Baccara Exklusiv Band 193

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LÜGEN HABEN SEXY BEINE von MAUREEN CHILD

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  • Erscheinungstag 30.04.2020
  • Bandnummer 193
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726775
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maureen Child, Emilie Rose, Jennifer Lewis

BACCARA EXKLUSIV BAND 193

1. KAPITEL

„Hi, ich bin Ihre neue Haushälterin.“

Völlig sprachlos musterte Tanner King die Frau, die vor ihm stand. Süße Kurven, herzförmiges Gesicht, volle Lippen, ungefähr Mitte zwanzig. Das schulterlange flachsblonde Haar fiel auf ihr gelbes T-Shirt, und ihre ausgewaschene Jeans schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre nicht sehr langen, aber wohlgeformten Beine. Ihre blassblauen Augen strahlten, und wenn sie lächelte, hatte sie auf der linken Wange ein Grübchen.

Dieser Wahnsinnsanblick ließ Tanner alles andere als kalt. Schockiert über seine unerwartete Reaktion auf diese attraktive Frau, schüttelte er abwehrend den Kopf. „Nein, sind Sie nicht.“

„Was?“, fragte sie lachend.

Der Klang ihres Lachens betörte ihn. Und die Wärme, die durch seinen Körper schoss, erinnerte ihn schmerzlich daran, wie lange er schon keine Frau mehr gehabt hatte.

Wieder schüttelte er den Kopf und sagte: „Sie können gar keine Haushälterin sein.“

Erstaunt hob sie eine Augenbraue. „Und Sie wissen das so genau, weil …?“

„Weil Sie noch nicht alt genug sind.“

„Na ja“, erwiderte sie, „so schmeichelhaft das auch ist. Ich versichere Ihnen, ich bin alt genug, um ein Haus in Schuss zu halten. Wen haben Sie erwartet? Mrs. Doubtfire?“

Damit spielte sie auf die Komödie an, in der sich Robin Williams als alte schrullige Frau ausgegeben hatte. Tanner nickte. „Ja, genau.“

„Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.“ Als sie ihn angrinste, sah er wieder dieses süße Grübchen.

Ach was, von Enttäuschung konnte gar keine Rede sein! Genau das war ja das Problem. An dieser Frau gab es einfach nichts auszusetzen. Außer vielleicht, dass Tanner sie auf keinen Fall einstellen durfte. Denn die Gefahr, durch sie abgelenkt zu werden, war einfach zu groß. Und dieses Risiko wollte er keinesfalls eingehen.

„Okay, noch mal von vorne“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Ich bin Ivy Holloway, und Sie sind Tanner King.“

Er zögerte einen Moment, schüttelte aber schließlich ihre Hand. Weil diese Berührung ihn abermals elektrifizierte, ließ er schnell wieder los. Das war der endgültige Beweis. Sie konnte nicht bleiben. Auf gar keinen Fall.

Seit er vor zwei Monaten in dieses Haus gezogen war, ging alles drunter und drüber. Immer wieder kam es zu Verzögerungen oder Problemen. Daher war Tanner erstaunt, dass diese Begegnung ihn dermaßen aus der Fassung brachte. Denn im Prinzip war es bloß eine Störung neben vielen anderen.

Langsam ging die Sonne unter, und die Abenddämmerung brach über das Valley herein. Der kühle Wind, der von den Bergen herüberwehte, strich durch das weiche blonde Haar der Frau, die ihn ansah, als wäre er ein Außerirdischer. Und daraus konnte er ihr nicht einmal einen Vorwurf machen.

Wahrscheinlich musste ein Mann, dem seine Privatsphäre heilig war, auf solche Überfälle gefasst sein, wenn er in eine Kleinstadt zog, in der jeder über jeden Bescheid wusste. Tanner hatte keinen Zweifel daran, dass ganz Cabot Valley förmlich vor Neugier platzte und alles über ihn wissen wollte. Doch er hatte keine Eile, diese Neugier zu befriedigen. Er war hierhergekommen, weil er sich nach der Ruhe gesehnt hatte, die er für seine Arbeit brauchte.

Doch was Ruhe betraf, hatte er mittlerweile fast die Hoffnung aufgegeben. Er blickte in die Ferne, auf die Felder voller Tannenbäume, die zu dem benachbarten Grundstück gehörten. Ein eigentlich beschaulicher Anblick, geradezu friedlich, könnte man meinen. Doch die Wirklichkeit sah leider anders aus. Als Tanner merkte, dass Ärger in ihm hochstieg, schluckte er und bemühte sich, sich zu beruhigen.

„Sehen Sie“, sagte er und blockierte vorsichtshalber den Eingang, indem er einen Arm ausstreckte und sich am Türrahmen abstützte. „Es tut mir leid, dass Sie extra hierhergekommen sind. Aber Sie entsprechen leider nicht meinen Vorstellungen. Ich werde ihnen den Zeitaufwand selbstverständlich ausgleichen.“

Nach Tanners Erfahrung konnte man Menschen – vor allem Frauen – mit einer Entschädigung leicht zufriedenstellen. Wenn Exfreundinnen mit Diamantarmbändern einverstanden waren, würden sich Haushälterinnen, die nicht hierher passen wollten, sicher über einen kleinen Scheck freuen.

So einfach war das.

„Wieso wollen Sie mich bezahlen, wenn ich doch noch gar nicht für Sie gearbeitet habe?“

„Weil ich glaube, dass Sie genau das nicht tun sollten.“

„Brauchen Sie denn keine Haushälterin?“, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Brüste kamen dadurch so gut zur Geltung, dass Tanner instinktiv einen Blick riskierte – diesen Anblick zu ignorieren, hätte er ohnehin nicht geschafft. Ihre Brüste waren rund und voll, sie hatte ein sehr schönes Dekolleté. Oh nein, wie hätte er so etwas ignorieren können?

„Doch, natürlich.“

„Schließlich war es Ihr Anwalt, der mir diesen Job verschafft hat. Also wo liegt das Problem?“

Das Problem ist, dachte er, dass ich mich offenbar nicht klar genug ausgedrückt habe, als mein ach so guter Freund und Anwalt Mitchell Tyler versprochen hat, mir eine Haushälterin zu vermitteln. Wahrscheinlich war es Tanners eigene Schuld, denn er hatte dem Kerl verschwiegen, dass er eine ältere und am besten hässliche Person wollte.

Wegen der langwierigen Renovierungsarbeiten am Haus rannte Tanner ohnehin die Zeit davon. Noch mehr Komplikationen konnte er absolut nicht gebrauchen.

Und Ivy Holloway würde ihm das Leben schwer machen. Denn sie würde ihn ablenken. Garantiert.

Während er noch vor sich hingrübelte, schlüpfte sie einfach unter seinem Arm hindurch ins Haus. Jetzt hatte Tanner keine Chance mehr, sie aufzuhalten. Außer er hätte sie gepackt und zurückgetragen. Das wäre nicht schwer gewesen. Sie war so klein, dass er sie im Nu über die Schulter hätte legen und auf den Rasen zurücktragen können. Doch als ahnte sie, was ihm gerade durch den Kopf ging, lief sie schnurstracks ins Wohnzimmer. Dort blieb sie schließlich stehen und sah sich beeindruckt um.

„Wahnsinn“, flüsterte sie, während er ihrem Blick folgte.

Dunkles Holz und Glas dominierten die Ausstattung. Und der Blick auf die Felder mit den Bäumen, die Tanner in den letzten zwei Monaten fast in den Irrsinn getrieben hätten, war wundervoll. Das geräumige Wohnzimmer war mit einigen Sofas und Sesseln bestückt, die zu Sitzgruppen angeordnet worden waren. Allerdings vermittelten sie den Eindruck, nicht oft benutzt zu werden. Das Herzstück des Zimmers bildete ein gewaltiger Kamin, in dem Tanner mühelos hätte aufrecht stehen können. An den Wänden waren hohe Bücherregale, und auf dem honigfarbenen Eichenparkett standen blank polierte Beistelltischchen. Im Prinzip entsprach alles seinen Ideen und Vorstellungen, wenn nicht …

„Die meisten hier würden sterben, um einen Blick auf das zu werfen, was ich gerade sehe“, rief sie. „Die ganze Stadt kommt vor Spannung fast um, seit Sie dieses Haus renovieren.“

„Mag sein, aber …“

„Ist doch auch klar“, sagte Ivy und warf ihm einen Seitenblick zu. „Nach all den Jahren, in denen das Anwesen verwaist und völlig heruntergekommen war. Und dann tauchen plötzlich Sie auf, kaufen es und krempeln alles um.“

Ja, das konnte er natürlich verstehen. Schließlich hatte er ein Vermögen dafür ausgegeben, dass die King-Baugesellschaft in zehn Monaten etwas schaffte, was normalerweise zwei Jahre gedauert hätte. Er hatte sehr genaue Vorstellungen von dem Umbau gehabt, die dann von einem seiner Cousins, einem Architekten, umgesetzt worden waren. Die eigentlichen Arbeiten am Haus hatte Tanner selbst mit Argusaugen verfolgt, um zu ja verhindern, dass etwas schieflief. Dieses Anwesen sollte schließlich sein Allerheiligstes werden, sein Zufluchtsort – sicher, abgeschieden und friedlich.

Beim Gedanken daran, wie schnell diese Vorstellungen an der Realität gescheitert waren, stieß er einen verächtlichen Laut aus.

„Wo geht’s denn hier zur Küche?“, fragte Ivy und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Er zeigte in eine Richtung. „Da entlang, aber …“

Zu spät, sie war bereits auf dem Weg, und die Absätze ihrer Stiefel klackerten energisch auf dem Holzboden. Gezwungen, ihr zu folgen, bemühte sich Tanner, wenigstens nicht ständig auf ihren wohlgeformten Po zu starren.

„Oh mein Gott“, flüsterte sie beeindruckt, fast als hätte sie eine Kathedrale betreten.

Die Küche war ebenfalls geräumig, die cremefarbenen Wände und hellen Eichenschränke verliehen dem Raum eine gewisse Weite. Unter den honigfarbenen Regalen erstreckten sich die Arbeitsflächen aus Granit. Und über der alten Farmhausspüle war ein großes Fenster, aus dem man den gesamten Hinterhof überblicken konnte. Selbst in der Dämmerung ein beeindruckender Anblick – mit den alten Bäumen, den Büschen und den Wildblumen, die wie fröhliche Farbtupfer wirkten.

„Hier zu kochen wird wahrscheinlich wie Urlaub sein“, murmelte Ivy und lächelte Tanner an. „Sie sollten mal meine Küche sehen! Viel zu eng, und mein Kühlschrank ist älter als ich.“

Ivy steuerte auf den Kingsize-Kühlschrank zu und öffnete ihn. Nachdem sie einen neugierigen Blick hineingeworfen hatte, sah sie Tanner skeptisch an. „Bier und Salami? Das ist alles?“

„Da muss auch noch irgendwo ein Rest Schinken sein“, sagte er zu seiner Verteidigung. „Und ein paar Eier.“

„Genau zwei.“

„Dafür ist die Gefriertruhe gut gefüllt“, rechtfertigte er sich, obwohl er das gar nicht wollte. „Ich verhungere schon nicht.“

Sie sah ihn an, als wäre er ein kleines Kind, das schwer von Begriff war. „Sie haben diese wunderbare Küche, und das Einzige, was Sie benutzen, ist die Mikrowelle, um Fertiggerichte aufzuwärmen?“

Mürrisch verzog Tanner den Mund. Es war ja nicht so, als hätte er nichts anderes zu tun gehabt! Außerdem hatte er ab und zu durchaus darüber nachgedacht, selbst zu kochen. Oder jemanden zu engagieren, der das für ihn tat, jedenfalls irgendwann mal.

„Egal.“ Kopfschüttelnd schloss Ivy die Kühlschranktür und sagte: „Okay, ich kaufe ein paar Lebensmittel ein und …“

„Das kann ich selbst.“

„Oh“, entgegnete sie, „das werden Sie auch. Aber ich gebe die Bestellung auf, da Sie offenbar vergessen haben, was man in einem ordentlichen Haushalt braucht.“

„Ms. Holloway …“ Selbst für Tanner klang das eine Spur zu streng.

Sie winkte ab. „Nennen Sie mich ruhig Ivy, das machen alle.“

„Ms. Holloway“, wiederholte er absichtlich und sah, wie sie eine Augenbraue hob. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie hier nicht arbeiten können.“

„Wieso glauben Sie das?“, fragte sie und fuhr sanft, fast liebevoll, über die hellen Granitflächen. „Vielleicht bin ich ja sehr gut in meinem Job. Möglicherweise sogar die beste Haushälterin der Welt. Geben Sie mir wenigstens eine Chance, anstatt mich von vorneherein abzulehnen.“

Und was für eine Chance ich ihr geben würde, dachte Tanner. Allerdings völlig anders, als sie denkt. Der Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Sie roch nach frischen Zitronen, und Tanner musste sich beherrschen, um sich nicht von ihrem Duft bezaubern zu lassen.

Wäre Mitchell jetzt hier, sein ehemaliger Mitbewohner aus Collegetagen, würde er Tanner wahrscheinlich den Hals umdrehen wollen. Seit Jahren versuchten Mitchell und dessen Frau Karen, Tanner eine ‚nette‘ Frau zu vermitteln. Sie hatten für ihn bereits mehrere Abendessen mit weiblichen Überraschungsgästen oder sogar Partys mit Unmengen von Frauen organisiert. Alles nur, um ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken.

Die Sache war nur die: Tanner hatte gar nicht das Gefühl, in einem Schneckenhaus zu leben. Es hatte ihn Jahre gekostet, sich vom Rest der Welt zu distanzieren, um seine Ruhe zu haben. Und er hatte nicht das geringste Interesse daran, jemanden zu nahe an sich heranzulassen. Er hatte Freunde, Cousins und Halbbrüder. Er brauchte sonst niemanden. Aber erzähl das mal deinen verheirateten Freunden, dachte er. Manchmal hatte er das Gefühl, dass ein verheirateter Mann jeden seiner Geschlechtsgenossen zur Ehe überreden wollte. Doch was das betraf, musste Tanner seinen Kumpel Mitchell enttäuschen. Auch wenn der es noch so oft versuchte.

Ivy Holloway war der lebende Beweis dafür. Wahrscheinlich hatte Mitchell gedacht, es wäre eine gute Idee, die Dorfschönheit auf Tanner anzusetzen. Damit wollte er ihn vermutlich zwingen, endlich aktiv am Kleinstadtleben teilzunehmen. Doch da hatte Mitchell die Rechnung ohne Tanner gemacht.

„Die Sache ist die“, sagte er schnell, bevor der Testosteronschock ihn am Denken hinderte. „Normalerweise arbeite ich nachts. Das heißt, tagsüber schlafe ich – zumindest versuche ich es“, murmelte er. Fakt war, dass der Dauerlärm aus der Nachbarschaft ihm das Schlafen nahezu unmöglich machte. „Deshalb brauche ich absolute Ruhe. Es würde mich stören, wenn Sie hier herumlaufen und …“

„Was tun Sie denn?“

„Wie bitte?“

„Sie sagten, Sie arbeiten zu Hause.“ Sie stützte die Ellbogen auf die Arbeitsfläche und legte das Kinn auf die Hände. „Womit bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?“

In ihren wachen blauen Augen blitzte es auf.

„Ich entwickle Computerspiele.“

„Tatsächlich? Irgendeins, das ich kenne?“

„Das bezweifle ich. Ich mache keine Games für Frauen.“

„Wow, ganz schön anmaßend.“

Ja, damit hatte sie recht. Allerdings war er auf ihre Frage auch nicht vorbereitet gewesen. „Damit meine ich …“

„Na los, sagen Sie’s doch einfach“, unterbrach sie ihn lächelnd, und da war es wieder, dieses charmante Grübchen.

„Also schön. Das letzte Spiel, das ich entwickelt habe, war ‚Dark Druids‘.“

„Ernsthaft?“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wahnsinn, ich liebe dieses Spiel. Und nur damit Sie’s wissen, ich habe Level neun geknackt, das Masterlevel“, fügte sie hinzu und hob stolz das Kinn.

Tanner war gegen seinen Willen beeindruckt. Er wusste, wie schwierig sein „Druidenspiel“ war. Level neun zu erreichen, verdiente Respekt. „Wie lange haben Sie gebraucht?“

Achselzuckend antwortete Ivy: „Ungefähr ein halbes Jahr. Also, woran arbeiten Sie gerade? Oder ist das noch geheim?“

Sechs Monate? Sie hatte nur sechs Monate gebraucht? Er hatte reihenweise Beschwerde-E-Mails von Leuten bekommen, die das Spiel zu schwierig fanden. Die meisten hatten es gerade einmal bis Level drei geschafft.

Um ein Haar hätte Tanner vergessen, dass er diese Frau loswerden wollte. Aber sie war nicht nur wunderschön, sondern offenbar auch sehr intelligent. Eine tödliche Kombination.

Er musste sich zurückhalten, um nichts über sein aktuelles Projekt und seine Arbeitsblockade der letzten Nacht auszuplaudern. Andererseits, wenn Ivy wirklich so gut war, könnte sie ihm vielleicht helfen … Diesen Gedanken verwarf er unverzüglich, denn er brauchte keinen Komplizen. Außerdem durfte er nicht vergessen, dass sie ihn von der Arbeit abhielt, seit sie hier war. Statt herumzustehen und mit ihr zu plaudern, sollte er längst in seinem Zimmer sitzen und sich mit mittelalterlicher Zauberkunst beschäftigen.

„Also geheim“, sagte sie. Offenbar war ihr sein Zögern nicht entgangen. „Kein Problem. Warum setzen Sie sich nicht oben an Ihren Schreibtisch, während ich hier unten Klarschiff mache?“

„Ich glaube nicht …“

„Sie brauchen eine Haushälterin“, unterbrach sie ihn mit fester Stimme, „und vor allen Dingen jemanden, der für Sie kocht. Und ich brauche das Geld. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht stören werde. Sie werden nicht einmal merken, dass ich hier bin. Kommen Sie, geben Sie mir eine Chance!“

So wie es aussah, ließ sie sich nicht ohne Weiteres abwimmeln. Für den Moment erschien es ihm am klügsten, erst einmal einzuwilligen. „Meinetwegen. Ich bin oben in meinem Arbeitszimmer. Dritte Tür links.“

„Viel Spaß!“ Sie drehte sich um und begann leise vor sich hinmurmelnd die Regale und Schränke zu inspizieren.

Tanner musste dringend ein Wörtchen mit Mitchell reden, damit er diese Frau feuerte. Und zwar schleunigst.

Sie hingegen schien ihn schon fast wieder vergessen zu haben und kritzelte in aller Seelenruhe etwas auf einen Notizblock. Als sie zu guter Letzt auch noch anfing, vor sich hinzusummen, drehte Tanner sich um. Auf keinen Fall konnte das gut gehen. Morgen musste sie unbedingt wieder verschwinden.

Als er ging, beachtete sie ihn gar nicht mehr.

Sobald sie allein war, lehnte Ivy sich erleichtert gegen eine Arbeitsplatte.

„Lief doch schon ganz gut“, murmelte sie. Sie hatte es geschafft, ihn nervös zu machen. Na gut, sie musste zugeben, dass er schon wütend gewesen war, als er ihr die Tür geöffnet hatte. Wäre sie nicht so flink gewesen, hätte er sie garantiert nicht ins Haus gelassen.

Aber genau das hätte sie sich nicht leisten können. Sie musste diesen Job bekommen, um jeden Preis. Klar, das zusätzliche Geld konnte sie gut gebrauchen, aber das war nicht der Grund, warum sie sich hierher gewagt hatte – auf feindliches Gebiet. Wie merkwürdig das klang, selbst in ihren Ohren! Feinde hatte sie bis jetzt eigentlich nicht gehabt. Ab jetzt hatte sie eben einen. Und er war reich und mächtig.

Allerdings hätte ihr vorher jemand sagen sollen, wie atemberaubend gut er aussah. Ein Blick hatte genügt, und schon hatte sie weiche Knie bekommen.

Dieses große, athletische Testosteronwunder mit den geschmeidigen Beinen war die reinste Augenweide. Jedenfalls hatten ihre Hormone bei seinem Anblick ein wildes Tänzchen aufgeführt. Als er die Tür geöffnet hatte, war ihr tatsächlich schwindlig geworden.

Er hatte dunkelblaue Augen und dichtes schwarzes Haar. Das Gesamtpaket inklusive der langen Beine und schmalen Hüften hatte eine unglaubliche Wirkung auf sie. Bloß hatte sie damit am allerwenigsten gerechnet. Wie sollte sie einen Mann für sich gewinnen, wie mit ihm zusammenarbeiten, wenn sie ständig gegen Schwächeanfälle kämpfen musste?

„Vielleicht hat Pop recht“, murmelte sie und dachte daran, wie ihr Großvater versucht hatte, ihr diesen Plan auszureden. Tja, zu spät.

Ivy ging zu dem mannshohen Wandschrank in der hinteren Ecke der Küche. Genau, wie sie vermutet hatte, lag die Speisekammer dahinter. Mit Blick auf die leeren Regale fragte sie sich, wie Tanner King die letzten zwei Monate überlebt hatte.

Wahrscheinlich verbrachte er seine Zeit ausschließlich damit, an seinen Computerspielen zu arbeiten und sich beim Sheriff zu beschweren. Über sie.

Sie schloss die Augen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Genau deshalb war sie ja jetzt hier. Weil Sheriff Cooper ihr bei einem seiner unzähligen Besuche mitgeteilt hatte, dass er Tanner King nicht länger besänftigen könne. Das war jetzt genau zwei Tage her.

Sie schloss die Tür der Kammer, lehnte sich dagegen und betrachte die exklusiv eingerichtete Küche. Es war ein schöner, aber auch sehr nüchterner Raum. Ein bisschen wie sein Besitzer, dachte Ivy. Was für ein Mann baute ein Haus, das gleichzeitig so beeindruckend und so kalt war?

„Tja, Ivy, finde es raus“, sagte sie sich.

Sie wollte verstehen, warum er sich so abweisend verhielt. Gleichzeitig wollte sie auch, dass er sie verstand. Und dass er begriff, an was für einem Ort er lebte. Bevor er alles kaputtmachte.

Leicht würde es bestimmt nicht werden, doch Ivy stammte aus keiner Familie aus Feiglingen. Ihr Großvater hatte immer gewusst, dass Gott wahrscheinlich der Einzige war, der sie davon abhalten konnte, einen Plan in die Tat umzusetzen. Jetzt war sie hier. Und sie würde nicht eher gehen, bis Tanner King zur Besinnung kam.

Natürlich war sie auch ein bisschen nervös. Die ganze Zeit so zu tun, als wäre sie bloß eine Teilzeit-Haushälterin, würde ganz schön hart werden. Man mochte es drehen und wenden, wie man wollte, aber sie war eine Lügnerin. Was nicht unbedingt hieß, dass sie ihm direkt ins Gesicht lügen musste. Ivy lächelte in sich hinein. So gesehen war es ja auch keine Lüge. Sie verheimlichte ihm lediglich ein paar Tatsachen, und daran war eigentlich nichts Schlimmes. Schließlich tat sie es für einen guten Zweck.

„Mann, ich frage mich, wie viele Menschen sich vor mir mit diesem Gedanken getröstet haben.“

Seufzend wünschte sie sich, die Sache sähe anders aus. Doch mit reinem Wunschdenken bewirkte man gar nichts, das wusste Ivy nur allzu gut. Außerdem hatte das Spiel bereits begonnen. Sie hatte den ersten Schritt getan und konnte keinen Rückzieher mehr machen. Sie war hier und würde tun, was sie tun musste.

Und dann würde Tanner King schon merken, dass er einen ebenbürtigen Gegner hatte.

2. KAPITEL

„Damit will ich sagen“, raunzte Tanner King in den Hörer, „dass dich ein Weihnachtsmarkt im August in den Wahnsinn treiben kann.“

„Hm-hm.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang amüsiert. „Du hörst dich an wie einer dieser Idioten, die neben einen Flughafen ziehen und sich dann über den Lärm beschweren.“

Tanner blickte verärgert aus dem Fenster auf die mit Tannen bepflanzte Fläche, die an sein Grundstück grenzte. Am Abend machte das alles tatsächlich einen friedlichen Eindruck, doch der Schein trog. Durch das geöffnete Fenster drang Pinienduft herein. Tanner runzelte die Stirn. Bei dem Anblick schien es unvorstellbar zu sein, wie laut und unruhig es hier tagsüber war.

„Was willst du mir eigentlich sagen?“

„Dass du gewusst hast, worauf du dich einlässt“, entgegnete sein Cousin Nathan fröhlich, „als du das Anwesen vor einem Jahr gekauft hast. Dir war doch klar, dass die Christbaumfarm quasi mit dazugehört. Also jammere jetzt nicht rum!“

„Erstens“, erklärte Tanner, „jammere ich nicht. Und zweitens, welche Weihnachtsbaumfarm hat das ganze Jahr über geöffnet? Das hat mir niemand gesagt, als ich das Anwesen gekauft habe.“

Natürlich nicht, denn er hatte auch nicht danach gefragt. Aber, dachte Tanner, wer würde das schon? Als er das Anwesen erworben hatte, hatten seine Nachbarn ihm zwar von dem wunderbaren Ausblick vorgeschwärmt. Hingehört hatte er aber nur mit halbem Ohr. Lag es nicht in der Natur der Sache, dass Weihnachtsbäume nur zu Weihnachten verkauft wurden? Während sein Cousin weiter auf ihn einredete, blickte Tanner kopfschüttelnd aus dem Bürofenster auf das gegenüberliegende Grundstück.

Seit gerade mal zwei Monaten lebte er nun hier – zuvor hatten die Bautrupps ganze Arbeit geleistet und das Anwesen in einen wahren Traum verwandelt. Als Tanner schließlich eingezogen war, hatte er gehofft, Ruhe zu finden. Wer hätte das nicht, mit einem Tannenwäldchen vor der Tür? Stattdessen musste er jeden Tag hilflos mit ansehen, wie Besucherhorden auf der Angel Christmas Farm einfielen.

Abgesehen von seinen Nachbarn ließ das Haus wirklich keine Wünsche übrig. Inmitten dieses Traums aus Glas und Holz hatte er alles, was er brauchte. Der Blick auf mehrere Morgen Land mit Tannen, die sich meilenweit über die Landschaft erstreckten, war fantastisch. Aber es waren auch nicht die Bäume, die ihn störten, sondern das geschäftstüchtige Treiben ihrer Besitzer. Scheinbar hatten die Angels, denen die Farm gehörte, sich vorgenommen, das Saisongeschäft aufs ganze Jahr auszudehnen.

An fast jedem Wochenende wurden hier Hochzeiten gefeiert, Picknicks veranstaltet und Kindergeburtstage ausgerichtet. Ein nicht enden wollender Strom von Autos schob sich unaufhörlich die Straße neben seinem Grundstück hoch. Die Angel Christmas Farm ging ihm mittlerweile ziemlich auf die Nerven.

Doch das war beileibe nicht das Schlimmste. Nein, das Allerschlimmste war die Dauerbeschallung aus den kleinen Lautsprechern an den Telefonmasten. Weihnachtsmusik. Im August. Draußen brannte die Sonne, während Tanner täglich „White Christmas“ über sich ergehen lassen musste. Und das, während er normalerweise schlief.

„Du könntest wie jeder normale Mensch nachts schlafen, statt das Leben eines Vampirs zu führen“, schlug Nathan ihm vor.

„Das habe ich ja versucht“, murmelte Tanner und starrte auf den Computerbildschirm. „Aber versuch mal, ein mittelalterliches Kriegsspiel zu entwickeln, wenn im Hintergrund ‚Jingle Bells‘ in Endlosschleife läuft.“

Nein, dachte er, ich kann hier nur nachts arbeiten. Schon waren seine Gedanken wieder bei dieser attraktiven Frau, die tagsüber in seinem Haus werkelte. Wie sollte er sich auf seine Arbeit konzentrieren, wenn sie nur eine Etage tiefer arbeitete?

„Okay“, sagte Nathan. „Dann ist mir lieber, du bist schlecht drauf, schaffst es aber, mit dem Spiel rechtzeitig fertig zu werden. Übrigens, wie läuft’s denn?“

Jetzt waren sie wieder beim eigentlichen Thema. Tanners Firma King Games arbeitete mit Nathans Firma King Computers zusammen. Das neue Computerspiel, an dem Tanner gerade arbeitete, sollte in jedem neuen King-Computer standardmäßig vorinstalliert werden. Eine hervorragende Sache – vorausgesetzt Tanner hielt sich an dem Zeitplan.

Aber genau das wurde problematisch – dank der Angelfarm und nicht zuletzt dank Ivy Holloway.

Eigentlich war das Spiel so gut wie fertig. Die künstlerische Arbeit hatte er schon vor Wochen erledigt, auch die Programmierer hatten ihren Teil beigetragen. Auf dem Plan standen noch einige Korrekturen an der Story und an den Grafiken. Trotzdem lief Tanner die Zeit davon. Natürlich hätte er viel an seine externen Grafiker delegieren können. Doch genau an der Gestaltung des Spiels lag ihm so viel. Es war sein Herzblut – es bedeutete ihm einfach zu viel, als dass er die künstlerische Verantwortung aus der Hand gegeben hätte.

Außerdem sollte ein Spiel von King Games verdammt noch mal auch von einem King entwickelt werden.

„Letzte Nacht hatte ich einige Probleme.“ Tanner seufzte und rieb sich die Augen.

„Die Produktion soll nächsten Monat anlaufen.“

„Danke für den Hinweis, aber ich kenne den Zeitplan.“

„Ich sage ja bloß, dass die ersten Spiele zum Weihnachtsgeschäft fertig sein sollten.“ Nathan atmete hörbar aus. „Wir können uns keine Verzögerung leisten, Tanner.“

„Ich schaffe das. Ich wäre dir nur sehr dankbar, das Wort ‚Weihnachten‘ nicht in meiner Gegenwart auszusprechen, okay?“ Oder atemberaubende kluge Blondinen zu erwähnen. Doch über Ivy schwieg er sich aus. Sie würde sowieso bald wieder weg sein.

„Gut. Ich habe in einer Viertelstunde ein Meeting mit den Vertriebsleuten, um mit ihnen über dein Spiel zu sprechen. Also lass uns beim Thema bleiben, okay?“

„Entspann dich, Nathan. Ich weiß, wie wichtig die Sache ist. Für uns beide.“

Tanners Firma war zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreicher, als er sich jemals hätte träumen lassen. Er hatte seinem Unternehmen weltweit zu einem hervorragenden Renommee verholfen – die Partnerschaft mit seinem Cousin würde King Games an die Spitze katapultieren. Und dorthin wollte er.

Er musste sich einfach nur konzentrieren.

Und die Frau in der Etage unter ihm aus seinem Hirn verdrängen.

Zwei Stunden später waren die Lebensmittel aus der Stadt bereits angeliefert und in den Schränken verstaut worden.

Ivy war absolut hingerissen von Tanner Kings Haus. Vor allem von der Küche, dachte sie.

Oh, natürlich liebte sie auch das kleine viktorianische Haus, in dem sie lebte. Das hatte durchaus Charakter – vieles war schrullig, aber liebenswert. In jedem Winkel des schiefen Häuschens steckten Erinnerungen, die Ivy um keinen Preis hergegeben hätte. Und wenn doch, dann nur gegen Tanner Kings Haus.

„Was für eine Schande. Der Mann hat eine Küche zum Niederknien, aber alles, was er darin aufbewahrt, sind Knabbergebäck und Bier. Kein Wunder, dass er Hilfe braucht.“ Ihr Selbstgespräch half ihr, die unheimliche Stille zu ertragen.

Ihr wollte einfach nicht in den Kopf, dass er in dieser nüchternen Atmosphäre arbeiten konnte. Dass er hier Spiele voller Magie und Intelligenz erfand.

Ivy musste unter Menschen sein. Sie blühte erst richtig auf, wenn sie sich kopfüber ins Leben stürzen konnte. Deshalb tat es ihr auch jeden Abend aufs Neue leid, sich schlafen legen zu müssen. Denn es gab ja noch so viel zu tun und zu entdecken. Sie hatte das Gefühl, dass ein Leben nicht ausreichte, um alles zu verwirklichen, was sie sich vorgenommen hatte.

Deshalb fiel es ihr natürlich noch schwerer, einen Mann wie Tanner King zu verstehen, der sich lieber verkroch. Ivy war völlig unbegreiflich, dass sich jemand für dieses Dasein entschied.

Seit zwei Monaten lebte Tanner King in Cabot Valley, ohne dass eine Menschenseele über ihn Bescheid wusste. Nicht einmal Merry Campbell, die berüchtigt dafür war, alles über jeden herausfinden zu können. Aber dazu hätte dieser Mann ja auch einen Fuß in ihren Laden setzen müssen.

Das hatte er natürlich nicht getan.

Soweit Ivy wusste, war er kein einziges Mal in der Stadt gewesen, seit er seinen Palast aus Glas und Holz bezogen hatte. Lebensmittel ließ er sich anliefern. Sonst mied er den Kontakt zu den Menschen, die hier lebten.

„Obwohl“, sagte sie sich, „nicht zu allen.“ Selbstverständlich hatte er sich bereits unzählige Male beim Sheriff von Cabot Valley beschwert. Über die Menschenmassen, den Lärm, die Musik und den Verkehr.

Man sollte meinen, er hätte Besseres zu tun, sagte sie sich. Aber nein, er zog ins Valley und versuchte sofort, alles so zu ändern, wie es ihm gerade passte. Damit würde er allerdings nicht weit kommen. Denn keiner hier würde bei Tanner King angekrochen kommen. Und je früher er das begriff, desto besser. Doch zunächst musste sie alles tun, um sein Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht konnte sie ihn dann sogar mit den anderen bekannt machen. Und ihm klarmachen, dass die Angel Christmas Tree Farm eine wichtige Feste dieser Gemeinschaft war.

Der Versuch, ihn mit gutem Essen zu ködern, war immerhin ein Anfang.

Vorsichtig öffnete sie die Ofentür, hob die Backform heraus und stellte sie zum Abkühlen auf ein Gitter. Während der Duft des frischgebackenen Brots die Küche erfüllte, widmete Ivy sich der Suppe, die auf dem Herd köchelte. Obwohl sie hier hatte improvisieren müssen, duftete die Suppe sehr gut. Zusammen mit dem Brot war die Mahlzeit wahrscheinlich besser als alles, was Tanner in den letzten Monaten gegessen hatte.

Ihre Mom sagte immer, mit einer anständigen Mahlzeit und einem herzlichen Lächeln könne man jeden Mann herumkriegen. Hoffentlich behielt sie damit recht.

Denn sonst hätte Ivy kaum eine Chance, die Angel Christmas Tree Farm vor einem Mann zu retten, dem sie ein Dorn im Auge war.

Tanner gelang es nicht, sich zu konzentrieren. Jedes Mal, wenn er sich der Programmierung widmete, schweiften seine Gedanken zu dieser Frau. Blondes Haar, blaue Augen, Grübchen. Und dann der Klang ihrer leicht rauchigen Stimme, ihr Duft nach Zitronen. Verdammt.

Es waren ja nicht nur die Gedanken an sie, die ihn verrückt machten. Wie sollte er in Ruhe arbeiten, wenn ein anderer Mensch in seinem Haus war? Auch wenn er bis jetzt keinen Staubsaugerlärm oder Ähnliches gehört hatte. Aber zweifellos wedelte sie mit einem Staubtuch herum, lief umher, sah sich um. Atmete seine Luft ein.

Tanner lehnte sich zurück und fuhr sich durchs Haar. Allmählich kochte die Wut in ihm hoch. Er hatte noch genau dreißig Tage, um sein Spiel fertig zu stellen. Stattdessen saß er da und dachte an Ivy Holloway.

„So geht’s nicht“, murmelte er und griff zum Telefon.

Nach dreimaligem Klingeln hob sein Anwalt ab. „Hallo?“

„Mitchell, du musst diese Haushälterin feuern.“

Er lachte auf. „Hi, Tanner. Schön, dass du anrufst! Ja, Karen geht es gut. Danke der Nachfrage.“

Tanner strich sich übers Gesicht. „Sehr witzig. Das hier ist kein Plauderstündchen.“

„Tatsächlich?“ Mitchell seufzte. „Sie ist nicht einmal einen ganzen Abend bei dir, und du willst sie schon wieder hinauswerfen?“

Er sprang auf und blickte finster aus dem Fenster, auf seinen Widersacher. „Es war nicht meine Idee, sie einzustellen. Schon vergessen?“

Mitchells Vorschlag, ihm eine Haushälterin auf Teilzeitbasis zu besorgen, hatte zuerst vernünftig geklungen. Gott, ja, es hatte ihm allmählich zum Hals herausgegangen, sich andauernd von Tiefkühlgerichten zu ernähren und sich selbst um die Wäsche kümmern zu müssen. Aber er stand unter Zeitdruck und litt außerdem unter Schlafmangel. Daher war es für eine Haushälterin der denkbar ungünstigste Zeitpunkt.

„Vergiss es, Tanner. Du brauchst jemanden, der für dich kocht und aufräumt.“

„Klar, damit ich mich noch schlechter konzentrieren kann.“

„Weißt du“, erwiderte sein Freund, „es gibt einen Unterschied zwischen jemandem, der sich zurückzieht, um zu arbeiten, und einem Einzelgänger.“

Finster kniff er die Augen zusammen. „Ich bin kein Einzelgänger.“

„Noch nicht.“ Mitchell seufzte. „Wäre es dir lieber, sie käme tagsüber, wenn du schläfst?“

„Nein.“ So weit kommt’s noch, dachte er. Draußen der Lärm und drinnen jemand, der in seinem Haus herumwirbelte. Abgesehen davon würde er bestimmt versuchen, seine attraktive Haushälterin während ihrer Arbeitszeit in sein Bett zu locken, anstatt zu schlafen. Nein, da war es schon besser, sie erledigte ihren Job, wenn er ebenfalls arbeitete.

„Na, dann ist ja alles klar. Versuch einfach, nett zu ihr zu sein.“

„Ich bin Frauen gegenüber immer nett“, sagte Tanner beleidigt. Ivy Holloway schien jedenfalls keine Angst vor ihm zu haben. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen?

„Ich bin wohl der Einzige, mein Freund, der sich nicht von dir einschüchtern lässt“, entgegnete Mitchell.

Missmutig ließ Tanner sich diese Bemerkung durch den Kopf gehen. Er konnte gut auf Menschen verzichten. Aber hatte er sich dadurch wirklich in einen verschrobenen Einzelgänger verwandelt? Wann war das passiert? Wann war aus ihm ein einsamer Sonderling geworden?

Resigniert seufzte er und wechselte das Thema. „Mitchell, dann sag mir wenigstens, was wir gegen diese verfluchte Christbaumfarm tun können.“

Nachdem die Gespräche mit dem Sheriff im Sande verlaufen waren, hatte Tanner seinen Anwalt auf diese Sache angesetzt. Dass das nötig war, hatte ihn nicht sonderlich überrascht. Denn natürlich stand der Sheriff auf der Seite der Einheimischen.

Mitchell räusperte sich. „Ich könnte eine einstweilige Verfügung veranlassen, aber das würde dich auch nicht weiterbringen. Die Farm ist seit drei Generationen in der Hand der Angels. Und die Stadt ist glücklich darüber, weil sie ihr viele Touristen und Dollars beschert. Kein Richter der Stadt würde zu deinen Gunsten entscheiden. Du würdest es möglicherweise schlimmer machen.“

„Noch schlimmer? Wie soll das denn gehen?“

„Wenn du sie noch mehr reizt, musst du dir demnächst vielleicht rund um die Uhr Weihnachtsmusik anhören, also auch abends.“

„Na toll“, murmelte Tanner und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Nun hatte er sein Traumhaus, das aber leider neben einer Schreckenskammer stand. „Weißt du, es sind ja nicht nur der Lärm und der Verkehr, Mitchell. Kinder laufen einfach auf mein Grundstück und klettern auf meine Bäume. Ein Albtraum für jede Haftpflichtversicherung. Ganz zu schweigen von den Hundehaufen auf meinem Rasen. Obwohl ich nicht einmal einen Hund habe.“

Er glaubte, Mitchell lachen zu hören.

„Das ist nicht komisch. Weißt du eigentlich, dass hier fast jedes Wochenende eine Hochzeit gefeiert wird? Letztes Wochenende sind hier mindestens dreißig kleine Kinder schreiend herumgerannt.“

„Ja, siehst du, und da liegt das Problem“, sagte Mitchell. „Natürlich kannst du dich über glückliche Kinder auf einer Weihnachtsbaumfarm beschweren. Aber ich schwöre dir, danach wirst du für sie der kaltherzige Fiesling Scrooge aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte sein. Beliebter wirst du dadurch nicht. Cabot Valley ist nicht L.A., Tanner. Und das hast du gewusst, als du dorthin gezogen bist.“

„Ach, tatsächlich.“ Die Lage des Städtchens hatte Tanner ja so gereizt. Cabot Valley lag nur ein paar Autostunden von Sacramento und vom Lake Tahoe entfernt. Hier konnte er sowohl seinem Bedürfnis nach Stadtleben nachgeben als auch seine Ruhe haben.

Allerdings war er, seit er hier wohnte, noch kein einziges Mal in der Stadt gewesen. Die Lebensmittel, die er brauchte, ließ er sich anliefern. Wenn er das Haus verließ, um seinen Wagen aufzutanken, dann tat er es nicht in Cabot Valley. Er vermied es, in Gespräche verwickelt zu werden, damit die Leute gar nicht erst auf die Idee kamen, ihn als Nachbarn zu begrüßen. Er brauchte keine neuen Freunde und wollte in Ruhe gelassen werden, um vernünftig arbeiten zu können.

„Ich sage doch nur, dass du abwarten solltest“, sagte Mitchell. „Komm doch erst einmal an. Vielleicht solltest du lieber nach einer anderen Lösung suchen, bevor du dir Feinde machst.“

Verärgert gestand Tanner sich ein, dass er Feinde noch weniger gebrauchen konnte als Freunde. Er wollte verdammt noch mal doch nur seinen Frieden. „Also gut“, erwiderte er gereizt. „Aber erkläre mir bitte eins. Du weigerst dich, die Haushälterin zu feuern, und du unternimmst nichts wegen dieser verfluchten Tannenbaumgeschichte. Warum habe ich dich eigentlich noch nicht gefeuert?“

„Weil ich der einzige Mensch bin, der dir die Wahrheit sagt, ob du sie hören willst oder nicht.“

„Berechtigter Einwurf. Ich lege jetzt auf.“

„Ich auch. Und Tanner … Sei nett!“

Finster unterbrach er die Verbindung. Aber selbst in dieser Stimmung musste Tanner zugeben, dass Mitchell recht hatte. Er wusste es zu schätzen, wenn ihm jemand die Wahrheit sagte. Als Kind hatte er sich genug Lügen anhören müssen. Immer wieder hatte sich seine Mutter Geschichten einfallen lassen, wenn sie ihn wochenlang bei der Haushälterin gelassen oder ihm erklärt hatte, warum sie nicht an einer Schulveranstaltung teilnehmen konnte. Alles, damit sie entspannt nach Florenz oder Gstaad hatte fliegen können, oder wo auch immer ihre Liebhaber gerade lebten.

Energisch verdrängte er die alten Erinnerungen. Schließlich hatte seine Kindheit absolut nichts mit seinem Leben heute zu tun. Fakt war, dass Mitchell recht hatte. Und dass es außerhalb seiner Familie – er hatte unzählige Cousins und Halbbrüder – nicht viele Menschen gab, denen er vertraute. Mitchell war allerdings wirklich einer von ihnen.

Nachdem er das Telefon beiseitegelegt hatte, lehnte er sich zurück, schloss die Augen und genoss einen Moment lang die Stille. Keine Weihnachtssongs. Keine Autos, die die Straße entlangrasten. Keine Kinder, die in seinem Vorgarten tobten.

Aber auch kein einziger Laut aus dem Stockwerk unter ihm. Was macht sie? Welche Haushälterin ist so leise?

Leise ging er die Treppe hinunter. Vor der Küchentür blieb er stehen. Als ihm ein appetitlicher Geruch in die Nase stieg, begann sein Magen zu knurren. Es war schon eine Weile her, dass Tanner ein natürliches Hungergefühl verspürt hatte. Was kein Wunder war, wenn man permanent Pizza und Tiefkühlkost in sich hineinstopfte.

Er stieß die Tür auf und blieb schweigend im Türrahmen stehen. Die Spüle war vollgestellt mit Schüsseln, in die Wasser lief, und auf der Arbeitsplatte war Mehl verstreut. Eine Schranktür stand offen, und auf einer anderen Platte stand eine Schale mit Obst. Sein Blick ging zu seiner neuen Haushälterin, die tänzelnd den Tisch eindeckte und dabei – völlig schief – vor sich hinsummte. Seufzend erkannte er, dass es „The Little Drummer Boy“ war. Schon wieder ein Weihnachtslied. Spielte denn die ganze Stadt völlig verrückt, was Weihnachten anging? Kopfschüttelnd ging er zur Spüle hinüber und drehte den Wasserhahn zu.

Erschrocken wirbelte sie herum, eine Hand auf der Brust. Doch schon in der nächsten Sekunde lächelte sie ihn strahlend an. „Wow, sind Sie leise! Richtig unheimlich. Benutzen Sie beim nächsten Mal ein Glöckchen oder so, okay?“

„Hätten Sie den Wasserhahn abgedreht, hätten Sie mich auch gehört.“

Eine Augenbraue hochgezogen, sah sie ihn an. „Das hätte ich schon noch getan. Aber ich muss die Schüsseln einweichen.“

Er überging den Einwand und schloss stattdessen die Schranktür. „Ich dachte, Sie sind hier, um Ordnung zu halten. Hier sieht es aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen.“

Ivy sah ihn unvermittelt an. „Hat Ihnen eigentlich schon mal jemand gesagt, dass Sie verkrampft wirken?“

„Eigentlich nur Sie. Gerade eben.“

„Überrascht mich nicht“, sagte sie schulterzuckend. „Aber das ist schon okay.“

„Vielen Dank.“

„Keine Ursache. Wir haben alle unsere Macken.“ Sie drehte sich um, schnappte sich ein Tuch und wischte das Mehl von der Arbeitsplatte. „Der Grund für das Chaos ist, ich hatte viel zu tun. Außerdem: Ohne Unordnung keine Ordnung.“

„Na, wenn das so ist“, erwiderte er trocken. Dann atmete er tief ein. „Jedenfalls riecht es gut.“

Sie lächelte ihn an, und dabei kam wieder ihr charmantes Grübchen zum Vorschein. Das Gefühl, das ihn daraufhin wie ein Blitz durchfuhr, versuchte er beharrlich zu ignorieren.

„Natürlich tut es das, wenn man sich zwei Monate lang von Fertiggerichten ernährt hat“, erwiderte sie. Sie ging zum Herd und rührte in dem Topf, aus dem der köstliche Duft stieg.

„Was ist das?“

„Eine Suppe.“

Der verführerische Duft der Suppe verleitete Tanner zu dem Gedanken, dass es vielleicht doch gut war, Ivy Holloway hier zu haben. Denn sie schien ihren Job zu beherrschen. Außerdem musste er zugeben, dass sie keinen Lärm gemacht hatte. Trotzdem. Ihre Anwesenheit hinderte ihn daran, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Doch da sein Magen knurrte, dachte Tanner darüber nach, ob es nicht doch einen Weg gab zusammenzuarbeiten. „Wir haben noch gar nicht über diesen Job gesprochen.“

„Abgesehen davon, dass Sie mich eigentlich nicht haben wollen“, erwiderte sie und warf ihm ein kesses Lächeln zu.

Lächelt sie eigentlich bei jeder Gelegenheit, fragte er sich, schüttelte den Gedanken aber wieder ab. „Es fällt mir eben schwer zu arbeiten, wenn jemand im Haus ist. Ich brauche absolute Stille.“

„Ja, das habe ich schon gemerkt.“ Sie nahm zwei Suppenteller aus einem Schrank und stellte sie auf eine Ablage. „Ganz ehrlich? Ich verstehe nicht, wie Sie das aushalten. Zu viel Stille kann einen verrückt machen.“

„Würde ich wahrscheinlich gar nicht merken“, entgegnete er trocken und dachte an den Lärm, gegen den er in dieser scheinbaren Idylle ankämpfte.

Amüsiert sah sie ihn an. „Sie meinen das ironisch, oder?“

„Richtig“, gab er zu und lehnte sich an den Türrahmen.

„Gefällt mir“, sagte sie und ging zu dem Küchenblock in der Mitte des Raums, wo sie das Brot aus der Backform nahm. „Zeigt, dass Sie wenigstens Sinn für Humor haben. Also, worüber wollen Sie reden?“

„Über die Bedingungen. Ich brauche absolute Ruhe, um zu arbeiten. Aber ich schätze, ich brauche auch eine Haushälterin. Deswegen sollten wir einen Zeitplan erstellen, der es uns beiden erlaubt, unsere Arbeit zu tun.“

„Klingt vernünftig.“ Sie ging zum Herd.

Er folgte ihr mit dem Blick. „Sie haben Brot gebacken?“

„Klar“, erwiderte sie schulterzuckend. „Ist ja nichts Besonderes, einfach nur ein Brot. Ich hatte zwar keine Hefe, aber es wird trotzdem schmecken. Vertrauen Sie mir.“

Interessiert beobachtete er, wie sie souverän in der geräumigen Küche hantierte. Sie hatte Brot gebacken, und auf dem Herd köchelte eine Suppe, die sie wahrscheinlich selbst gemacht hatte. Sie war gerade einmal zwei Stunden hier, hatte aber schon alles im Griff. Wie war das möglich?

Ach, ist das wirklich so wichtig, dachte er, während er den köstlichen Duft einsog, der durch die hell erleuchtete Küche zog. Wird schon nicht schaden, etwas von dem zu essen, was sie gekocht hat. Er war verdammt noch mal kein Einzelgänger. Er war ein beschäftigter Mann, der nicht gestört werden durfte. Das war ein Unterschied. Außerdem zog er Ordnung dem Chaos vor, das war alles.

Tanner brauchte feste Regeln, die sein Leben überschaubar und unkompliziert machten. Die meisten Dinge machte er allein mit sich aus, ansonsten vertraute er seinen Brüdern und Cousins. Aber noch wichtiger war es, Beziehungen zu vermeiden, die länger als ein paar Wochen dauern könnten. Wenn ihm der Sinn nach einer Frau stand, dann suchte er sich eine – ein bisschen Spaß, auf Wiedersehen.

Ivy Holloway gehörte definitiv nicht zu dieser Art von Frauen.

Also gab es keinen Grund dafür, sie bleiben zu lassen. Oder doch?

3. KAPITEL

„Und“, fragte Ivy, „sind Sie hungrig?“

„Ja“, antwortete Tanner und konnte den Blick nur mit Mühe von ihren blassblauen Augen losreißen. „Bin ich.“

„Ich leiste Ihnen Gesellschaft, wenn es Sie nicht stört“, sagte sie und bedeutete ihm, am Tisch vor dem Erkerfenster Platz zu nehmen. „Seit ich heute das Haus verlassen habe, habe ich noch nichts gegessen.“

„Und wo wohnen Sie?“

Es dauerte, bis sie antwortete: „Hm, hier. In Cabot Valley.“ Sie füllte Suppe auf und trug die Teller zum Tisch.

Tanner sog den Duft genüsslich ein und griff zu Serviette und Löffel. „Das war mir schon klar. Aber wo genau? In der Nähe?“

„Ja“, antwortete sie knapp. Dann schnitt sie zwei Scheiben von dem frischen Brot ab, butterte sie und brachte sie ebenfalls zum Tisch. „Sie wissen doch, in einer Kleinstadt ist alles nur einen Steinwurf entfernt.“

Er stutzte, weil sie ihm auswich, fragte aber nicht weiter. In diesem Moment galt es, den Hunger zu stillen. Deshalb wartete Tanner nicht länger und kostete einen Löffel Suppe. Das war gut. Sehr gut sogar. Er hatte den Teller bereits zur Hälfte geleert, als er aufsah und merkte, dass Ivy ihn amüsiert betrachtete.

„Was ist so komisch?“

„Gar nichts. Darf eine Köchin sich nicht darüber freuen, dass den Leuten ihr Essen schmeckt?“

„Doch“, sagte er schulterzuckend. „Natürlich. Das Brot ist übrigens auch sehr gut. Können Sie aber auch überall kaufen, abgepackt und in Scheiben geschnitten.“

Gekränkt sah sie ihn an. „Und schmeckt es auch genauso gut wie dieses hier?“

„Nein, aber es ist bequemer.“

„Bequem ist nicht unbedingt besser.“

„Da haben Sie auch wieder recht“, gab er zu und sah ihr in die Augen. Sie ist mehr als eine Frau mit einem aufregenden Körper zum Niederknien, dachte er. Das war ja das Komplizierte. Frauen, die gleichzeitig klug und sexy waren, konnten einen Mann ziemlich schnell aus der Fassung bringen.

„Na sehen Sie“, meinte sie. „Wir sind ja praktisch schon Freunde!“

„So weit würde ich nicht gehen“, murmelte er und aß seine Suppe auf. Bevor er aufstehen konnte, um sich einen Nachschlag zu holen, war Ivy bereits zum Herd geeilt.

„Sie müssen mich nicht bedienen!“

„Glauben Sie mir“, antwortete sie. „Freiwillig würde ich es wahrscheinlich auch nicht tun. Betrachten Sie es als Teil meines Jobs, okay?“ Sie brachte ihm die zweite Portion. „Ich habe zwar noch nie als Haushälterin gearbeitet, aber ich schätze, dass man sich auch um den Hausherrn kümmern muss.“

Tanner schüttelte den Kopf. „Bis jetzt habe ich mein Leben ganz gut allein gemeistert.“

„Also haben Sie keine Familie?“

„Wieso glauben Sie das?“

Ivy nahm sich ein Stück Brot und schob es in den Mund. „Na ja, hätten Sie Familie, wären Sie ja wohl kaum allein, oder?“

„Kommt auf die Familie an, oder?“

„Interessanter Einwurf.“ Sie lehnte sich zurück und starrte Tanner so lange an, bis er unsicher wurde.

„Was ist?“

„Nichts. Ich frage mich nur, warum Sie Ihre Familie nicht mögen.“

„Das habe ich doch gar nicht gesagt.“

„Natürlich haben Sie das.“

„Sind Sie eigentlich immer so direkt?“ Er legte den Löffel beiseite, lehnte sich ebenfalls zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Na ja, ich versuche es“, entgegnete sie. „Welchen Sinn hat es, Spielchen zu spielen? So erfahren Sie doch nie etwas über Menschen. Ist doch viel besser, ehrlich zu sein und …“

Plötzlich fühlte Ivy sich unwohl, denn sie wusste sehr genau, dass sie gerade ein Spielchen spielte. Also wechselte sie schleunigst das Thema. Sie legte die Unterarme auf die Tischplatte. „Sprechen wir über den Job. Was Sie erwarten.“

„Also gut.“ Er schien einen Augenblick nachzudenken, bevor er schließlich sagte: „Was ich brauche, ist Ruhe. Denn die bekomme ich hier nicht allzu oft.“

Ivy fühlte sich unbehaglich, zeigte es aber nicht. „Ich weiß nicht, Cabot Valley ist doch ein ruhiges Fleckchen.“

„Vielleicht herrscht in der Stadt Ruhe, doch bei dem täglichen Weihnachtsrummel hier sieht die Sache ganz anders aus.“

„Haben Sie etwas gegen Weihnachten?“

„Im August schon.“

Ivy verbot sich, die Bemerkung zu machen, die ihr auf den Lippen lag. Stattdessen sagte sie: „Das ganze Jahr lang Weihnachten haben ist doch eigentlich eine gute Idee. Die Menschen scheinen viel netter zu sein.“

Er lachte kurz auf, aber es war keine Wärme in seinem Lachen. „Oh, klar. Als Händler ist man zur Weihnachtszeit immer netter.“

„Ich rede aber von den Leuten ganz allgemein.“

„Sie meinen die, die ihr Geld mit vollen Händen ausgeben und hinterher zusammenbrechen, weil sie merken, dass nichts so ist, wie sie es sich vorgestellt haben? Oder die Kinder, die auf den Weihnachtsmann warten, der aber nicht kommt? Oder die Betrunkenen, die auf der Straße Menschen überfallen?“ Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ja, genau darauf sollten wir uns jedes Jahr aufs Neue freuen.“

„Aber Sie und Ihr Geschäft profitieren doch auch von Weihnachten, oder?“

„Ich entwickle die Spiele bloß. Ich zwinge niemanden, sie zu kaufen.“

„Wow.“ Ivy betrachtete seine finstere Miene und spürte plötzlich, dass ihre Mission schwieriger werden würde als gedacht. Tanner King wollte nicht nur allein sein, er hasste Weihnachten regelrecht. Aus welchem Grund wohl, fragte sie sich.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, murmelte er: „Entschuldigen Sie, wenn ich zu weit gegangen bin.“

„Kein Problem“, erwiderte sie und beobachtete, wie er langsam die Lider schloss und sich zurückzog. Die Sache schien ihm wirklich an die Nieren zu gehen. „Trotzdem würde ich Sie gern fragen, warum Sie neben einer Weihnachtsbaumfarm leben, wenn Sie Weihnachten hassen.“

Er warf einen Blick aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. „Weil ich mir eingebildet habe, hier wäre es ruhig. Ich bin davon ausgegangen, dass es nur um die Weihnachtszeit herum hektisch sein würde.“ Dann sah er sie wieder an. „Scheinbar sieht der Farmbesitzer das wie Sie und ist ein glühender Anhänger von der Idee, rund um die Uhr Weihnachten zu feiern.“

„Ist das denn so furchtbar?“

„Und wie.“ Er nahm seinen Teller, trug ihn zur Spüle und ließ Wasser darüber laufen. Dann drehte er sich um. „Kinder rennen kreischend über meinen Hof, ein Hund hinterlässt seine Haufen auf meinem Rasen. Und jeden Tag diese Weihnachtsmusik. Es ist furchtbar.“

„Haben Sie mal mit den Besitzern gesprochen?“, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass er es noch nicht getan hatte. Wenn er sich früher an sie gewandt hätte, wäre sie ihm wahrscheinlich entgegengekommen. Stattdessen war er zum Sheriff gegangen und hatte sich damit zu jedermanns Feind gemacht. Damit hatte er ihr keine andere Wahl gelassen, als gegen ihn zu sein.

„Nein, ich habe mit dem Sheriff gesprochen. Sogar mehrmals. Aber bis jetzt ist nichts dabei herumgekommen.“

„Wissen Sie, die Farm gibt es in diesem Valley schon seit …“

„… über hundert Jahren“, beendete er ihren Satz. „Ich weiß. Aber das heißt doch nicht, dass sie das Recht haben, die Nachbarn zu verärgern. Ich schätze, dass man die Weihnachtslieder, mit denen ich hier jeden Tag gefoltert werde, dort, wo Sie wohnen, nicht mehr hören kann.“

Ivy zuckte zusammen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Ich glaube, dass es vorher kein Problem war“, sagte sie. „Die Vorbesitzerin, Mrs. Mansfield, hat Weihnachten geliebt. Während der Saison hat sie auf der Farm ihre selbst gemachten Konfitüren und Blumengebinde verkauft.“

Und sie war wie eine Großmutter für sie gewesen. Allein bei der Erinnerung an die alte Dame wurde Ivy von großer Wehmut ergriffen. Doch jetzt war Tanner King der neue Besitzer, und sie musste einen Weg finden, an ihn heranzukommen. Obwohl sich diese Aufgabe von Sekunde zu Sekunde schwieriger gestaltete. „Vielleicht können Sie sich ja mit ihnen arrangieren …“

„Das Einzige, was Menschen verstehen, sind Geld und Macht“, entgegnete Tanner knapp und verschränkte die Arme fest.

„Aber doch nicht jeder!“

„Sprechen wir lieber über Ihren Job.“ Mehr wollte er zu dem Thema offenbar nicht sagen.

„Richtig. Also gut, was wollen Sie von mir?“ Sobald Ivy die Worte herausgerutscht waren, tat es ihr auch schon leid. Denn ihr Tonfall war ein Hauch zu verführerisch gewesen.

In seinen Augen flackerte es kurz auf. Dann sagte er: „Wie lange brauchen Sie, um Essen zuzubereiten und aufzuräumen?“

Darüber musste sie nicht lange nachdenken. Es war zwar ein großes Haus mit einer Menge Zimmer. Aber er wirkte nicht gerade wie ein Partylöwe, und um sie herum war es so sauber und steril wie in einem Musterhaus. „Ein paar Stunden“, antwortete Ivy, obwohl sie wusste, dass sie gerade einmal eine halbe Stunde benötigen würde, um hier aufzuräumen.

„Na dann.“ Er nickte. „Versuchen wir’s probehalber mit einer Woche und schauen dann, wie’s läuft.“

Eine Woche ist verdammt knapp, dachte Ivy. Aber immerhin wäre sie hier. Auf seinem Territorium. Ich könnte es schaffen, ihn in einer Woche weichzuklopfen, sagte sie sich. Hatte ihr Großvater nicht schon immer behauptet, eine Ivy Holloway bekäme am Ende immer, was sie wollte?

„Und ich bleibe dabei, es ist keine gute Idee.“ Die Stimme von Mike Angel klang rau wie Schmirgelpapier. Als er sie eindringlich ansah, zeichneten sich auf seinem wettergegerbten Gesicht tiefe Sorgenfalten ab.

Ivy seufzte. Sie wusste, dass ihr Großvater nicht aufgegeben und weiterhin versuchen würde, ihr das Vorhaben auszureden. Vor einer Stunde war sie von Tanners in ihr Häuschen zurückgekehrt. Seitdem brummte Mike finster vor sich hin. „Pop, darüber haben wir doch schon gesprochen!“

„Ja, da habe ich geredet“, konterte er. „Du hast nicht zugehört.“

„Doch, das habe ich. Und ich habe meine Entscheidung getroffen. Genau wie du es mir beigebracht hast.“

Mikes Miene wurde noch finsterer. „Es ist nicht fair, meine Argumente gegen mich zu verwenden.“

Ivy lächelte ihn an. Ihr Großvater war immer für sie da gewesen. Seit dem Tod ihres Vaters war er zu einer festen Größe in ihrem Leben geworden. Ivy war damals zehn Jahre alt gewesen. Nachdem sie gemeinsam mit ihrer Mutter zu ihm gezogen war, war Mike beides für sie geworden, Vater und Großvater. Stundenlang hatte sie ihm während der Arbeit auf der Farm zugesehen. Dadurch hatte sie schon sehr früh gelernt, wie und zu welcher Jahreszeit man einen Baum pflanzt und ihn aufzieht. Im Laufe der Zeit war sie mit der Natur genauso verwachsen gewesen wie Mike.

Aus dem Grund war ihm die Entscheidung, zu seiner Tochter nach Florida zu ziehen, auch nicht schwergefallen. Schließlich hatte er gewusst, dass die Farm bei Ivy in guten Händen war.

Das einzige Problem war, dass Mike einige Dinge einfach nicht loslassen konnte. Und die Sache mit Tanner King gehörte dazu.

„Seit zwei Monaten versucht dieser Mann, uns auszuschalten, Ivy.“ Mike rutschte tiefer in den schweren alten Ledersessel. „Ich sehe einfach nicht, was sich daran ändern soll, wenn du für ihn arbeitest.“

Ivy ging durch den Raum, setzte sich auf die braune Lederottomane und legte die Hände auf die Knie. „Du hast mir gesagt, dass du mir die Farm anvertraust. Damit ich das Erbe der Angels beschütze. Hast du das ernst gemeint?“

„Schon, aber …“

„Pop … Entweder du vertraust mir oder nicht. Also?“

„Du weißt ziemlich gut, wie du argumentieren musst, um mich rumzukriegen.“ Er streckte die Hand aus und tätschelte seufzend Ivys Wange. „Genau wie deine Mutter. Ich habe immer den Kürzeren gezogen.“

Während Mike noch eine Weile milde vor sich hinschimpfte, genoss Ivy den Klang seiner Stimme. In wenigen Tagen würde er nach Florida fliegen.

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei, hier alles stehen und liegen zu lassen“, murmelte Mike. „Vielleicht sollte ich lieber hierblieben, bis die ganze Sache erledigt ist.“

Obwohl ihr bei seinen Worten das Herz vor Liebe überging, war ihr lieber, dass er fuhr. Natürlich würde sie ihn fürchterlich vermissen. Doch manchmal war es einfach besser, Veränderungen durchzustehen. Gerade für ihren geliebten Großvater, dem seine Arthrose in den Bergen immer stärker zu schaffen machte. Außerdem brauchte Ivys Mom ihn wirklich.

Vor zwei Jahren war ihre Mutter nach Florida gezogen, und jetzt wollte sie ihren Vater gern wieder bei sich haben. Mike hatte sich sehr auf den Umzug gefreut. Bis Tanner King aufgetaucht war und Unruhe gestiftet hatte.

„Pop, du weißt genauso gut wie ich, dass Mom dich braucht. Sie hat gerade die Baumschule eröffnet, und du bist nun mal der Pflanzenspezialist in der Familie.“

Mike rieb sich übers Kinn. „Aber du brauchst mich auch, Ivy. Sich einen King vorzuknöpfen, ist Knochenarbeit. Dieser Familie gehört praktisch ganz Kalifornien. Wenn er sich einen Anwalt nimmt, könnte dir das vielleicht das Genick brechen. Und was dann?“

„Dann werde ich eben vor Gericht ziehen“, sagte Ivy, zuckte bei dem Gedanken aber zusammen. Eine Verhandlung würde ihre finanziellen Grenzen weit überschreiten. Verflucht, wahrscheinlich konnte sie sich nicht einmal einen Anwalt leisten. Jeden gesparten Cent hatte sie in die Farm gesteckt. Ganz zu schweigen von dem Kredit, den sie aufgenommen hatte, um ihren Traum wahr werden zu lassen.

Ivy hatte große Pläne für diesen Ort. Und einige von denen hatte sie sogar schon in die Tat umgesetzt. Innerhalb der letzten Monate hatte sie sich mit ihren Hochzeitsfeiern über die Grenzen von L.A. hinaus einen Namen machen können. Die vielen Bäume und die riesigen Flächen mit Wildblumen machte die Farm zu einem der begehrtesten und romantischsten Orte im ganzen Staat.

Und dann waren da noch die Geburtstagspartys.

Sie zuckte etwas zusammen, als sie sich an Tanners Lamento über die Kinderhorden auf seinem Grundstück erinnerte. Doch zu ihrer Verteidigung musste sie sagen, dass es nicht leicht war, einen Haufen Kids im Zaum zu halten. Einige mochten tatsächlich ausgerissen und auf seinen Rasen gelaufen sein. Doch die meisten blieben in der Nähe der Hüpfburg.

Das Projekt, das sie am meisten mit Stolz erfüllte, waren ihre Baumpatenschaften. Jeder Kunde konnte sich – schon Monate vor dem Weihnachtsfest – einen Baum aussuchen. Wann immer er dann Zeit hatte, durfte er sich um ihn kümmern, ihn wässern und zurechtstutzen. So lernten die Kinder, wie lange es dauerte, bis ein Baum ausgewachsen und wie wichtig Umweltschutz war. Und die Eltern profitierten von der gemeinsamen Zeit, die sie hier draußen mit ihren Kindern verbrachten.

Eine Baumpatenschaft verlängerte die Weihnachtssaison und brachte Ivys Meinung nach den Geist der Weihnacht in die Familien. Außerdem aßen die Besucher für gewöhnlich im neuen Café Kuchen und kauften in dem kleinen Souvenirshop Kunsthandwerk, das die alten Damen der Stadt anfertigten.

So erhielt sie das Familienunternehmen und unterstützte gleichzeitig das lokale Gewerbe. Ivy stand kurz davor, aus der Angel Christmas Farm ein florierendes Unternehmen zu machen. Doch wenn Tanner King tatsächlich gegen sie klagte, waren ihre Pläne sofort zunichtegemacht. Am Ende würde sie womöglich ihr geliebtes Zuhause verlieren, weil sie ihr Geld für Anwälte brauchte, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte.

„Alles wäre anders, wenn David nicht …“

Ihr Großvater beendete den Satz nicht. Doch es genügte, den alten Schmerz in Ivy wachzurufen. David. Der Mann, den sie vor vier Jahren geheiratet hätte. Wäre der Autounfall nicht passiert, bei dem er ums Leben gekommen war.

„Entschuldige bitte“, beeilte Mike sich zu sagen. „Aber verdammt noch mal, wenn David jetzt hier wäre, wäre alles nicht so kompliziert. Dann wüsste ich, dass du in guten Händen bist.“

Sie bemühte sich, so unbekümmert wie möglich zu wirken, um ihn nicht zu beunruhigen. „Pop, mir geht es gut, und das weißt du. Du tust ja so, als wäre ich ein zartes Pflänzchen im Gewächshaus. Aber ich bin eine erfahrene Baumzüchterin, die von den meisten Menschen, die hier arbeiten, kräftig unterstützt wird.“

„Das ist nicht das Gleiche.“

„Nein“, erwiderte sie ruhig. „Das ist es nicht. Aber David ist nicht mehr hier.“

Die Trauer über seinen Verlust hatte sie lange begleitet. Doch ihr Großvater hatte sie gelehrt, dass das Leben weiterging und man sich nicht aufgeben durfte.

Außerdem war sie nicht mutterseelenallein gewesen, nachdem David gestorben war. Jedenfalls nicht mit zehn Mitarbeitern und Menschen, die permanent ein und ausgegangen waren. Dennoch wusste Ivy, dass es für sie schwer werden würde, ihren Großvater nicht mehr jeden Tag um sich zu haben. Ein Stück Familie zu verabschieden.

Schon bald würde sie in ein leeres Haus kommen. Und nur die Erinnerungen an die gemeinsamen Momente, an das Lachen und die liebevollen Streitereien würden ihr noch Gesellschaft leisten. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, über die vielen Bücher, die sich in Regalen und auf Tischchen stapelten. Sie betrachtete den selbst genähten Quilt ihrer Großmutter auf dem Sofa und den steinernen Kamin, den Mike gebaut hatte, nachdem er mit ihrer Großmutter in das Angel-Haus eingezogen war. Und während Ivy der Duft des Immergrüns in die Nase stieg, fiel ihr Blick auf die ausgetretenen Holzdielen und die blassen pfirsichfarbenen Wände.

In allem, was dieses alte Haus ausmachte, steckte ein Teil von ihr. Genauso wie in der Farm und jedem einzelnen Baum auf ihrem Land. Sie würde einfach alles tun, was sie tun konnte, um jeden kleinen Setzling da draußen zu beschützen.

„Dann sag mir wenigstens, wie du die Situation retten willst, während du für diesen Kerl arbeitest“, riss Mike sie aus den Gedanken.

„Eigentlich kam die Idee von Mr. Kings Anwalt“, antwortete sie. „Sein Name ist Mitchell Tyler, und er war wirklich sehr nett, als er letzte Woche angerufen hat. Kurz nachdem uns Sheriff Cooper wegen der letzten Beschwerde besucht hat.“

„Ich erinnere mich.“ Seinem Gesichtsausdruck nach befeuerte die Erinnerung seinen Ärger nur noch stärker. Sich vom Sheriff sagen lassen zu müssen, dass der Neue in der Stadt hinter einem her war, war nicht gerade das, was er hatte hören wollen.

„Wie auch immer“, sagte sie, um ihren Großvater von seinem Ärger abzulenken. „Mitchell hat gesagt, es wäre eine gute Idee, wenn ich bei Tanner als Haushälterin anfange. Auf diese Art könnte ich ihn am besten davon überzeugen, dass ich nicht sein Feind bin. Er glaubt, die Chance, dass Tanner mir zuhört, ist größer, wenn er mich persönlich kennenlernt.“

„Tanner!“ Mike stieß die Luft aus. „Was für ein Name ist das überhaupt? Und Mitchell. Wer hat diesen Menschen ihre Namen verpasst?“

„Ich mag den Namen Tanner“, wandte Ivy ein. „Er klingt männlich, stark und …“ Als sie den erstaunten Blick ihres Großvaters auffing, brach sie mitten im Satz ab. Sie seufzte. „Mitchell glaubt, dass ich an das Gute in Tanner appellieren kann.“

„Und wie ist er auf dich gekommen? Dieser Mitchell?“

„Vielleicht erinnerst du dich. Ich habe ihn vor ein paar Monaten getroffen, als er hier war, um für Tanner die Genehmigung für die Sanierung von Mrs. Mansfields Haus zu bekommen.“

„Harriet Mansfield. Eine Nachbarin wie aus dem Bilderbuch.“

„Ja, aber jetzt ist nicht mehr sie, sondern Tanner hier. Wir müssen alles tun, damit es ihm hier gefällt, Pop. Sonst stecken wir bald in Schwierigkeiten.“

„Das werden wir ja sehen“, brummte ihr Großvater.

„Also ich möchte das nicht.“ Ivy beugte sich vor, um ihrem Großvater in die stahlblauen Augen zu sehen. „Er ist reich, mächtig und schlecht gelaunt. Keine gute Kombination, wenn du mich fragst.“

„Und du willst aus ihm einen anderen Menschen machen?“

„Wenigstens werde ich es versuchen“, erklärte Ivy.

„Und wenn es nicht klappt?“

„Das wird es“, beharrte sie. „Tanner ist kein schlechter Kerl, Pop. Er ist einfach nur … verschlossen. Aber ich werde dafür sorgen, dass er sich dem Rest der Welt öffnet.“

Nachdenklich sah ihr Großvater sie an. „Dabei denkst du doch nicht etwa an …“

„Etwa an was?“

„Du weißt schon. Du bist jung und schön, er ist jung und reich.“

„Pop!“

„Wäre nicht das erste Mal, dass ein einflussreicher Mann einer Frau den Kopf verdreht.“

„Sein Geld interessiert mich nicht. Und ich bin auf keine Liebelei aus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte meine Chance, was die Liebe betrifft.“

Ihr Großvater lachte amüsiert. „Du bist noch so jung, Ivy. Natürlich hast du David geliebt. Aber ich hoffe doch sehr, dass es nicht das letzte Mal war. Irgendwo da draußen gibt es jemanden für dich, dem du begegnen wirst, wenn du am wenigsten damit rechnest.“

Sie wurde rot, weil sie an das Kribbeln denken musste, das sie bei der ersten Begegnung mit Tanner King verspürt hatte. Allein beim Blick in seine Augen hatte sie weiche Knie bekommen. Und seine wunderbare Stimme hatte Saiten in ihr zum Klingen gebracht …

Mike hat natürlich recht, sagte Ivy sich. Sich mit Tanner anzufreunden, ihm seine Engstirnigkeit vor Augen zu führen und das Leben in einer Kleinstadt schmackhaft zu machen, war eine Sache. Mit ihm zu flirten, das war etwas ganz anderes. Männer wie er achteten für gewöhnlich nicht auf Frauen wie sie.

„Ich verspreche dir“, sagte sie sanft, „ich werde nur daran arbeiten, dass Tanner sein Feuer einstellt.“

Prüfend sah Mike sie einen Moment lang an. Dann tätschelte er ihr erneut die Wange. „Na dann. Tanner King hat keine Chance gegen Ivy Holloway. Denn wenn sie einmal losgelegt, kann niemand sie aufhalten.“

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen saßen Ivy und Mike im Büro des Managers der Bank von Cabot Valley, um über die letzte Kreditrate zu sprechen. Ivy war nervös wie ein Kind im Wartezimmer eines Zahnarztes.

Angespannt sahen sie dem Manager Steve Johnson dabei zu, wie er mit leichtem Kopfschütteln die Unterlagen durchging. Schließlich blickte er auf und sah die beiden an.

„Danke, dass ihr vorbeigekommen seid“, sagte er. „Ich habe euch herbestellt, damit wir drei in Ruhe über die letzte Rate sprechen können.“

„Du kannst mir vertrauen. Ich weiß, die nächste Zahlung ist fällig“, erwiderte Ivy und war Mike dankbar dafür, dass er beruhigend ihre Hand tätschelte. „Das ist kein Problem für mich.“

Jedenfalls hoffte sie das inständig. Um die Farm zu vergrößern, hatte Ivy einen hohen Kredit zu einem schwindelerregenden Zinssatz aufgenommen – und einer horrenden Abschlussrate zugestimmt, die demnächst fällig wurde. Wenn sie sie nicht tilgen konnte, würde sie vermutlich alles verlieren. Doch diesen Gedanken verdrängte Ivy sofort. Kein Platz für schlechte Gedanken, sagte sie sich. Außerdem steht noch eine große Hochzeitsfeier bevor. Und solange die nicht platzte, war alles in trockenen Tüchern.

„Steve“, sagte Mike leise. „Ich kenne dich jetzt, seit du als Kind auf unserer Farm herumgeschnüffelt hast.“

Steve rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Das ist …“

„Der Punkt ist“, sagte Mike, „du kennst die Angels gut genug, um zu wissen, dass wir immer pünktlich zurückgezahlt haben.“

„Natürlich“, entgegnete Steve.

„Gut.“ Ivy griff in das Gespräch ein, bevor er weiterreden konnte. Sie schätzte das Engagement ihres Großvaters, doch hier war sie diejenige, die die Verantwortung trug. „In ein paar Wochen komme ich wieder, um die letzte Rate zu zahlen, Steve. Du kannst auf mich zählen.“

Als sie aufstand, erhob sich auch Steve hinter seinem Schreibtisch. Er streckte die Hand aus, und Ivy schüttelte sie. Mike nickte ihm nur zu, und als sie gehen wollten, erklärte Steve noch: „Du weißt, dass ich dir das Beste wünsche, Ivy.“

„Ich weiß“, versicherte sie ihm und ging mit Mike in den Schalterraum der Bank zurück.

Das Innere des alten Bankgebäudes glänzte wie ein poliertes Juwel. Die holzvertäfelten Wände glänzten, Fenster und Türen strahlten vor Sauberkeit. Vor einem Kassenschalter hatte sich eine kleine Kundenschlange gebildet. Die Decke der Halle war so hoch, dass wahrscheinlich selbst ein Flüstern gehallt hätte. Deshalb sprach Ivy besonders leise. „Keine Sorge, ich weiß, was ich tue“, raunte sie ihrem Großvater zu.

Er legte ihr einen Arm um die Schultern und schob sie sanft Richtung Ausgang. „Das weiß ich, Ivy, Mädchen. Ich will doch bloß, dass alles gut geht.“

„Das wird es. Versprochen.“

Als sie nach draußen traten, holte Ivy tief Luft und schwor sich feierlich, die letzte Kreditrate pünktlich zu zahlen. Sie würde ihre Farm und damit das Familienvermächtnis halten. Und sie würde nie wieder ein so hohes finanzielles Risiko eingehen.

Drei Tage später war Tanner mit seinem Computerspiel immer noch keinen Schritt weitergekommen. Die Schuld dafür gab er natürlich Ivy. Sogar wenn sie nicht im Haus war, hing ihr betörender Duft in den Zimmern. Und überall im Haus stand etwas, dass ihn an sie erinnerte.

Wie zum Beispiel die frischen Blumen, die sie im ganzen Haus in Vasen verteilt hatte. Nicht zu vergessen die Schalen mit frischem Obst, von denen er naschte, wenn er auf der Suche nach Inspiration durch die leeren Räume ging.

Eigentlich sollte er sie schleunigst loswerden. Doch stattdessen verbrachte er die meiste Zeit damit, darüber nachzudenken, wann Ivy wiederkommen würde.

Selbst die Farm erschien ihm plötzlich in einem anderen Licht. Ihm war aufgefallen, dass die Lautstärke der verdammten Weihnachtsmusik heruntergedreht worden war – worüber er sehr dankbar war. Aus dem penetranten Lärm war ein halbwegs erträgliches Hintergrundsgedudel geworden. Tanner war natürlich neugierig zu erfahren, was seine Nachbarn zu diesem Entgegenkommen bewogen hatte.

Als er aus dem Fenster blickte und die Farm betrachtete, blendete ihn die späte Nachmittagssonne. Noch so etwas, das merkwürdig war. Seit Ivy hier arbeitete, wachte er früher auf. Wahrscheinlich lag es daran, dass sein Unterbewusstsein ihn aus seinen Träumen riss, die nur von ihr handelten. Damit er noch mehr Zeit mit ihr verbringen konnte.

Aber statt die gewonnene Zeit zu nutzen, versuchte er verbissen, der Frau aus dem Weg zu gehen. Sie war so geistreich, witzig und sexy, dass er sie am liebsten gepackt hätte, jedes Mal wenn sie ins Zimmer trat. Doch eine Affäre mit einer Frau anzufangen, der praktisch Für Immer auf der Stirn geschrieben stand, kam für ihn nicht infrage.

Vor seinem geistigen Auge sah er Ivy mit eigenem Häuschen und Kind auf dem Arm.

Er hingegen liebte sein Dasein als Einzelgänger. Sie würden niemals zueinander finden.

„Na toll, jetzt denkst du schon über so etwas nach!“ Er wandte sich vom Fenster ab, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Während er auf den Computerbildschirm starrte, murmelte er: „Los jetzt. Bring das verfluchte Spiel endlich zu Ende!“

Da war er wieder, der rote Faden, dem er bis jetzt sein Leben lang gefolgt war. Schon als kleiner Junge hatte Tanner sich vorgenommen, nur nach selbst auferlegten Regeln zu leben. Andere mochten das vielleicht langweilig finden, doch er fand darin Halt. Durch die ständigen Eskapaden seiner Mutter war er nicht in den Genuss einer liebevollen und geregelten Kindheit gekommen.

Deshalb hatte er schon früh beschlossen, dass sein Leben als Erwachsener anders verlaufen sollte. Geregelter. Durchdachter. Dort, wo Regeln herrschten, hatte das Chaos keinen Platz. Und eine seiner Hauptregeln besagte, dass er sich nicht ablenken durfte, wenn er arbeitete.

Bis jetzt hatte Tanner damit auch nie ein Problem gehabt. Doch dann war Ivy Holloway in sein Leben getreten. Plötzlich musste er sich zwingen, sich auf das zu konzentrieren, was immer das Wichtigste in seinem Leben gewesen war. Nämlich auf seine Firma, seine Entwürfe und damit letztlich auf seine Zukunft.

Kopfschüttelnd griff er nach einem Stift und zeichnete etwas auf den Skizzenblock vor sich. Dann betrachtete er den stolzen Ritter, der auf dem Computerbildschirm zu sehen war. Die Figur stand inmitten einer Ödnis, den toten Körper eines bösen Trolls zu seinen Füßen.

„Der Ritter hat den Troll mit dem verzauberten Schwert bezwungen. Aber was passiert dann?“, murmelte Tanner und sah den Ritter an, als wäre er an allem schuld.

Doch Tanner konnte sich einfach nicht konzentrieren. Immer wieder sah er Ivy vor sich. Verdammt, wie sollte er die Geschichte seines Helden weiterspinnen, wenn Ivy nur ein Stockwerk tiefer war?

Das Ende vom Lied ist, dass ich Mitchell feuern werde, dachte er und biss die Zähne zusammen.

„Troll“, murmelte er. „Konzentriere dich auf den toten Troll!“

„Solche Arbeitsgespräche führt bestimmt auch nicht jeder.“

Autor

Maureen Child
<p>Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal. Ihre liebste...
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Jennifer Lewis gehört zu den Menschen, die schon in frühester Kindheit Geschichten erfunden haben. Sie ist eine Tagträumerin und musste als Kind einigen Spott über sich ergehen lassen. Doch sie ist immer noch überzeugt davon, dass es eine konstruktive Tätigkeit ist, in die Luft zu starren und sich Wolkenschlösser auszumalen....
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