Stück ab. Gar nicht so schlecht.

„Also, ich muss schon sagen, das ist für mich das erste Mal“, sagte er amüsiert. „Du willst deinen Namen nicht nennen, und natürlich respektiere ich das. Aber wenn ich schon eine Süßigkeit mit dir teile, würde ich gern mehr über dich erfahren als nur deine Vorliebe für Science-Fiction-Filme. Erzähl mir etwas über dich!“

Sie antwortete nicht sofort, sondern knabberte an ihrem Riegel, während sie fieberhaft überlegte, wie sie sich dieser Bitte entziehen könnte. Denn natürlich wollte sie ihm keine Details nennen, die ihre Identität verraten hätten. Andererseits …

Was, zum Teufel, berührte sie nur so stark an diesem Mann? Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen, kannte seinen Namen nicht. Und doch ging er ihr unter die Haut. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, in so einem Fall sehr vorsichtig zu sein.

„Ich bin ziemlich nachtragend“, sagte sie nach kurzem Überlegen. „Ich habe meinem Bruder nie verziehen, dass er an Weihnachten die Haare meiner Barbiepuppe angesengt hat, obwohl ich damals erst sieben war. Und ich bin auch immer noch sauer auf meine Freundin Elaine, die mir in der elften Klasse meinen ersten Freund weggeschnappt hat.“

Er lachte laut, und sie grinste.

„So, und jetzt bist du dran“, sagte sie entschlossen. „Erzähl mir etwas über dich.“

Er zögerte einen Moment lang und stieß plötzlich mit seinem Oberschenkel gegen ihren. Die kurze Berührung ging ihr durch und durch, sie hielt die Luft an. Erneut machte sich Hitze in ihrem Körper breit, doch diesmal genoss sie es.

„Ich gehe gern angeln“, sagte er plötzlich. „Du weißt schon, irgendwo an einem Kai sitzen, mit der Angel in der Hand, dem Plätschern des Wassers zuhören und träumen. Mein Vater und ich haben das früher in den Ferien gemacht. Manchmal haben wir uns dabei unterhalten, manchmal auch stundenlang geschwiegen.“ Er lachte. „Hin und wieder haben wir sogar etwas gefangen.“

Seine Stimme klang ein wenig traurig, was Isobel nicht entging.

„Das sind meine schönsten Erinnerungen“, fuhr er fort. „Wir sind damals immer nach Hilton Head gefahren, aber jetzt war ich bestimmt schon zwei Jahre nicht mehr da.“

Er brach ab und ließ es zu, dass Isobel seine Hand ergriff und drückte.

Dann schwiegen sie eine Weile, doch es fühlte sich gut an. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie es vermisst hatte, sich mit jemandem auszutauschen.

Als sie Gage kennenlernte, war sie erst zwanzig Jahre alt gewesen. Nach nur wenigen Monaten hatten sie schon geheiratet. Von einer Studentin im zweiten Semester war sie plötzlich zur Frau eines der reichsten Männer Chicagos geworden. Natürlich war seine Familie von Anfang an gegen diese Heirat gewesen und hatte auch gedroht, ihn zu enterben. Gage war das egal gewesen. Sie hatten in einem winzigen Apartment im ukrainischen Viertel von Chicago gewohnt und waren sehr glücklich gewesen. Das hatte Isobel jedenfalls geglaubt.

Doch nur wenige Monate später war aus ihrem charmanten, zärtlichen Ehemann ein verwöhnter kleiner Junge geworden, der sie von Tag zu Tag schlechter behandelte. Offensichtlich machte es ihm doch sehr viel aus, plötzlich ohne das Geld und den Einfluss seiner Familie dazustehen. Ihre Liebe hatte dem nicht standgehalten, und Isobels Leben war immer mehr zur Hölle geworden.

Nur zu Beginn ihrer Ehe hatten sie sich so miteinander ausgetauscht, wie sie es jetzt mit diesem Fremden erlebte.

Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie hier schon nebeneinandersaßen. Die Zeit und die Außenwelt schienen nicht mehr zu existieren. Es war, als befänden sie sich auf einem anderen Planeten, wo sein Duft die Luft erfüllte und seine Stimme sich wie Balsam auf ihre strapazierten Nerven legte.

Noch immer hielt seine Hand ihre umfangen, bildete einen Anker. Vielleicht suchte er ihre Berührung, weil er eine weitere Panikattacke vermeiden wollte. Aber das war nicht ihr Eindruck. Sie merkte, dass er sie anfassen wollte, und sie … oh ja, sie wünschte sich mehr als alles andere, von ihm angefasst zu werden.

Dabei hatte sie sich schon lange einzureden versucht, dass sie das alles nicht mehr brauchte. Sex, das Verschmelzen zweier Körper, die Hitze, die sie dabei zu versengen drohte.

Doch in Wahrheit vermisste sie all das ganz schrecklich.

„Hey Liebling, warum sagst du nichts mehr?“, fragte er leise. „Sprich mit mir. Ich möchte deine wunderschöne Stimme hören.“

Sprach er mit allen Frauen so? Oder nur mit ihr?

Nein, dieser Gedanke war ja geradezu lächerlich. Ja, dies waren mehr als ungewöhnliche Umstände, doch sie durfte nicht vergessen, wer sie war. Bestimmt hielt der Fremde sie für seinesgleichen. Für eine reiche Dame der Gesellschaft … jemand, der hierhergehörte.

„Liebling?“

Das Kosewort ließ Isobel erzittern. Bisher hatte sie niemand jemals so genannt. Für Gage war sie immer einfach Belle gewesen. Doch das, was ihr anfangs so geschmeichelt hatte, war dann immer mehr zu einer Kritik ihrer Naivität geworden.

Jetzt hasste sie diesen Namen inzwischen.

Doch jedes Mal, wenn dieser Mann neben ihr sie Liebling nannte, fühlte sie sich begehrt und wertgeschätzt. Es tat ihr gut, und doch bedrückte sie, dass sie ihn anlog. Auch wenn es nur dadurch war, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagte.

„Kann ich dich etwas fragen?“, stieß sie hervor.

„Natürlich. Jederzeit!“

Sie holte tief Luft, denn sie wusste nicht, wie sie ihre Frage formulieren sollte, ohne ihm zu nahe zu treten. Schließlich kannten sie sich überhaupt nicht, und sie hatte nicht das Recht, in seine Privatsphäre einzudringen. Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück.

„Als ich … vorhin, da, da hattest du eine Panikattacke“, begann sie und merkte sofort, wie er erstarrte. Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre, eisiges Schweigen drang ihr entgegen. Verunsichert sah sie ihn von der Seite an.

Verdammt, vielleicht sollte sie ihn besser in Ruhe lassen?

„Bitte entschuldige, ich … das geht mich natürlich nichts an.“ Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er hielt sie fest.

„Tu das nicht!“

Was denn? Ihm Fragen stellen? Sich von ihm lösen?

„Du … du bist das Einzige, was mich davor bewahrt hat, komplett durchzudrehen“, sagte er dann so leise, dass sie die Worte kaum verstehen konnte.

Sein Geständnis berührte sie tief. Sie wandte sich ihm zu und legte spontan ihre Hand auf sein Herz. Es klopfte heftig.

„Meine Eltern sind gestorben, als ich sechzehn war.“

„Oh Gott!“ Deshalb hatte er auch so traurig geklungen, als er vorhin von seinem Vater erzählt hatte. „Das tut mir sehr leid.“

„Sie sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Bei einer Geschäftsreise nach Paris. Normalerweise wäre meine Mutter gar nicht mitgekommen, aber da es ihr Hochzeitstag war, wollten sie Beruf und Privates verbinden. Meine Eltern waren mein Fundament. Und ich …“

Er brach ab, und Isobel wartete darauf, dass er weitersprach.

Sie konnte sich das gar nicht vorstellen. Von ihrem Vater hatte sie nicht viel mitbekommen, aber ihre Mutter … Ohne sie hätte sie das Desaster ihrer Ehe nie überstehen können. Sie war immer für Isobel und Aiden da gewesen, selbst als sie nach Kalifornien gezogen waren und auch nach ihrer Rückkehr. Ihre Mutter zu verlieren … Isobel schloss die Augen und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Dann hörte sie ihm weiter zu, während er von der Tragödie erzählte, die ihn fürs Leben gezeichnet hatte.

„Mein bester Freund und seine Familie nahmen mich auf. Ich weiß nicht, was ohne sie aus mir geworden wäre. Ich war völlig verloren damals, ohne jeglichen Halt. In den Monaten danach schwänzte ich oft die Schule oder ging mitten in der Nacht zu dem Haus, in dem wir gelebt hatten. Das Penthouse war verkauft worden, deshalb konnte ich dort nicht mehr hinein. Aber ich habe mich dann durchs Fenster ins Souterrain geschlichen und saß oft stundenlang da, einfach nur froh, wieder an dem Ort zu sein, wo ich mit meiner Familie gelebt hatte. Eines Abends folgte mir mein bester Freund dorthin und kam mir so auf die Schliche. Aber er hat niemandem ein Wort davon gesagt.“

Wieder eine Pause, und wieder unterbrach Isobel ihn nicht. Aber am liebsten hätte sie seinen besten Freund umarmt, weil er diesem verlorenen Jungen beigestanden hatte. Er musste ein besonderer Mensch gewesen sein.

„Etwa vier Monate nach dem Tod meiner Eltern suchte ich diesen Ort wieder auf. Und irgendwann muss ich dann eingeschlafen sein. Ich weiß auch gar nicht mehr, was mich aufgeweckt hat – der Lärm, die Hitze? Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber als ich aufwachte, war der ganze Raum stockdunkel. Ich konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Dann vernahm ich, wie Zweige brachen, danach erklang ein dumpfes Grollen. Wie Motoren, die in einer geschlossenen Garage aufheulten. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, aber ich wusste sofort, was los war. Das Haus stand in Flammen, und ich saß in der Falle.“

„Oh nein“, flüsterte Isobel entsetzt.

„Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Dichter Rauch erfüllte das Souterrain. Ich bekam immer weniger Luft und lag einfach da, total paralysiert. Um ehrlich zu sein, dachte ich damals, dass ich sterben würde. Dass dieser Raum mein Grab werden würde. Doch dann hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen rief und sah den Schein einer Taschenlampe. Es war mein Freund. Er hatte von dem Brand gehört und wusste, dass ich dort war.“

Er schwieg einen Moment und atmete tief ein und aus. „Die Feuerwehrleute hatten geglaubt, dass in dem Gebäude keine Leute mehr wären, aber mein Freund zwang sie, noch einmal überall nachzuschauen. Eigentlich hätte er ihnen meine Rettung überlassen sollen, doch das dauerte ihm zu lange. Er machte sich selbst auf die Suche und fand mich dann auch, wodurch er sein eigenes Leben riskierte. Aber wenn er es nicht getan hätte … Er hat mich damals gerettet.“

„Dem Himmel sei Dank!“ Sie legte ihm den Arm um die Taille und schmiegte sich an ihn. Auch wenn sie sich noch nicht lange kannten, entsetzte sie die Vorstellung, dass er den Flammen hätte zum Opfer fallen können. „Er war ein Held.“

„Ja, das war er“, erwiderte der Fremde mit sanfter Stimme. „Er war ein guter Mann.“

War? Aber das konnte doch nicht sein! „Wieso, ist er …?“

„Er ist vor ein paar Jahren gestorben.“

„Oh, das tut mir leid.“ Sie kniete sich hin und tastete mit der Hand über sein Gesicht, lehnte ihre Stirn gegen seine Schläfe.

Er strich ihr über die Wange, und ihr Herz setzte einen Moment lang aus. Dann fing es wie wild zu pochen an.

Der Fremde fuhr fort, sie zu streicheln. Sein Atem ging schneller, und sie spürte, wie kleine Wellen der Erregung ihren Körper durchströmten. Es war schon viel zu lange her, dass jemand sie zuletzt berührt hatte und sie überhaupt so etwas wie Lust verspürt hatte.

„Ich möchte diese schöne Stimme hören, Liebling“, flüsterte er und senkte den Kopf. Seine Lippen versanken in ihrer Halsbeuge, während er sprach. „Es gibt Dinge, die ich mit deinem Mund tun möchte, wozu ich aber deine Erlaubnis brauche.“

„Welche Dinge?“ Hatte sie diese Frage gerade wirklich gestellt? Und auch noch mit dieser heiseren Stimme? Was machte er nur mit ihr?

Er gibt dir das, wonach du dich sehnst. Sei mutig und finde es heraus.

„Ich möchte wissen, ob er so süß schmeckt, wie ich glaube. Ich möchte dich kennenlernen“, murmelte er als Antwort auf ihre Frage. Er hob den Kopf, und sein warmer Atem strich über ihre Lippen. Der Duft von Limonen und Champagner stieg ihr in die Nase, gefolgt von etwas Stärkerem, Mysteriösem. Das war er selbst.

„Ich …“ Ihr Verlangen war so stark, dass sie keine Worte fand. Sie konnte nicht mehr klar denken.

„Sag es mir, Liebling!“ Er wartete auf ihre Erlaubnis, auf ihr Einverständnis.

Isobel holte tief Luft. „Ja“, sagte sie nur. Wie um sich selbst zu bestätigen, dass sie bereit war, alle Vorsicht in den Wind zu schießen, wiederholte sie es noch einmal. „Ja.“

Mehr brauchte er nicht zu wissen.

Er neigte den Kopf, und eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie im Sturm nehmen würde. Sie war bereit dazu, hätte sich ihm rückhaltlos hingegeben. Doch die Zärtlichkeit, mit der er sie küsste, war zerstörerischer als jeder Tornado.

Behutsam streifte er ihre Lippen mit seinen. Berührte sie kurz, nur um sich wieder zurückzuziehen. Neckte sie, führte sie in Versuchung, bis er deutlich spürte, dass sie mehr wollte. Dass sie seine Zunge willkommen hieß. Dass sie einverstanden war, als sich ihre Zungenspitzen berührten, bereit für einen sinnlichen Tanz. Schließlich war sie es, die die Initiative übernahm, die seinen Mund hungrig in Besitz nahm, die sein tiefes Stöhnen hervorrief und es genoss. Sie, die ihn immer leidenschaftlicher küsste und die schließlich auf seinen Schoß kletterte und ihn an sich zog.

Doch er war es, der Öl ins Feuer goss, der den Funken der Lust zu einem flammenden Inferno anfachte.

Er löste seinen Mund von ihrem und bedeckte ihren Hals mit kleinen, brennenden Küssen. Es war ein Angriff auf all ihre Sinne, dem Isobel hilflos ausgesetzt war. Sie bog den Kopf zurück, gab sich ihm hin, spürte, wie jede Berührung seiner Lippen bis in ihr Innerstes drang, sie heiß und willenlos machte. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es peinlich war, wie sie jede Zurückhaltung aufgab, zumal er ihr fremd war. Aber je mehr er sie an sich zog, je deutlicher sie das Zeichen seines Begehrens spüren konnte, desto mehr vergaß sie sich. Desto weniger konnte sie klar denken.

Und nur noch fühlen.

Die Lust, gepaart mit Gier, drohte wie eine Welle über ihr zusammenzuschlagen. Sie wimmerte leise und klammerte sich an ihn.

„Noch mal“, befahl sie ihm. Bettelte sie. Egal. Solange er es noch einmal tat.

„Oh ja“, stieß er hervor und leckte sich einen Pfad zu ihren Ohren und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Verdammt, seit wann war das eine erogene Zone? „Sag mir, was du willst, was du von mir brauchst. Ich gebe es dir, Liebling. Du musst mich nur darum bitten.“

Halt mich weiter fest, lass mich spüren, dass du mich begehrst. Lass mich vergessen, wer ich bin.

Aber diese Appelle waren gefährlich, weil sie den Teil von ihr an die Oberfläche bringen würden, den sie gelernt hatte zu beschützen wie ein Drache seinen Schatz.

Stattdessen gab sie ihm das, was sie konnte. Und was sie sich im hellen Tageslicht nicht getraut hätte.

„Hier!“ Mit zitternden Händen riss sie das Oberteil ihres Kleides herunter und bot ihm ihre blanken Brüste dar. „Küss mich! Hinterlass deine Spuren!“

Er kam ihrem Wunsch sofort nach. Mit der Zungenspitze umkreiste er ihre Brustwarze, bevor er sie in den Mund nahm und daran saugte. Vergeblich versuchte Isobel, einen Schrei zu unterdrücken, denn das Feuer des Begehrens lief wie eine Zündschnur durch sie hindurch. Sie hörte ihn leise etwas murmeln, als seine Lippen zur anderen Brustspitze wechselten, um auch hier seine erotische Tortur fortzusetzen. Geschickt zupfte er dann an der von seinem Mund feucht gewordenen Spitze.

„Mehr“, stieß sie hervor. „Oh, Gott, mehr!“

„Sag es mir.“ Mit der Hand glitt er über ihre Hüfte, und es war, als spürte sie schon diese Berührung an ihrer empfindlichsten Stelle. „Sag es noch einmal. Ich will deine Stimme hören.“

Isobel kämpfte einen schweren Kampf zwischen Schüchternheit und Verlangen. Mach, dass ich komme, hätte sie am liebsten hervorgestoßen, brachte es jedoch nicht über sich. Deshalb griff sie nach seiner Hand und führte sie selbst an die Stelle zwischen ihren Beinen, wo ihr Begehren pulsierte und wo sie es am meisten brauchte.

„Oh, du sehnst dich nach mir“, sagte er mit heiserer Stimme. „Du bist feucht für mich.“

„Ja, für dich“, keuchte sie. „Nur für dich.“ Das war die Wahrheit. Sie bot ihm diesen Teil von sich an und konnte sich nicht daran erinnern, je so hungrig, so bedürftig gewesen zu sein. Nicht einmal bei …

Dieser Gedanke ließ sie erzittern. Sie wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken, wollte nur in der Gegenwart sein, mit diesem anonymen, gesichtslosen Mann, der sie behandelte, als wäre sie die begehrenswerteste Frau, die er je in den Armen gehalten hatte. Oder wenigstens versuchte sie, sich das einzureden.

„Berühr mich“, bettelte sie und drängte sich gegen seine Hand. „Bitte, berühr mich!“

Er löste sich kurz von ihr und zog ihren Kopf dicht zu sich heran. „Darum musst du mich niemals bitten“, sagte er. „Niemals, hörst du?“

Im nächsten Moment spürte sie seinen Finger in sich.

Sie stöhnte auf und warf den Kopf zurück, während die Lust sie wie ein Erdbeben erschütterte.

„Verdammt“, fluchte er. „Du bist so …“ Doch sie drängte sich an ihn, wollte noch mehr, rieb ihre Hüften gegen ihn, zog ihn noch tiefer in sich hinein.

„Liebling!“ Es klang wie ein Grollen, wie eine Warnung.

„Nein“, keuchte sie. „Ich brauche … bitte!“ Zwar hatte er gesagt, dass sie ihn nicht anflehen müsste. Aber wenn sie dadurch das bekam, wonach sie sich am meisten sehnte, war es ihr egal.

Erneut nahm er ihren Mund in Besitz und tauchte seine Zunge tief hinein, während er mit dem Finger immer wieder in sie eindrang. Isobel öffnete sich für ihn, gewährte ihm Zugang zu ihrem Körper. Und er verdoppelte seine Bemühungen, brachte sie dem Höhepunkt gefährlich nahe.

Etwas löste sich in ihr, und sie gab sich dem Sturm, den seine Zärtlichkeiten auslösten, rückhaltlos hin. Der Fremde spielte mit ihr, brachte ihren Körper zum Singen, ohne dabei seine Lippen von ihren zu lösen.

Bis es nicht mehr ging, sie die Spannung nicht mehr aushielt und es geschehen ließ. Sein Mund fing ihren Schrei auf, und er presste sie fest an sich, während sie sich völlig ihrer Lust hingab.

Isobel räkelte sich noch einmal unter ihrer warmen Decke und genoss die letzten Minuten zwischen Schlaf und Wachen, bevor Aiden sie endgültig aufwecken würde, weil er gefüttert werden wollte. Sie seufzte und schmiegte sich in die Kissen …

Moment. Ihr Kopfkissen war doch gar nicht so fest. Sie wollte sich umdrehen, doch etwas hinderte sie daran.

Oh, zur Hölle! Nicht etwas. Jemand.

Sie erstarrte, als die Realität langsam Gestalt annahm. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Die Gala. Der Stromausfall. Der geheimnisvolle Fremde. Und wie sie mit ihm gelacht hatte. Wie sie ihn geküsst hatte und mehr …

Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Schwaches Licht fiel durch das große Fenster am Ende des Flures. Es war Morgen, aber noch früh, vielleicht sechs Uhr. Doch es war hell genug, um zu erkennen, dass die warme Bettdecke in Wirklichkeit eine Anzugjacke war. Anstelle einer Matratze lag sie auf dem Boden, angekuschelt an einen männlichen Körper. An einen Mann, der ein weißes Smokinghemd trug.

Ihr Herz fing heftig zu pochen an, und sie drehte vorsichtig den Kopf.

Dann sah sie sein Gesicht. Den Drei-Tage-Bart, die ausgeprägten Züge. Den sinnlichen Mund, der alle Arten von Vergnügungen versprach. Vergnügungen, die sie bereits gekostet hatte. Die gerade, aristokratische Nase, die hohen Wangenknochen.

Und die Augen mit den ungewöhnlich dichten Wimpern, die noch geschlossen waren.

Isobel erstarrte.

Denn sie hatte dieses Gesicht erkannt.

Es war zwei Jahre her, dass dieser Mann sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen angesehen hatte. Bei der Beerdigung ihres Mannes. Und es hatte eine Anklage in seinem Blick gelegen, die sie nie vergessen hatte.

Darius King. Gages bester Freund.

Der Mann, der glaubte, dass sie am Tod ihres Ehemanns schuld war.

Und der sie hasste.

Der sie hasste … der sie hasste … Als dieser Gedanke ihr in seiner ganzen Tragweite bewusst wurde, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie riss sich von ihm los und sprang auf. Der Schock wurde zu Zorn und Ekel vor sich selbst.

Oh Gott, nein. Unvorstellbar, dass sie ihn geküsst hatte. Wie hatte sie zulassen können, dass er sie berührte? Und mehr noch, dass er …

Du schläfst mit ihm, oder?, drang plötzlich die hasserfüllte Stimme ihres Mannes an ihr Ohr. Du schläfst mit meinem besten Freund! Gib es zu, du Hure!

Gages Schrei hallte in ihrem Schädel wider und wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Darius war nicht der erste Mann, mit dem er sie verdächtigte, Sex gehabt zu haben. Aber noch nie hatte sie Gage so völlig außer sich gesehen wie damals, als er ihr vorgeworfen hatte, sie mit seinem Freund betrogen zu haben. Während sie verheiratet waren, hatte er sie nie geschlagen, doch in jener Nacht hatte sie Angst gehabt, er würde es tun.

Deshalb hatte sie sich danach auch immer bewusst von Darius ferngehalten. Wenn sie mit ihm im selben Raum war, vermied sie es, ihn anzuschauen. Und auch nachdem er einen Eisberg von Frau geheiratet hatte, blieb sie auf Distanz zu ihm.

Aber jetzt … jetzt hatte sie nicht nur mit ihm gesprochen und gelacht, sie hatte ihm auch Zugang zu ihrem Körper gewährt und zugelassen, dass er ihr unglaubliches Vergnügen bereitet hatte.

In diesem Moment merkte sie, dass seine Augen geöffnet waren. Dass er sie anschaute, mit Verachtung in seinem Blick. Es war die Bestätigung dafür, dass sie tatsächlich die Hure war, für die Gage sie gehalten hatte.

Demütigung, Verletzung, Wut – auf ihn und sich – schlugen über ihr zusammen. Sie griff schnell nach ihrer Clutch und den Schuhen und presste sie gegen ihre Brust.

„Isobel.“ Diese Stimme, die sich letzte Nacht wie Balsam auf ihre Seele gelegt hatte, die ihr tiefstes Begehren entfacht hatte, ließ ihr Blut jetzt zu Eis erstarren. Denn sie hatte nicht vergessen, wie oft Gage ihr unter die Nase gerieben hatte, dass sein bester Freund sie nicht ausstehen konnte.

„Ich … ich …“ Sie rang nach Luft und machte einen Schritt zurück. „Ich muss jetzt gehen. Tut mir leid!“

Eigentlich hasste sie sich dafür, dass sie sich bei ihm entschuldigte. Und dass sie so verängstigt klang. Daher drehte sie sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und eilte den Flur hinunter. Sie bemerkte nicht einmal, wie kalt sich der Marmor unter ihren Füßen anfühlte. Glücklicherweise begegnete sie keinem der Diener von letzter Nacht, und so schaffte sie es, ungesehen zu ihrem Auto zu gelangen.

Zwanzig Minuten später war sie auf der Autobahn und auf dem Weg nach Hause. Aber obwohl sie sich immer mehr von dem Herrenhaus und somit von Darius entfernte, hatte sie das unheimliche Gefühl, verfolgt zu werden.

Das Gefühl, dass sie zwar weglaufen, sich aber nicht verstecken konnte.

Doch versuchen würde sie es auf jeden Fall.

3. KAPITEL

Darius stand in der kalten Luft des Oktobermorgens vor dem verwitterten Apartmentgebäude aus Backstein.

Um halb neun trug der bewölkte Himmel nichts dazu bei, diese Nachbarschaft in South Deering freundlicher erscheinen zu lassen. Die Häuser, die aufgereiht nebeneinanderstanden, unterschieden sich zwar durch die Farben der Gardinen, aber nichts konnte die Armut verdecken, die diese Gegend kennzeichnete. Der Müll auf der Straße und dem Bürgersteig, die Graffiti überall an den Wänden – alles machte einen trostlosen, heruntergekommenen Eindruck. Und nur eine halbe Stunde entfernt von hier lebten Menschen, die geradezu obszön reich waren.

Er selbst war in diese Kreise zwar hineingeboren worden. Doch er war nicht blind gegenüber den sozialen Problemen Chicagos.

Und hier wuchs nun Gages Sohn auf, zwischen all diesem Dreck. Dieser Gedanke fraß sich wie Säure in sein Herz.

Er holte tief Luft und ging auf den Eingang eines der Häuser zu. Einem Impuls gehorchend, stieß er die Eingangstür auf, die sich tatsächlich öffnete.

„Nicht zu fassen“, sagte er entrüstet. Jeder hätte hier eindringen und die Bewohner belästigen können. Bei dem Gedanken, wie gefährdet der kleine Aiden hier war, zog sich sein Herz zusammen.

Geräuschlos betrat er den kleinen Eingangsbereich. Links von ihm befanden sich die Briefkästen, vor ihm führte eine Treppe in den ersten Stock. Es gab auch einen Aufzug, aber der wirkte nicht sehr vertrauenerweckend.

Wenn sein privater Ermittler recht hatte, wohnte Isobel im dritten Stock. Er stieg die Treppe hinauf und ging einen kleinen, schlecht beleuchteten Flur entlang. Auch wenn die Wände nicht frisch gestrichen waren, wirkte er nicht so heruntergekommen wie der untere Bereich. Anscheinend kümmerten die Bewohner sich um ihr Zuhause.

Dann stand er vor der Tür von Isobels Apartment. Davor lag eine Matte mit dem Bild eines schlafenden Hundes. Es erinnerte Darius daran, dass hier ein kleiner Junge wohnte. Ein Junge, der es verdient hatte, in einer besseren Gegend zu leben. Wo er einen richtigen Hund und einen Hof hatte, auf dem er spielen konnte.

Einen sicheren Ort.

Erneut packte Darius die Wut.

„Isobel, ich weiß, dass du da bist“, sagte er laut. „Ich kann das Licht unter der Tür sehen. Also mach schon auf!“

Es vergingen ein paar Sekunden, dann hörte er, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Die Tür öffnete sich.

Er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Die ganze Fahrt über von seinem Zuhause in Lake Forest bis hierher hatte er versucht, sich auf diese Begegnung vorzubereiten. Die Geschichte mit dem Stromausfall war jetzt eine Woche her. Und es war eine Woche her, dass er eine Panikattacke gehabt und sie ihm geholfen hatte. Eine Woche, seit er sie geküsst, seit er sie zum Orgasmus gebracht hatte. Und noch immer gellte ihr Schrei in seinen Ohren wider.

Eine Woche, seit er erkannt hatte, wer die mysteriöse Fremde in Wirklichkeit war.

Ja, er hatte versucht, sich auf diesen Moment des Wiedersehens vorzubereiten. Doch jetzt, wo er sie erblickte, mit ihrem langen dunklen Haar und dem wunderschönen Gesicht mit den großen Augen, erkannte er, dass das nicht möglich war. Denn selbst in ihrem verblichenen pinkfarbenen Tanktop und den Pyjamahosen haute sie ihn total um.

Und dafür hasste er sie. Aber sich selbst hasste er dafür noch mehr.

Denn egal, wie sehr er es versuchte, er konnte einfach nicht vergessen, wie sie an jenem Abend in seinen Armen gebrannt hatte. Wie sie explodiert war. Noch nie war er einer so leidenschaftlichen Frau begegnet. Sie hatte ihn versengt, sodass er sogar jetzt noch am ganzen Körper die Spuren ihrer Finger spürte. Jetzt verstand er auch, warum ihre Untreue seinen besten Freund so verrückt gemacht hatte.

Denn Isobel sich in ihrer Zügellosigkeit mit einem anderen Mann vorzustellen, machte sogar Darius grenzenlos wütend.

Was natürlich lächerlich war. Gage hatte zugelassen, ein Opfer dieser Frau zu werden. Ihm würde das jedoch niemals passieren.

„Was willst du?“, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Mit dir reden“, gab er kurz angebunden zurück. „Und wenn möglich, nicht im Flur.“

Sie hob das Kinn, und obwohl sie ein ganzes Stück kleiner war als er, kam sie Darius wie ein weiblicher Feldwebel vor, der gewillt war, sein Reich zu verteidigen. „Ich wüsste nicht, worüber wir zu reden hätten. Deshalb wird dieses Gespräch auf jeden Fall kurz sein. Das lässt sich sicher auch im Flur erledigen.“

„Okay.“ Er lächelte, doch bestimmt wirkte es künstlich, denn ihre Augen verengten sich. „Der Privatdetektiv, den ich engagiert habe, hat mir alles über deine Lebensumstände berichtet. Deshalb weiß ich auch, dass Mrs. Gregory, deine dreiundsiebzigjährige Nachbarin, eine schreckliche Klatschtante ist. Wahrscheinlich hat sie jetzt schon das Ohr an der Tür, um alles mitzukriegen. Wenn du also nichts dagegen hast, dass sie erfährt, wie du die Nacht des Stromausfalls erlebt hast – und mit wem –, dann lass mich lieber rein.“

Isobel wirkte ungerührt, doch sie warf einen verstohlenen Blick auf die gegenüberliegende Tür. „Gut, dann komm rein“, sagte sie und trat einen Schritt zurück. Als er den kleinen Eingangsbereich betrat, rief sie noch ein lautes: „Guten Morgen, Mrs. Gregory“, bevor sie die Tür schloss.

Darius folgte ihr ins Wohnzimmer und sah sich neugierig um. Oh Gott, wie eng es hier war! Das ganze Apartment hätte locker dreimal in seine Wohnung gepasst. Der Wohn- und Essbereich befand sich in einem Zimmer, das gegenüber einer winzigen Küche lag. Zur Linken sah er einen Flur, der wohl ins Schlafzimmer und Bad führte.

Wenigstens war es hier sauber. Die Couch und der runde Tisch davor hatten auch schon bessere Tage gesehen, doch insgesamt war das Zimmer sehr ordentlich. Ein Duft von Pinien und Limonen hing in der Luft, sowie das Aroma frisch gebrühten Kaffees. Jetzt entdeckte er auch die Spielzeuge in einer Ecke des Raumes.

Bei diesem Anblick zog sich sein Magen zusammen. Als er Aiden das letzte Mal gesehen hatte, war er erst sechs Monate alt gewesen. Das war bei Gages Beerdigung. Wie sehr mochte der Junge sich in den letzten beiden Jahren verändert haben? Ähnelte er mehr seiner Mutter, oder kam er nach seinem Vater?

Natürlich wusste Darius, dass die Familie seines Freundes die Vaterschaft anzweifelte, zumal Isobel sich auch geweigert hatte, einen Test machen zu lassen. Nie würde er ihr verzeihen, dass sie seinen Freund damals gezwungen hatte, sich zwischen ihr und seiner Familie zu entscheiden. Da er über beide Ohren in sie verliebt gewesen war, hatte er sich auf Isobels Seite geschlagen und mit seiner Vergangenheit gebrochen. Bis zum bitteren Ende.

Wie unglaublich egoistisch das von ihr gewesen war!

In diesem Moment erkannte er, dass sie ihn aus ihren großen blaugrauen Augen fragend anschaute und zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. „Willst du mir keinen Stuhl anbieten?“, fragte er.

„Da ich nicht glaube, dass du lange bleiben wirst, wohl kaum“, erwiderte sie. „Also, was willst du?“

„Das ist eher meine Frage, Isobel.“ Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, ließ er sich in dem großen Sessel gegenüber der Couch nieder. „Was willst du? Warum warst du letzte Woche auf der Gala?“

„Das geht dich nichts an.“

„Du irrst dich. Wenn du dorthin gegangen bist, um die Familie Wells um Geld anzupumpen, geht es mich sehr wohl etwas an.“ Befriedigt stellte er fest, dass ein Funke in ihren Augen aufblitzte. Ein Zeichen ihrer Schuld. Also blieb er dran. „Was ist denn passiert? Hat dich dein letztes Opfer rausgeschmissen, bevor du ihm das Mark aus den Knochen saugen konntest?“

Mit eisigen Augen sah sie ihn an und setzte sich aufs Sofa. „Mein letztes Opfer, wie du so nett sagst, war meine Tante Lila, bei der ich zuletzt gewohnt habe, nachdem sie einen Schlaganfall hatte.“ Tiefe Verachtung lag in ihrer Stimme. „Sie ist vor ein paar Monaten gestorben, deshalb bin ich nach Chicago zurückgekehrt. Und, hast du noch mehr Anschuldigungen gegen mich vorzubringen, oder willst du mir nicht endlich sagen, warum du hier bist?“

Darius biss sich auf die Lippen. „Das … das tut mir sehr leid. Trotzdem muss ich dich fragen, was du von Gages Familie wolltest. Obwohl ich es mir natürlich vorstellen kann, auch wenn du es nicht zugeben willst.“

Sie straffte die Schulten und richtete sich auf. Obwohl sie offensichtlich gerade erst aufgestanden war, hatte ihre Haltung etwas Königliches. Ja, sie war eine stolze Frau.

„Was willst du von ihnen?“, sagte er grollend, als sie nicht antwortete.

„Hilfe“, erwiderte sie und funkelte ihn wütend an. „Ich brauche ihre Hilfe. Nicht für mich, sondern für ihren Enkel, den sie zurückgewiesen haben und nicht anerkennen wollen. Ich brauche sie.“

„Du hast die Nerven, sie um Hilfe zu bitten – oder, um es genauer zu sagen, um Geld und würdest dafür sogar deinen Sohn als Vorwand benutzen? Den Enkelsohn, den du ihnen seit zwei Jahren vorenthalten hast? Also, das ist wirklich ziemlich billig, selbst für dich, Isobel.“

Plötzlich kam wieder alles in ihm hoch, sein Schmerz und die Hilflosigkeit, die er nach Gages Tod verspürt hatte. Die Wut auf die Frau, die vorgab, seinen Freund zu lieben, ihn aber stattdessen zugrunde gerichtet hatte.

Darius brauchte jetzt all seine Selbstbeherrschung. Seine Stimme klang eisig, als er sagte: „Die Antwort lautet Nein. Und es ist unglaublich anmaßend von dir zu glauben, dass du ihnen den Zugang zu dem einzigen Menschen verwehren kannst, der das Bindeglied zu ihrem verstorbenen Sohn ist. Gut, du bist zwar seine Mutter, und ich möchte diesen Begriff jetzt nicht vertiefen, aber …“

„Verschwinde!“ Ihr energischer Tonfall ließ ihn verstummen. Sie stand auf, und ein Zittern lief über ihren ganzen Körper. Dann hob sie den Arm und zeigte auf die Tür: „Hau ab und lass dich hier nie wieder blicken!“

„Aber nicht, bevor wir nicht gesprochen …“

„Du bist genau wie sie“, fuhr sie ihn wütend an, als ob sie ihm gar nicht gehört hätte. „Aus demselben Holz geschnitzt. Du weißt doch gar nicht, was für eine Mutter ich bin, denn du warst nicht da. Du nicht, Baron nicht und Helena auch nicht. Deshalb habt ihr auch nicht das Recht, über mich zu urteilen. Und um etwas klarzustellen: Nicht ich habe ihnen ihren Enkel verwehrt, sie haben ihn zurückgewiesen. Sie wollten Aiden gar nicht kennenlernen. Mehr noch, sie haben ja sogar angezweifelt, dass er ihr Enkel ist. Und jetzt wagst du es, hierherzukommen und mir vorzuwerfen, dass ich …“

„Oh nein, Isobel“, erwiderte Darius zornig und erhob sich. Wie hatte er es satt, diese Lügen aus ihrem Mund zu hören. Besonders über die Familie, die ihn aufgenommen hatte, als er mutterseelenallein gewesen war. „Ich habe mein Urteil über dich schon viel früher gefällt. Du hast dich mit deinem Verhalten als Ehefrau bereits diskreditiert.“

„Natürlich.“ Ihre Lippen verzogen sich verächtlich. „Ich war die geldgierige Hure, die Gage in die Falle der Ehe gelockt hat. Und er war das Opferlamm, das mir verfallen war, bis zu seinem letzten Atemzug.“

„Nein, sag das nicht. Ich ertrage es nicht, dass du so über ihn sprichst.“ Schließlich war Gages einziger Fehler gewesen, diese Frau zu lieben. Trotzdem hatte Darius Isobel nie eine Hure genannt. Er verabscheute dieses Wort, hatte es nicht einmal seiner Exfrau entgegengeschleudert, als er herausgefunden hatte, dass sie ihn mit einem seiner Vorstandskollegen betrog.

„Ach, nein? Nun, tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber das ist hier mein Zuhause. Du hast nicht das Recht, mir den Mund zu verbieten. So, und jetzt will ich, dass du endlich abhaust und …“

„Mommy!“ Die kindliche Stimme unterbrach ihre Tirade wie eine Bombe, und beide Erwachsene drehten sich um. Ein kleiner Junge mit schwarzen Locken und einem Pyjama bekleidet stand im Türrahmen. Er steckte sich den Daumen in den Mund und sah vom einen zum anderen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Mutter zuwandte.

Aiden.

Darius starrte ihn an, der Anblick verschlug ihm den Atem. Fassungslos sah er dabei zu, wie der Kleine durchs Zimmer stürmte und sich in die ausgebreiteten Arme seiner Mutter stürzte.

Ja, er hatte Isobels Augen, aber es gab keinen Zweifel, dass er der Sohn seines besten Freundes war. Sein Haar, die hohe Stirn, die Nase, der breite, lachende Mund … all das erinnerte ihn so sehr an Gage, dass es ihn überwältigte. Außerdem verspürte er das überwältigende Bedürfnis, den Jungen zu beschützen. Ihn so aufzuziehen, wie Gage es getan hätte.

Er löste sich aus seiner Erstarrung und ging auf die beiden zu. „Hallo“, begrüßte er Aiden und ließ sich dabei nichts von seinem aufgewühlten inneren Zustand anmerken.

Aiden grinste ihn an, und der Druck auf Darius’ Brust wurde noch stärker.

„Aiden, das ist Mr. King. Sag bitte Hallo, ja?“

„Hi, Mr. King“, kam der Junge dem Wunsch seiner Mutter nach, auch wenn es mehr klang wie Hi, Mih Key.

„Hi Aiden“, erwiderte Darius mit einem Lächeln. Er streckte die Hand aus und strich dem Jungen sanft über die Wange.

Dann hob er den Kopf und sah Isobel an. Ihr Blick war auf ihn gerichtet, dann schüttelte sie unmerklich den Kopf.

Was wollte sie ihm damit sagen? Wie geheimnisvoll sie doch war! Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein.

Erneut musste Darius an seine Exfrau denken, die es ebenfalls geschafft hatte, ihm eine völlig andere Person vorzuspielen. Erst am Ende ihrer Beziehung, als beiden klar geworden war, dass ihre Ehe in Scherben lag, hatte er ihr wahres Ich erkannt.

„Will Milch“, sagte der Junge, als Isobel ihn herunterließ. „Und Nana.“

Sie strich ihm die Locken aus dem Gesicht und nickte. „Du willst Cornflakes mit Milch und Bananen, ja? Okay, aber kannst du solange in dein Zimmer gehen und spielen, bis ich es dir bringe?“

Aiden nickte. „Geh spielen.“

Sie ergriff seine Hand und führte ihn den Flur entlang, wobei sie die ganze Zeit auf ihn einredete, bis Darius sie nicht mehr sehen konnte. Wenig später kehrte sie zurück. Der sanfte Ausdruck auf ihren Zügen, mit dem sie ihren Sohn betrachtet hatte, war verschwunden.

„Wie du siehst, habe ich hier zu tun“, sagte sie und zeigte auf die Tür. „Daher möchte ich, dass du …“

Aber Darius rührte sich nicht.

„Also ehrlich, das ist doch lächerlich“, fuhr Isobel ihn an.

„Er ist Gages Sohn“, sagte er fassungslos.

Zorn flammte in ihren Augen auf, dann verengten sie sich. „Ach, bist du da sicher? Du hast ihn doch nur ganz kurz gesehen. Und wie du ja weißt, hatte ich viele Männer. Jeder von ihnen könnte der Vater sein.“

„Spiel hier nicht das Opfer, das passt nicht zu dir“, fuhr er sie an. „Und ich werde erst gehen, wenn wir miteinander gesprochen haben.“

„Ich wiederhole es noch einmal: Wir haben nichts zu besprechen.“

„Oh doch. Wir werden heiraten!“

Sie erstarrte und sah ihn schockiert an.

Fast bereute er es, sie mit seiner Ankündigung so überfallen zu haben. Aber nur fast.

Er hatte eine ganze Woche lang über die Idee nachgedacht. Ja, es war ziemlich verrückt, und als ihm der Gedanke zuerst gekommen war, hatte er ihn natürlich verworfen. Doch er hatte ihn nicht mehr losgelassen, und am Ende hatten die Gründe, es zu tun, überwogen. Trotz der Tatsache, dass er ja bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich und damals denselben Fehler wie sein bester Freund gemacht hatte.

Aber dieser … Vorschlag war etwas ganz anderes. Auch wenn er sich dadurch mit einer zweiten manipulativen Frau zusammentun würde, war er bereit, dieses Opfer zu bringen.

Und falls er noch irgendwelche Zweifel an seinem Vorhaben gehabt hatte, waren sie in dem Moment verschwunden, als er Aiden erblickt hatte.

„Du muss verrückt geworden sein“, sagte Isobel fassungslos.

Er lächelte zynisch. „Nein, ich bin nur realistisch.“ Er steckte die Hände in die Taschen, neigte den Kopf zur Seite und studierte ihre Züge, die ihn gegen seinen Willen immer wieder in den Bann zogen.

„Ob du es glaubst oder nicht, ich beurteile dich nicht nach der Gegend, in der du lebst. Dennoch ist dies hier nicht die sicherste Ecke von Chicago. Die Tür deines Apartments lässt sich ohne Weiteres öffnen, jeder könnte ganz einfach hereinspazieren. Außerdem gibt es im ganzen Gebäude keine Alarmanlage. Was machst du, wenn dir jemand bis hierher folgt und in deine Wohnung einbricht? Du hättest niemanden, der dich oder Aiden beschützen würde.“

„Gut, dann werde ich eben eine Alarmanlage einbauen und mit dem Vermieter über die Schlösser sprechen. Das sind doch ganz einfache Veränderungen. Ganz bestimmt muss ich deshalb keinen Mann heiraten, den ich kaum kenne und der mich verachtet.“

„Wenn es so einfache Veränderungen sind, warum hast du sie dann nicht längst in die Wege geleitet?“, gab er zurück und sah zu seiner Befriedigung, dass etwas in ihren Augen aufblitzte. „Ach, du hast deinen Vermieter also schon kontaktiert“, meinte er, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Und er hat überhaupt nichts unternommen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. „Das ist dein verdammter Stolz, Isobel. Nur seinetwegen versäumst du es, deinen Sohn zu beschützen.“

Sie blieb stumm und holte tief Luft. „So, jetzt hör mir mal gut zu, Darius. Stolz ist ein Gut, das ich mir lange nicht leisten konnte. Aber in den letzten zwei Jahren habe ich ihn mir zurückgeholt, und jetzt können weder du noch die Wells ihn haben. Ich habe keine Angst, um Hilfe zu bitten. Deshalb bin ich bei der Gala aufgetaucht, und deshalb wollte ich mit Baron und Helena sprechen. Um meines Sohnes willen. Aber du bist nicht gekommen, um mir Hilfe anzubieten. Du willst, dass ich meine Seele wieder dem Teufel verkaufe – einem Teufel mit einem anderen Gesicht und einem anderen Namen. Tut mir leid, aber das kommt nicht infrage.“

„Deine Seele dem Teufel verkaufen?“, wiederholte Darius. „Wohl kaum, Isobel. Das ist nicht das, was passiert ist. In meinen Augen ist es einer armen Studentin gelungen, sich einen reichen Erben zu angeln. Dann hat sie ihn mit ihrer Schwangerschaft in die Falle der Ehe gelockt und ihn auch noch seiner Familie entfremdet. Das ist doch die Wahrheit, gib es endlich zu!“

„Du bist genau wie er“, flüsterte sie.

Darius zuckte zusammen, dann fluchte er laut. „Du hast zwei Möglichkeiten“, erklärte er kalt. „Entweder du bist einverstanden, mich zu heiraten, und dann ziehen wir Aiden gemeinsam auf. Oder du bist nicht einverstanden, doch dann werde ich all mein Geld und meinen ganzen Einfluss nutzen, um Baron und Helena das alleinige Sorgerecht zu verschaffen.“

Isobel rang nach Luft und begann zu schwanken. Er wollte ihr zu Hilfe kommen, doch sie hatte sich wieder gefangen und wies ihn zurück. „Du“, sagte sie mit flammenden Augen, „das würdest du nicht wagen.“

„Oh doch“, versicherte er. „Und ich werde es auch tun.“

„Aber warum nur?“, fragte sie fassungslos. „Ich meine … die beiden glauben doch nicht einmal, dass Aiden das Kind von Gage ist. Sie wollten nie etwas mit ihm zu tun haben. Warum würden sie dann jetzt das Sorgerecht beantragen wollen?“

„Weil er ihr Enkel ist“, erwiderte Darius schlicht. „Davon werde ich sie schon überzeugen. Und das Kind hat es verdient, sie kennenzulernen. Aiden ist alles, was den beiden noch von Gage geblieben ist. Ich werde nicht zulassen, dass du ihnen diese Möglichkeit verwehrst.“

Grimmig dachte er daran, dass Baron kurz nach Gages Tod einen Herzinfarkt erlitten hatte. Vielleicht wären sie ja ein bisschen leichter über den Verlust ihres Sohnes hinweggekommen, wenn Isobel nicht so egoistisch gehandelt hätte und weggezogen wäre.

Von einer Sache war er jedoch felsenfest überzeugt: Baron und Helena mussten nur einen Blick auf den Jungen werfen, um zu erkennen, dass er ihr Enkel war.

„Ich werde nicht zulassen, dass du Aiden für deine Ziele missbrauchst“, erklärte sie aufgebracht. „Oder noch schlimmer, ihn als Ersatz für Gage nutzt. Das kommt überhaupt nicht infrage.“

„Ich könnte ihm nur wünschen, dass er ein Mann wie sein Vater wird“, gab Darius zurück. „Und dass seine Familie ihn mit offenen Armen aufnimmt, so wie sie mich aufgenommen haben, als ich ganz allein war.“

Doch Isobel schluckte diesen Köder nicht. „Ich bin seine Mutter“, sagte sie nur.

„Und sie sind seine Großeltern“, gab er zurück. „Sie können ihm ein sicheres und liebevolles Zuhause bieten, in dem er wachsen und gedeihen kann. Es wird ihm nie an etwas mangeln, er wird auf die besten Schulen gehen können. Und er wird eine richtige Familie haben – dich, mich, seine Großeltern und seine Tante. Wenn du mich heiratest, wird er alles haben, was er sich nur wünschen kann.“

Und die Familie Wells würde keinen langen Sorgerechtsstreit vor Gericht führen müssen, die Baron wahrscheinlich weiter in den gesundheitlichen Ruin führen würde. Obwohl er sich von seinem Herzinfarkt inzwischen erholt hatte, wollte Darius unbedingt vermeiden, dass Baron weiterem Stress ausgesetzt war.

Außerdem würde Darius sich als Vorstandsvorsitzender von King Industries Unlimited, dem Konzern, den er von seinem Vater übernommen hatte, nicht nur um Aiden, sondern auch um Isobel kümmern können. Es würde ihr an nichts mangeln, jedenfalls in finanzieller Hinsicht. Ihm war es lieber, sie nahm ihn aus, als die Familie Wells. Denn sie hatten ihn damals beschützt, und er würde jetzt liebend gern dasselbe für sie tun.

„Nein!“ Isobel starrte ihn an, die Hände zu Fäusten geballt. Sie standen sich gegenüber wie zwei Generäle vor der Schlacht, und Darius bewunderte sie insgeheim für ihre Entschlossenheit. Doch er bezweifelte nicht, dass sie sich ergeben würde.

„Es ist mir egal, wie du es schönredest, aber Erpressung bleibt Erpressung“, sagte sie mit stahlharter Stimme. „Ich werde ganz sicher nicht nachgeben. Und jetzt, zum letzten Mal, verlasse mein Haus!“

Darius griff in die Tasche seines Jacketts und zog eine Visitenkarte hervor. Damit ging er zur Anrichte und legte sie darauf ab.

„Denk lieber genau nach, bevor du eine Entscheidung triffst, die du später bereuen wirst. Du weißt jetzt, wo du mich erreichen kannst.“

Autor

Deborah Fletcher Mello
Deborah Fletcher Mello schreibt, seit sie denken kann, und sie kann sich nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt sie 2009 den RT Reviewers’ Choice Award. Immer wieder erfindet sie originelle Geschichten und beeindruckende Heldinnen und Helden. Deborah ist in Connecticut geboren und aufgewachsen, fühlt...
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Lauren Canan
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Naima Simone
Bestsellerautorin Naima Simone entdeckte ihre Liebe zu romantischen Geschichten beim Schmökern von Harlequin-Büchern, die sie ihrer Großmutter stibitzte. Inzwischen verbringt sie ihre Tage mit dem Schreiben humorvoller Liebesromane. Im wirklichen Leben ist sie mit ihrem persönlichen Superhelden verheiratet und Mutter zweier Kinder. Die Familie lebt – trotz aller Herausforderungen des...
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