Baccara Exklusiv Band 225

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  • Erscheinungstag 21.10.2022
  • Bandnummer 225
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510301
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kat Cantrell, Andrea Laurence, Sara Orwig

BACCARA EXKLUSIV BAND 225

1. KAPITEL

Falls es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit gab, dann lernte Sutton Lazarus Winchester sie jetzt kennen.

Nora lehnte sich gegen die Wand im Krankenzimmer, um etwas Halt zu finden. Sie hatte Mühe, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Ihr scheinbar unbesiegbarer Vater starb an Lungenkrebs.

Sie hätte erleichtert sein sollen. Sein tyrannisches Regime neigte sich dem Ende zu. Der Mann, der sich nicht bereitgefunden hatte, sie bei ihrer Hochzeit zum Traualtar zu führen, lag bleich und eingefallen im Krankenbett. Ein Teil von ihm schien bereits Richtung Hölle unterwegs zu sein, um dort auf den Rest zu warten.

Doch die Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Nora war zurück nach Chicago gekommen in der Hoffnung, sich in seinen letzten Tagen noch mit ihrem Vater aussöhnen zu können. Und jetzt, wo sie hier war, drohte diese Aufgabe sie zu erdrücken.

„Ich musste es selbst sehen“, flüsterte Nora ihren Schwestern Eve und Grace zu, die neben ihr standen und ebenfalls zu ihrem Vater hinübersahen. Keine von ihnen war nahe an das Bett herangetreten, obwohl ihr Vater im Moment zu schlafen schien.

Früher hatte Nora ihn immer mit einer Schlange verglichen: Sutton Winchester wartete, bis jemand so leichtsinnig war, ihm eine verwundbare Stelle zu bieten, dann schlug er zu, verspritzte sein Gift und weidete sich an den Schmerzen, die er verursachte. So hatte er schon immer gehandelt, und Nora hatte keinen Zweifel daran, dass er es auch noch vom Grab aus tun würde.

„Das ging uns auch so“, flüsterte Eve zurück. „Die Ärztin war nicht sehr glücklich, als ich sie bat, die Diagnose von einem anderen Arzt bestätigen zu lassen. Aber ich wollte sichergehen.“

Eve war schon immer in allem sehr gründlich gewesen. Als die älteste der drei Winchester-Töchter hatte sie stets alles im Griff und war bekannt dafür, Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

„Ihr wolltet das Todesurteil schwarz auf weiß haben, was?“ Nora sagte es ohne Bosheit.

Sutton hatte alle drei Töchter drangsaliert, aber Nora war die Einzige, die schließlich die Konsequenzen gezogen hatte und nach Colorado gegangen war, fast zweitausend Kilometer weit weg. Dafür hatte sie auf das Geld ihres Vaters verzichtet und auf das Leben im Luxus, das sie bis dahin geführt hatte.

Eve runzelte die Stirn. „Ich wollte nur sichergehen, dass es mit der Diagnose seine Richtigkeit hat. Ich würde es diesem Newport durchaus zutrauen, einen Arzt zu bestechen, damit er etwas Falsches in seinen Bericht schreibt.“

„Glaubst du tatsächlich, Carson könnte jemanden finden, der dazu bereit wäre?“ Frage und Ton machten klar, dass Grace nichts gegen den Mann hatte, der sich unlängst als ihr Halbbruder erwiesen hatte.

Im Gegensatz zu Eve sah Gracie immer nur das Beste in den Menschen. Noras jüngere Schwester hatte ein großes Herz, und daran änderte auch der Riesenskandal nichts, in den die Familie seit Neuestem verwickelt war. Es hatte sich herausgestellt, dass Sutton aus einer seiner vergangenen Affären einen Sohn hatte – und zwar niemand anderen als seinen Konkurrenten Carson Newport.

Jetzt, wo Nora ihren Vater gesehen hatte, konnte sie den zweiten Punkt ihres Plans für Chicago angehen: Carson. Suttons Geld war ihr einerlei und auch die Streitfrage, ob Carson Newport irgendeinen Anspruch darauf hatte. Den Kampf konnten Eve und Grace ausfechten. Aber der Mann war ihr Halbbruder. Sie war neugierig auf ihn.

„Menschen sind bereit, für Geld alles zu tun, auch Ärzte. Und vor allem Newports“, sagte Eve und warf ihr blondes Haar ungeduldig über die Schulter. Es war länger, als Nora es in Erinnerung gehabt hatte, aber sie sahen sich ja auch selten. Ihr letzter längerer Besuch war noch vor Seans Tod gewesen.

Der Gedanke daran ließ die Trauer, die immer dicht unter der Oberfläche wartete, wieder in ihr hochsteigen. Verbunden mit dem Schock über den Anblick ihres todkranken Vaters war es einfach zu viel.

Eins, zwei, drei … Nora zählte stumm bis zehn. Mehr Zeit durfte nicht sein für Selbstmitleid. Sean war nicht mehr da. Sie hingegen lebte, und wenn sie am Leben teilhaben wollte, dann durfte sie sich nicht in eine Ecke verkriechen und trauern, wie sie es anfangs getan hatte, nachdem der grimmig dreinblickende Verbindungsoffizier der Army bei ihr aufgetaucht war, um ihr die Nachricht zu überbringen, dass ihr Mann in Afghanistan gefallen war.

Sean hatte seinen Sohn nie kennengelernt. Das war die grausamste Seite dieser wirklich grausamen Umstände. Aber in ihrem kleinen Sohn hatte Nora immer noch einen Teil ihres Mannes bei sich, und kein schießwütiger Terrorist würde ihr das nehmen.

Eine Frau im weißen Kittel mit einem strengen Haarknoten erschien an Suttons Bett – Dr. Wilde, die Ärztin ihres Vaters.

„Stimmt es wirklich? Sie können nichts mehr machen?“, fragte Nora.

Dr. Wilde senkte einen Moment den Kopf. „Ich gebe mich nur ungern geschlagen, aber das ist richtig. Der Tumor liegt so ungünstig, dass wir nicht operieren konnten. Zudem hat er so schnell gestreut, dass es für jede Chemotherapie zu spät ist. Ihr Vater hat maximal noch fünf Monate. Es tut mir leid.“

Fünf Monate. Wie sollte sie es in der kurzen Zeit schaffen, die Kraft aufzubringen, ihrem Vater zu verzeihen, dass er sie nie geliebt hatte?

„Es muss Ihnen nicht leidtun“, sagte Nora zur Ärztin. „Es war seine eigene Schuld. Wir haben ihm immer wieder gesagt, er soll aufhören zu rauchen, aber er dachte wohl, sein Pakt mit dem Teufel würde ihm ewiges Leben garantieren.“

Sie hatte gewusst, wie das medizinische Urteil aussah. Aber es war dann doch etwas anderes, die Worte noch einmal so deutlich zu hören. Es war mit einer der Gründe für sie gewesen, nach Chicago zu fliegen, auch wenn das Reisen mit einem Zweijährigen mühsam war.

Und nun stand es wohl fest: Sutton Winchester würde das neue Jahr nicht mehr erleben.

Suttons persönliche Assistentin, Valerie Smith, steckte den wie immer makellos frisierten Kopf zur Tür herein. „Ist Ihr Vater schon wach?“, fragte sie. „Ich würde dann Declan hereinbringen, wenn es Ihnen recht ist.“

Das war der dritte Punkt, den sich Nora vorgenommen hatte: Sie wollte ihrem Vater seinen Enkelsohn vorstellen.

„Nein, er schläft noch.“ Nora war dankbar für den Aufschub. „Aber ich nehme Declan jetzt, damit Sie eine Pause machen können.“

Valerie hatte sich erboten, mit dem quengeligen, da gelangweilten Zweijährigen in die Cafeteria zu gehen auf der Suche nach Jell-O-Götterspeise oder Salzcrackern, dem Einzigen, was er im Moment aß. Er weigerte sich, die Früchteriegel und Bananenchips auch nur anzusehen, die Nora für ihn eingepackt hatte. Logik war in seinem Denken noch nicht vorgesehen, es nützte also wenig, ihn daran zu erinnern, dass er zuvor auf eben diesen beiden Leckereien bestanden hatte.

Der kleine Junge stürzte ins Zimmer. Noras Herz machte einen Satz, wie immer, wenn sie sein lockiges rotes Haar sah. Er sah ganz aus wie Sean, und es war Fluch und Segen gleichermaßen, in ihm eine ständige Erinnerung an den Mann zu haben, den sie verloren hatte.

„Hey, Butterbean. Hast du Jell-O gefunden?“ Nora löste sich mit einem entschuldigenden Lächeln von ihren Schwestern. Sie hatte Gewissensbisse, weil sie sich zuerst lieber um ihren Sohn gekümmert hatte, statt hier bei der Familie zu sein. Ihre Schwestern waren immer an Suttons Seite gewesen, hatten einander beigestanden und Einheit gegenüber Außenstehenden demonstriert, aber Nora hatte es einfach nicht gekonnt.

Declan nickte. „Jell-O.“

Die blinkenden Maschinen im Krankenzimmer weckten sein Interesse, und er steuerte mit ausgestreckten Fingern schnurstracks darauf zu. Nora fing ihn ab und gab ihm einen Kuss aufs Haar. „Nicht so schnell, Mr. Neugierig. Habe ich dir schon die Geschichte von der Katze erzählt?“

„Katze.“ Declan versuchte, das Miauen einer Katze nachzumachen. Er war so witzig und süß. Es schmerzte sie, dass sein Vater nicht sehen konnte, wie er gewachsen war und wie schnell er lernte. Wenn er schlief, steckte er immer einen Fuß unter der Decke hervor – genau wie Sean es getan hatte.

So schnell sie konnte verließ Nora mit dem Kleinen das Krankenzimmer. Niemand sollte ihre Tränen sehen. Sean war vor fast zwei Jahren gestorben. Sie sollte allmählich über seinen Tod hinweg sein. Sollte sich wieder mit Menschen treffen und jemanden finden, der ihre Einsamkeit vertrieb. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit einem anderen Mann als mit Sean zusammen zu sein. Er war die große Liebe ihres Lebens gewesen. Der Mann, der sofort ihr Herz erobert hatte, als sie ihn bei einem Footballspiel im College kennengelernt hatte.

Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen, wo sie sich wieder fangen konnte, entdeckte sie auf dem Krankenhausflur eine Nische mit zwei Stühlen. Sie setzte sich. Den Kleinen hielt es vielleicht vier Sekunden auf dem Stuhl, bevor er sich zu Boden gleiten ließ und losrannte. Nora lachte.

„Hast du Feuer in der Hose, Butterbean?“

Das war sofort Seans Spitzname für den Jungen gewesen, als er das Ultraschallbild sah, das sie beim Skypen vor die Kamera gehalten hatte. Sie hatte den Kosenamen auch nach der Geburt des Kleinen beibehalten, weil seine Pausbäckchen förmlich dazu einluden.

Declan antwortete nicht, weil er zu beschäftigt war, mit seinem Po den Boden blank zu polieren. Okay, noch dreißig Sekunden, dann würde sie ihm die Hände mit Desinfektionsmittel abwischen, bevor er sie sich in den Mund steckte. Das Midwest Regional war ein gepflegtes Krankenhaus, aber natürlich waren überall Kranke, da konnte eine Mutter nicht vorsichtig genug sein.

„Miss Winchester?“ Eine junge Krankenschwester, dem Namensschild nach Amanda, blieb neben Declan stehen.

„Mrs. O’Malley“, verbesserte Nora sie. „Vormals Winchester.“

Die Schwester lächelte. „Wir haben einen Extraraum für Ihre Familie reserviert. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Ja, gern.“

Wie hatte es ihr entgehen können, dass Suttons Einfluss sich bis in dieses Krankenhaus erstreckte? Es war lange her, dass Nora im Luxus gelebt hatte, und noch länger, dass er ihr wichtig gewesen war. Aber im Moment hatte die Vorstellung von einem ruhigen Ort abseits der Hektik des Krankenhauses durchaus etwas Verlockendes.

Amanda gab einen Code an der Tür ein und versprach, ihn ihr aufzuschreiben. Wie benommen sah Nora sich um. Auf einem langen Tisch an der Wand war so viel Essbares aufgefahren, dass es für vier Familien gereicht hätte. Die leeren Transportbehälter unter dem Tisch trugen das Label von Iguazu, einem neuen argentinischen In-Restaurant, das sich sogar bis Colorado herumgesprochen hatte. Zwei Angestellte waren noch dabei, die Warmhalteplatten aufzustellen, offenbar war alles gerade erst gebracht worden.

„Was ist denn das?“, fragte Nora die Schwester verblüfft.

„Jemand hat es für die Familie geschickt. Oh …“ Amanda suchte in ihrer Tasche. „Da war auch ein Umschlag. Für Sie.“

Erstaunt nahm Nora ihn entgegen, während sie gleichzeitig Declan auf den Arm hob, der die blauen Flammen unter den Platten höchst interessiert beäugte. „Vielen Dank.“

Amanda notierte den Code der Tür und drückte Nora den Zettel in die Hand, bevor sie zusammen mit den Catering-Leuten verschwand. Nora nahm in einem Sessel Platz und hielt Declan so fest, dass er ihr nicht entwischen konnte, während sie den Umschlag aufriss.

Die getippte Nachricht war kurz und auf den Punkt gebracht.

Gutes Essen kann alles erträglicher machen.

Hochachtungsvoll.

Als Unterschrift nur Hochachtungsvoll? Nachdenklich überflog Nora die Karte noch einmal. Irgendetwas kitzelte ihre Erinnerung – und plötzlich fiel es ihr wieder ein. Dieses Hochachtungsvoll war eine Art Privatwitz gewesen zwischen ihr und ihrem Freund Reid Chamberlain.

Wow! An ihn hatte Nora schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Reid, sein Bruder Nash und seine Schwester Sophia hatten dieselben Privatschulen besucht wie die Winchester-Mädchen. Reid und Nora waren gleich alt und daher in derselben Klasse gewesen. Ihre Eltern verkehrten in den ersten Kreisen Chicagos, es war also nur natürlich, dass sie miteinander Kontakt hatten. Was blieb den Kindern bei den langweiligen Veranstaltungen für Erwachsene auch anderes übrig, als sich zusammenzutun?

Es wäre vielleicht naheliegender gewesen, wenn Nora sich mit Sophia angefreundet hätte, aber sie war von Anfang an fasziniert von Reid gewesen.

Sie waren zusammen durch die Küche getobt, bis die Hausangestellten sie entnervt vor die Tür setzten, oder sie hatten im riesigen Garten der Chamberlains Verstecken gespielt. Nora hatte es geliebt, wenn Reid und sie sich auf den Ästen desselben Baums versteckten und sich ins Fäustchen lachten, weil Nash oder Gracie direkt unter ihnen standen und frustriert waren, weil sie sie nicht finden konnten. Eine Zeit lang war sie sogar in Reid verliebt gewesen.

Aber das war, bevor sein Körper einen Wachstumsschub tat und sein gutes Aussehen ihn zum Schwarm aller höheren Töchter von Chicago gemacht hatte. Dabei war Nora irgendwie aus seinem Blickfeld verschwunden. Reid gab sich bald nur noch mit einer Gruppe ab, der es ausschließlich um Geld, Prestige und schnelle Autos ging. Sie machte ihm keinen Vorwurf. Neunundneunzig Prozent der Menschen in ihrem Umfeld huldigten der alten Weisheit: „Je mehr er hat, je mehr er gilt.“

Ihre Wege hatten sich getrennt. So etwas kam vor. Das Letzte, was Nora von Reid Chamberlain gehört hatte, war, dass er mit Hotels sehr reich geworden war.

Es konnte nicht sein, dass Reid dieses Essen geschickt hatte. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt, und dieses Hochachtungsvoll war einfach nur ein Scherz gewesen. Etwas, das sie sagten, wenn sie Erwachsene nachmachten, die versuchten, andere Erwachsene zu beeindrucken. Viele Menschen verwendeten die Floskel sicher ganz selbstverständlich.

Nora schickte Eve eine SMS, und kurze Zeit später stürmten die beiden anderen Winchesters herein, um das ominöse Geschenk mit eigenen Augen zu sehen. Da Nora seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen hatte, machte sie Declan einen Teller mit ein paar Pommes frites fertig. Die aß er sehr gern, und das war wahrscheinlich auch das Einzige aus dem Angebot, was sie ihm schmackhaft machen konnte. Dann bediente sie sich selbst bei den lukullischen Leckereien.

Sie nahm ein wenig von allem und beschloss, sich von dem, was ihr am meisten zusagte, noch einmal nachzuholen. Eve und Grace taten es ihr gleich, während sie Mutmaßungen über ihren anonymen Gönner anstellten. Auch nachdem sie sich alle noch ein zweites Mal bedient hatten, schien die Fülle auf den Platten nicht abgenommen zu haben.

„Das Essen ist wirklich köstlich“, bemerkte Nora. „Aber es hält sich nicht ewig, und es ist so unglaublich viel da. Vielleicht sollten wir die Schwestern und Ärzte einladen.“

„Eine gute Idee.“ Grace war begeistert. „Sie arbeiten alle so schwer. Ich frage mich, wie oft sie die Chance haben, im Iguazu zu essen. Man muss schon jemanden kennen, um dort einen Tisch zu bekommen. Ich bin erst ein einziges Mal dort gewesen, und dafür musste ich etliche Strippen ziehen. Ich sage Amanda Bescheid, dann kann sie die anderen informieren.“

Man brauchte Beziehungen, um ins Iguazu zu kommen? Noras Neugier verstärkte sich. Wer würde ihnen ein solches Geschenk aus einem derart exklusiven Restaurant machen? Einer von Suttons Geschäftspartnern? Die Menschen tolerierten Sutton, weil er mächtig war, und im Laufe der Jahre hatten auch viele das eine oder andere Geschenk geschickt, aber niemals etwas, das derart aufwendig und gleichzeitig durchdacht gewesen wäre. Nora konnte es nicht leugnen: Sie war beeindruckt von der Geste. Gedankenverloren spielte sie mit der Karte in ihrer Tasche.

Schwestern, Ärzte und andere Angestellte der Station strömten herein, betrachteten die Delikatessen und bedankten sich bei den Winchesters für ihre Großzügigkeit. Der Lärmpegel stieg, als sich mehr und mehr Gäste einen Platz suchten und sich beim Essen gut gelaunt unterhielten. Nora verspürte bald pochende Kopfschmerzen. Der lange Tag mit der anstrengenden Reise forderte seinen Tribut.

Auf der anderen Seite des Raums war Declan auf Gracies Schoß geklettert. Sie lachte, als er ihr ein paar Pommes vom Teller stahl. Offenbar hatte er noch nicht genug. Declan war bei seiner Tante gut aufgehoben. Das bot Nora die perfekte Gelegenheit, einen Moment allein zu sein.

Sie machte Gracie ein Zeichen, dass sie für fünf Minuten verschwinden wollte. Ihre Schwester verstand und winkte ihr lächelnd zu.

Dankbar verzog Nora sich in den Waschraum und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Zu spät begriff sie, dass es in dem Privatbereich, den sie gerade verlassen hatte, sicher auch einen Waschraum gegeben hätte. Es war schon eine Weile her, seit sie solchen Luxus erlebt hatte. Der privilegierte Lebensstil hatte ihr nie wirklich zugesagt. Sehr zum Kummer ihrer Mutter hatte sie sich sogar entschlossen, sich wie alle normalen Sterblichen an der University of Michigan einzuschreiben. Dort hatte sie dann Sean kennengelernt. Sie betrachtete es als Schicksal.

Aus heiterem Himmel fiel ihr Reid wieder ein. Er war auf die Eliteuniversität Yale gegangen, wenn sie sich recht erinnerte. Nicht, dass sie viel Zeit darauf verwendet hätte, seinen weiteren Lebenslauf zu verfolgen, aber die Privatschule, die sie zusammen besucht hatten, war so klein gewesen, dass jeder jeden kannte und alle über alles auf dem Laufenden blieben.

Nora drehte die Karte gedankenverloren zwischen den Fingern. War es wirklich Reid gewesen, der all das Essen geschickt hatte? Falls ja, dann sollte sie sich bei ihm bedanken. Gracie und Eve kannten Reid natürlich auch, aber sie waren mit keinem der Chamberlains so eng befreundet gewesen wie Nora mit Reid.

Plötzlich drängte es sie, herauszufinden, ob der Freund ihrer Kindheit tatsächlich hinter dieser Aktion steckte. Kurz entschlossen holte sie sich die Website des Restaurants auf ihr Smartphone und rief die dort angegebene Nummer an. Eine Frauenstimme meldete sich.

Iguazu. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Hier ist … Mrs. O’Malley aus dem Büro von Mr. Chamberlain.“ Nora hasste Lügen, aber diese war sicher verzeihlich. „Mr. Chamberlain hätte gern die Bestätigung, dass das Essen geliefert wurde, das er für die Winchesters ins Midwest Regional bestellt hat.“

„Natürlich. Lassen Sie mich nachsehen.“

Nora wurde in eine Warteschleife gelegt. Nach kurzer Zeit meldete sich die Frau zurück. „Mrs. O’Malley? Ja, es wurde alles wie bestellt geliefert, und der Umschlag wurde wie gewünscht Nora Winchester übergeben. Bitte richten Sie Mr. Chamberlain aus, dass wir seinen Auftrag gern ausgeführt haben und ihm jederzeit wieder zur Verfügung stehen.“

Irgendwie brachte Nora noch ein „Danke“ hervor. Wie, das war ihr selbst schleierhaft, denn ihre Zunge fühlte sich vollkommen taub an.

Reid hatte nicht nur das Essen geschickt, er hatte auch noch explizit darauf bestanden, dass sie den Umschlag erhielt? Wieso? Dann handelte es sich bei dem Hochachtungsvoll also doch um ihren alten Gag! Er ging eindeutig davon aus, dass sie ihn verstand. Sie musste den Grund dafür herausfinden.

Nach der langen Reise und dem niederschmetternden Anblick ihres Vaters im Krankenbett hätte Nora den Wunsch verspüren sollen, nach Hause zu fahren und die Welt zu vergessen. Aber das hatte sie nun seit zwei Jahren getan, und es hatte ihr nichts weiter eingebracht als deprimierende Einsamkeit.

Es wurde Zeit, wieder die Initiative zu ergreifen. Zum Beispiel konnte sie sich bei Reid für seine Freundlichkeit bedanken.

2. KAPITEL

Auf dem Weg zum Büro von Reid Chamberlain suchte Nora in ihrem Smartphone nach ein paar Informationen über den Mann. Wenn sie ihn schon ohne Anmeldung überfallen wollte, sollte sie zumindest ansatzweise eine Vorstellung haben, was er im Laufe der vergangenen Jahre getrieben hatte.

Gracie hatte sich erboten, Declan mit in die Winchester-Villa zu nehmen, in deren Gästehaus Nora während ihres Aufenthalts in Chicago wohnte. Gracie hatte auch darauf bestanden, einen Wagen für sie zu bestellen, der sie zu ihrer geheimnisvollen Mission fahren sollte. Geheimniskrämerei war an sich nicht Noras Art, aber sie wollte das Gespräch nicht auf Reid bringen, solange sie nicht wusste, was hinter seiner Geste steckte.

Die Artikel über ihn ließen eine Persönlichkeit erahnen, die so ganz anders war als erwartet. Es gab so gut wie keine Fotos von ihm, abgesehen von einer grobkörnigen Aufnahme, die ihn zeigte, wie er von einer dunklen Limousine zum Eingang eines seiner Hotels eilte. Er hatte das Gesicht von der Kamera abgewandt, sodass er nur im Profil zu sehen war – trotzdem war sein Ärger über den Fotografen zu erkennen.

Die Bildunterschrift lautete: „Der pressescheue Milliardär Reid Chamberlain.“

Pressescheu? Reid? Solange Nora denken konnte, war er stets der Mittelpunkt jeder Party gewesen. Deswegen hatten sich ihre Wege ja überhaupt getrennt: Er war so beliebt gewesen, dass er ständig unterwegs war.

Noras Neugier auf den Mann wuchs. Sie sah auf, als der Wagen hielt und der Chauffeur ihr die Tür öffnete. Sie befand sich vor dem brandneuen Hotel Metropol im Zentrum Chicagos.

Eine Fassade aus Glas und Stahl ragte über ihr in den Himmel. Großer Gott! Hier war Reids Büro? Sie hatte gelesen, dass Reids Bruder Nash Chamberlain das Metropol entworfen hatte. Das Gebäude war wirklich atemberaubend. Es schien mehrere Dutzend Stockwerke zu haben und wirkte, als drehe es sich um sich selbst. Es gehörte sicher einiges an architektonischem Sachverstand dazu, eine solche Idee umzusetzen.

Beeindruckt betrat Nora die Lobby. Sie war froh, dass sie sich am Morgen für High Heels und einen klassisch geschnittenen Hosenanzug entschieden hatte. Der Herr an der Rezeption empfing sie mit einem freundlichen Lächeln.

Nora hatte so etwas wie einen Blackout. Am Telefon zu lügen, war das eine, aber zu lügen, wenn man den anderen direkt vor sich hatte, war eine ganz andere Sache. Das hätte sie sich vorher überlegen sollen.

Was, wenn Reid gar nicht da war? Oder wenn ihm nichts daran lag, dass sie ihn aufsuchte? Sie hatte ja nur vermutet, dass er sie auf seine Spur bringen wollte.

Aber war das nicht egal? Es ging hier um mehr als um ein simples Dankeschön. Sie wollte wieder die Initiative in ihrem Leben übernehmen. Nora drückte die Schultern durch. Keine Ausflüchte mehr!

„Ich bin hier, um Mr. Chamberlain zu sprechen. Sagen Sie ihm bitte, Nora O’ … Winchester ist hier. Er wird sicher Zeit für mich haben.“ Wow! Wenn das nicht ein Zeichen von Selbstsicherheit war!

Der Angestellte nickte. „Natürlich, Miss Winchester. Er erwartet Sie.“

Vor Verblüffung vergaß Nora für einen Moment, den Mund zu schließen. „Vielen Dank.“

Der Portier betätigte eine Klingel, und ein junger Mann in einer diskreten Pagen-Uniform in den Farben des Hotels tauchte wie aus dem Nichts neben Nora auf.

„William wird Sie zum Fahrstuhl begleiten und dafür sorgen, dass Sie das Büro von Mr. Chamberlain erreichen“, versicherte der Portier ihr.

Noras Absätze versanken in dem dicken Teppich, der den dunkel glänzenden Holzfußboden bedeckte. Am Fahrstuhl hielt der Page eine Karte an das Lesefeld über den Knöpfen und drückte die siebenundvierzigste Etage.

„Die Etagen siebenundvierzig und achtundvierzig sind grundsätzlich gesperrt“, erklärte er. „Nur VIPs werden zu Mr. Chamberlain vorgelassen. Es ist ziemlich lange her, seit wir diesen Fall hatten.“

Nur für VIPs. Und Nora Winchester zählte dazu. Was wäre passiert, wenn sie sich als Nora O’Malley vorgestellt hätte? Hätte der Portier sie dann freundlich lächelnd vor die Tür gesetzt?

Sie war plötzlich nervös. Diskret kontrollierte sie ihr Haar und das Make-up im Spiegel des Fahrstuhls. Sie hatte sich das Haar am Morgen vor dem Flug zu einem Knoten gebunden. Jetzt hatten sich einige Strähnen gelöst und fielen lockig zu beiden Seiten ihres Gesichts herunter. Nicht übel.

Das ist doch albern. Was spielte es schon für eine Rolle, wie sie aussah? Reid hatte sie einfach nur ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, indem er den Portier wissen ließ, er erwarte sie.

Ein Ping ertönte, und Sekunden später führte William sie in einen Empfangsbereich, über den eine stattliche Frau mit stahlgrauem Haar zu herrschen schien. Sie schloss augenblicklich ihren Laptop, als Nora hereinkam.

„Sie müssen Miss Winchester sein“, erklärte sie. „Mr. Chamberlain hat darum gebeten, dass Sie sofort zu ihm gebracht werden.“

Ehe Nora sichs versah, hatte die Dame sie durch ein paar Glastüren zu einer offenen Tür am Ende des Korridors geführt und verschwand diskret.

Der Mann hinter dem großen gläsernen Schreibtisch sah auf, als Nora sein Büro betrat.

Die Zeit schien stehen zu bleiben, als ihre Blicke sich trafen.

Nora vergaß für einen Moment zu atmen. Sie spürte, wie die Persönlichkeit von Reid Chamberlain jeden Nerv ihres Körpers vor Spannung vibrieren ließ.

Wortlos erhob er sich und kam zu ihr herüber. Je näher er kam, desto stärker fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er war jetzt ganz Mann – beeindruckend professionell in seinem dunkelgrauen Anzug, ein wenig verwegen mit dem braunen, leicht gewellten Haar. Und umwerfend attraktiv mit seinen markanten Zügen, die von dem leichten Bartschatten am Kinn noch betont wurden.

Dann war er ihr so nahe, dass sie die goldenen Fünkchen in seinen braunen Augen erkennen konnte. Ein dezenter exotischer Duft umgab ihn, der genau zu ihm passte. Sie ahnte, dass sie davon in der Nacht träumen würde.

„Hi, Nora.“ Reid streckte die Hand aus. Für einen Moment dachte sie, er wolle sie umarmen oder … sonstwas. Aber er schloss nur die Tür und lehnte sich dagegen. Dabei streifte sein Arm leicht ihre Schulter.

Das leise Klicken der Tür ließ sie in ihrer Anspannung vor Schreck fast aus der Haut fahren, aber sie zwang sich, die Fassung zu wahren. Hatte er irgendetwas vor, das so privat und intim war, dass es vor den Augen Dritter verborgen werden musste? Ihr Puls jagte.

„Hi, Reid.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie. „Du hast meine Nachricht bekommen.“

„Ja.“ Impulsiv streckte sie die Hand aus, um Reid am Arm zu berühren und ihren Dank auszudrücken. Aber in letzter Sekunde hielt irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck sie davon ab. Etwas Bedrohliches, das sie nicht verstand, aber gern verstanden hätte. Ihn zu berühren enthielt plötzlich alle möglichen nonverbalen Untertöne, vielleicht sogar eine Einladung, von der sie sich nicht sicher war, ob sie sie wirklich beabsichtigte.

Himmel! Wie hatte ein schlichtes Dankeschön plötzlich derart viele … Schwingungen bekommen können? Sie ließ die Hand sinken, und er registrierte die Geste.

„Was kann ich für dich tun?“

Er war nicht mehr der Junge, an den sie sich erinnerte. Doch sie sah noch kleine Spuren seines früheren Selbst. Die Art, wie er sich hielt. Die langen Wimpern. Aber sein Blick war kalt und undurchdringlich. Es schien fast so, als habe er eine Mauer zwischen sich und der Welt errichtet, und niemand durfte sie durchbrechen. Etwas, was sie immer an Reid Chamberlain geliebt hatte, war sein Lächeln gewesen. Und das fehlte.

Der Mann war – den Presseartikeln zufolge – vermögender als König Salomon und Krösus zusammen, aber es schien ihn nicht glücklich gemacht zu haben.

Ja, was konnte er für sie tun? Wahrscheinlich nicht viel. Aber vielleicht konnte sie etwas für ihn tun.

„Du könntest für mich lächeln, Reid. Das könnte diese schreckliche Spannung auflösen.“

Gegen jede Wahrscheinlichkeit hoben sich Reids Mundwinkel. Er versuchte, das Lächeln zu unterdrücken, weil er Nora Winchester nicht in dem Glauben lassen wollte, sie könne ihn innerhalb von fünf Minuten nach ihrer Nase tanzen lassen.

Außerdem war es nicht seine Art, zu lächeln. Das war etwas für Menschen, denen eine gewisse Leichtigkeit des Seins zu eigen war, nicht für ihn. Jedenfalls normalerweise nicht. Nora war in sein Büro gekommen, und kaum hatte er sie gesehen, hatte er sich in eine andere Zeit zurückversetzt gefühlt. In die Zeit, bevor sich diese Schatten auf seine Seele gelegt hatten.

Das klang sehr dramatisch, sogar in seinen eigenen Ohren. Eben deshalb blendete er jeden Gedanken an sein eigenes elendes Leben aus und arbeitete stattdessen achtzehn Stunden am Tag, damit er anschließend erschöpft ins Bett fallen konnte. Wenn man schlief wie ein Toter, träumte man nicht. Man lag nicht wach und stellte Lebensentscheidungen infrage. Man verfluchte nicht seine Gene, die einen davon abhielten, etwas so Simples zu tun wie die Vaterrolle für die verwaisten Kinder der Schwester zu übernehmen.

Noras Anwesenheit hätte an alledem nichts ändern sollen. Aber dennoch war es so. Sie hatte Leben in sein Büro gebracht. Leben, das noch vor einem Moment nicht da gewesen war und mit dem er spontan nichts anzufangen wusste.

Es war irritierend genug, dass sie ihn überhaupt gefunden hatte. Und noch irritierender, dass er sich darauf gefreut hatte wie schon lange nicht mehr auf irgendetwas.

„Lächeln ist etwas für Politiker und Menschen, die etwas erreichen wollen“, erklärte er trocken.

Die Spannung blieb in der Luft hängen. Und noch etwas, das er nicht so schnell zerstören wollte: Sie waren sich beide der Gegenwart des anderen sehr bewusst. Nora war ebenso fasziniert von ihm wie er von ihr.

Reid hatte eine Ader dafür, seine Gegner zu durchschauen. Und in seiner Welt war jeder ein Gegner, sogar Nora Winchester, eine Frau, mit der er seit fünfzehn Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte und die seine Karte offenbar als Einladung verstanden hatte, in sein Leben einzudringen.

Ihre Unberechenbarkeit machte Nora gefährlich. Erstaunlicherweise erhöhte das die Faszination, die sie auf ihn ausübte. Seit seinen Teenagertagen hatte ihn keine Frau mehr so erregt.

„Und? Willst du etwas erreichen?“ Nora verschränkte die Arme vor der Brust in einer aufgesetzten Pose, die wohl eine Karikatur seiner Haltung sein sollte. „Was sollte diese Karte dann?“

„Es ist üblich, ein Geschenk mit einer Karte zu versehen.“ Zum zweiten Mal musste er sich ein Lächeln verkneifen. Er hatte nicht erwartet, die erwachsene Version von Nora Winchester so bezaubernd zu finden. Was sollte er mit ihr anfangen?

Als seine Assistentin das Iguazu angerufen hatte, um den Gang der Lieferung zu überprüfen, war sie sehr überrascht gewesen zu hören, dass angeblich bereits eine Dame aus Mr. Chamberlains Büro angerufen habe. Ein kurzer Anruf im Krankenhaus bestätigte, dass Nora seinen Umschlag erhalten hatte. Mit einiger Sicherheit hatte sie also erraten, dass das Geschenk von ihm gekommen war – und es war davon auszugehen, dass sie ihn bald aufsuchen würde. Er hatte richtig gelegen mit seiner Vermutung.

„Aha. Und ist es auch üblich, einen privaten Witz auf besagter Karte zu verwenden und dann so zu tun, als hättest du nicht gewollt, dass ich herausfinde, wer der Absender ist?“

Ihre wunderbaren Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie spielte mit ihm. Vielleicht flirtete sie sogar. In der Regel flirteten Frauen nicht mit ihm. Für gewöhnlich waren sie weitaus direkter. Suchten den Kontakt über gemeinsame Bekannte und luden ihn in ihr Bett ein, noch bevor er überhaupt ihren Namen wusste.

Ein paar dieser Einladungen hatte er angenommen. Er war kein Mönch. Aber mit keiner dieser Frauen war es zu so etwas wie einer Unterhaltung gekommen. Und keine hatte er je wieder angerufen. Nicht mehr seit jenem Tag, als sein Vater die halbe Familie umgebracht hatte und sich selbst.

Nora war eine Premiere. In mehr als einer Hinsicht. Sein Körper reagierte merklich auf sie. Sie stand so nah, dass er sie hätte berühren können, aber er tat es nicht. Noch nicht. Nicht, bevor er seine Reaktion auf sie nicht in den Griff bekommen hatte. Und vielleicht nicht einmal dann.

Mit Sicherheit war Nora nicht erschienen, um sich vom Geschäftsführer der Chamberlain Group verführen zu lassen. Aber das hieß nicht, dass sie dieser Idee grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Es hieß nur, dass er sich zunächst einmal über einiges klar werden musste, bevor er eine Freundin aus Kindertagen anmachte.

„Willst du mich … beschuldigen, ich hätte ganz bewusst versucht, mit dieser Floskel deine Aufmerksamkeit zu erregen?“ Reid konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so viel Spaß an einem Gespräch mit einer Frau gehabt hatte.

Sie kniff die Augen zusammen. „Willst du es leugnen?“

Hochachtungsvoll. Er hatte das Wort seit mehr als zehn Jahren nicht mehr benutzt. Erstaunlich, dass sie sich an diesen Gag erinnert hatte. Noch erstaunlicher eigentlich, dass er ihn benutzt hatte.

Vielleicht hatte er unbewusst gehofft, dass genau diese Wirkung eintrat.

Als er von Sutton Winchesters Diagnose hörte, hatte Reids erster Gedanke Nora gegolten. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen, aber sie hatte in seiner Jugend eine wichtige Rolle gespielt. Sie war seine Vertraute gewesen in seinem schwierigen Verhältnis zu seinen Eltern. Er dachte gern an Nora Winchester zurück, doch er hatte sich nie für die netten Zeiten bedankt, sowohl in der Schule wie auch auf Partys.

Mit dem Geschenk hatte er diesen Dank irgendwie zum Ausdruck bringen wollen. Reid mochte das Gefühl nicht, jemandem etwas schuldig zu sein.

Mit Sicherheit hatte er das Essen nicht für Sutton Winchester geschickt. Der alte Mann konnte – und würde wahrscheinlich – in der Hölle schmoren, und Reid würde keinen Finger rühren, um ihm zu helfen. Winchester hatte mehr zwielichtige Deals und korrupte Politiker in der Tasche als ein Hai Zähne. Auch die Chamberlain Group war in den Genuss seiner Intrigen gekommen.

„Das Essen war nur eine Erinnerung an alte Zeiten. Nicht mehr.“ Er wollte auch nicht so tun, als sei es mehr gewesen. „Offen gestanden habe ich keinen persönlichen Dank dafür erwartet. Dabei wollen wir es belassen.“

Sie lachte. Es löste eine ganze Woge an Erinnerungen in ihm aus. Nora war tatsächlich eine alte Freundin, und er hatte nicht viele davon. Plötzlich bedeutete es ihm etwas, dass ihn eine gemeinsame Vergangenheit mit dieser Frau verband. Eine positive Vergangenheit. Sie hatte seine Schwester Sophia gekannt, und allein das unterschied sie schon von allen anderen Menschen in seinem Leben, von Nash abgesehen.

Ja, sie einfach so wieder gehen zu lassen, war ausgeschlossen. Reid war ein Egoist. Er wollte mehr von Noras Lachen.

„Du hast mich doch ganz offensichtlich erwartet.“ Nora sah ihn herausfordernd an. „Deine Angestellten haben keinen Zweifel daran gelassen. Woher wusstest du, dass ich vorbeikommen würde?“

„Meine Assistentin hat im Iguazu angerufen und erfuhr, dass eine Mrs. O’Malley aus meinem Büro sich bereits nach dem Status der Lieferung erkundigt hatte.“

Schuldbewusst senkte Nora den Blick. „Na ja, die Karte war nicht unterschrieben. Wie sonst sollte ich herausfinden, ob du es wirklich warst, der hinter der netten Geste steckte?“

„Ich mache keine netten Gesten“, korrigierte er sie. „Und du solltest es auch nicht herausfinden. Ist Mrs. O’Malley ein Name, den du dir für schräge Aktionen ausgedacht hast?“

Er musste sie einfach necken, auch wenn klar war, dass schräge Aktionen überhaupt nicht ihr Ding waren. Doch flirten, necken und lächeln – oder zumindest fast lächeln – waren alles Dinge, die er sehr lange nicht mehr getan hatte. Und er hätte gern mehr davon.

Aber nur mit Nora. Plötzlich war er froh darüber, dass sie ihn aufgesucht hatte.

„Richtig.“ Sie nickte zustimmend. „Aber ich benutze den Namen nicht nur für schräge Aktionen, sondern für alles. Ich habe geheiratet.“

Er verspürte einen Stich. Echte Enttäuschung. Wieso das? Hatte er so ernsthaft erwogen, sie zu küssen? Setzte ihm die Tatsache, dass sie vergeben war, deswegen so zu?

Das war absurd. So sollte er nicht von ihr denken. Sie war eine alte Freundin, die bald wieder aus seinem Leben verschwunden sein würde. Es war besser so. Es spielte keine Rolle, ob sie verheiratet war oder nicht. Natürlich hatte sie geheiratet. Eine derart attraktive Person wie Nora Winchester konnte nicht alleine bleiben.

Etwas von der Spannung zwischen ihnen verflog, aber nicht vollständig. Noras Lächeln hatte eine ganz besondere Wirkung auf ihn. Er konnte sich nicht dagegen wehren.

„Meinen nachträglichen Glückwunsch“, sagte er. „Ich hatte es noch nicht gehört.“

„Wie solltest du auch? Sean war in Fort Carson in Colorado stationiert. Dort haben wir geheiratet, sehr zum Entsetzen meiner Mutter. Es war nur eine kleine Feier und ist nun schon fast sieben Jahre her.“ Sie machte eine kleine wegwerfende Bewegung. „Eine alte Geschichte. Inzwischen bin ich Witwe.“

„Das tut mir leid.“ Die Floskel kam automatisch. Ein Mindestmaß an Höflichkeit hatte er sich erhalten, obwohl er nicht mehr viel Zeit in Gesellschaft verbrachte.

Aber Nora – eine Witwe? Wie benommen forschte er in ihren Zügen. Nach irgendetwas. Er wusste selbst nicht, wonach. Sie hatte es so sachlich gesagt, als habe sie getrauert und die Sache dann abgehakt. Wie hatte sie das geschafft? Wäre es so einfach, hätte er es auch gern gemacht.

Die Geister von Sophia und seiner Mutter verfolgten ihn immer noch. Er bezweifelte, dass er je in der Lage sein würde, die Information über ihren Tod so ruhig weiterzugeben, wie Nora gerade vom Tod ihres Mannes gesprochen hatte.

Der Tod war ein schmerzlicher Bestandteil seiner Vergangenheit. Aber der Tod sollte nicht das verbindende Glied zu Nora sein. Dennoch verband er sie plötzlich auf eine Art, die nicht einmal ihre gemeinsame Vergangenheit möglich gemacht hatte. Er wollte diese neue Verbindung erkunden. Wollte sehen, ob der frische Wind, den Nora mit sich brachte, die dunklen Schatten vertreiben konnte – und sei es nur für kurze Zeit.

„Danke.“ Nora nickte. „Für dein Beileid und das Essen. Ich würde mich gern revanchieren. Vielleicht können wir über alte Zeiten reden. Außerdem würde ich gern wissen, was du in der Zwischenzeit gemacht hast. Wie wäre es, wenn ich dich zum Abendessen einlade?“

Das war nun wirklich die denkbar schlechteste Idee. Er kultivierte den Ruf, ein Einzelgänger zu sein, und würde sich nicht mit ihr den Augen der Öffentlichkeit aussetzen. In einer Stadt wie Chicago blieb das garantiert nicht unbemerkt.

„Ich meide die Öffentlichkeit. Wieso kommst du nicht zum Abendessen hierher? Ich lebe im Penthouse, eine Etage über diesem Büro. Mein persönlicher Koch ist der Beste.“

Nein, diese Idee war noch schlechter. Mit Nora hinter geschlossenen Türen. Lachen. Flirten. Es brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, wohin das führte. Er würde sie noch vor dem Hauptgang in seinen Armen halten in der Hoffnung, die Geheimnisse ihrer Seele zu lüften. Besonders die, die es ihr ermöglicht hatten, die Schicksalsschläge und ihren Schmerz hinter sich zu lassen.

Aber die Einladung war ausgesprochen, und es tat ihm nicht leid. Obwohl er das gegen Ende des Abends vielleicht anders sehen mochte. Niemand hatte je die Schwelle seiner Wohnung übertreten, abgesehen von sehr ausgesuchten Angestellten, die gut dafür bezahlt wurden, über sein Privatleben den Mund zu halten.

Das änderte nichts daran, dass es jede Menge Gerüchte gab über das, was in seiner Höhle vor sich ging, wie seine Wohnung genannt wurde. Es hörte sich fast so an, als habe er dort eine Art Lustgarten eingerichtet, in dem er unschuldige junge Mädchen verführte.

Die Wahrheit sah anders aus. Er wurde gequält von Gewissensbissen, weil er seine Mutter und Sophia nicht hatte retten können. Daher war er nicht geeignet für die Öffentlichkeit – und am besten ließ sich der Kontakt mit Menschen vermeiden, indem er zu Hause blieb. Diese Distanz zur Welt war das Einzige, was ihn rettete. Andere Menschen verstanden nicht, dass er mit dieser familiären Tragödie einen Teil seiner Seele unwiederbringlich verloren hatte. Und er hatte keine Lust, es ihnen zu erklären.

„Du meidest die Öffentlichkeit?“ Nora sah ihn neugierig an. „Ich habe gelesen, dass du pressescheu bist. Ich dachte, das sei übertrieben. Du als Einsiedler – das passt nicht zu dem Menschen, den ich einmal gekannt habe.“

„Dinge ändern sich“, erwiderte er schroff. „Ich habe viel Geld und Macht. Die Menschen wollen meist von beidem etwas. Es ist einfacher, sich von ihnen fernzuhalten.“ Seine Standardantwort, die von allen akzeptiert wurde.

„Klingt sehr nach Einsamkeit.“

Irgendwie war sie ihm näher gekommen, obwohl er keine Bewegung bemerkt hatte. Ihr Lächeln erwärmte ihn auf eine Weise, über die er lieber nicht weiter nachdenken wollte.

„Ist aber sinnvoll.“ Er räusperte sich. „Ich führe hier ein Milliarden-Dollar-Unternehmen. Da bleibt mir ohnehin nicht viel Zeit für Vergnügungen.“

„Und doch hast du mich hierher zum Abendessen eingeladen …“

Ihre Blicke trafen sich. Ließen einander nicht los. Unausgesprochenes ging zwischen ihnen hin und her, auch wenn er es nicht wirklich verstand. Auch wenn er nicht wusste, was er eigentlich sagen wollte.

„Es ist nur ein Abendessen.“ An ihrer Miene erkannte er, dass sie die Lüge durchschaute. Sie wussten beide, es würde mehr werden. Vielleicht nur eine Erneuerung ihrer Freundschaft – etwas, das plötzlich notwendig erschien. Nora war noch jemand aus der Zeit, bevor die große Kälte in sein Leben gekommen war.

„Ach, komm schon, Reid.“ Sie lachte wieder. „Wir sind jetzt erwachsen. Nach deiner Karte und der Art, wie du die Tür gleich hinter mir geschlossen hast, wissen wir doch beide, dass es ein Date ist.“

Gerade als er erklären wollte, dass ihm nur daran lag, seine Privatsphäre zu schützen, nicht mehr, stellte er fest, dass sich seine Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns verzogen hatten, ganz gegen seinen Willen. „Also gut, es ist ein Date.“

Noch eine Premiere. Reid Chamberlain hatte keine Dates. Zumindest nicht mehr, seit sein Vater die wichtigsten Menschen in seinem Leben umgebracht hatte. Seit Reid damit leben musste, dass er genetisch mit einem Monster verbunden war.

3. KAPITEL

Das Kleid, das Nora für ihr Date mit Reid gewählt hatte, oder vielmehr das Kleid, zu dem Eve und Gracie sie gedrängt hatten, gehörte verboten.

Wenn sie eine falsche Bewegung machte, wäre es das auch.

Der tiefe Ausschnitt stellte ihr Dekolleté auf aufreizende Weise zur Schau, und der Stoff schmiegte sich an jede Kurve ihres Körpers, von denen Nora schon gar nicht mehr gewusst hatte, dass es sie gab. Es war mehr als ein Cocktailkleid. Es sagte laut und deutlich: „Nimm mich, ich bin der Nachtisch.“

Nora war nicht einverstanden mit dieser Botschaft.

„Das kann ich nicht tragen“, sagte sie zum wiederholten Mal.

„Du kannst es, und du wirst es“, widersprach Eve. „Ich habe es nur ein einziges Mal angehabt. Niemand wird es wiedererkennen.“

Als ob das eine Rolle spielte!

Ein Teil des Problems war, dass Nora sich in dem Kleid gefiel. Andererseits konnte sie sich den Luxus nicht leisten, für einen solchen Nachtisch zu bleiben, auch nicht, wenn sie gewollt hätte. Wegen Declan. Ihr Sohn machte alles zehnmal komplizierter, sogar das, was eigentlich nur ein schlichtes Essen mit einem alten Freund sein sollte.

Ein Freund, dessen Blicke lange vergessene Gefühle in ihr geweckt hatten. Sie hatte gar nicht mehr gewusst, wie gut es sich anfühlte, von einem Mann begehrt zu werden. Sean hatte sie geliebt, und natürlich hatte er sie verwöhnt, aber dies war etwas anderes. Etwas mit einem Hauch des Verruchten. Rein sexuell. Es war erhebend und beängstigend gleichzeitig.

Sie übte das Gehen vor dem bodenlangen Spiegel im großen Schlafzimmer des Gästehauses. Wenn sie stolperte, blitzten ihre nackten Brustwarzen hervor. Also durfte sie nicht stolpern.

Eve legte ihr eine lange Kette mit einem juwelenbesetzten Anhänger um. „Perfekt. Es lenkt die Aufmerksamkeit genau dahin, wo sie sein sollte: auf deinen Ausschnitt.“

„Es ist wie ein Riesenpfeil auf meine Brüste.“ Nora versuchte, die Kette zu kürzen, aber Eve nahm sie ihr ab und ließ den Stein wieder an seinen Platz fallen.

„Dies ist ja kein Date mit einem Mann, den du in der Kirche kennengelernt hast“, bemerkte sie. „Reid Chamberlain hat einen gewissen Ruf. Er lädt Frauen nicht ohne Weiteres in seine Privatwohnung ein. Die wenigen, die dieses Privileg erlebt haben, schweigen sich darüber aus – sie werden wissen, warum. Du bist schön und hast etwas zu bieten. Zeig es ihm, und lass ihn etwas dafür tun.“

Gracie nickte zustimmend, während Nora schluckte.

„So ist es ja nicht. Wir sind nur alte Freunde.“

Eve zupfte noch ein wenig an Noras Haar herum. „Also weißt du, ich kenne Reid ja auch schon eine lange Zeit, und mich hat er noch nie zum Essen eingeladen.“

Aber Eve und Reid waren auch nicht so eng befreundet gewesen.

Noras Vergangenheit mit Reid verschaffte ihr einen Vorteil gegenüber all den Frauen, die er nicht um ein Date gebeten hatte. Als Nora es so genannt hatte, hatte sie gehofft, damit Klarheit zu schaffen. Zumindest ihr war klar, dass es da eine gewisse Spannung zwischen Reid und ihr gab.

Nora hatte sonst keine Dates. Sie hatte sie nicht mehr gehabt, seit sie Sean vor ungefähr zehn Jahren kennengelernt hatte. Heute hatte sie nur zugestimmt, weil Reid ein Freund war. Der Sprung ins Unbekannte war nicht ganz so furchterregend mit jemandem, den sie kannte und für den sie einmal heimlich geschwärmt hatte.

Abgesehen von der Art, wie er sie angesehen hatte …

Nora schauderte erregt. Sein Blick hatte sehr viel mehr als Freundschaft ausgedrückt. Heute Abend hatte sie eine Chance, herauszufinden, wie es war, mit Reid zusammen zu sein und ihn nicht nur als einen Freund zu sehen. Die eigentliche Frage war doch, ob sie bereit war, auf das unterschwellige Knistern zwischen ihnen einzugehen oder ob sie kneifen würde.

Sie hatte seit über zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt. Was, wenn sie vergessen hatte, wie es ging?

„Reid ist kein mysteriöser Typ mit einem zwielichtigen Ruf“, beharrte sie, aber es klang fast so, als müsse sie sich selbst überzeugen.

Er war tatsächlich anders als früher. Das war ihr eindeutig aufgefallen. Irgendwie düsterer, komplexer. Und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er jemanden brauchte.

Sie.

„Nora, Darling, du bist sehr lange aus Chicago fortgewesen.“ Eve bearbeitete eine Locke von Noras Haar so lange mit dem Lockenstab, bis sie so lag, wie sie es wollte. „Glaub mir, ich bin ihm ein paarmal begegnet, seit ich eine aktivere Rolle bei Elite Industries spiele. Er war immer kurz angebunden, alles rein geschäftlich. So ist er zu allen Leuten. Außer mit dir, nehme ich an.“

„Er leitet ein Milliarden-Unternehmen“, gab Nora zu bedenken. „Ausgerechnet du solltest doch wissen, was das heißt. Da darf man keine Schwächen zeigen.“

„Sei einfach nur vorsichtig“, bat Gracie. „Das Mädchen, das mir die Nägel macht, ist überzeugt, dass er sich das Schweigen der Frauen, mit denen er zusammen ist, erkauft. Es heißt, er hätte ein paar sehr … ungewöhnliche Vorlieben im Schlafzimmer. Dinge, die man in Gesellschaft nicht bespricht.“

„Das ist doch reine Spekulation“, wies Nora sie zurecht, aber ihr Puls ging spürbar schneller.

Was mochten das für Vorlieben sein? Leider hatte sie eine lebhafte Fantasie, und einige der Bilder, die ihr in den Kopf kamen, wollten nicht wieder verschwinden. Es war ein anregendes Panorama von Stellungen, bei denen Reid Chamberlain so nackt war, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Nicht, dass sie ihn je nackt gesehen hätte, aber Reid sah im Anzug einfach umwerfend aus. Es war anzunehmen, dass er ohne Anzug nicht minder gut aussah. Dann noch seine geheimnisumwitterte Seite … Das erhöhte seinen Sex-Appeal nur. Und zerrte noch mehr an ihren Nerven.

„Außerdem ist es nur ein Abendessen unter Freunden“, fuhr Nora nun energischer fort. Ganz gleich, was er für Vorlieben im Schlafzimmer haben mochte, sie würde es wahrscheinlich nie herausfinden. „Das ist alles. Ich bin eine Mutter. Mütter regen die Fantasie der Männer nicht an.“

Sie musste an Declan denken. Es konnte in absehbarer Zukunft für sie keine männlichen Übernachtungsgäste geben. Nicht solange sie einen Zweijährigen hatte, der noch mitten in der Nacht wach werden und nach seiner Mom rufen könnte. Dies war ein Dankeschön-Essen, nicht mehr. Eine Flucht vor dem deprimierenden Gesundheitszustand ihres Vaters und vor dem skandalösen Streit um das Erbe.

Eve zog die Augenbrauen hoch, als sie Nora zum Spiegel hindrehte. „Glaub mir, dieser Körper regt die Fantasie eines jeden Mannes an. Und abgesehen davon bist du eine starke, clevere Frau. Jeder Mann wird sich angezogen fühlen von dem da.“ Sie deutete auf Noras Kopf. „Und von dem da.“

Alle drei Schwestern folgten mit den Blicken Eves Geste auf Noras Körper. Nicht einmal Nora konnte bestreiten, dass das Kleid ihre Kurven auf das Vorteilhafteste betonte. Und ein Mann, der ihre Zeit wert war, würde selbstverständlich auch an ihrem Kopf interessiert sein.

„Egal, ich bin um zehn Uhr zu Hause“, versprach Nora. „Spätestens um halb elf.“

Sie gab Declan einen Kuss und überließ ihn Gracie. Die beiden machten es sich vor dem Fernseher bequem, um Zeichentrickfilme anzuschauen, und winkten Nora zum Abschied zu.

Auf der Fahrt zum Metropol saß sie stocksteif auf dem Rücksitz, zu nervös, um sich zu entspannen. Der Fahrer versuchte nicht, ein Gespräch mit ihr anzufangen, wofür sie ihm sehr dankbar war.

Ihre Fantasie lief schon wieder auf Hochtouren. Falls Reid wirklich ungewöhnliche Vorlieben hatte … hieß das automatisch, dass sie Nein sagen würde? Die Vorstellung, mit jemandem, dem sie vertraute, etwas wagemutiger als gewöhnlich zu sein, erregte und irritierte sie zugleich. Denn natürlich war Reid immer noch Reid. Niemand konnte ihr einreden, er habe sich in ein Monster verwandelt, das Frauen dazu brachte, sich abartigen Sexualpraktiken zu unterwerfen.

Außerdem gehörte ihr Herz Sean. Was auch immer mit Reid passierte, konnte abgehakt werden, sobald sie wieder nach Colorado fuhr. Es war ein befreiendes Gefühl, nicht an die Zukunft denken zu müssen.

Als der Portier einen Pagen kommen ließ, der sie ins Penthouse begleitete, stockte ihr für einen Moment der Atem. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete – und ob sie dafür bereit war.

Du bist albern. Du weißt doch gar nicht, ob diese Gerüchte stimmen!

Und sie wusste nicht, ob Reid etwas anderes plante als ein Abendessen. Wieso sollte sie sich also aufregen? Er würde sie nicht gegen ihren Willen gefangen halten. Wenn ihr die Richtung nicht gefiel, die der Abend nahm, dann konnte sie einfach gehen.

Die Türen des Fahrstuhls glitten zur Seite und öffneten sich zu einem kleinen Vorraum mit einem Boden aus weißem Marmor. Nora verließ den Fahrstuhl und stand vor einer geschlossenen Tür.

„Haben Sie einen schönen Abend, Ma’am.“ Der Page verschwand mit dem Fahrstuhl nach unten.

Nora wollte klopfen, aber noch ehe sie dazu kam, stand Reid vor ihr. Er hatte sich ebenfalls umgezogen. Sein Anzug war enger geschnitten und betonte die breiten Schultern auf eine Weise, die sie nicht ignorieren konnte. Der Schatten eines Bartes verlieh seinen markanten Zügen etwas Verwegenes. Vielleicht sah sie es auch nur so, weil das Gespräch mit Eve und Grace sie beeinflusst hatte.

„Hi, Reid.“ Ihre Stimme klang ein wenig atemlos.

Sein Blick glitt langsam über ihren Körper. Verweilte immer wieder, als müsse er genauer hinsehen. Sie spürte, wie ihr Puls schneller ging, aber sie weigerte sich, ihre Anspannung zu verraten, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte.

„Das Kleid war es wert, darauf zu warten“, erklärte er schließlich trocken.

„Zu warten?“ Sie runzelte die Stirn. „Ich bin genau pünktlich.“

Sein Blick verriet so etwas wie Belustigung, aber seine Lippen zeigten kein Lächeln. „Gefühlt habe ich fünfzehn Jahre gewartet.“

Oje. Die Bemerkung ließ viel Raum für Interpretation. Hatte er damals geheime Gefühle für sie gehabt, so wie sie für ihn? Das konnte er nicht meinen. Er hatte ja nicht gerade herumgesessen und sich nach ihr verzehrt.

„Wovon redest du? Du hattest mich in der Sekunde vergessen, als deine Eltern dir zum sechzehnten Geburtstag den Porsche geschenkt haben.“

Er lehnte sich gegen den Türrahmen. „Möchtest du das Gespräch bei einem Drink fortsetzen oder lieber hier stehen bleiben?“

„Du hast mich noch nicht hereingebeten.“

„Ich war beschäftigt.“

Er ließ seinen Blick noch einmal über ihren Körper gleiten, trat aber nicht beiseite, um ihr Zutritt zu seiner Wohnung zu gewähren.

Sie verstand ihn nicht, und das war nur zum Teil auf die Warnungen ihrer Schwester zurückzuführen, die ihr noch im Hinterkopf herumschwirrten. Er hatte sie hierher eingeladen, schien aber nicht zu wissen, was er mit ihr anfangen wollte. Vielleicht sollte sie ihm auf die Sprünge helfen.

„Ich habe Durst“, informierte sie ihn kühl. „Also entscheide ich mich für den Drink. Offenbar hast du nicht oft Gäste, sonst hättest du mir schon ein Glas Wein angeboten.“

„Bitte verzeih. Ich habe tatsächlich nicht oft Gäste, und meine Manieren sind entsetzlich. Bitte treten Sie ein, Mrs. O’Malley.“

Er hielt ihr einladend den Arm hin. Sie legte die Hand in seine Armbeuge, um das Spiel mitzumachen.

Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr zu und schloss die Welt hinter ihnen aus. Ihr Blick fiel auf das riesige Panoramafenster in Reids Wohnzimmer. Vor ihr lag das abendlich erleuchtete Chicago.

„Oh!“, entfuhr es ihr, und der Druck seiner Hand auf ihrer verstärkte sich. „Was für ein Ausblick.“

Neonlichter und Sterne, Glas und Stahl, soweit das Auge blickte. Die Welt da draußen war noch da, aber sie waren allein hier oben, getrennt von allen anderen.

„Du hast recht“, sagte er leise, und sie sah zu ihm auf.

Sein Blick ruhte unverwandt auf ihr. Stetig. Beunruhigend.

„Du siehst ja gar nicht hin.“ Erst jetzt begriff sie, was er meinte. Hitze durchströmte sie. „Äh … hast du mir nicht einen Drink versprochen?“

„Das habe ich. Komm mit.“

Ohne sie loszulassen, führte er sie an eine Bar, wo eine offene Flasche Wein mit zwei Gläsern auf sie wartete. Von hier aus hatte sie einen Blick in das Esszimmer, wo ein langer Tisch für zwei gedeckt war.

„Deine Angestellten sind beschäftigt gewesen“, bemerkte sie, nachdem er ihre Hand endlich losgelassen hatte, um den Wein einzuschenken. Für eine Gelegenheitstrinkerin wie sie waren die Gläser viel zu voll, aber das konnte er natürlich nicht wissen.

„Ich habe meinen Angestellten heute Abend freigegeben.“ Er reichte ihr ein Glas und hob seines für einen kurzen Toast. „Auf alte Freunde.“

Sie nickte und trank einen Schluck. Wie sie es schaffte, war ihr selbst ein Rätsel, denn er ließ sie die ganze Zeit nicht aus den Augen. Sie wand sich innerlich vor Verlegenheit.

Sie waren allein in diesem Penthouse, in das niemand Zutritt hatte, es sei denn, er verfügte über die Schlüsselkarte für den Fahrstuhl. Wunderbar ungestört. Sollte sie Angst haben? Nein.

Reid hatte sich einige Mühe gegeben, den Abend vorzubereiten. Das Ambiente war sinnlich und geschmackvoll. Etwas, was einer verwitweten jungen Mutter nicht jeden Tag geboten wurde. Reid gab ihr das Gefühl, schön und begehrenswert zu sein, und es gefiel ihr.

„Sag mal …“ Ihr lag plötzlich daran, den abgebrochenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. „Du hast gesagt, du hättest fünfzehn Jahre auf mich gewartet. Wie hast du das gemeint?“

„Unsere Freundschaft bedeutet mir viel. Das habe ich dir nie gesagt.“

„Oh.“ Sie konnte seine verschlossene Miene nicht deuten. „Das ist okay, Reid. Wir haben neue Freunde gefunden, und das Leben ging weiter.“

„Deins vielleicht.“

Seine Bemerkung verwirrte sie. „Willst du damit sagen, du hättest keine neuen Freundschaften geschlossen? Aber du warst doch ständig mit anderen Leuten unterwegs. Ihr seid nach der Schule zusammen im Auto weggefahren, und wenn wir euch bei einer Party oder bei einem Fußballspiel gesehen haben, dann ward ihr immer schon auf dem Sprung woanders hin, wo es noch aufregender war. Oder zumindest kam es mir so vor.“

Reid zuckte leicht die Schultern. „Ich habe die Zeit mit ihnen verbracht, das ist alles.“

Er war damals anders gewesen, als es ihr vorgekommen war? „Du willst doch nicht behaupten, du wärest damals schon ein Einzelgänger gewesen, oder?“

Falls die Dinge damals nicht so gewesen waren, wie sie schienen, wie sah es dann jetzt aus?

Seine Miene verdunkelte sich. „Gewissermaßen. Ich habe nie viel Glück damit gehabt, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.“

„Außer mit mir.“ Es war kühn, das einfach so zu sagen, aber sie nahm ihre Worte nicht zurück. Sie wollte jetzt sehen, was sie von dem Abend zu erwarten hatte.

Ihre Blicke trafen sich. Er bestätigte weder ihre Bemerkung noch bestritt er sie.

Nun wollte sie es wissen. „Hast du mich deswegen zum Essen eingeladen?“, fragte sie. „Weil du einsam bist?“

„Es ist ein Unterschied, einsam zu sein oder sich zu wünschen, allein zu sein“, konterte Reid.

„Das ist nicht wirklich eine Antwort auf meine Frage, oder?“

Nora war ihm so nah. Reid hätte seine Hand leicht über ihr Haar gleiten lassen können. Das Abendessen war ein Fehler gewesen. Er hatte geglaubt, er und Nora könnten sich ein wenig über die Vergangenheit unterhalten. Hatte es für eine unschuldige Möglichkeit gehalten, an einfachere Zeiten zu denken. An die Zeit, bevor seine Welt zusammengebrochen war. Er sehnte sich danach.

Stattdessen hatte er die ersten zehn Minuten, die sie in seinem Penthouse verbrachte, verzweifelt versucht, seine Hände irgendwie beschäftigt zu halten, damit er sie nicht in seine Arme zog, um zu sehen, ob sie sich so gut anfühlte, wie sie duftete. Um zu sehen, was unter diesem schwarzen Kleid steckte, das einen Körper erahnen ließ, von dem er kaum den Blick wenden konnte.

Man stürzte sich nicht auf eine alte Freundin, kaum dass sie über die Schwelle getreten war. Es war unzivilisiert und ähnelte dem, was ein Mann mit seinem Ruf tun würde. Er hatte die Gerüchte über seine Verruchtheit immer wieder genährt, in erster Linie, weil es ihn amüsierte.

Nora hatte etwas Besseres verdient.

Das Problem war, er hatte keine Lust auf das Essen. Überhaupt nicht. Er war wie hypnotisiert von Noras Dekolleté und den Rundungen, die von dem Hauch Stoff, das sich ihr Kleid nannte, nur spärlich bedeckt wurden.

Man starrte nicht einer alten Freundin in den Ausschnitt, und wenn er noch so einladend war.

Sicher gab es noch ein paar andere Regeln, die er hätte beherzigen sollen, aber sie wollten ihm nicht einfallen.

Es war zu lange her, seit er eine Frau in seinem Bett gehabt hatte, das war das Problem. Nora Winchester O’Malley sollte nicht die Frau sein, die ihn dazu brachte, diese Dürrezeit zu beenden. Wenn er den Abend nutzen wollte, um mit einer Freundin über alte Zeiten zu reden, dann sollte er das jetzt tun.

„Du hast recht.“ Er nickte. „Ich habe die Frage nicht beantwortet. Ich habe dich zum Essen eingeladen, weil ich dir danken wollte dafür, dass du mir immer eine gute Freundin gewesen bist.“

„Oh.“ Ein Ausdruck der Enttäuschung huschte über ihre Züge. „Das einzige Motiv war also, Danke zu sagen. Für uns beide, scheint es.“

„Sieht ganz so aus.“

Das hätte die Spannung zwischen ihnen auflösen sollen. Zumindest war das seine Absicht gewesen. Aber sie lächelte, und es ließ ihr ganzes Gesicht erstrahlen. Ihre Wärme erreichte seine Seele, die seit dem alles verändernden Flugzeugabsturz wie eingefroren gewesen war.

„Ich habe das Gefühl, dass mir nun genug gedankt wurde. Und du?“

„Wofür solltest du mir danken wollen?“, knurrte er und musste sich davon abhalten, sie in seine Arme zu ziehen.

„Für das Essen im Krankenhaus natürlich.“ Sie stemmte die Arme in die Hüften. „Wenn du dich vielleicht erinnerst, war das überhaupt der Grund, wieso ich dich zum Essen einladen wollte.“

Ja, er erinnerte sich. Sie waren alte Freunde. Nicht mehr. Auch wenn sie es ein Date nannte, bedeutete es für sie vielleicht nicht dasselbe wie für ihn.

„Genug mit den Danksagungen.“ Er leerte sein Weinglas. „Hast du jetzt Appetit?“

„Das hängt davon ab, was du zu bieten hast.“

Ihre Blicke trafen sich. Ja, sie hatte es genauso gemeint, wie es klang. Ihr Lächeln verflog, als sie einander suchend und abschätzend ansahen. Vielleicht hatte er den Abend ganz falsch geplant. Vielleicht sollte er das prickelnde Feuerwerk zwischen ihnen einfach explodieren lassen.

Aber falls es dazu kam, verlor er vielleicht das, wonach er sich so sehnte – Noras Freundschaft.

4. KAPITEL

Irgendwie gelang es Reid, sein Verlangen zurückzuschrauben und Nora ins Esszimmer zu führen. Vielleicht konnte das Essen der Situation die Spannung soweit nehmen, dass er sich darüber klar werden konnte, was er von diesem Abend erwartete. Und wie er es erreichen konnte.

Da die Angestellten den Abend freihatten, spielte er den perfekten Gastgeber und servierte den Gazpacho, den der Koch früher am Tag zubereitet hatte.

„Das sieht ja wunderbar aus, Reid.“ Nora machte sich darüber her.

Eine Frau mit einem gesunden Appetit. Reid beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Die Schwierigkeit war, seinem Körper klarzumachen, dass es jetzt nur um das Essen ging, denn der schien die Message noch nicht verstanden zu haben. Freundschaft oder Sex? Er musste sich für eine Richtung entscheiden. Bald.

„Ist es genug?“, fragte er ohne eine Spur von Ironie, als Nora den letzten Löffel der Suppe in den Mund schob. Sie hatte nicht nur gut gegessen, sie hatte dabei nicht einmal ihren Lippenstift verschmiert.

Das war ein echtes Talent. Aber nun konnte er den Blick irgendwie nicht mehr von ihren Lippen abwenden, als sie begeistert nickte.

„Das war wirklich gut. Ich beneide dich um deinen Koch.“ Sie seufzte dramatisch. „Ich wollte, ich hätte auch einen. Ich muss selbst kochen, was mir nichts ausmacht. Aber an manchen Tagen wäre es wirklich schön, es jemand anderem überlassen zu können.“

„Wieso stellst du nicht jemanden ein?“, schlug er vor. „Es lohnt sich schon, wenn man am Ende des Tages sicher sein kann, sich nicht nur gut, sondern auch gesund ernährt zu haben.“

„Seit wann bist du unter die Gesundheitsapostel gegangen?“

„Als mir klar wurde, dass ich nicht ewig lebe, und dass alles Schädliche, was ich zu mir nehme, den Weg ins Grab noch verkürzt.“

Es war eine flapsige Bemerkung, die jeder Mann in den Dreißigern machen mochte, aber er meinte es wirklich ernst. Wenn man viel allein war, brauchte man ein Hobby. Sein Hobby war die Gesundheit. Er las jeden Artikel über gesundes Leben, der ihm in die Finger fiel, und schnitt sein Fitnessprogramm und seine Essgewohnheiten darauf zu. Irgendwann hatte er sogar einen persönlichen Diätspezialisten eingestellt, ihn aber sofort wieder entlassen, als er merkte, dass er selbst mehr von der Sache verstand als dieser angebliche Profi.

Sich gesund zu halten, war ein kleiner Tribut an seine verstorbene Mutter und seine Schwester. Ihr Leben war viel zu früh beendet worden, also hatte Reid beschlossen, so lange zu leben, wie es nur irgend ging. Und dafür wollte er in der bestmöglichen Verfassung sein.

„Das ist sicher ein ernst zu nehmender Punkt. Ich wollte, es wäre so einfach, wie es bei dir klingt.“ Sie lächelte vage. „Aber mein Bankkonto gibt so etwas wie einen eigenen Koch nicht her.“

Er sah sie erstaunt an. „Ist etwas mit dem Vermögen deines Vaters passiert?“

Sicher nicht. Der Skandal um Carson Newport beziehungsweise die Tatsache, dass er Suttons unehelicher Sohn war, hätte nicht solche Ausmaße angenommen, wenn Sutton nichts zu vererben hätte.

Es hieß, Newport wolle so viel von Winchesters Vermögen, wie er bekommen konnte. Reid war Newport ein paarmal über den Weg gelaufen, aber sie sprachen nicht über private Dinge. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass es Newport wirklich um das Geld ging. Es ging wahrscheinlich eher um Rache. Winchester hatte es nicht besser verdient, aber das hieß natürlich, dass Nora von dem Drama auch betroffen war.

Hatte Newport seine Hände schon auf ihren Anteil gelegt?

Nora schüttelte den Kopf. „Mit Dads Vermögen ist alles in Ordnung. Mir gehört nur nichts davon. Als ich damals aus Chicago fortgegangen bin, habe ich auf alle Ansprüche verzichtet. Einschließlich des Erbes.“

„Wirklich?“ Reid machte kein Hehl aus seinem Erstaunen.

„Ja, wirklich. Ich will keinen Cent von seinem Geld. Es ist behaftet mit dem Blut all der Menschen, die er über die Jahre verletzt hat. Außerdem: Geld ist die Wurzel allen Übels, richtig?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich war glücklicher ohne dieses Geld.“

„Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels“, korrigierte Reid sie automatisch. Fast jeder zitierte diesen Satz falsch. „Es ist eine Warnung davor, sich vom Geld beherrschen zu lassen. Vom Geld und der Gier nach mehr.“

„Ist das ein Seitenhieb auf meinen Dad?“

Reid hatte dabei an seinen eigenen Vater gedacht, nicht an ihren. Er überlegte einen Moment, bevor er ehrlich sagte: „Nein, aber es passt auch auf ihn.“

Zweifellos war Sutton Winchester aus demselben Holz geschnitzt wie John Chamberlain. Noras Vater hatte nur nicht die Freundlichkeit besessen, die Welt von seiner teuflischen Persönlichkeit zu befreien, so wie Reids Vater es getan hatte. Zumindest noch nicht.

„Hast du mit meinem Vater zu tun gehabt?“

Ihr leichtes Lächeln verriet, dass sie genau wusste, was für ein Bastard ihr Vater war, aber das hieß nicht, dass sie es verdient hatte, sein Urteil über den Mann mit brutaler Offenheit zu hören. Ob dieser Abend dazu diente, zwei Freunde wieder zusammenzubringen oder zwei Freunde auf eine ganz neue Art zu vereinen, blieb abzuwarten, aber Reid ging davon aus, dass schlechte Worte über Noras Vater weder dem einen noch dem anderen Ziel förderlich wären.

„Lass uns einfach sagen, wir haben einen Waffenstillstand geschlossen, und solange er in seiner Ecke bleibt, bleibe ich in meiner.“

Das war eine milde und politisch sehr korrekte Art es auszudrücken.

Im Geschäftsleben kannte Winchester keine Rücksichtnahme. Nicht nur, dass er einen Richter bestochen hatte, als es um einen Antrag der Chamberlain Group auf einen neuen Bebauungsplan ging. Er hatte auch einen Spion ziemlich hoch in Reids Unternehmen platziert und außerdem versucht, den Ruf der Chamberlain Group in den Medien durch gezielt gestreute Gerüchte zu beschmutzen. Winchester arbeitete mit Gift, Reid mit Geduld, Einfluss und Geld – am Ende war er der Sieger gewesen.

„Ich bin sicher, mein Vater ist das leuchtende Beispiel eines Menschen, der das Geld mehr liebt als die eigene Familie“, sagte Nora, ohne zu zögern. „Das ist einer der Gründe, wieso ich damals gegangen bin. Ich war das Leben der feinen Gesellschaft leid. Ich hatte keine Lust mehr, mich in der neuesten Mode fotografieren zu lassen oder bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung aufzutauchen. Geld kann nichts kaufen, was wirklich wichtig ist.“

Er schenkte ihnen noch einmal Wein nach und servierte den Hauptgang, kaltes Lamm und Pasta. Dann nahm er die Unterhaltung wieder auf. „Richtig eingesetzt kann Geld das Leben besser machen.“

„Das scheint es für dich nicht getan zu haben.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Du hast dich in dieses Luxusgefängnis verkrochen. Ich sehe dich jetzt zum zweiten Mal, und bisher bemerke ich kein Anzeichen dafür, dass das Geld dich glücklich gemacht hat.“

Was würde sie sagen, wenn er ihr zustimmte? Wenn er sagte, dass das Geld nichts weiter getan hatte, als seinem Vater die Macht zu geben, die Seele seines Sohnes zu zerstören? Zuerst, indem er nie ein richtiger Vater gewesen war, und dann, indem er seine Familie mitgenommen hatte beim Flug in den Tod. John Chamberlain war in seine Eclipse 550 gestiegen und hatte den kleinen Jet gezielt abstürzen lassen, wobei nicht nur er, sondern auch seine Frau und seine Tochter umgekommen waren.

Reid war nicht an Bord gewesen. Er hatte sich um irgendwelche Geschäfte gekümmert.

Es war schon beängstigend, wie ähnlich er seinem Vater war. Man konnte versuchen zu fliehen, aber vor den Genen gab es kein Entrinnen. Deswegen hatte Reid, ohne zu zögern, Nein gesagt, als sein Bruder Nash jemanden suchte, der Sophias Zwillinge aufnahm.

Reid taugte nicht zum Vater. Er taugte kaum zum Menschen.

All sein Reichtum hatte ihn nicht vor Herzschmerz bewahrt. Er gab ihm nur die Möglichkeit, das zu bauen, was Nora sein Gefängnis nannte. Für ihn war es ein Zufluchtsort.

„Ich bin gern allein“, sagte er schließlich. „Mehr Geld zu haben als die Schweizer Bank erlaubt mir den Luxus, Leute vor die Tür zu setzen, wenn es mir passt.“

„Ist das eine Warnung?“ Sie lachte leise. „Benimm dich, oder du siehst die Tür von außen?“

Nein, das hatte er nicht im Sinn gehabt, schon gar nicht, wenn sie ihm ihr Lächeln schenkte. Er fragte sich unwillkürlich, wie sich ihre Lippen auf seinen anfühlen mochten. Sie war sicher sehr gut im Küssen – wie bestimmt auch in manchem anderen.

„Es ist einfach nur eine Tatsache“, sagte er rau. „Du kannst es verstehen, wie auch immer du willst. Obwohl ich fairerweise sagen muss, dass es nur sehr wenige Leute über diese Schwelle schaffen, man kann also nie wissen, wie schnell ich dir wieder den Weg nach draußen zeige.“

„Hm.“ Sie musterte ihn lächelnd. „Du willst also sagen, das hier ist so etwas wie ein einzigartiges Experiment?“

„Sehr einzigartig.“

Sie aß jetzt nicht mehr. Er auch nicht. Er hatte damit zu tun, seine Hände in seinem Schoß zu halten. Nicht einmal nach der Gabel konnte er greifen, ohne Gefahr zu laufen, das Essen ganz abzuhaken und stattdessen Noras Küsse zu testen.

„Ich habe das Gegenteil gehört.“ Sie beugte sich weiter zu ihm herüber, sodass ihm ihr Duft nach Erdbeeren und Vanille in die Nase stieg.

Das hätte ihn fast schwach werden lassen. Andere Frauen dufteten nach schlecht verhüllten Einladungen zu heißen Nächten. Nora duftete nach etwas, das er lange nicht mehr erlebt hatte – Unschuld. Er konnte sich nicht erinnern, je eine Frau so begehrt zu haben wie sie.

„Tatsächlich?“, murmelte er. „Was hast du denn gehört?“

Lügen, Übertreibungen und Wunschdenken – falls es etwas von dem Unsinn war, den er über sein Sexleben gehört hatte. Falls sie in der Erwartung gekommen war, eine Einladung zur verbotenen Seite der Lust zu erhalten, dann stand ihr eine Enttäuschung bevor.

„Nichts, was ich geglaubt hätte.“ Ihr offener Blick wich seinem nicht aus.

„Wirklich?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich kenne dich. Die, die diese Gerüchte in Umlauf bringen, tun das offenbar nicht.“

Das stimmte wahrscheinlich. Sie waren Freunde gewesen, Vertraute und manchmal Komplizen. Sie schien ihn immer noch auf eine Weise zu erreichen, wie es sonst niemand konnte. Es gefiel ihm, dass zwischen ihnen mehr war als nur physisches Verlangen. Ihre Unschuld und ihre Lebensfreude waren etwas ganz Besonderes.

Plötzlich befand er sich in einer Zwickmühle. Es ging nicht mehr um die Frage, ob der Abend mit Freundschaft oder Sex enden würde. Die Frage war jetzt, wie um alles in der Welt er an den Punkt geraten war, beides zu wollen.

Nora wusste nicht, wie sie die Schmetterlinge in ihrem Bauch beruhigen sollte, die Reids intensiver Blick zu immer neuen Höhenflügen ansetzen ließ.

Sonst hätte sie vielleicht etwas gegessen, statt sich dem dritten Glas Wein zu widmen, das sie wahrscheinlich über kurz oder lang in Schwierigkeiten bringen würde.

Sie konnte an nichts anderes denken, als daran, Reid zu küssen, bis er lächelte. Sie spürte, dass so viel mehr hinter seiner geheimnisvollen Fassade steckte. So viel Schmerz, den sie zu vertreiben hoffte. Sie wollte ihn wieder glücklich machen. War es so schlimm, sich einzubilden, dass sie das könnte?

Als er sein Weinglas hob, fiel ihr auf, dass auch er kaum etwas gegessen hatte. Zu gefangen in der Unterhaltung oder einfach nicht hungrig? Er drehte das Glas in den Händen und sah dann wieder zu ihr herüber. Sein Blick war voller Verheißungen, die sie gern erkundet hätte. Aber sie wusste nicht, wie sie den nächsten Schritt tun konnte.

„Du bist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der wirklich behaupten kann, mich zu kennen“, sagte er schließlich leise.

Sie versuchte, es mit einem Lachen zu übergehen, aber der Schock über seine Worte ließ es nicht zu. „Ich hätte erwartet, dass du es bestreitest. So in der Richtung: ‚Das ist alles lange her.‘“

„Es ist lange her“, bestätigte er. „Aber nicht so lange, dass ich nicht noch wüsste, wie sehr ich unsere Freundschaft genossen habe. Ich konnte dir gegenüber immer in allem ehrlich sein. Wir hatten etwas Echtes, das ich mir dummerweise habe entgleiten lassen.“

Wow! Das traf sie doch sehr. Sie hatte ihr Leben weitergelebt, aber das hieß nicht, dass sie den Verlust ihrer Freundschaft nicht immer bedauert hatte.

„Es ist lange her“, wiederholte sie vage. „Wir können die Fehler der Vergangenheit vergessen.“

Er erhob sich und hielt ihr die Hand hin. „Ich will zumindest die Tradition der Ehrlichkeit fortführen und dir sagen, dass ich nicht mehr essen möchte. Komm mit.“

Noras Puls raste. War dies der Teil, wo er die Einladung annahm, die ihr Kleid aussprach? Der Teil des Abends, wo sie herausfand, was nach dem Essen kam?

Sie ließ sich von ihm auf die Beine ziehen und schwankte leicht in ihren Stilettos, als ihre Absätze im dicken Flor des Läufers versanken, der vom Esszimmer in den Wohnbereich führte. Die Skyline der Stadt wurde in ihrer Schönheit nur noch übertroffen von dem beeindruckenden Mann an ihrer Seite, der seinen Daumen leicht über ihren Handrücken gleiten ließ.

Er blieb vor dem Fenster stehen und ließ sie los, um seine Hände auf ihre Schultern zu legen. Sie stand vor ihm und sah auf die Stadt hinaus, auf ihre Spiegelbilder vor den Neonlichtern der Gebäude. Nora beobachtete, wie Reid den Kopf zu ihrem Nacken senkte.

„Ich liebe dieses Bild“, murmelte er an ihrem Ohr. „Du und diese lebendige Stadt zusammen.“

Sein Atem streifte ihre empfindliche Haut und löste einen Schauer des Verlangens in ihr aus. Sie hätte ihre Reaktion nicht unterdrücken können, auch wenn sie es gewollt hätte. Gut, ein Teil der Erregung war der Tatsache zuzuschreiben, dass sie Reid vertrauen konnte, und dass sie sich bei ihm sicher fühlte. Aber ein Teil war auch auf die Bilder zurückzuführen, die ihr zuvor durch den Kopf gegangen waren. Die nicht jugendfreien Bilder …

Seine Hitze brannte sich in ihren Rücken. Offenbar hatte sie alle Warnungen vergessen, sich vom Feuer fernzuhalten, denn sie ersehnte nichts mehr, als sich an diese Hitze zu schmiegen. Ihrem Verlangen nachzugeben.

„Du gefällst mir auch auf diesem Bild“, verriet sie ihm. „Und in unserer Tradition der Ehrlichkeit muss ich gestehen, dass ich mich frage, wie das Bild wohl aussähe, wenn du mich jetzt küssen würdest.“

Nur der verstärkte Druck seines Körpers an ihrem verriet, dass er gehört hatte, was sie sagte. Sie spürte, wie er ihr Haar anhob, um die Lippen auf ihren Hals zu drücken.

Die Knie drohten unter ihr nachzugeben. Nora musste sich an der Scheibe abstützen. Dabei konnte sie ein Stöhnen nicht unterdrücken. Sie beobachtete Reids Spiegelbild im Fenster, als er eine Spur heißer Küsse an ihrem Hals emporzog. Sie neigte den Kopf zur Seite, um ihm besseren Zugang zu gewähren, konnte den Blick aber nicht von ihrem Spiegelbild lösen.

Es war stimulierend. Unwirklich. Einzigartig.

Er ließ die Fingerspitzen über ihre Arme gleiten, bis seine Hände auf ihren lagen und sie am Fensterglas festhielten. Er drängte sich enger an sie, und sie spürte seine Erregung an ihrem Körper.

Oh. Falls sie nicht bereit war, den ganzen Weg zu gehen, dann wäre jetzt der Moment, es zu sagen.

Nora öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder.

Hatte sie nicht eine Nacht voller Leidenschaft mit einem Mann verdient, der ihr zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl gab, lebendig zu sein? Es war nichts Falsches daran, wenn zwei Menschen so zusammenkamen, solange beide akzeptierten, dass es eine flüchtige Affäre war, nichts weiter. Ihr Herz war für immer verschlossen, aber das hieß nicht, dass auch ihr Körper verzichten musste.

Oder versuchte sie nur, sich etwas einzureden, weil sie beschlossen hatte, wieder am Leben teilzuhaben, und Reid sollte ihr Barometer sein für Erfolg oder Misserfolg?

Andererseits – wer sagte, dass es eine flüchtige Affäre bleiben musste? Niemand. Sie hatten sich nur über ihre Verbindung unterhalten, über ihre alte Freundschaft und Reids Eingeständnis, dass er bedauerte, sie nicht festgehalten zu haben.

„Reid“, hauchte sie.

Autor

Kat Cantrell
<p><em>USA Today</em>-Bestsellerautorin Kat Cantrell las ihren ersten Harlequin-Roman in der dritten Klasse und füllt ihre Notizbücher, seit sie Schreiben gelernt hat. Sie ist Gewinnerin des <em>So you think you can write</em>-Wettbewerbs und <em>Golden Heart</em>-Finalistin der <em>Romantic Writers Association</em>. Kat, ihr Mann und ihre beiden Jungen leben in Nordtexas.</p>
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