Baccara Collection Band 467

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GEFÄHRLICH ERREGENDE VERSUCHUNG von CYNTHIA ST. AUBIN

Eine Ausstellung in L. A.? Nichts für den öffentlichkeitsscheuen Künstler Bastien Renaud! Aber Galeristin Shelby lässt nicht locker. Als sie ihn in seiner Berghütte überrascht, verfällt er ungewollt ihren sinnlichen Reizen. Schnell steht mehr als seine Ruhe auf dem Spiel …


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  • Erscheinungstag 27.01.2024
  • Bandnummer 467
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517775
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cynthia St. Aubin, Yahrah St. John, Stacey Kennedy

BACCARA COLLECTION BAND 467

1. KAPITEL

Warum sie?

Sebastien Renaud – Bastien, für die wenigen Menschen, die bei seinem Anblick nicht die Straßenseite wechselten – wusste, dass dies eine sinnlose Frage war, doch er stellte sie sich dennoch.

Die Flasche alkoholfreies Bier in seiner Hand fühlte sich feuchtkalt an und zum ersten Mal seit zehn Jahren verspürte er das altvertraute schmerzliche Bedürfnis danach, sich zu betäuben. Der Realität zu entkommen.

Die Frau, die zwei Barhocker von ihm entfernt an der Theke saß, starrte auf ihr Handy und tat vertieft, während sie darauf wartete, dass er sie bemerkte.

Dabei hatte er sie schon den ganzen Tag bemerkt.

Zuerst in ihrem Mietwagen auf dem Parkplatz vor dem Kaffeestand, der den einzig anständigen Kaffee Americano in ganz Bar Harbor, Maine, verkaufte. Dann im Got Wood, seinem Laden auf der Haupteinkaufsstraße der Stadt, der handgeschnitzte Schüsseln und anderen Nippes für Touristen im Sortiment hatte.

Und nun saß sie hier in seiner Bar.

Die Bar gehörte ihm nicht wirklich, doch für gewöhnlich hatte er das Lokal während der strengen Winter unter der Woche und um zwei Uhr mittags für sich allein.

Und genau so war ihm das sehr recht.

„Noch eins?“ Sergei, ein stämmiger Kerl mit schwarzem Vollbart, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und lehnte sich gegen die glänzende Holztheke, die Bastien mit ihm am Anfang des Jahres angefertigt hatte, bevor die „Sommerleute“ in der Stadt eingefallen waren.

Bastien schätzte an der Bar die seltene Kombination aus eisgekühlten Getränken und minimaler Konversation. Und doch hatte der Besitzer ihr seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, seit sie durch die Tür getreten war.

In all den Jahren, die er nun schon in der Stadt lebte, hatte Bastien noch nie jemanden getroffen, der so sehr wie eine Touristin aussah.

Sie trug eine pinkfarbene Strickmütze mit der Aufschrift Arcadia National Park. Dazu brandneue Hiking-Stiefel mit einem dekorativen Muster und einen schneeweißen Rollkragenpulli aus Kaschmir unter einer heidegrauen Fleece-Weste. Ihre Leggings, die ihre wohlgeformten Schenkel und ihren kurvigen Arsch sehr gut zur Geltung brachten, konnten nichts gegen das Wetter außerhalb der Boutique ausrichten, in der sie sie gekauft hatte.

Die Frau räusperte sich, stützte das Kinn auf der Faust auf und schaute Sergei unter klimpernden Wimpern an. „Sie haben nicht zufällig einen 4 Thieves Whiskey, oder?“

Bastien brachte es etwas aus der Fassung, den Namen der Destillerie seiner Brüder aus ihrem Mund zu hören. Er kannte ihre Stimme bis dahin nur aus Sprachnachrichten, in denen der liebliche Klang nicht so zur Geltung gekommen war.

„Na klar“, säuselte Sergei regelrecht. „Wie hätten Sie ihn denn gerne?“

„Pur. Ich habe gehört, 4 Thieves trinkt man am besten bei Zimmertemperatur.“

Das war sein Stichwort.

Oder zumindest schien sie das zu hoffen.

Denn Bastien war einer der 4 Thieves, wie sie sehr wohl wusste.

Wie die ganze verdammte Welt wusste, nachdem Bad Boys of Booze sich zu solch einer Streaming-Sensation entwickelt hatte.

Obwohl Bastien nur in ein paar Folgen aufgetaucht war – und das auch nur sehr unwillig –, hatten sich danach immer wieder Produzenten, Regisseure, sensationsgierige Klatschreporter und andere Blutsauger aus der Medienbranche in sein ruhiges Leben gedrängt.

Und zu guter Letzt sie.

Shelby Llewellyn. Mitbesitzerin einer Kunstgalerie im Mission District von San Francisco und Tochter von Multi-Milliardär Gerald Llewellyn, einem Silicon Valley Tech Magnaten. Neben Oldtimern, Jets und Lamborghini-Jachten besaß Llewellyn eine umfangreiche Kunstsammlung – inklusive der Künstler.

Weshalb, so vermutete Bastien, seine Tochter ihn seit einem Jahr jeden Donnerstag um Punkt 11:00 morgens anrief. Der Wortlaut war immer der gleiche, wenn auch der Tonfall von fröhlich bis schroff rangierte.

Mein Vater hat Ihre Skulpturen in BBoB gesehen. Er ist ein riesiger Fan Ihrer Arbeit. Haben Sie vielleicht Interesse an einer Ausstellung in unserer Galerie? Rufen Sie mich doch bitte an, sobald es Ihnen passt.

Was niemals der Fall gewesen war.

Als Bastien nun spürte, wie sie ihn von der Seite anstarrte, ließ er das inzwischen lauwarme Bier in seiner Flasche kreisen und wartete auf den unvermeidlichen Spruch.

„Es tut mir leid“, begann sie, „ich weiß, das klingt vermutlich sehr seltsam, aber sind Sie nicht …“

„Es sehr leid, mir Fragen anzuhören, auf die die Leute die Antwort längst kennen, Miss Llewellyn.“

Sie richtete sich auf und drehte sich auf ihrem Hocker in seine Richtung.

Als ihre Blicke sich trafen, war Bastien dankbar, dass er bei den Arbeiten an der Theke geholfen hatte, die Hocker am Boden festzuschrauben.

Shelby Llewellyn war ein Engel.

Nicht eines dieser überirdischen Wesen auf Weihnachtsmotiven, sondern ein sehr irdischer Engel.

Lippen wie Rosenknospen, große, rehbraune Augen und goldene Locken, die ihr Gesicht umrahmten wie ein Heiligenschein. Das komplette Gegenteil der kühl-unnahbaren Frau auf dem Foto der Galerie-Webseite.

„Können wir das hier schnell hinter uns bringen?“, fragte er. „Oder muss ich Sheriff Dawkins bitten, Sie wegen Stalkings zu verhaften?“

„Sheriff Dawkins würde dich nicht auspissen, wenn du in Flammen stündest“, mischte sich Sergei ein und stellte ein großzügig gefülltes Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit vor Shelby hin. „Und er würde auch nicht glauben, dass dir eine so hübsche Lady freiwillig nachläuft.“

Bastien umklammerte seine Flasche. „Ich kann mich nicht erinnern, dich in die Unterhaltung eingeladen zu haben.“

Der Barmann hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück.

Weise Entscheidung.

„Es hat vermutlich keinen Sinn so zu tun, als wäre das hier ein zufälliges Treffen.“ Shelby nahm einen Schluck und begann zu husten. Ihre Wangen färbten sich rot, sie klopfte sich auf die Brust und griff nach ihrem Wasserglas.

„Oder so zu tun, als würden Sie Whiskey mögen“, fügte Bastien hinzu.

„Doch, tue ich“, widersprach sie mit kratziger Stimme. „Ich trinke ihn normalerweise nicht pur, wollte mir aber gegenüber einem Whiskeykenner keinen Fauxpas erlauben.“ Sie hielt ihm ihr Glas hin.

Bastien schüttelte den Kopf. „Ich rühr das Zeug nicht an.“

„Und was sagen Ihre Brüder dazu?“, fragte sie überrascht.

Er musste an seine drei Brüder und die Spitznamen denken, die sie sich gegeben hatten, während sie auf Schrottplätzen Dinge zusammenklauten, die ihr Vater Charles „Zap“ Renaud verkaufte oder für den Bau seiner illegalen Schnapsbrennerei benötigte.

Der jüngste war Laurent alias Law, dann kamen Rainier alias Remy und Augustin, auch bekannt als der Mund, und schließlich Bastien als der älteste.

„Meine Brüder haben sicherlich Wichtigeres im Kopf“, beantwortete er ihre Frage und verspürte einen unerwarteten Anflug von Stolz angesichts der Entwicklung von Law und Remy.

An Augustin wollte er lieber nicht denken.

„Ich habe gerade gesehen, dass eine weitere Staffel geplant ist.“ Sergei hatte etwas Eis und Sour Mix in Shelbys Whiskey gegeben, damit sie ihn leichter trinken konnte. „Das ist sicherlich gut fürs Geschäft.“

Bastien wandte mit einiger Anstrengung den Blick ab, als sie die riesige Maraschino-Kirsche aus ihrem Glas in den Mund steckte und den Stil abbiss.

„Wollen Sie nicht zur Sache kommen und mir sagen, was Sie von mir wollen?“

Sie stellte ihren Drink ab und rutschte einen Barhocker näher. Dabei stieg ihm ihr köstlicher Duft nach Vanille und Lavendel in die Nase.

„Ich möchte eine Ausstellung mit Ihren Werken in der Llewellyn Gallery in San Francisco machen.“

Er drehte sich ihr zu. „Sie sind den ganzen Weg hierhergekommen, um mir genau das Gleiche zu sagen wie in Ihren Sprachnachrichten?“

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn unter halb geschlossenen Lidern. „Haben Sie sich etwa meine Nachrichten tatsächlich angehört?“

„Ein paar“, log er.

Die meisten von ihnen sogar mehrmals.

„Aber Sie haben trotzdem entschieden, sie zu ignorieren?“

„Nicht zu antworten ist etwas anderes, als sie zu ignorieren.“ Er drehte sich wieder nach vorne und zeigte ihr sein Profil.

Prompt setzte sich Shelby direkt neben ihn. „Bekomme ich jetzt eine Antwort?“

Bastiens Hirn begann zu ticken wie eine Bombe und seine Sinne waren so voll von ihr, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. „Nein.“

„Nein, ich bekomme keine Antwort, oder nein zur Ausstellung?“ Genau als ihre Stimme eine verführerische Oktave nach unten rutschte, stieß ihr Knie gegen seinen Oberschenkel. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Luftballon, der hoch über seinen Schultern schwebte. Ein sicheres Zeichen, dass sein Blut gerade in die Gegend unterhalb seines Gürtels geschossen war.

Er musste sofort raus aus der Bar.

„Suchen Sie sich etwas aus.“ Bastien stand auf und warf zwei Zwanziger auf den Tresen. „Das ist für ihre Drinks und meine“, sagte er an Sergeis breiten Rücken gewandt.

Als Bastien auf den beinah menschenleeren Bürgersteig trat, traf ihn ein eisiger Wind ins Gesicht. Er atmete tief durch und fühlte sich beinah geläutert, als er seine weißen Atemwolken sah.

„Mr. Renaud!“

Bastien drehte sich um und sah, wie Shelby ihm, den Anorak über den Arm gelegt, hinterherlief. Als sie auf eine Stelle mit hart gefrorenem Schnee trat, begann sie beinah wie in Slow Motion mit den Armen zu rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Als ihr die Beine wegrutschen, stürzte Bastien ohne nachzudenken nach vorne und packte sie an den Oberarmen. Beinah hätte auch er den Halt verloren und einen Moment lang tänzelten sie beide hektisch auf der Stelle, bis Bastien sie fluchend an sich riss.

Er spürte Shelbys Atem an seinem, während sie sich mit weit aufgerissenen Augen panisch an seiner Jacke festkrallte. Dabei pressten sich ihre Brüste an seine Rippen und ihre warmen Schenkel näherten sich gefährlich nah seinem Körperteil, das an Volumen zunahm, je länger ihr Mund nur einen Kuss von seinem entfernt war.

Und er wollte sie küssen.

Er wollte spüren, wie die Schneeflocken auf ihren Lippen schmolzen, und die seidige Süße ihrer Zunge schmecken. Wollte den schreienden Hunger stillen, der durch die selbst gewählte Isolation in ihm entstanden war.

Die Isolation, durch die er die Menschen schützen konnte, die er liebte.

Dieser Gedanke brachte die dringend notwendige Ernüchterung.

„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, mit diesen Stiefeln über einen vereisten Bürgersteig zu laufen?“

Bastien trat zwei Schritte zurück und hob ihren Anorak vom Boden hoch. „Und würden Sie den bitte anziehen?“

Er hielt ihr die Jacke hin, dankbar, dass seine Hände beschäftigt waren und nicht die seidige, weiche Locke berühren konnten, die sich von der blassen Haut ihres Halses abhob.

Shelby ließ sich von ihm in die Jacke helfen. „Werden Sie denn wenigstens darüber nachdenken?“

Bastien fädelte den Reißverschluss ein und zog ihn über die Rundung ihrer Brüste nach oben. „Wieso glauben Sie, dass ich das nicht habe?“

Der Schnee fiel immer dichter und die Flocken fingen sich in ihren Wimpern.

„Wenn Sie darüber nachgedacht haben, dann sind Sie wenigstens ein bisschen interessiert.“

Oh ja. Und je länger er vor ihr stand und auf die einzelne Sommersprosse neben ihren Lippen starrte, desto größer wurde sein Interesse.

„Wo zum Teufel ist Ihr Schal?“, herrschte er sie an.

„Ich habe keinen dabei.“

Bastien zerrte seinen unter dem Kragen seiner Jacke hervor, schlang ihn um ihren Hals und stopfte die Enden in ihre Jacke. Dabei streiften seine Knöchel ihr Schlüsselbein und seine Hand glühte immer noch, als er sie längst zurück in seine Jackentasche gesteckt hatte.

Der Ausdruck ihrer Augen wurde ganz weich, als sie die dunkelblaue Wolle berührte. „Den können Sie mir doch nicht überlassen. Der sieht selbst gestrickt aus.“

„Ist er. Und mach ich auch nicht.“ Er drehte sich um und ging auf seinen Truck zu. „Sie können ihn mir mit der Post schicken, wenn Sie wieder zu Hause sind.“

„Brauche ich dazu nicht Ihre Adresse?“, rief sie ihm nach.

Bastien musste trotz seiner Verärgerung lächeln. Sie war wirklich sehr einfallsreich.

„Schicken Sie ihn in den Laden“, erwiderte er und zeigte auf die Front von Got Wood. „Laney sorgt dafür, dass ich ihn bekomme.“

Die vereisten Scharniere seines Trucks protestierten mit einem Quietschen, als er die Tür öffnete. Er kletterte in die Fahrerkabine und ließ den Motor an. Dann nahm er sich viel Zeit, die Scheibenheizung einzustellen, bis Shelby sicher im Laden angekommen war. Erst dann legte er den Gang ein und machte sich auf den Weg nach Hause.

Die Strecke, für die er normalerweise nur eine halbe Stunde brauchte, kostete ihn beinah eine Stunde, als der Sturm losbrach. Und obwohl er erleichtert war, als er die Zufahrtstraße zu seinem Grundstück erreichte, befiel ihn eine ungute Vorahnung.

Die wurde stärker, als er in seine Garage fuhr, das Haus betrat und sein übliches Ritual absolvierte. Das Gefühl ließ sich auch nicht abstreifen, während er seine Stiefel auszog, seine Schlüssel auf den Haken neben der Tür hängte, das Feuer in dem antiken schmiedeeisernen Ofen anzündete und den Holzstapel daneben aufstockte. Auch nicht, als er seinen Plattenspieler anmachte und sich einen Espresso zubereitete.

Danach ließ er sich zum Lesen in seinem Sessel nieder, doch keine fünf Minuten später stand er schon wieder auf und begann, unruhig im Haus auf und ab zu laufen.

Das hatte er seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis nicht mehr getan. Nun fühlte es sich genauso an wie damals. So als sei seine Haut plötzlich zwei Nummern zu klein für seinen Körper.

Bastien schnappte sich sein Handy und starrte auf den Bildschirm, auf dem keine einzige Nachricht zu sehen war.

Wenn er zumindest wüsste, dass sie sicher in ihrem Hotel angekommen war, könnte er sich entspannen. Was leicht herauszufinden war, falls sie irgendwo in Bar Harbor abgestiegen war.

Ganz besonders mitten im Winter.

Zum Glück wusste er genau, wo er anfangen konnte.

„Heute ist ein guter Tag, um Holz zu kaufen. Hier spricht Laney.“ Bei diesem Satz hatte er sofort seine quirlige Ladenmanagerin vor Augen, die ihm inzwischen die meisten Pflichten im Laden abnahm, da es ihn immer seltener in die Stadt und unter Leute zog.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich so nicht am Telefon melden?“

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein gequältes Seufzen. „Ich kann deinen Namen auf dem Display sehen, Batman.“

Bastien kniff sich in den Nasenrücken. „Zum tausendsten Mal: Könntest du bitte aufhören, mich so zu nennen?“

„Nein“, zwitscherte sie. „Was kann ich denn sonst für dich tun?“

„Ist nach mir noch jemand in den Laden gekommen?“, fragte er bemüht beiläufig.

„Wenn du die Blondine meinst, die wie ein Katalog-Model aussieht und heute Morgen schon einmal da war, dann ja. Ist sie.“

„Habt ihr miteinander geredet?“

„Ich rede mit jedem, der in den Laden kommt. Mein Umgang mit den Kunden ist ausgezeichnet, was du wüsstest, wenn du mehr Zeit hier verbringen würdest.“

„Hat sie zufällig erwähnt, wo in der Stadt sie untergebracht ist?“, überging er ihre Spitze.

„Im Skylark Inn.“

Bastiens Schultern entspannten sich. Warm, gemütlich und unter der Leitung der mütterlichsten Frau in ganz Bar Harbor, lag das Skylark in der Nähe seines Ladens und war sogar bei diesem Wetter leicht zu Fuß zu erreichen.

„Sonst noch etwas?“, wollte er wissen.

„Sie hat die riesige Salatschüssel gekauft, die ich schon seit ewigen Zeiten loswerden wollte, und nach dem Weg zu deinem Haus gefragt.“

„Aha.“ Bastien kehrte zu seinem Sessel zurück, um endlich seinen Espresso zu trinken.

„Das hat sie wirklich.“

Mit wachsendem Horror begriff er, dass Laney es ernst meinte. „Du hast doch wohl hoffentlich nein gesagt.“

„Ich habe es wirklich versucht, aber sie hat darauf bestanden, dass man sie sehr gut als Übertopf benutzen kann, wenn man ein paar Löcher in den Boden bohrt.“

„Ich spreche von der Wegbeschreibung.“

„Für wie doof hältst du mich, Batman“, erwiderte sie zu seiner Erleichterung. „Aber sie hat schon interessiert beobachtet, in welche Richtung du losgefahren bist.“

„Scheiße.“ Die dunkle Flüssigkeit schwappte über den Rand der kleinen Tasse, als er sie auf dem Bücherregal absetzte. „Und dann?“

„Sie wirkte sehr entschlossen, dich aufzuspüren. Also setz lieber schon mal den Tee auf.“

Bastien beendete hastig das Gespräch, zog sich wieder Schuhe und Jacke an und stieg in seinen Truck.

Er setzte etwas zu schnell für die Wetterbedingungen aus der Einfahrt und streifte seinen Zaun. Dann wendete er scharf und fuhr auf den schmalen Zufahrtsweg.

Er hatte Shelby ganz genau eine Stunde und elf Minuten zuvor auf dem Bürgersteig stehen gelassen. Je nachdem, in welche Richtung sie gefahren war, befand sie sich vielleicht schon ganz in der Nähe. Doch der kleine SUV, den ihr ein Idiot am Flughafen von Bangor vermietet hatte, besaß garantiert keinen Vierradantrieb und sie steckte ganz sicher in Schwierigkeiten.

An der Kreuzung zur Landstraße schaute Bastien nach links und trat aufs Gas, doch etwas in seinem äußeren Sichtfeld ließ ihn abrupt bremsen.

Es war nur ein grauer Schatten, der kurz aufblitzte und dann wieder im Schneegestöber verschwand.

Erst als er das Fenster auf der Beifahrerseite herunterrollte und sich hinüberbeugte, erkannte er, dass er Shelby Llewellyn nur haarscharf verpasst hatte.

2. KAPITEL

Angestrengt starrte Shelby Llewellyn auf die weiße Schneewand, während winzige Eiskristalle ihre Augen und Wangen malträtierten.

Irgendwo hinter ihr stand ihr SUV, der mit dem Hinterreifen tief im Schnee neben der Fahrbahn steckte, die immer mehr unter den Schneemassen verschwand.

Dabei hatte sie alles richtig gemacht und genau die Ratschläge ihres Vaters befolgt, die er ihr für diese Witterungsbedingungen mitgegeben hatte.

Und doch war sie ins Schleudern geraten und im Graben gelandet.

Seinen Instruktionen folgend war sie auch erst ruhig im Wagen sitzen geblieben.

Bis ihr Handy – mit dem sie so lange die Karte studiert hatte, bis auch die letzten vier Prozent des Akkus aufgebraucht waren – keinen Pieps mehr von sich gab.

Doch vorher hatte Shelby noch auf dem Display gesehen, dass Bastien Renauds circa acht Hektar großes Grundstück sich ganz in der Nähe befand.

Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sein Haus so weit von der Straße entfernt lag. Die Managerin von Got Wood hatte zwar bei ihrer Plauderei fast die genaue Lage des Anwesens preisgegeben, doch Shelby hegte den Verdacht, dass Laney selbst noch nie einen Fuß in sein Haus gesetzt hatte.

Hätte Shelby die Distanz geahnt, hätte sie sich niemals zu Fuß auf den Weg gemacht. Sie vergrub das Gesicht in dem geborgten Schal und atmete den berauschenden Duft von Bastien Renaud ein.

Nachdem sie zwei Minuten lang durch den Schnee gestapft war, breitete sich langsam ein taubes Gefühl in ihrem Körper aus. Mit jeder Minute sank ihre Laune.

Nach ungefähr zwanzig Minuten tauchte plötzlich ein großer, dunkler Umriss vor ihr auf, der Laute ausstieß, die Shelby schließlich als Worte identifizierte.

Als sie den Kopf hob, erkannte sie die Unterseite eines Kinns, eine Nase und einen Mund, der neben Atemwolken die unflätigsten Worte ausstieß, die sie je gehört hatte.

Dann wurde sie hochgehoben und befand sich in einer anderen Welt, die warm und hell war und nach frisch gewaschener Wäsche roch.

Schließlich hörte sie einen lauten Knall, gefolgt von einem dumpfen Keuchen.

Als Studentin der Kunstgeschichte war sie überzeugt, dass man Sebastien Renaud nicht zweidimensional betrachten konnte. Man musste ihn erleben. Die riesige Gestalt. Den durchdringenden Blick. Die schiere Kraft. All das war ihr bereits bei ihrer Begegnung auf dem Bürgersteig vor der Bar aufgefallen. Es war ihr immer noch hochnotpeinlich, wie mühelos er sie aufgefangen, in ihre Jacke gesteckt und in seinen Schal gewickelt hatte. Um ihr dann in die Augen zu schauen mit dieser umwerfenden Mischung aus zornigem Beschützerinstinkt und glühendem ...

„Was zur Hölle haben Sie sich dabei gedacht?“

Ja, genau so.

Nun musste sie sich schnell etwas einfallen lassen.

„Mir g-g-geht es gut“, stotterte sie schließlich und konnte das Zittern am ganzen Körper nicht unterdrücken.

„Sie sind vollkommen verrückt.“ Er klang plötzlich sehr laut und sehr wütend. „Sie hätten da draußen sterben können.“

Sie versuchte ihn mit einem Lächeln zu entwaffnen. „G-g-g-glauben Sie mir jetzt, dass ich Sie wirklich gerne ausstellen will?“

Bastien schnaubte verächtlich. Er war so nah, dass sie die kleinen geschmolzenen Schneeflocken in seinem Haar erkennen konnte. Nah genug, um Kaffee und Zimt an seinem Atem zu schmecken, der sie an Lebkuchen-Kekse erinnerte. Womöglich war sogar Magie am Werk.

„Warum sind Sie nicht in Ihrem Hotel?“

Als der Schock durch die Kälte langsam nachließ, nahm sie immer mehr Einzelheiten ihrer Umgebung wahr. Das Ticken seiner Warnblinkanlage. Das dumpfe Tosen des Windes. Schneeflocken, die wie Pailletten über die Windschutzscheibe trieben.

„Das war mein Plan, bis Sie mich einfach auf der Straße stehen ließen. Ab da ging es mir um die Ehre.“

Nachdem er den Gang eingelegt hatte, schloss er noch ihren Sicherheitsgurt, bevor er wendete und wieder in die Zufahrtsstraße zu seinem Haus einbog.

„Ich h-h-hatte durch das Schaufenster gesehen, in welche Richtung Sie losgefahren sind, und bin Ihnen einfach auf gut Glück gefolgt“, sagte sie mit klappernden Zähnen. Sie erwähnte lieber nichts von ihrem Gespräch mit Laney, damit die keinen Ärger bekam. „Doch dann bin ich ins Rutschen geraten und stecken geblieben.“

„Sie scheinen keine sehr geübte Fahrerin zu sein.“

„Ich bin eine sehr gute Fahrerin. Und ich wäre schon vor zwanzig Minuten bei Ihnen gewesen, wenn ich nicht ins Rutschen geraten wäre. Also tun Sie jetzt nicht so, als wäre das hier eine Rettungsaktion. Im Grunde tragen Sie nur den Staffelstab über die Z-z-z-ziellinie.“

Er bremste an einer engen Kurve und sie fuhren über eine Kuppe. Dann erreichten sie sein Haus. Er fuhr in die Garage und schaltete den Motor aus. „Sitzen bleiben“, befahl er und zeigte mit dem Finger auf sie.

Obwohl ihr der Befehlston nicht gefiel, war sie zu benommen, um zu protestieren.

Bastien stieg aus, knallte die Autotür hinter sich zu, umrundete den Wagen und machte die Beifahrertür auf. Nachdem er ihren Sicherheitsgurt geöffnet hatte, streckte er ihr eine Hand entgegen.

Sie war warm, sicher und rau wie Schleifpapier. Stark genug, um die Erde in ihrer Umlaufbahn zu halten.

Bastien zuckte zusammen, als er Shelbys eiskalten Finger spürte und fluchte leise vor sich hin, während er ihr aus der Fahrerkabine half.

Als Shelby das Haus von Bastien Renaud betrat, wurde ihr klar, dass sie das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, schleunigst revidieren musste. Laney hatte erwähnt, dass er einen Schiffscontainer umgebaut hatte, und daher hatte Shelby so etwas wie einen Bunker erwartet. Ein düsteres, stilles Erdloch für einen düsteren, stillen Junggesellen.

Doch sein Zuhause war das genaue Gegenteil.

Er hatte nicht einen, sondern mehrere Container übereinandergestellt und symbiotisch in einen Hang integriert. Das Ergebnis hätte Frank Lloyd Wright grün vor Neid werden lassen.

„Neun.“ Bastien hängte seinen Schlüssel auf einen Haken neben der Tür.

„Wie bitte?“

„Die Zahl der Container, die ich verwendet habe. Geben Sie mir Ihr Handy, dann stöpsele ich es zum Laden ein.“

Shelby reichte es ihm und sah sich neugierig um. Begeistert bemerkte sie die zweigeschossige Fensterfront, die Wendeltreppe, die Hängematte, die in einem Wintergarten neben der offenen Küche hing. Die aberwitzig hohe Baumkulisse, die durch das heftige Schneegestöber vor den Fenstern zu sehen war. Und überall seine Kunst.

Möbel aus wiederverwertetem Holz, so wie seine charmanten Schnitzereien und Konstruktionen aus recycelten Gegenständen, für die er auf keinen Fall berühmt werden wollte.

„Oh, wow“, flüsterte sie und ging wie magisch angezogen auf den antiken Messingofen zu, der in der einen Ecke des Raums stand.

„Noch nicht“, sagte Bastien. „Vielleicht haben Sie Erfrierungen, und die sollte man nicht der direkten Wärme aussetzen.“

Sie hörte ein Scharren und spürte etwas gegen ihre Kniekehlen stoßen.

„Hinsetzen“, befahl er.

Sie gehorchte.

Er zog an ihrem Ärmel und zerknautschte dabei den Stoff ihrer Jacke. „Das ist Prada“, protestierte sie.

„Und vollkommen nutzlos. Der Stoff ist nicht einmal wasserdicht.“

Shelby errötete. Sie hatte sehr lange gebraucht, sich in der unglaublich privilegierten Welt zu Hause zu fühlen, in der sie nun lebte. Und nun war sie offensichtlich so vertraut damit geworden, dass sie nicht einmal bemerkte, wie albern ihre Worte in einer Situation wie dieser klangen.

„Sie müssen die Jacke ausziehen“, sagte Bastien. „Und auch die Stiefel. Wir müssen Sie langsam warm bekommen.“

Er verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einem Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zurück.

Nachdem Shelby ihre Jacke ausgezogen und ihre nasse Wollmütze vom Kopf gezogen hatte, mühte sie sich wenig erfolgreich mit ihren Schnürsenkeln ab. Ihre Finger waren zu taub, um mit den vielen Ösen und Reißverschlüssen fertigzuwerden.

„Lassen Sie mich.“ Er gab ihr das Glas und kniete sich vor sie hin. Waren seine Schultern in der Bar schon so breit?

Eine rauchige Note stieg ihr aus dem Glas in die Nase. „Ich dachte, Sie trinken keinen Alkohol“, sagte sie.

Seine großen Hände entpuppten sich als überraschend geschickt, als er den vierfachen Knoten öffnete und dann den Stiefel von ihrem Fuß zog. „Tue ich auch nicht. Aber seit dieser verdammten Serie schickt mir jede Brennerei zwischen hier und Saskatchewan freie Muster zu.“

Diese verdammte Serie.

Sie war der der Grund, warum sie nach Maine gekommen war. Warum sie ihrem Vater vorgeschlagen hatte, Bastien Renauds bewegliche Skulpturen auszustellen.

In Bad Boys of Booze waren ihr seine Arbeiten das erste Mal aufgefallen. Sie hatte nach einem besonders anstrengenden Tag in der Galerie weinend vor dem Fernseher gesessen, dabei das köstliche Curry gegessen, das der Koch für sie bereitgestellt hatte, und die Episode geschaut, in der seine Brüder das Restaurant wieder aufbauten, das am Ende der ersten Staffel abgebrannt war. In dieser besagten Folge war Bastien aufgetaucht und hatte ihnen eine Skulptur vorbeigebracht, die wie ein Kronleuchter geformt war und unter der hohen Decke befestigt wurde.

Nachdem sie nach Bastiens Anblick den Mund wieder zukriegt hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass ihr Vater – ein leidenschaftlicher Sammler von Skulpturen aller Art – begeistert sein würde.

Und damit lag sie nicht falsch. Außerdem gefiel ihrem Vater die Idee, Bastiens Arbeiten in der Galerie auszustellen.

Wenn sie gewusst hätte, wie schwer diese Idee in die Tat umzusetzen sein würde, hätte sie schnell den Kanal gewechselt und eine ihrer Lieblings-Kochsendungen geschaut.

Shelby hob das Glas an die Lippen. „Wir haben doch schon festgestellt, dass ich das hier pur nicht trinken kann.“

„Kleine langsame Schlucke“, erwiderte er und zog ihr einen ihrer dicken Socken vom Fuß.

Sie folgte seinem Rat, und eine angenehme Wärme breitete sich erst in ihrer Kehle und dann in ihrer Brust aus. Auch ihre nackten Fußsohlen wurden ganz warm, als Bastien sie vorsichtig untersuchte. Shelby versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als ein heißes Sehnen ihre Mitte durchbohrte.

Bastien hingegen schien ganz konzentriert bei der Sache zu sein, umfasste ihre Ferse und strich sanft über den Spann, den Ballen und unter den Zehen entlang.

„So weich“, sagte er geistesabwesend und wie zu sich selbst.

Der Moment verging, als Shelbys Fuß zurückzuckte. „Tut mir leid, aber das kitzelt.“

Bastien räusperte sich. „Spüren Sie ein taubes Gefühl oder ein Kribbeln?“, fragte er nüchtern.

„Ein bisschen. Vor allem in den Waden.“

„Haben Sie darunter etwas an?“, fragte er mit einem Blick auf ihre Beine.

„Wie bitte?“

„Unter den Leggings. Haben Sie darunter etwas an? Zum Beispiel Thermounterwäsche.“

„Ach so.“ Ihr String fühlte sich unter dem elastischen Material an wie ein Leuchtband. „Ähm, nein, nur die übliche …Unterwäsche.“

„Ziehen Sie schnell die Leggings aus.“ Er stand auf. „Ich bringe Ihnen einen Morgenmantel.“

„Kann ich sie nicht vor dem Feuer trocknen?“, fragte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

Ausziehen“, befahl er und verschwand im Flur.

Die Aufgabe war leichter gesagt als getan.

Die butterweichen Lederhosen, die sie in ihrem riesigen begehbaren Kleiderschrank in Kalifornien so mühelos angezogen hatte, ließen sich nun partout nicht über ihre feucht-kalten Waden und Knöchel streifen.

In diesem Moment klingelte ihr Handy und die Melodie der bösen Hexe aus dem Zauberer von Oz ertönte.

„Scheiße.“ Sie watschelte zu dem Tisch, auf dem ihr Handy lag. „Sloan“, meldete sie sich bemüht unbekümmert. „Wie geht es dir?“

„Oh, Gott sei Dank. Dein Vater versucht schon seit Stunden, dich zu erreichen. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“

Shelby verdrehte bei dieser melodramatischen Behauptung die Augen. Dann nahm sie sich ihre Jacke, die Bastien zum Trocknen aufgehängt hatte, hielt sie sich vor die Beine, watschelte zum Stuhl zurück und ließ sich ungraziös hineinplumpsen.

Als Bastien wenige Sekunden später zurückkam, fragte sie sich, ob er ihren peinlichen Auftritt gesehen hatte.

„Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt“, sagte sie ins Telefon. „Der Sturm hier ist ziemlich heftig und ich hatte keinen Empfang.“

Bastien reichte ihr einen flauschigen, mitternachtsblauen Morgenmantel und machte ihr ein Zeichen, ihr Oberteil und die Leggings auszuziehen.

Dann drehte er ihr den Rücken zu, um ihr etwas Privatsphäre zu geben.

„Warte bitte eine Sekunde.“ Shelby legte das Handy hin und zog sich hastig den Pullover aus.

Sie überlegte mit einem Blick auf Bastiens breiten Rücken, ob sie auch den BH ausziehen sollte.

Eine seltsame Hitze durchströmte ihren Körper, während sie sich ausmalte, wie er sich umdrehte und sie anschaute, wie sie nur mit ihrem String und dem passenden hellrosa BH bekleidet dastand.

„Shelby? Bist du noch da?“, erklang Sloans Stimme.

Hastig schlüpfte sie in den Mantel und schnipste mit den Fingern, um Bastien zu signalisieren, dass er sich umdrehen konnte.

„Ich bin hier“, sagte sie und klemmte sich das Handy zwischen Wange und Schulter.

„Wo genau ist hier?“ Die Pistolenschuss-ähnlichen Geräusche am anderen Ende verrieten ihr, dass Sloan durch die Galerie marschierte und dabei mit den Absätzen ihrer Designer-Pumps den alten Holzboden zerkratzte.

„Bar Harbor, Maine.“

„Ich meinte, bist du gerade in deinem Auto? In deinem Hotel?“

Bastien zog eine Ottomane heran und setzte sich vor sie.

„Weder noch.“

Er zog ihr den störrischen Saum ihrer Leggings über die Fersen und verschwand dann mit ihrer Hose in der Küche.

„Ich frage nur, weil ich dem Hochzeitsplaner gesagt habe, dass du ein Update-Meeting arrangieren würdest, sobald du wieder in der Stadt bist. Doch er muss dich unbedingt sprechen, bevor er nach Mailand fliegt.“

Ahh.

Also lag Sloans Frage nicht in der Sorge um Shelby begründet, sondern in der Verärgerung darüber, dass die Reise nach Maine mit den Plänen für die Hochzeit mit Shelbys Vater kollidierten.

Bastien kehrte mit einer großen Schüssel Wasser zurück, die er neben ihrem Stuhl auf den Boden stellte. Fasziniert sah Shelby zu, wie er einen Lappen hineintauchte, ihn auswrang und dann sanft um ihren Fuß wickelte. Überrascht riss sie die Augen auf, als sie unter dem feuchten Lappen unzählige Nadelstiche spürte. Bastien wiederholte die Prozedur mit ihrem anderen Fuß und arbeitete sich dann über ihre Knöchel und ihre Waden nach oben vor.

„Was war das für ein Geräusch?“, fragte Sloan.

„Der Wein“, log Shelby und erntete einen neugierigen Blick von Bastien. „Ich bin gerade beim Abendessen. Also lasse ich dich besser von der Strippe.“

„Kannst du Fernando wenigstens anrufen?“, fragte Sloan, deren Stimme dabei ein paar Oktaven nach oben kletterte.

„Na klar.“

Bei Sloans üblich-zuckersüßem Abschiedsgruß taten Shelby regelrecht die Zähne weh. Angewidert warf sie ihr Handy auf das Sofa.

„Eine Freundin von Ihnen?“

Shelby bemerkte, dass ihre Schenkel unter dem Morgenmantel leicht schwitzig wurden, als Bastiens Hände sich langsam auf ihre Knie zubewegten.

„Kommt auf die Uhrzeit an.“

Bastien schaute sie unverständlich an.

„Von neun Uhr morgens bis sieben Uhr abends ist sie meine Chefin. In der restlichen Zeit die Verlobte meines Vaters und eine unerträgliche Nervensäge.“

„Sie scheinen nicht viel von der Verbindung zu halten“, sagte er spöttisch.

„Es ist nicht so, dass ich nichts davon halte“, erklärte sie und schaute fasziniert auf seine rauen Arbeitshände auf der weißen Haut ihres Knies. „Ich fände es nur besser, wenn er mit jemandem in seiner Altersgruppe zusammen wäre statt in meiner.“

„Ich verstehe.“

Shelby hatte schon immer Schwierigkeiten, im sozialen Miteinander die Zeichen zu deuten, doch bei Bastien fiel es ihr noch schwerer. Er redete nicht viel, seine Mimik war sehr sparsam und es war beinah so, als müsse man Morsezeichen entschlüsseln.

Shelby nahm einen weiteren Schluck Whiskey und spürte die entspannende Wirkung des Alkohols.

Bastien tupfte ihre Beine mit einem Handtuch trocken und tippte ihre Knöchel an. „Warten Sie noch eine halbe Stunde und dann können Sie sich ans Feuer setzen.“

„Wie lange muss ich eigentlich hierbleiben?“

Er schaute aus dem Fenster und sie folgte seinem Blick. An den Kanten der Scheiben türmte sich bereits der Schnee auf.

„So bald kommen Sie hier nicht mehr weg.“

3. KAPITEL

Einer der vielen Gründe für Bastiens Abneigung gegen die Gesellschaft anderer war, dass er nichts mit ihren Problemen zu tun haben wollte. Mehr noch, er wollte sich auch davor schützen, wie ihn diese Probleme belasteten.

Ob es um einen platten Reifen ging oder die Nachricht von einem schrecklichen Unfall, seine Empathie lief meist sofort auf Hochtouren. Er reagierte auf die leisesten Signale seines Gegenübers wie ein Seismograf und konnte sie einfach nicht ausblenden.

Die Veränderung in Shelby, als ihr Handy zu klingeln begann, war mehr als eindeutig. Das lag vermutlich auch daran, dass sie überhaupt keinen Filter besaß.

Doch ihre wechselnde Mimik zu beobachten, während er ihre Beine versorgte, war tatsächlich eine willkommene Ablenkung gewesen, um seine Gedanken jugendfrei und das Blut oberhalb der Gürtellinie zu halten.

Er versuchte zwar, sich das Gegenteil einzureden, doch er berührte sie gerne. Ihre weiche, blasse, beinah porenlose Haut erinnerte ihn an das erste Vermeer-Gemälde, das er mit sechzehn in einem der Bücher seines Kunstlehrers in der High School gesehen hatte.

Damals hatte er sich sofort in die strahlendschöne Frau verliebt und heimlich die Buchseite herausgerissen und eingesteckt.

Eine Handlung, die sich auf tragische Weise als prophetisch herausstellen sollte.

Bastien verscheuchte die Erinnerung und kehrte in die Gegenwart zurück. Seit er das Haus bewohnte, war noch nie eine Frau dort gewesen. Und nun spazierte Shelby durch sein Wohnzimmer und plauderte auf ihn ein wie ein aufgeregter Vogel.

Schnell fiel ihm auf, dass sie alles berührte, das ihre Aufmerksamkeit erregte, und er fragte sich, ob das für sie bei ihrer Arbeit ein Nachteil war. Schließlich war in der Kunstwelt das Berühren der Werke normalerweise nicht gewünscht.

„Das hier erinnert mich an die Venus von Willendorf“, sagte sie.

Sie stand auf der beweglichen Leiter vor einem der hohen Bücherregale, einen nackten Fuß auf die zweite Stufe gesetzt und den Arm Halt suchend um den Holm geschlungen, während sie ihm die kleine handgeschnitzte Skulptur hinhielt. Für einen kurzen Moment klaffte der Morgenmantel auf, und ein verlockendes Stück ihres Schenkels kam zu Vorschein.

Bastien riss den Blick davon los und beschäftigte sich besonders eingehend mit dem Abspülen ihres Glases, das er dann auf dem Abtropfbrett abstellte.

„Was ist hiermit?“, fragte sie und hielt eine andere Miniatur in die Höhe. „Haben Sie die vor oder nach der Hängeskulptur in Episode 5 gemacht?“

„Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich still hinsetzen“, sagte er, durchquerte den Raum, nahm ihr die Schnitzerei ab und stellte sie wieder an ihren Platz. „Sie sollten nicht so viel herumlaufen.“

Shelby blickte sich um und wirkte ein wenig überrascht, sich auf der Leiter wiederzufinden.

Auch schien sie sich ihrer Wirkung auf ihn gar nicht bewusst zu sein.

Und diese Wirkung stellte ein echtes Problem für ihn dar.

Abgesehen von ihrem Namen und dem Einfluss ihrer Familie war da noch ihr Alter. Sie war siebenzwanzig und er neununddreißig. Dieser Altersunterschied machte ihn auf unerklärliche Weise müde.

Endlich stieg sie von der Leiter herunter und erlöste ihn von dem geistigen Bild ihrer Brüste, die sich genau auf der Höhe seines Mundes befanden und nur spärlich von einem Morgenmantel bedeckt waren.

Auf dem Weg zur Couch bemerkte sie jedoch den alten Plattenspieler und das Schränkchen, in dem ordentlich aufgereiht seine Platten standen. „Sie haben Brahms? Ich liebe Brahms! Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich eine auflege?“

„Hilft Brahms Ihnen beim Stillsitzen?“

Sie lächelte verlegen, während sie eine Platte auflegte und sich dann endlich auf der Couch niederließ.

„Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?“, fragte Bastien.

„Ich habe bei Sergei ein paar Nüsse gegessen“, erwiderte sie. „Und dann am Flughafen einen Muffin und einen Kaffee.“

„Na schön.“ Er zog sich in die Küche zurück, froh, eine Aufgabe zu haben, auf die er sich konzentrieren musste. „Ich hatte nichts Aufwendiges geplant. Wie klingen Spaghetti Bolognese?“

Er hätte natürlich besser nicht gefragt.

Wie von Zauberhand tauchte sie hinter ihm auf und schaute unter seinem Arm hindurch zu, wie er einen Schrank öffnete und ein Glas mit selbst gemachter Nudelsauce herausholte. Er hatte sie selbst abgefüllt, als im vergangenen Sommer seine Tomatenpflanzen ein wenig über die Stränge geschlagen waren.

„Kann ich helfen?“, fragte Shelby.

„Woher wusste ich, dass Sie das fragen würden?“, murmelte er.

„Weil Sie tief in Ihrem Inneren wissen, dass ich eine fürsorgliche, nette Seele bin, deren Galerie Sie unbedingt erlauben sollten, Ihre erste Ausstellung zu organisieren?“ Sie klimperte übertrieben mit den Wimpern.

„Netter Versuch. Sie könnten mir am besten helfen, wenn Sie sich an den Tresen setzen.“

„Ich behaupte gar nicht, dass ich eine tolle Köchin bin“, sagte sie und ging auf die andere Seite des Tresens. „Doch bevor ich meinen MBA gemacht habe, war ich einen Monat an der Le Cordon Bleu Schule in Paris.“

Bastien legte das groß Schneidebrett vor sie hin. „Dann erwarte ich auch erstklassige Schneidefähigkeiten.“

Sie streckte die Hand nach der gelben Zwiebel aus, die Bastien aus einem Korb auf der Anrichte zog. „Dann geben Sie her.“

„Wenn Sie darauf bestehen.“ Er reichte ihr die Zwiebel und ein Schneidemesser.

„Wie lange leben Sie schon hier draußen?“

„Machen Sie nur Konversation oder wollen Sie es wirklich wissen?“ Bastien schaltete den Gasherd an und stellte eine gusseiserne Pfanne auf die Flamme. Nachdem er das Olivenöl hineingegeben hatte, fügte er die Zwiebelwürfel hinzu, die Shelby klein geschnitten hatte.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein kleines bisschen paranoid sind?“

„Das wagt niemand“, erwiderte er und schnitt eine Grimasse.

„Wie wäre es denn, wenn Sie zuerst mich alles fragen, was Sie wissen wollen?“

Bastien musste zugeben, dass ihn diese Aussicht reizte.

„Warum wollen Sie meine Arbeiten in der Galerie Ihres Vaters ausstellen?“

„Weil meinem Vater Ihre Arbeiten wirklich gefallen und seine Verlobte gesagt hat, dass Sie niemals zustimmen werden.“

In diesem Moment wusste Bastien, dass er Shelby mochte.

Wegen dieser schlichten, verletzlichen Antwort auf seine sehr direkte Frage.

„Das klingt plausibel“, räumte er ein und bemerkte überrascht, dass er schon fast eine Stunde nicht mehr auf die Uhr geschaut hatte.

Normalerweise begann er an diesem Punkt die Minuten zu zählen, während sein Gehirn hektisch nach Ausreden suchte, warum er verschwinden musste. Obwohl er aus der Übung war, fiel ihm das Reden mit Shelby so leicht wie mit noch nie jemandem zuvor.

Auch wenn ihre körperliche Präsenz ihm das schmerzliche Sehnen in seinem Innern bewusst machte. Er ging zum Kühlschrank, öffnete ein Paket Hackfleisch und gab es in die Pfanne.

Vielleicht konnte er sich mit herzhafter Nahrung von dem Appetit nach anderem ablenken, der aus einem langen Winterschlaf zum Leben erwacht war.

Er hörte das Scharren ihres Hockers auf dem Boden und dann klapperte sie mit einer Büchse roter Linsen, die sie aus der Vorratskammer geholt hatte.

„Was soll das werden?“

„Platz da.“ Sie scheuchte ihn zur Seite und nahm ihm den Spatel aus der Hand.

Sprachlos wurde Bastien bewusst, dass sie ihn praktisch aus seiner eigenen Küche geworfen hatte.

„Sie werden es mir danken, versprochen.“

Er sah zu, wie sie die Linsen, getrockneten Oregano, ein paar Spritzer Worcestershire Sauce und eine großzügige Prise braunen Zucker in die Sauce gab und dann abschmeckte.

„Was fehlt noch?“ Sie tippte nachdenklich mit dem Finger gegen die Lippe. Dabei klaffte der Mantel auf und er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ihre nackte Brust.

Sofort flimmerten sehr lebhafte Bilder vor seinem geistigen Auge vorbei. Wie er in die Küche ging. Sich hinter sie stellte. Den Gürtel des Morgenmantels öffnete und seine Hände unter den Stoff gleiten ließ. Über den zarten String strich, den er zuvor gesehen hatte, und seine Finger über ihren Bauch hinauf zu ihren Brüsten wandern ließ. Spürte wie ihre Brustwarzen unter seinen Handflächen hart wurden.

Der Schmerz in seinen Lenden wurde langsam zu einem echten Problem. Daher versuchte er sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

„Wie wäre es mit einem Wein?“

Als sie nickte, beugte er sich über den Schrank, in dem er die Gratisflaschen aufbewahrte, und tat so, als müsse er lange über die Wahl nachdenken. Das gab seiner erregten Männlichkeit Zeit, sich wieder zu beruhigen.

„Aber Sie müssen für mich nicht extra eine Flasche aufmachen.“

„Ich brauche ja auch etwas Wein für die Sauce, also würden Sie mir einen Gefallen tun.“ Er stellte eine Flache spanischen Barolo auf die Anrichte und machte sich auf die Suche nach einem Korkenzieher. Nachdem er ihr ein Glas eingeschenkt hatte, holte er sich ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank.

Shelby nahm einen Schluck Wein. „Der ist köstlich. Porter wäre begeistert.“

Porter.

Sofort empfand Bastien Abneigung.

Er sah diesen Porter genau vor sich. Elite-Uni und ein Haus in den Hamptons. Vielleicht eine Jacht. Die Sorte Typ, der Jahreszeiten wie ein Verb benutzte.

„Freut mich, dass er Ihnen schmeckt.“

Ein Kratzgeräusch signalisierte, dass die Schallplatte zu Ende war.

„Ich mach schon.“

Während sie ins Wohnzimmer ging und die Platte umdrehte, probierte er die Sauce.

„Geben Sie es zu. Die ist doch besser als Ihr übliches Rezept, oder?“

Das war sie. „Ja, kann schon sein“, räumte er ein.

„Es liegt an den Linsen. Sie geben dem Gericht eine gewisse erdige Süße.“

„Betrachten Sie mich als bekehrt.“

Nach dem Essen bestand sie darauf, ihm beim Abspülen zu helfen. Danach nahmen sie wieder im Wohnzimmer Platz und lauschten auf das Heulen des Windes, der die ruhige Musik untermalte. Shelby genoss dabei ein zweites Glas Wein, während Bastien eine weitere Flasche alkoholfreies Bier trank.

„Mist!“, rief Shelby plötzlich und griff nach ihrem Handy. „Fast hätte ich es vergessen. Ich wollte Porter doch den Namen des Weins schicken. Er macht eine Ausbildung zum Sommelier.“

Obwohl Bastien wusste, dass es albern war, spürte er einen Anflug von Eifersucht, als sie grinsend auf den Bildschirm schaute.

„Wie lange sind Sie schon mit ihm zusammen?“, fragte er, als sie das Handy beiseitelegte.

„Ungefähr zwanzig Jahre.“ Als Shelby seinen verwirrten Blick sah, klärte sie die Sache auf. „Er ist mein Bruder.“

„Älter oder jünger?“, fragte Bastien mit sichtlicher Erleichterung.

„Weder noch. Die Llewellyns haben Porter und mich adoptiert, nachdem ihre leiblichen Kinder aufs College gegangen waren. Wir waren wohl so eine Art Neuanfang.“

„Wie alt waren Sie da? Wenn ich das fragen darf.“

Zum ersten Mal an diesem Tag bemerkte Bastien einen ernsten Ausdruck in ihren Augen.

„Sieben.“ In diesem Moment fing die Lampe neben ihr an zu flackern und sie blickte sich nervös um. „Es wird doch wohl nicht der Strom ausfallen?“

„Selbst wenn, habe ich einen Generator“, erklärte er.

Shelby zog den Morgenmantel enger um. „Ich weiß, es ist albern … vor allem für eine Frau in meinem Alter, aber ich habe im Dunkeln immer ein bisschen Panik.“

„Warten Sie kurz.“ Er ging in die Küche und kam mit zwei Camping-Laternen, mehreren Taschenlampen, einer Handvoll Kerzen und einem Stabfeuerzeug zurück. Das alles legte er direkt vor ihr auf den Couchtisch.

„Falls irgendetwas passiert, sitzen wir nicht im Dunkeln.“

„Uff.“ Sie wischte sich mit einer gespielt dramatischen Geste über die Stirn.

Genau in diesem Moment ging das Licht aus.

4. KAPITEL

Panik.

Shelby hatte oft gehört, dass das Gefühl als Welle beschrieben wurde.

Für sie war es mehr wie ein Strudel, der sie mit gigantischer Kraft herumwirbelte und immer schneller wurde, je weiter er sie nach unten riss. Ihr Herz raste. Ihr Atem flog und ihre Lungen hatten Mühe, den Sauerstoff aus ihren Atemzügen herauszufiltern.

Ihre innere Stimme schrie sie an, das lähmende Gefühl abzuschütteln und nach einer der Taschenlampen auf dem Tisch zu greifen. Doch bevor sie ihre steifen Glieder bewegen konnte, drang ein kühles blaues Licht durch ihre zusammengekniffenen Lider.

Sie öffnete die Augen und sah, dass Bastien neben ihr saß und eine der Camping-Laternen in die Höhe hielt. „Alles gut“, sagte er mit ruhiger Stimme, so als rede er auf ein verschrecktes Pferd ein. „Ich bin hier. Ich zünde jetzt die Kerzen an und kümmere mich dann um den Generator.“

Als er alle verfügbaren Lichtquellen aktiviert hatte, ging er zum Ofen hinüber und legte noch ein bisschen Holz nach. Beim Prasseln des Feuers taute der Ring aus Eis, der sich um ihr Herz gelegt hatte, langsam auf.

„Alles okay?“, fragte Bastien.

Shelby nickte wenig überzeugend.

„Der Generator ist im Keller“, erklärte er. „Soll ich noch ein bisschen bei Ihnen bleiben oder ihn einschalten gehen?“

Plötzlich erfüllte sie die Vorstellung, die warme, tröstende Präsenz dieses großen Mannes zu verlieren, mit Schrecken.

„Kann ich nicht mitkommen?“

„Der Keller ist noch nicht komplett fertig und das hier ist der hellste Ort, bis ich den Strom wieder zum Laufen bekomme.“

Shelby schimpfte im Stillen mit sich, weil sie sich wie ein albernes Kind aufführte, und versicherte ihm, dass sie zurechtkäme.

„Zehn Minuten“, versprach er, bevor er mit der schwächsten Laterne verschwand.

Doch Bastien war nach zehn Minuten nicht wieder zurück. Shelby saß einfach nur da und starrte auf das Display ihres Handys, während sie versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Langsam setzte die Panik wieder ein und brachte Gedanken mit sich, die nicht gerade hilfreich waren.

Ist etwas passiert? Was, wenn er unten das Bewusstsein verloren hat?

Noch einmal schaute sie auf ihr Handy. Ohne Strom hatte sie auch kein Wi-Fi mehr und die Netzabdeckung war sehr schwach.

Shelby rutsche auf der Couch nach vorne, holte tief Luft und nahm eine der Laternen. Dann ging sie zum Ofen hinüber und schlüpfte in ihre Stiefel, die inzwischen getrocknet waren.

Mit ausgestreckter Laterne ging sie in die Richtung, in die er verschwunden war. Im schwachen Lichtschein entdeckte sie das dunkle Rechteck einer offenen Tür und die ersten Stufen einer Treppe, die in der pechschwarzen Dunkelheit verschwand.

„Bastien?“, rief sie.

Keine Antwort.

Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und das Rauschen in ihren Ohren übertönte das Prasseln des Feuers.

Sie hasste Keller. Hasste jeden dunklen Ort mit einer Tür, die man schließen und sie dahinter einsperren konnte.

Sie spürte einen metallischen Geschmack auf der Zunge und ein hohes Surren ertönte in ihren Ohren, während sie einen Fuß auf die oberste Stufe setzte.

„Bastien?“ Als sie keine Antwort erhielt, zwang sie sich, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auf halber Strecke in den Keller ging über ihr das flackernde, bronzefarbene Licht einer Glückbirne an.

Dann hörte sie ein Surren und das Licht wurde stärker. Genau in diesem Augenblick tauchte Bastien auf.

„Was zum Teufel machen Sie hier unten?“, herrschte er sie erschrocken an.

Zu ihrem Entsetzen spürte Shelby diesen verräterischen Kloß in der Kehle. „Sie sagten zehn Minuten“, erwiderte sie. „Es waren aber fünfzehn.“ Sie blinzelte, um die drohenden Tränen zurückzudrängen.

Sofort wurde sein Gesichtsausdruck weicher.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hatte ihm unbewusst zu viel verraten. Abrupt drehte sie sich um und stapfte wortlos die Treppe hoch und zurück in die Wärme.

Sämtliche Lampen brannten, wenn auch nicht so hell wie zuvor, und gaben dem Raum einen beinah romantischen Anstrich. Shelby setzte sich auf die Couch und wandte das Gesicht dem Ofen zu.

Bastien nahm direkt neben ihr auf dem Sofa Platz und wartete völlig regungslos, bis sie ihm eine Erklärung gab.

„Bevor die Llewellyns mich adoptiert haben, war ich bei Pflegeltern.“

„Für wie lange?“

„Drei Jahre.“ Sie wollte über die Zeit davor noch nicht sprechen und fuhr fort. „Bei einer Familie hat mich eines der älteren Kinder aus Spaß in einen Schrank eingesperrt und mich dann vergessen. Ich war nur ein paar Stunden – “

„Ein paar Stunden?“, unterbrach er sie wütend. „Wo zum Henker waren Ihre Pflegeltern?“

„Er war arbeiten und sie einkaufen. Die älteren Kinder mussten sich um uns kümmern, wenn sie Besorgungen machte. Sie hat mich dann auch gefunden, als sie nach Hause kam.“ Shelby schüttelte den Kopf. „Es war wirklich keine große Sache – “

„Natürlich war es das“, knurrte er. „Solche Leute dürfen einfach keine wehrlosen Kinder anvertraut bekommen.“

„Sie haben ihr Bestes getan“, erwiderte Shelby. „Und es ist auf jeden Fall mehr als manch andere Menschen für Kinder tun, die kein Zuhause haben. Wissen Sie, wie viele Kinder es da draußen gibt, die nicht wissen, wie es ist, in einer Familie groß zu werden?“

„Es gibt Familien, auf die man gut verzichten kann“, murmelte er düster. Im Licht der Flammen wirkten seine Augen beinah orange, während er zornig in den Ofen starrte. Er hatte die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, und erst in diesem Moment bemerkte Shelby den dunklen Fleck über seinen Knöcheln.

„Was haben Sie da?“, fragte sie und rutschte näher an ihn heran.

Bastien blinzelte und schien von irgendwoher wieder zu ihr zurückzukehren. „Ich bin beim Öffnen der Werkzeugkiste daran entlanggeschrammt. Die Tür zum Generatorraum klemmte.“

„Ich hole Ihnen ein Pflaster.“

„Ist schon gut“, winkte er ab. „Es ist nicht so tief.“

„Es ist ganz bestimmt nicht gut“, widersprach sie. „Ich wette, Sie haben schon länger keine Tetanusspritze mehr bekommen. Sie könnten eine schlimme Entzündung bekommen und in dieser Einöde möchte ich sicher nicht, dass Ihnen etwas passiert.“

Sie stand auf, doch dann fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wo er die Pflaster aufbewahrte.

„In der Schublade rechts neben dem Waschbecken“, erklärte er.

Shelby schlüpfte aus den Stiefeln, lief schnell ins Badezimmer und kehrte mit dem Verbandsmaterial ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich wieder neben ihn und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel, die sich durch den Stoff des Mantels schwer und warm anfühlte.

Die Wunde war nicht tief, doch Shelby säuberte sie vorsichtig, schmierte eine farblose Salbe darauf und legte den Verband an.

„So gut wie neu“, sagte sie. Als er die Hand hob, um ihre Arbeit zu begutachten, vermisste sie augenblicklich das Gewicht auf ihrem Bein.

„Sollten Sie sich jemals entscheiden, die Arbeit in der Galerie an den Nagel zu hängen, wüsste ich den perfekten Beruf für Sie.“

„Schulkrankenschwester?“

„Ich hatte eher an Model für Morgenmäntel gedacht, aber das wäre auch eine Option.“

„Sehr witzig. Doch apropos. Kann ich mir etwas leihen, in dem ich heute Nacht schlafen kann?“

„Natürlich.“ Er stand auf und stieg leichtfüßig die Wendeltreppe zum Loft über ihnen hinauf. Kurz darauf kehrte er mit einem klein gefalteten Stapel Kleidung, einem flauschigen Kissen und einer aufgerollten Decke zurück.

„Die Sachen sind für Sie“, erklärte er. „Das Kissen und die Decke für mich. Ich schlafe hier unten und Sie können oben mein Bett haben.“

„Auf gar keinen Fall“, protestierte Shelby. „Ich nehme Ihnen nicht Ihr Bett weg und zwinge Sie, auf der Couch zu schlafen.“

„Sie zwingen mich zu gar nichts. Ich biete es Ihnen an.“

Shelby verschränkte die Arme vor der Brust. „So sehr ich Ihr Angebot auch zu schätzen weiß, würde ich lieber auf der Couch schlafen.“

„Dann müssen Sie wohl zusammen mit mir hier schlafen.“ Bastien lehnte sich genießerisch nach hinten und blickte sie mit einem verführerischen Lächeln herausfordernd an.

So begeistert ihr Körper auch auf diese Vorstellung reagierte, kam das natürlich nicht in Frage.

Einen Moment lang musterten sie sich schweigend, und Shelby war wild entschlossen, diese Partie Hasenfuß zu gewinnen.

„Wenn Sie darauf bestehen.“ Shelby machte sich langsam an dem Gürtel des Morgenmantels zu schaffen.

Befriedigt sah sie einen alarmierten Ausdruck in seinen Augen aufblitzen.

„Was meinen Sie, was Sie da machen?“

„Mich umziehen.“

„Aber doch nicht hier“, erwiderte er mit Panik in der Stimme.

„Nein?“ Sie löste den Knoten und hielt den Mantel nur noch mit ihren Armen geschlossen.

„Ich bleibe.“

„Ich auch.“

Sie starrten sich an wie zwei Duellanten in einem alten Filmklassiker.

„Ich meine es ernst“, drohte Shelby.

„Dann nur zu.“ Bastien verschränkte lässig die Hände hinter dem Kopf. Plötzlich verstand sie, warum er so selbstgefällig grinste.

Er glaubte nicht, dass sie wirklich den Mumm besaß.

Das Blut begann in ihren Ohren zu rauschen und ein erregendes Kribbeln machte sich in ihrem Magen breit. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ließ sie den Gürtel fallen, sodass der Stoff auseinanderklaffte. Dann bewegte sie die Schultern und der Mantel lag auf dem Boden.

Bastiens Pupillen weiteten sich und sein Atem beschleunigte sich, während er unter schweren Lidern den Blick von ihrem Mund zu ihren Brüsten, dann weiter zu ihrem Bauch und noch weiter nach unten wandern ließ.

In der Stille des Raums hörte sie, wie er schluckte. Mit seinen nächsten Worten hätte sie jedoch niemals im Leben gerechnet.

„Komm her.“

5. KAPITEL

Bastien hatte den Bluff eigentlich gewinnen wollten.

Stattdessen war Shelby als Siegerin daraus hervorgegangen.

Dabei hatte er sich auf sein bedrohliches Äußeres verlassen, das in der Vergangenheit schon so manche Frau abgeschreckt hatte.

Er war früher nie einem Kampf aus dem Weg gegangen, und hatte nie Angst gehabt, sich die Hände schmutzig zu machen oder sich die Knöchel blutig zu schlagen, wenn die Situation es verlangte.

An diesem Abend hatte Shelby Llewellyn seine blutigen Knöchel verarztet. Und nun stand sie vor ihm, nackt bis auf einen Hauch von Spitze, und lächelte ihn süß und erwartungsvoll an.

Das alles ergab absolut einen Sinn.

Bastien erhob sich von der Couch. Es war sein letzter Versuch, Shelby durch den immensen Unterschied in Größe oder Körperbau dazu zu bewegen, den Rückzug anzutreten.

Doch sie tat es nicht.

Und er konnte es nicht.

Er konnte einfach nicht aufhören, diese unglaublich schöne Frau vor ihm von allen Seiten zu betrachten.

Als er das Ende eines Kohlebleistiftes entdeckte, mit dem sie ihr dichtes Haar hochgesteckt hatte, zog Bastien ihn heraus und ihre goldenen zerzausten Locken fielen ihr um die Schultern.

„Schau mich nicht an. Meine Haare sehen schlimm aus.“ Ganz selbstverständlich war sie ebenfalls zum Du übergegangen.

„Ich dachte, du wolltest, dass ich schaue.“

„Das stimmt. Und dass du mich anfasst. Wenn du willst.“

Wenn du willst? Hat sie den Verstand verloren?

Gequält atmete er tief durch, schloss die Augen und fuhr mit den Fingern durch ihre seidigen Strähnen. Shelby bekam eine Gänsehaut auf den Unterarmen und dann auf den Beinen, während sich ihre perfekten Nippel aufrichteten.

Mehr durfte er sich nicht erlauben. Und doch erfasste ihn eine ungeheure Sehnsucht. Danach, sie zu schmecken. Die Wärme und das Gewicht ihres Körpers in seinen Armen zu spüren.

„Ich möchte dich zeichnen“, sagte er, einer Eingebung folgend.

„Mich?“, fragte sie lachend.

„Ja, dich. Leg dich einfach aufs Sofa.“

Seiner Bitte folgend, streckte sie sich auf der Couch aus und lehnte den Rücken gegen ...

Autor

Yahrah St John
Yahrah St. John hat bereits dreißig Bücher geschrieben. Wenn sie nicht gerade zu Hause an einer ihrer feurigen Liebesgeschichten mit unwiderstehlichen Helden und temperamentvollen Heldinnen arbeitet und sie mit einem Schuss Familientragödie würzt, kocht sie gern aufwändige kulinarische Leckereien oder reist auf der Suche nach neuen Abenteuern um die Welt....
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