Baccara Exklusiv Band 45

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EIN PIKANTES GEHEIMNIS von BROWNING, DIXIE
Die Klatschpresse hat Sarah übel mitgespielt. Kaum zu glauben, dass sie sich ausgerechnet in einen Journalisten verliebt. Aber Randall ist anders als seine Kollegen: einfühlsam, rücksichtsvoll - und äußerst sexy. Kann sie ihm ihr größtes Geheimnis anvertrauen?

GEKÜSST, BERÜHRT, VERFÜHRT ... von BANKS, LEANNE
Behutsam schient er ihr Bein - so geschickt, dass Jenna ins Träumen gerät: seine Hände, die langsam über ihren Körper gleiten … Schnell aufwachen - denn Stans Ruf ist legendär. Bestimmt verführt er seine Patientinnen reihenweise. Aber Jenna will die Einzige sein …

HEISSE GLUT DER LEIDENSCHAFT von ANDREWS, CAROLYN
Wenn sie Chase trifft, schlägt ihr Herz wie verrückt, allein sein Anblick lässt sie dahinschmelzen. Unmöglich, diesem Mann zu widerstehen - bis Sunny erfährt, dass er an einer brisanten Story arbeitet. Eine Story, die sie vor eine schwere Entscheidung stellen wird …


  • Erscheinungstag 30.04.2008
  • Bandnummer 45
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495848
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

CAROLYN ANDREWS

HEISSE GLUT DER LEIDENSCHAFT

Eigentlich hat er den Termin mit Sunny gemacht, um an ihren Onkel, Senator Caldwell, heranzukommen, der wegen dunkler Geschäfte verhaftet wurde. Doch das ist vergessen, als Chase ihr gegenübersitzt. Keine Story der Welt könnte so aufregend sein wie diese langbeinige Schönheit mit dem rot gelockten Haar. Aber davon muss er sie erst sehr gründlich überzeugen …

LEANNE BANKS

GEKÜSST, BERÜHRT, VERFÜHRT

Als Kinder waren sie wie Hund und Katz. Eine Narbe erinnert Stan bis heute daran. Bei einer ihrer zahllosen Raufereien hatte Jenna ihm so heftig in die Hand gebissen, das Blut floss. Ob sie wohl noch immer eine Wildkatze ist? Eine reizvolle Vorstellung, die Stan nur zu gerne überprüfen würde. Leider gibt Jenna ihm dazu vorläufig keine Chance …

DIXIE BROWNING

EIN PIKANTES GEHEIMNIS

Ein neuer Enthüllungsroman wird Sarah die gierige Pressemeute auf den Hals hetzen. Eigentlich wollte Randall sie nur warnen, doch plötzlich findet er sich als Handwerker im Haus der scheuen Politikertochter wieder. Hilfbereit führt er die notwendigen Reparaturen aus – und würde doch viel lieber ihr gebrochenes Herz heilen. Wird sie sich ihm jemals anvertrauen?

1. KAPITEL

Sunny Caldwell trat durch die Tür und war darauf vorbereitet, die Höhle des Löwen zu stürmen. Doch ein Blick durch das Foyer des Plum-Court-Apartmentgebäudes genügte, um dieses Bild zu zerstören. Staunend ging sie über den Marmorboden auf eine Reihe Fahrstühle zu. Kleine Lämpchen leuchteten in den Zweigen der Zierbäume, die den Liftbereich auf beiden Seiten flankierten. Hoch oben fing ein Kristalllüster die ersten Sonnenstrahlen des Tages ein und verbreitete überall funkelndes Licht.

Überaus erleichtert nahm Sunny den Anblick in sich auf. Nein, Chase Monroe lebte nicht in der Höhle des Löwen. Er wohnte in einem Palast.

Und zwar im Penthouse. Ein Prinz, gefangen im Turm? Schon wieder ein falsches Bild, schalt sie sich selbst, betrat den Fahrstuhl und drückte den Knopf für das oberste Stockwerk. Chase Monroe III. war kein Prinz! Er war ein Nachrichtenkorrespondent, der sich aus seinem Beruf zurückgezogen hatte, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Und sie war keinesfalls hier, um ihn zu retten. Reporter, aktiv oder nicht, gehörten nicht gerade zu den von ihr am meisten geschätzten Menschen. Sie wäre auch gar nicht hier, wenn ihre Tante Marnie sie nicht überredet hätte, Chase Monroe eine Broschüre zu schicken, und wenn seine Sekretärin sie nicht angerufen hätte, um einen Termin zu vereinbaren. Deshalb hatte sie sich die Möglichkeit, einen Vertrag abzuschließen, einfach nicht entgehen lassen können. Und wenn ihre Präsentation heute einen guten Abschluss finden sollte, musste sie sich ganz auf das Geschäftliche konzentrieren.

Während die Lampen auf der Stockwerkanzeige aufleuchteten, überlegte Sunny sich ihre Strategie. Der Erfolg eines Dienstleistungsunternehmens hing davon ab, wie sehr man auf die Bedürfnisse seiner Kunden einging. Den meisten ihrer Kunden half sie, Geld zu sparen. Sie sorgte dafür, dass sie wöchentlich bis zu zwanzig Prozent weniger für Lebensmittel ausgaben. Doch Chase Monroe war wohlhabend. Er besaß genug, um sich Anteile an einer lokalen Fernsehstation zu kaufen und seit seiner Ankunft in Syracuse vor sechs Monaten regelmäßig in den Klatschspalten der Zeitung aufzutauchen.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Sunny trat auf den Plüschteppich, der direkt zu der Tür am Ende des Ganges führte. Nein, Geld würde nicht das Argument sein, um Chase Monroe für die Dienste von „Service with a Smile“ zu interessieren. Ein reicher Junggeselle wie er durfte wahrscheinlich umsonst einkaufen. Es waren hauptsächlich berufstätige Mütter und ältere Menschen, denen sie sparen half. Chase Monroe würde sie den Aspekt der Zeitersparnis schmackhaft machen. Ein Mann, der einen Fernsehsender zu leiten hatte und dabei gleichzeitig ein Buch schrieb, sollte das zu schätzen wissen.

Sie klopfte zweimal an, doch nichts tat sich. Als sie schon ein drittes Mal anklopfen wollte, schwang die Tür auf, und sie sah sich einem kleinen Jungen mit großen braunen Augen in einem gestreiften Pyjama gegenüber. Rasch überprüfte sie die Zimmernummer. Hatte sie sich womöglich die falsche notiert?

„Sie sehen überhaupt nicht wie eine Großmutter aus“, stellte der Junge fest.

„Na, zum Glück“, erwiderte sie lächelnd. Der Kleine konnte nicht älter als sechs oder sieben Jahre sein. „Ich suche Chase Monroe“, erklärte sie.

„Onkel Chase ist unter der Dusche. Bist du unser Kindermädchen?“

„Nein, ich …“

„Jason.“

Sunny sah auf und erblickte Chase Monroe am Ende des Flurs. Er trug nichts weiter als ein loses Handtuch um die Hüften. Sie war unfähig, den Blick von ihm zu lösen. Dabei hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen. Doch ihre Füße wollten ihr nicht gehorchen. Schließlich gelang es ihr zumindest, von dem Knoten im Handtuch und den dunklen Haaren, die darunter verschwanden, zu seinen breiten Schultern aufzusehen. Seine Haut war glatt und noch feucht vom Duschen, und spontan stellte sie sich vor, wie sie die Wassertropfen wegwischte und die Wärme seines Körpers fühlte.

Als er sich nun hinkniete, um mit dem Jungen zu reden, teilte sich das Handtuch und entblößte die ganze Länge eines muskulösen Oberschenkels.

Sunny bemühte sich, auf den Boden zu sehen. Dann probierte sie es mit der Decke. Aber schließlich ertappte sie sich doch dabei, wie sie seine gut sichtbare Bräunungslinie betrachtete. Wann hatte sie zuletzt nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als an ihrer Sonnenbräune zu arbeiten? Hatte sie überhaupt je die Muße dazu gehabt? Diesen Winter, versprach sie sich. Sie würde alle ausstehenden Rechnungen eintreiben und auf eine karibische Insel fliegen, um sich ganz ihrem Teint zu widmen.

„Jason, ich möchte nicht, dass du jedem die Tür öffnest, verstanden?“

„Du warst unter der Dusche“, verteidigte sich der Junge und steckte den Daumen in den Mund.

„Ich weiß.“ Er drückte dem Kind die Schulter. „Aber nächstes Mal holst du mich vorher. Und nun kannst du mir einen Gefallen tun und nach deiner Schwester schauen.“

Sunny schluckte und wandte ihre Aufmerksamkeit seinem Gesicht zu. Das kräftige Kinn und die markanten Wangenknochen waren ihr von seinen Fernsehauftritten vertraut. Er hatte eine Kampagne zur Rettung der Symphonie gestartet. Doch mit den nassen, zerzausten Haaren wirkte er anders, weniger zivilisiert. Hatte sie deshalb dieses eigenartige Gefühl im Magen?

„Sie sind früh dran“, erklärte er.

Es war ein Vorwurf, und sie erwachte aus ihrer Benommenheit. „Ich bin absolut pünktlich.“

„Ich bat die Agentur, Sie um neun Uhr zu schicken. Jetzt ist es noch nicht einmal sieben.“ Er sah auf sein Handgelenk, das jedoch nackt war.

Voller Genugtuung hielt sie ihm ihre Uhr unter die Nase. „Es ist acht Uhr, exakt die Uhrzeit, für die Ihre Sekretärin mich herbestellt hat.“

Chase nahm Sunnys Anblick in sich auf – Jeans, Denim-Shirt und brauner Leinenblazer. Über ihrer Schulter hing eine winzige Handtasche, in der höchstens Platz für Autoschlüssel und eine Brieftasche war. Außerdem trug sie eine Aktentasche. Eine Aktentasche? Er kniff die Augen zusammen und musterte die Frau, die dort vor ihm stand, eingehender. Sie glich keinesfalls seiner Vorstellung von einem Kindermädchen. Dazu war sie zu klein, zu zart. Und ihre Haare waren rot. Nicht rotblond oder kastanienbraun. Ihr Haar hatte die Farbe von hell loderndem Feuer. Eine widerspenstige Locke hatte sich aus dem Haarband befreit und fiel ihr auf die Wange. Spontan strich er sie ihr wieder hinters Ohr.

Überrascht von dem, was er da gerade getan hatte, ließ er die Hand sofort wieder sinken. Gewöhnlich fasste er Frauen nicht einfach an. Besonders keine fremden. Dass ihre Haut sich so weich und ihre Haare sich so seidig angefühlt hatten, passte noch weniger ins Bild, und er runzelte die Stirn. „Sie sind ganz anders, als ich es erwartet habe.“

Sie auch, dachte Sunny und holte unsicher Luft. Es sind nur die Nerven, beruhigte sie sich. Daher auch das Prickeln auf ihrer Haut, obwohl er sie nur ganz kurz berührt hatte. „Ich habe schon aus zuverlässiger Quelle gehört, dass ich nicht wie eine Großmutter aussehe.“

„Onkel Chase, Emma hat den Stecker von deinem Wecker herausgezogen.“

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder. Das kleine Mädchen war etwa fünf Jahre alt und hatte die gleichen dunkelbraunen Haare wie der Junge, allerdings reichten ihre zerzausten Locken fast bis zur Taille.

„Damit wäre ein Rätsel gelöst“, bemerkte Chase. „Und ich wette, Sie sind nicht Mrs. Winthrop, das Kindermädchen von der Agentur Hudson.“

„Nein. Ich bin Sunny Caldwell von ‚Service with a Smile‘. Ich habe Ihnen vor einigen Wochen eine Broschüre geschickt und mit Ihrer Sekretärin diesen Termin vereinbart.“

Er schien sich zu erinnern und lächelte. Ihr war, als würde sich eine ganz bestimmte Wärme in ihr ausbreiten.

„Tut mir leid“, sagte er. „Ich … es ist alles ein bisschen hektisch, seit die Kinder hier sind.“ Er blickte an sich hinunter, als würde ihm die fehlende Kleidung erst jetzt bewusst. Sie entdeckte in seinen Augen eine gewisse Belustigung. „Wollen Sie nicht hereinkommen? Fühlen Sie sich wie zu Hause. In der Zwischenzeit ziehe ich mir etwas Bequemeres an.“

Als er sich umdrehte und an den Kindern vorbeiging, griff das kleine Mädchen nach dem Handtuch. Es fiel wie ein Theatervorhang zu Boden.

Ungerührt hob er das Mädchen auf den Arm und marschierte weiter den Flur hinunter.

Sie starrte auf seinen Po, bis Chase um die Ecke verschwand, und versuchte sich einzureden, dass das, was sie eben erlebt hatte, nur Einbildung war. Doch das Handtuch lag dort auf dem Boden. Ein anerkennender Pfiff wäre jetzt angebracht gewesen, doch war sie nicht einmal in der Lage, die Lippen zu schürzen.

Jason zupfte an ihrem Ärmel und flüsterte: „Hast du seinen nackten Po gesehen?“

„Ja, allerdings.“

Der kleine Junge lächelte sie vorsichtig an. „Onkel Chase ist lustig, nicht?“

„Ganz bestimmt“, murmelte sie und erwiderte sein Lächeln.

„Ich habe Hunger“, erklärte Jason und zog sie in die Küche.

Es war ein vollkommen quadratischer Raum, der durch einen breiten Küchentresen zweigeteilt wurde. Jason ging schnurstracks zum Kühlschrank und nahm eine Tüte Milch und eine bunte Schachtel Cornflakes heraus.

„Dein Onkel bewahrt die Cornflakes im Kühlschrank auf?“, fragte sie und stellte ihre Aktentasche auf den Küchentresen. Als sie den Kühlschrank wieder schloss, fiel ihr auf, dass er so gut wie leer war.

„Nein, ich habe sie hineingestellt, damit die Milch Gesellschaft hat. Gibst du mir eine Schale?“

Während sie für Jason eine Schale und einen Löffel suchte, stellte sie fest, dass die Küchenschränke ebenfalls kaum Essensvorräte bargen. Dann beobachtete sie entsetzt, wie die Cornflakes sich blau verfärbten, sobald der Junge Milch darauf goss.

„Was ist das?“

„Bluegaloos“, verriet ihr Jason mit vollem Mund. „Auf dem Weg vom Flughafen gestern Abend erlaubte Onkel Chase mir, alles zu kaufen, was ich wollte.“ Er schob sich einen weiteren Löffel in den Mund. „Kannst du kochen?“

„Ein bisschen. Warum?“

„Emma will die Bluegaloos nicht essen.“

Kluges Mädchen, dachte sie. „Hat sie deinem Onkel denn nicht gesagt, was sie lieber essen möchte?“

Jason schüttelte den Kopf. „Sie spricht nicht mehr, seit Mommy und Daddy fort sind. Sie sind in einem Flugzeug geflogen, und es ist abgestürzt. Onkel Chase meint, wir würden ab jetzt bei ihm leben.“ Der Löffel in seiner Hand zitterte.

Ihr zog sich das Herz zusammen. Leider fielen ihr im Augenblick keine tröstenden Worte ein, und so war sie ganz erleichtert, als Emma erschien. Sie ging zu ihr und bot ihr die Hand. „Komm, wir suchen für dich etwas zu essen.“ Das kleine Mädchen rührte sich nicht von der Stelle, während sie einen der Küchenschränke öffnete, der allerdings bis auf eine Flasche Champagner, eine Dose importierten Kaviar und eine Schachtel Cracker leer war.

„Die wichtigsten Grundnahrungsmittel“, murmelte sie kopfschüttelnd. Sie kniete sich hin und teilte Emma die schlechte Nachricht mit. „Onkel Chase’ Regale sind leer. Willst du es sehen?“ Das Mädchen blickte sie ernst an und schwieg, doch als sie dann die Arme ausbreitete, kam sie auf sie zu. Sie hob sie hoch und wies auf den Champagner. „Dafür bist du noch zu jung, aber ich schätze, es ist für ein Mädchen nie zu früh, einen Geschmack für Kaviar zu entwickeln. Machst du mit?“

Sie griff nach der Dose, doch Emma zeigte über ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah einen Kalender, der Georgia O’Keefes „Gelbe Kaktusblüten“ zeigte. Seltsam, dass ein Mann wie Chase Monroe ein Bild von Georgia O’Keefe in der Küche hängen hatte. Irgendwie hatte sie etwas anderes erwartet. Was? Ein Bild vom Playmate des Jahres?

Automatisch glitt ihr Blick zu dem Notiz-Kästchen für den heutigen Tag. In männlicher Handschrift standen dort die Worte: „Interview mit Leo Caldwells Nichte, 8 Uhr.“ Wie benommen las sie es ein zweites Mal.

Sie schloss kurz die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Wut an. Weshalb sollte es sie überraschen, dass Chase Monroe seine eigenen Vorstellungen von einem Gespräch mit ihr hatte? Als Journalist war die Beschaffung von Informationen schließlich sein Job. Und als Senator, der erst kürzlich eine Gefängnisstrafe angetreten hatte, war Leo Caldwell noch immer Schlagzeilen wert.

„Interview mit Leo Caldwells Nichte.“ Plötzlich ergab alles einen Sinn. Er wollte die Nichte benutzen, um an den Onkel heranzukommen. Das war vor einem Jahr schon einmal einem Reporter gelungen, der für Chase’ Fernsehsender arbeitete. Jeff Miller hatte sich mit den Interviews, die er mit Leo geführt hatte, einen hübschen Ruf geschaffen. Warum sollte es nicht noch einmal gelingen?

Sunny holte tief Luft und zwang sich nachzudenken. Dass Chase Monroe eigene Vorstellungen von diesem Gespräch hatte, konnte ihr im Grunde egal sein. Sie war hier, um ihn als Kunden für „Service with a Smile“ zu gewinnen. Das war ihr vorrangiges Ziel. Aber sie brauchte ihn nicht nur als Kunden, sondern auch, um in die gesellschaftlichen Kreise hineinzukommen, in denen er verkehrte. Und niemand würde sie ein zweites Mal dazu missbrauchen, an ihren Onkel Leo heranzukommen.

Das kleine Mädchen zupfte sie an den Haaren. „Dir gefällt also mein Haarband“, stellte sie fest und trug Emma zu einem Stuhl. „Wie wäre es, wenn wir nun deine Haare damit zusammenbinden?“

„Sie trägt normalerweise einen Zopf“, klärte Jason sie auf. „Damit es nicht verklettet, sagte Mommy. Emma weint, wenn es verklettet.“

„Kein Wunder.“ Sunny und nahm eine kleine Bürste aus ihrer Tasche. „Ist es da nicht ein Glück, dass ich Spezialistin für Zöpfe bin? Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Vater mir jeden Abend die Haare gebürstet, und ich musste nie weinen.“ Behutsam bürstete sie Emma die Haare.

Chase schlüpfte in bequeme Mokassins und zog sich einen Pullover über. Die Verabredung mit Sunny Caldwell war ihm völlig entfallen. Aber andererseits hatte er an überhaupt nichts mehr denken können seit Davids und Lauras Flugzeugabsturz.

Es kam ihm immer noch unwirklich vor. Erst vor einer Woche hatte er am Ende der Startbahn gestanden und gemeinsam mit Jason und Emma seinem Bruder und seiner Schwägerin nachgewinkt, als deren kleines Flugzeug sich in die Luft erhob.

Danach war alles wie ein Albtraum gewesen; die Nachricht vom Absturz, die Beerdigung, die Testamentseröffnung. Die Rückfahrt mit den Kindern – und die jetzige Situation. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Dies war die Realität. Er trug nun die Verantwortung für Jason und Emma. Miss Caldwell und ihr berüchtigter Onkel würden warten müssen, bis er sich an ein Leben mit seiner Nichte und seinem Neffen gewöhnt hatte.

Aus der Küche drang Jasons Lachen zu ihm herüber. Er hatte den Jungen seit dem Unfall nicht mehr lachen gehört. Unter dem Rundbogen, der in die Küche führte, blieb er einen Moment stehen und beobachtete die Szene. Sein Neffe saß im Schneidersitz auf dem Küchentresen und führte Regie bei Emmas Frisurgestaltung.

„Nein, es muss höher sitzen, oben auf ihrem Kopf.“

„Oh, du meinst einen französischen Zopf“, vermutete Sunny und fing noch einmal an. „Die sind etwas schwieriger. Ungefähr so?“

„Ja, so ähnlich“, bestätigte Jason und kniete sich hin, um besser sehen zu können. „Ja, so.“

Chase blieb, wo er war. Im Verlauf der sechs Monate, die er in diesem Apartment lebte, hatte er die Küche nur selten benutzt. Sie war ihm stets so steril erschienen. Doch mit dem Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, und dem Lachen eines Kindes wirkte sie wie ein freundlicher, einladender Ort.

Fasziniert schaute er dabei zu, wie Sunny lange Strähnen von Emmas Haar durch ihre schlanken Finger gleiten ließ. Ihre Hände waren klein, wie alles an ihr, und die Nägel waren kurz und unlackiert. Während sie geschickt und flink durch Emmas Haare fuhr, fragte er sich, wie es wohl wäre, wenn sie ihn berührte.

Was war nur so besonders an ihr, dass er schon wieder auf einen so abwegigen Einfall verfiel? Er lehnte sich gegen die Wand und sah sie sich noch einmal genau an. Ihr zierlicher kleiner Körper schien nur aus Beinen zu bestehen. Und dann diese Haare. Ohne das Haarband fiel es ihr in wilden Locken auf die Schultern, und im Sonnenlicht wirkte das Rot noch mehr wie loderndes Feuer.

Sunny befestigte Emmas Zopf, da spürte sie, dass jemand sie beobachtete. Sie sah über die Schulter, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der schwarze Rollkragenpullover und die Jeans bedeckten Chase’ Körper zwar, doch verheimlichten sie keineswegs, was darunter lag.

Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Die Intensität seines Blicks hatte etwas Herausforderndes, und unwillkürlich reckte sie das Kinn. Anfangs hatte sie ihn sich als Löwen vorgestellt. Und es passte auch. Er war schlank, muskulös … ein Raubtier. Es war faszinierend, machte sie aber ebenso misstrauisch.

„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte er.

„Wofür?“, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln. „Ich habe nichts gesehen, wofür Sie sich entschuldigen müssten.“

„Das meinte ich nicht …“ Chase spürte, dass ihm plötzlich das Blut in die Wangen stieg. Himmel, er wurde doch nicht etwa rot?

Sunny lachte herzlich. „Tut mir leid, aber ich konnte nicht widerstehen.“ Da Emma sie am Ärmel zupfte, hob sie das Mädchen vom Stuhl. „Wofür wollten Sie sich denn entschuldigen?“, wandte sie sich wieder an Chase.

„Ich hatte meine Sekretärin ausdrücklich gebeten, sämtliche Termine für den Rest der Woche abzusagen. Ihren muss sie dabei übersehen haben, da wir nun hier in meiner Küche stehen. Vereinbaren Sie doch bitte einen Termin für nächste Woche mit ihr.“

„Weshalb?“

„Wie bitte?“

„Weshalb soll ich einen neuen Termin vereinbaren? Ich bin hier und kann Ihnen auch jetzt meinen Einkaufsservice erklären, und Sie könnten wirklich ein paar Lebensmittel gebrauchen. Jason meint, Emma würde dieses blaue Zeug nicht essen, und ich glaube nicht, dass ihr Geschmack schon ausgeprägt genug für Kaviar ist.“ Sie setzte sich Emma auf die Hüfte, öffnete ihre Aktentasche und holte ein paar Formulare heraus. „Lassen Sie es mich Ihnen zeigen.“ Als sie die Formulare auf dem Küchentresen ausbreitete, stieß sie dabei unbeabsichtigt Chase an.

„Pardon“, entschuldigte sie sich hastig. Es sind nur die Nerven, beruhigte sie sich erneut. Sie war immer nervös, wenn sie eine Präsentation machte. Doch nie zuvor war ihr die Gegenwart eines anderen so bewusst gewesen. Selbst jetzt noch spürte sie ein Prickeln auf ihrem Körper, wo Chase sie berührt hatte. Sie wagte einen Blick in seine Augen und war nicht einmal imstande, präzise die Farbe zu erkennen. Sie waren irgendwie grau mit etwas Grün darin. Ihren Ausdruck konnte sie ebenso wenig deuten. Alles, was sie darin entdeckte, war ihr eigenes Spiegelbild.

Sie schluckte und beugte sich über die Formulare. „Es ist sehr leicht auszufüllen“, erläuterte sie und fuhr mit dem Finger über die Bestellliste. „Selbst wenn Sie nicht regelmäßig einkaufen.“ Sie riskierte einen Seitenblick. „Vermutlich essen Sie viel auswärts.“

„Ja, ich koche nicht.“

Sie nickte und legte eins der Formulare zuoberst. „Mit den Kindern brauchen Sie aber Lebensmittel im Haus. Milch, Orangensaft, Cornflakes, all diese Sachen. Hier sind viele der Fertiggerichte aufgelistet, die in den meisten Supermärkten erhältlich sind. Sie können Pizza bekommen oder Salat, italienische Spezialitäten oder chinesisches Essen. Die Supermärkte bieten viele Möglichkeiten, Ihnen das Kochen abzunehmen.“

Chase dachte nicht ans Kochen. Er starrte erneut auf ihre Hände, als Sunny auf ein weiteres Formular wies. Sie zählte Markennamen, Packungsgrößen, verschiedene Sorten von Mahlzeiten auf. Er wäre nicht einmal imstande gewesen, auch nur eins ihrer Worte zu wiederholen, und wenn sein Leben davon abhinge.

Entschieden ging er auf die andere Seite des Küchentresens und teilte ihr mit: „Ich habe ein Kindermädchen engagiert, Mrs. Winthrop. Sie wird sich um diese Dinge kümmern. Gegen neun Uhr wird sie hier sein.“

Sie sah ihn fest an. „Dann haben Sie mich also unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergebeten.“

„Was soll das heißen?“

„Sie hatten nie die Absicht, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie haben diesen Termin nur vereinbart, um zu sehen, ob Sie noch mehr Dreck über meinem Onkel ausschütten können. Nun, das wird Ihnen nicht gelingen.“

„Miss Caldwell, ich …“

„Versuchen Sie nicht, mich zu belügen. Ich kenne Leute Ihres Schlages.“

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit schoss ihm das Blut in die Wangen. Lächerlich, dass diese kleine Frau mit dem Mopp roter Haare ihn überhaupt in Verlegenheit brachte. Aber noch schlimmer war, dass ihre Anschuldigung ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Da in diesem Moment das Telefon klingelte, blieb ihm eine Antwort erspart.

„Warten Sie“, forderte er sie auf und verließ die Küche, um in seinem Schlafzimmer den Hörer abzunehmen.

Sunny holte tief Luft und zählte bis zehn. Sie würde gehen, ohne die Beherrschung zu verlieren. Chase Monroe mochte einen großartigen Körper haben und ein umwerfendes Lächeln, doch er war ebenso selbstgerecht und hinterhältig wie die übrige Pressemeute, die nach der Anklage gegen ihren Onkel ausgeschwärmt war. Und sollte sie, Sunny Caldwell, zwischen einem größeren Umsatz ihres Unternehmens und dem Schutz ihres Onkels wählen müssen, dann war die Entscheidung klar. Das Mädchen noch auf dem Arm, begann sie, die Formulare zurück in ihre Tasche zu stecken.

„Bist du böse auf Onkel Chase?“, fragte Jason.

Ihre Wut verrauchte, als sie den kleinen Jungen betrachtete. „Nein.“ Instinktiv hielt sie Emma fester. Trotz dem, was sie von Chase Monroe hielt, konnte sie sich vorstellen, was er in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte. „Es gab nur ein kleines Missverständnis, nichts Wichtiges“, versicherte sie Jason.

Chase tauchte wieder an der Tür auf. „Ich muss gehen.“

„Ich helfe Ihnen, die Kinder anzuziehen“, bot sie ihm an.

„Die Kinder können nicht mit. Es ist ein Notfall im Sender eingetreten.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Tut mir leid. Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Können Sie bleiben, bis Mrs. Winthrop kommt? Sie müsste in einer halben Stunde hier sein.“

„Moment mal!“ Sie wollte ihm Emma übergeben, doch er gab dem Mädchen nur einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und klopfte Jason auf die Schulter. „Pass auf deine Schwester auf, und tu, was Mrs. Winthrop sagt.“

„He …“ Sie lief ihm nach, als er den Flur entlangeilte. „Falls Sie glauben, Sie könnten …“ Doch er schlug ihr einfach die Tür vor der Nase zu. „Verdammt!“

„Das ist ein schlimmes Wort“, bemerkte Jason.

Sie sah zu ihm hinunter, und wieder ließ ihr Zorn merklich nach. Der kleine Junge machte ein so ernstes Gesicht. „Ja, früher wurde mir dafür auch der Mund mit Seife ausgewaschen.“

„Mit Seife?“ Seine Augen weiteten sich. „Igitt!“

„Oh, ich liebte es! Ich konnte dann diese großen Seifenblasen machen. Willst du es mal ausprobieren?“

Jason grinste. „Auf keinen Fall.“

„Komm.“ Sie schob Emma in eine bequemere Position und reichte dem Jungen die Hand. Er nahm sie, und sie erklärte: „Zeig mir, wo eure Sachen sind. Ihr solltet euch lieber anziehen, bevor Mrs. Winthrop erscheint.“

Sie waren erst zwei Schritte gegangen, als Jason plötzlich stehen blieb. „Kommt Onkel Chase wieder?“

Sie drückte seine Hand. „Ganz sicher. Er hatte ja noch gar keine Gelegenheit, die Bluegaloos zu probieren. Wie kann er sich so etwas Köstliches entgehen lassen?“

Anderthalb Stunden später stand Sunny auf der hinteren Veranda von Heather Kellys Kinderhort. Aus dem Garten klangen das Schreien und Lachen der Kinder. Anfangs hatten Jason und Emma sich noch an sie geklammert, doch schließlich war Jason zu den älteren Kindern gegangen, um ihnen am Klettergerüst zuzusehen, und Heathers Tochter Amanda hatte Emma überredet, ihr in die Sandkiste zu folgen.

„Habe ich das richtig verstanden, du hast das Kindermädchen gefeuert?“ Heather hob ein Kind, das sie an der Hand gehalten hatte, auf ihre Schultern.

„Du hättest sie sehen sollen“, verteidigte Sunny sich und ging aufgebracht hin und her. „Kaum war sie durch die Tür, erklärte sie mir schon, ich dürfe Emma nicht auf dem Arm halten. Es sei nicht gut, Kinder zu verhätscheln. Verhätscheln!“ Wütend blieb sie am Geländer stehen und blickte über den sonnenbeschienenen Platz. Heathers vier Mitarbeiterinnen passten auf die Kinder auf, jede mit einem Kind auf dem Arm. „Also teilte ich ihr mit, wie ich solche Ansichten finde.“

Heather grinste. „Ich wette, sie mochte dich auf der Stelle.“ Mit ihren langen blonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, wirkte sie wie ein junges Mädchen.

„Die Frau war so steif und kalt.“

„Trotzdem war es nicht deine Sache, sie zu feuern“, sagte Heather ernst.

Sunny reckte das Kinn. „Ihr Onkel hatte sie allein gelassen, bei mir, einer Fremden. Er hat sich kaum von ihnen verabschiedet.“

„Er erwähnte einen Notfall.“

„Ich habe ihm jedenfalls ein paar Dinge zu sagen.“

„Wie ist er? Sieht er wirklich so gut aus wie im Fernsehen?“

Sofort sah Sunny Chase’ Bild vor sich, als er gerade aus der Dusche gekommen war. Das zerzauste, noch feuchte Haar, die markanten Wangenknochen, das männliche Kinn. Und dann dieser lange, schlanke Körper, der nur mit einem Handtuch bekleidet war. Ihr wurde viel zu heiß bei der Erinnerung.

Heather lachte fröhlich auf. „Nicht zu fassen, du errötest ja! Was ist passiert?“

Sunny blickte finster vor sich hin und errötete noch stärker. „Nichts. Er könnte mich beschuldigen, seine Nichte und seinen Neffen entführt zu haben. Klingt das vielleicht wie der Beginn einer Romanze? Außerdem ist er Reporter. Ich werde mich hüten, mich mit einem von denen einzulassen. Und sieh mich nicht so an. Du bist genauso schlimm wie Tante Marnie. Sie war nämlich diejenige, die mich dazu überredet hat, ihm die Broschüre zu schicken. Warum habe ich überhaupt auf sie gehört?“

„Weil du deinen Kundenkreis ausbauen und wohlhabendere Kunden finden möchtest. Redest du nicht schon das ganze Jahr davon? Deine Tante wollte dir lediglich helfen.“

Sunny winkte ab. „Ja, aber ihre Vorstellung von Hilfe deckt sich nicht mit meiner.“

Heather legte den Kopf schief und musterte sie. „Weil deine Tante etwas ganz Bestimmtes im Sinn hat?“

„Mommy!“ Amanda kam mit Emma im Schlepptau die Verandatreppe hinauf. „Emma muss auf die Toilette.“

„Hat sie es dir gesagt?“, wollte Sunny wissen.

Amanda schüttelte den Kopf und führte Emma ins Haus.

„Sie macht ihre Bedürfnisse deutlich, auch ohne zu sprechen“, sagte Heather. „Das ist ein gutes Zeichen.“

Sunny sah hinüber zu Jason, der auf einer der niedrigeren Sprossen des Klettergerüstes saß. Sie lächelte und winkte ihm zu. „Jason bereitet mir ebenfalls Sorge. Er scheint zwar besser mit alldem fertig zu werden, aber auch er ist sehr verschlossen. Vielleicht ist ‚vorsichtig‘ der bessere Ausdruck. Es scheint, als hätte er Angst, etwas falsch zu machen.“

„Sie haben einen schrecklichen Verlust erlitten. Es wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt haben“, erklärte Heather. „Zeit und Liebe.“

„Könntest du sie hier auch langfristig aufnehmen? Ich weiß, du hast eine Warteliste …“

„Für dich habe ich immer Platz. Ich hätte diesen Kinderhort nicht, wenn du deinen Onkel Leo nicht überredet hättest, mir das Gebäude zu vermieten. Aber Chase Monroe muss die Entscheidung treffen.“

„Hier haben sie es auf jeden Fall besser als mit diesem Drachen Mrs. Winthrop. Das wird er sicher einsehen.“

„Womöglich hält er einen Platz im Kinderhort für nicht so günstig wie eine persönliche Aufsicht der Kinder zu Hause.“

Das Schrillen einer Klingel war für die Horde Kinder das Signal, die Verandatreppe hinaufzustürmen.

„Essenszeit“, erklärte Heather.

„Ich muss in mein Büro. Ich habe den Kindern gesagt, ich würde ungefähr eine Stunde weg sein.“

„Hetz dich nicht. Sie sind hier gut aufgehoben.“

Sunny ließ ihren Wagen in der Auffahrt des Kinderhorts stehen und überquerte den Spielplatz. Eine warme Brise trug den Duft von Rosen herüber. Das kleine, ehemalige Lagerhaus, das ihr nun als Wohnung und Büro diente, lag ganz am Ende von Leos Grundstück und grenzte an den hinteren Garten des Wohnsitzes ihrer Familie.

Dreißig Jahre lang hatten Leo und sein Bruder, ihr Vater, nebeneinander gewohnt, doch ihre Häuser hätten kaum verschiedener sein können. Leos Anwesen war einst das Hauptquartier einer privaten Militärakademie gewesen. Es hatte vierundzwanzig Räume und befand sich auf einem riesigen Gelände, umgeben von Bäumen und Grünflächen. Das Haus ihres Vaters war ein ehemaliges Schulgebäude. Die Anzahlung für den Kauf war ein Hochzeitsgeschenk von Leo für seinen jüngeren Bruder gewesen.

Als sie größer wurde, war das alte Lagerhaus zur Zufluchtsstätte ihres Vaters geworden. Ein Ort, an dem er an seinen Erfindungen arbeiten und sich seinen Träumen hingeben konnte. Nach seinem Tod hatte es zehn Jahre lang leer gestanden. Nun benutzte sie es, um dort ihre Träume wahr zu machen.

Das Brummen von Heavy-Metal-Musik verriet ihr, dass ihr Assistent, Hector Rodriguez, bereits in seine Arbeit am Computer vertieft war. Doch bevor sie in ihr Büro stürmen und ihn vor einem Gehörschaden bewahren konnte, rief ihre Tante Marnie sie von der Veranda ihres Elternhauses.

„Sunny!“

Mit ihrer leicht rundlichen Statur, dem sanften, hübschen Gesicht, das graue Locken umrahmten, sah Marnie wie die typische Lieblingstante aus. Süß, warmherzig und harmlos. Dabei ist sie etwa so harmlos wie ein Hurrikan, rief Sunny sich ins Gedächtnis, setzte ein Lächeln auf und bereitete sich innerlich auf die inquisitorische Befragung vor, die ihr mit Sicherheit bevorstand.

„Wie lief deine Verabredung mit Chase Monroe? Nein, erzähl es mir erst, wenn du mich hineingerollt hast. Es ist fast Zeit für meine Fernsehserie.“

„Für welche?“, fragte sie und schob den Rollstuhl durch die Tür.

„‚Der Lauf des Flusses‘. Deine Tante Alma und ich haben gewettet, dass Slade der Mann ist, der Jared Mars ermordet hat. Aber die Sendung beginnt erst nach den Mittagsnachrichten. Wir haben also noch Zeit, uns zu unterhalten.“

Drinnen ließ sie ihre Tante wieder selbst den Stuhl schieben, da sie sich stets so postierte, dass sie sowohl den Fernseher als auch den Garten im Blick hatte. Da Marnie zu einer Zeit geboren war, in der Kinder mit Kinderlähmung noch keine regulären Schulen besuchten, hatte sie ein sehr behütetes Leben geführt. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie in der Obhut ihrer Schwester Alma und ihrer beiden Brüder geblieben. Leo Caldwell hatte Marnie und Alma sofort bei sich aufgenommen. Er als Senator, hatte er verkündet, müsse ohnehin die meiste Zeit in Albany verbringen, und sie täten ihm geradezu einen Gefallen, wenn sie sich um sein Haus kümmerten.

Sunny kämpfte gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen an. Er war so großzügig. Das war der Leo Caldwell, den sie kannte. Unter seiner Obhut waren die beiden Schwestern aufgeblüht, besonders Marnie.

„Hier, koste das“, forderte Alma sie auf, die mit einer Schale ins Zimmer kam und ihr einen Löffel unter die Nase hielt.

Gehorsam tat sie es.

„Was meinst du?“, verlangte Alma zu wissen.

„Etwas mehr Salz“, erwiderte sie.

Alma wandte sich an ihre Schwester. „Ich hab dir doch gesagt, es muss mehr Salz hinein.“

„Salz ist nicht gut für dich“, erinnerte Marnie sie.

„Unsinn! Du siehst zu viele Talk-Shows“, entgegnete Alma und war schon wieder draußen.

Marnie seufzte. „Ich glaube, deine Tante Alma leidet an Langeweile.“

„Langeweile?“, wiederholte sie verblüfft. Es war schwer vorstellbar, dass Alma sich langweilte. Alma mit ihren knapp ein Meter sechzig und der Statur eines Footballspielers schien ständig in Bewegung zu sein.

„Dieses Haus ist so viel kleiner als Leos. Alma hat nicht genug zu tun, deshalb stürzt sie sich aufs Kochen. Sie führt eine regelrechte Versuchsküche!“ Marnie trommelte mit den Fingern auf der Armlehne ihres Rollstuhls herum. „Sie macht mich wahnsinnig. Mir muss etwas einfallen, damit sie ihre Energie auf etwas anderes konzentriert. Sonst vergiftet sie mich am Ende noch. Aber setz dich doch, Sunny.“ Marnie winkte sie näher. „Und nun berichte mir, wie es mit Chase Monroe gewesen ist.“

„Nichts ist gewesen.“ Sie hockte sich auf eine Sessellehne und erzählte kurz die Ereignisse des Morgens.

Als sie fertig war, erklärte Marnie: „Das ist gut, besser, als ich dachte.“

Sie starrte sie überrascht an. „Gut? Was ist, wenn er mich wegen Kindesentführung hinter Gitter bringt?“

„Nun, die Kinder stellen in der Tat eine kleine Komplikation dar. Aber eigentlich braucht er jetzt erst recht die Dienste von ‚Service with a Smile‘. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du würdest ihn gar nicht mehr antreffen.“

„Woher wusstest du, dass er fortmusste?“

„Es lief den ganzen Morgen in den Nachrichten.“ Marnie zielte mit der Fernbedienung auf den Apparat. „Ein armer geistesgestörter Kerl stürmte in den Schönheitssalon seiner Exfrau und bedrohte sie und ihren zweijährigen Sohn mit einer Pistole.“

Während Marnie erzählte, erschien das Logo der Morgennachrichten von Kanal 7, und die Kamera zeigte Chase Monroe auf einem sonnigen Bürgersteig in Pennville, New York. Hinter ihm war eine Barrikade aus Polizeiwagen gegen Schaulustige.

„Die Polizei hat eben bestätigt, dass Matthew Anderson sich einverstanden erklärt hat, seine Frau und seinen Sohn aus dem Gebäude freizulassen“, sprach Chase in sein Mikrofon. „Sie kommen in diesem Moment heraus.“

Sunny starrte auf den Bildschirm, als die Kamera auf eine junge Frau schwenkte, die mit einem Kind auf dem Arm ein Haus verließ.

„Chase ist der Berichterstatter?“ Sie begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. „Also arbeitet er doch wieder als Reporter. Von wegen er ist jetzt Autor … Das erklärt natürlich einiges …“

„Oh, nein“, widersprach Marnie. „Er macht es nur vorübergehend, bis sie einen Ersatz für Jeff Miller gefunden haben.“

Sofort blieb sie stehen. „Wie bitte?“

„Es stand letzte Woche in der Zeitung. Alma und ich wollten es dir nicht sagen. Wir dachten, es würde dich nur aufregen. Jeff Miller verlässt Syracuse, um einen hochdotierten Job bei einem Chicagoer Nachrichtensender anzutreten.“

„Das passt zu ihm!“

„Oh, Liebes, du bist aufgebracht. Aber es ist wirklich das Beste. Nach allem, was Miller dir angetan hat, kannst du …“

„Hier geht es nicht darum, was Jeff Miller mir angetan hat, sondern was er Onkel Leo angetan hat. Er verdrehte Leos Aussagen, sodass sich am Ende sogar seine treuesten Anhänger gegen ihn stellten!“

„Sunny, nichts von dem war deine Schuld.“

„Nein? Bevor diese Interviews gesendet wurden, hatte niemand es für möglich gehalten, dass Onkel Leo ins Gefängnis muss!“ Sie machte eine Pause und zeigte mit dem Finger auf Chase Monroe, der erneut auf dem Bildschirm auftauchte. „Und er macht genau das Gleiche. Er wollte mich nur treffen, weil er sich erhoffte, mehr Schmutz über Onkel Leo zutage zu fördern. Ich hätte mich nie von dir überreden lassen dürfen, ihm die Broschüre zu schicken.“

„Du brauchst dir wegen Chase Monroe keine Sorgen zu machen. Er ist nicht wie Jeff Miller. Er hat das Gesicht eines Mannes, dem man vertrauen kann.“

Oh, ja, dachte Sunny finster und starrte auf den Bildschirm. Es war die Art von Gesicht, dem Frauen vertrauten. Selbst übers Fernsehen spürte sie die Intensität seines Blicks. Doch dieser Mann war Reporter, und er musste Ausstrahlung haben.

„Nun, ich traue ihm nicht. Er hatte nie die Absicht, die Dienste von ‚Service with a Smile‘ in Anspruch zu nehmen. Er wollte mich lediglich über Onkel Leo aushorchen.“

„Hat er das gesagt?“

„Er hatte mich in seinem Kalender als Leo Caldwells Nichte eingetragen. Der Schluss liegt doch auf der Hand. Ich habe meine Lektion gelernt, was Leute von der Presse betrifft.“

Marnie sah sie fest an. „Kannst du es dir leisten, dass deine Vorurteile deinem Unternehmen im Weg stehen? Du brauchst Chase Monroe immer noch als Kunden. Und er braucht dich.“

Sunny seufzte. „Ja, aber es wird schwierig sein, ihn davon zu überzeugen. Zuerst muss ich ihm klarmachen, dass seine Kinder bei Heather besser aufgehoben sind als bei einem Kindermädchen.“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ich muss los. Ich habe Emma und Jason versprochen, in einer Stunde zurück zu sein. Außerdem erwartet Hector mich.“

Nachdem Sunny aus dem Zimmer geeilt war, lächelte Marnie. Die Dinge entwickelten sich sogar noch besser, als sie gehofft hatte.

2. KAPITEL

Als Chase sie schlafend auf der Couch entdeckte, kniff er die Augen zusammen und sah ein zweites Mal hin. Er hatte Sunny Caldwells Bild heute schon so oft vor sich gehabt, dass er jetzt an eine Sinnestäuschung glaubte.

Nein, sie ist real, stellte er fest, als er weiter ins Wohnzimmer ging. Emma lag schlafend in ihrem Arm, und Jason schlief ebenfalls tief und fest und nuckelte am Daumen, den Kopf auf ihren Schoß gebettet. Eine der Sekretärinnen im Sender hatte erwähnt, dass Sunny zweimal angerufen habe, um mitzuteilen, dass es den Kindern gut ginge. Seltsam, er hatte sich nicht eine Sekunde lang Sorgen um die beiden gemacht, nachdem er sie mit ihr allein gelassen hatte.

Im Licht der Lampe und mit dem leise brummenden Fernseher im Hintergrund boten sie ein friedliches Bild. Fast wie das einer Familie. Er trat näher. David und Lauras Kinder. Ein Gefühl tiefer Zuneigung breitete sich in ihm aus.

Einen Moment lang betrachtete er Sunny. Sie hatte er hier als Letztes erwartet. Doch etwas anderes überraschte ihn noch mehr. Sogar jetzt, da sie schlief, ging etwas Besonderes von ihr aus. Etwas, das ihn anzog.

Sie war nicht unbedingt schön, nicht im klassischen Sinn. Ihre Nasenspitze war leicht nach oben gebogen, ihr Mund ein wenig zu breit, ihr Kinn zu spitz. Sie hatte etwas Freches, Kämpferisches an sich und gleichzeitig etwas Sanftes, Zerbrechliches. Ihre Hand, die auf Emmas Arm lag, strahlte trotz ihrer Zartheit Stärke aus. War es dieser Gegensatz, den er so anziehend fand? Und dann ihr Haar. Im schwachen Schein der Lampe wirkte es dunkler, eher kastanienbraun. Er hob eine Strähne und ließ sie durch die Finger gleiten. Sie fühlte sich unglaublich weich und kühl an. Im Sonnenlicht hatte ihr Haar ihn an loderndes Feuer erinnert. Jetzt erkannte er, dass es Farbnuancen von Rot bis Gold hatte. Ihr Duft umwehte ihn, als er die Strähne sacht zurückstrich.

Sunny bewegte sich, als sie eine Berührung spürte. Im ersten Moment blinzelte sie verschlafen, war dann aber sofort hellwach. „Oh, Sie sind es.“ Sie sah zu Emma. „Die Kinder wollten aufbleiben, bis Sie nach Hause kommen.“

„Ich nehme Jason.“ Chase hob den Jungen auf den Arm, sie nahm Emma und folgte ihm ins Kinderzimmer. Nachdem sie das kleine Mädchen zugedeckt hatte, beobachtete sie, dass er Jason sanft den Daumen aus dem Mund zog. Seufzend drehte der Junge sich um und kuschelte sich in sein Kissen.

„Ich würde mir wegen des Daumenlutschens keine Sorgen machen“, sagte sie leise auf dem Weg zur Küche.

„Seine Mutter sorgte sich deswegen. Ich dachte, sie hätte es ihm schon vor Jahren abgewöhnt.“

Sunny schaltete das Licht ein und stellte sich hinter den Küchentresen. „Ich habe drei Jahre in einem Kindergarten gearbeitet. Sie würden überrascht sein, wie viele der Kleinen am Daumen lutschen, wenn sie das erste Mal in den Kindergarten kommen. Aber das legt sich nach einer Weile.“ Sie stützte den Ellbogen auf und hielt ihren Daumen hoch. „Dafür, dass er so klein ist, spendet er eine Menge Trost. Ich wüsste nicht, weshalb Daumenlutschen schädlich sein sollte. Auch Jason wird irgendwann damit aufhören.“

„Hat er mit Ihnen darüber gesprochen, was passiert ist?“, wollte Chase wissen.

„Er erwähnte den Flugzeugabsturz und dass Emma nicht mehr spricht.“

Chase setzte sich ihr gegenüber. „Ihre Kinderärztin ist sicher, dass sie bald wieder spricht. In der Zwischenzeit soll ich kein Aufhebens machen, und wenn Emma etwas sagt, soll ich sie einfach so behandeln wie bisher.“

Sunny ergriff seine geballte Faust. Chase war gar nicht aufgefallen, wie angespannt er war.

Nach einer Weile fuhr er fort: „David, mein Stiefbruder, flog sein eigenes Flugzeug. Jeden Sommer versuchte ich, wenigstens eine Woche mit ihnen in Cape Cod zu verbringen. Dieses Jahr schaffte ich es aber nur für ein Wochenende. An dem Tag nahm ich die Kinder zum Fischen mit, und David flog mit Laura, um ihr Flugstunden zu geben. Er hatte sie gedrängt, ebenfalls den Pilotenschein zu machen.“ Er stockte. „Man weiß noch nicht einmal, was den Absturz verursacht hat.“

„Es tut mir leid.“ Doch Sunny wusste, wie unzulänglich solche Worte klangen. Sie drückte seine Hand und stellte dabei fest, dass ihre Finger mit seinen verflochten waren. Seine Hände waren rauer, als sie es bei einem Schriftsteller erwartet hatte. Außerdem waren sie sehr groß, mit langen schlanken Fingern und glatten, gleichmäßig geformten Nägeln. Ihre Hand schien völlig in seiner zu verschwinden. Sie hob den Blick und bemerkte, dass er sie mit derselben Intensität betrachtete wie schon am Morgen. Sofort ließ sie seine Hand los.

Sie ist unsicher, dachte Chase, als sie erst die Hände faltete und dann nervös die Arme sinken ließ. Offenbar fühlte sie sich nicht ganz wohl in seiner Gegenwart. Zögernd lächelte er. „Meinen Sie, Daumen helfen auch Erwachsenen?“

„Daumen?“

„Zur Beruhigung.“

„Ich muss zugeben, dass ich es ein paarmal probiert habe, aber es scheint nicht die gleiche Wirkung wie bei Kindern zu haben.“

„Ich habe gehört, Erwachsene hätten andere, angenehmere Wege zur Beruhigung.“

Das schelmische Funkeln in seinen Augen ließ keine Zweifel daran, was er meinte. „Ja, also …“ Bevor er merkte, dass sie errötete, drehte sie sich rasch zum Kühlschrank. „Champagner ist zur Beruhigung geeignet.“ Sie nahm die Flasche heraus, zusammen mit der Dose Kaviar. „Das habe ich gehört.“

Chase grinste. „Tut mir leid, aber ich konnte dieser Bemerkung einfach nicht widerstehen. Ich wollte nur, dass wir quitt sind wegen heute Morgen. Ich war immerhin im Nachteil.“

Darüber ließ sich streiten, aber sie wollte nicht über Chase Monroes Po nachdenken. Im Lauf des Tages hatte sie das schon viel zu häufig getan. Unnötig schwungvoll stellte sie die Sachen auf den Küchentresen und eilte zum Regal.

An der Szene selbst hatte sie sich keineswegs gestört, sondern an den Gefühlen, die sie bei ihr ausgelöst hatte. Sogar jetzt hatte sie noch dieses gewisse Kribbeln im Magen. Kein anderer Mann hatte je zuvor eine so unmittelbare Reaktion in ihr hervorgerufen. In ihren früheren Beziehungen hatte sich die Anziehungskraft eher langsam entwickelt, angefangen mit gemeinsamen Interessen und freundschaftlichen Gesprächen. Doch dies hier war … lächerlich. Sie nahm die Schachtel Cracker aus dem Schrank und kam zurück an den Tresen.

„Sind Sie hungrig? Die Kinder und ich haben etwas aus dem Schnellrestaurant gegessen und dabei ferngesehen. Ihre Sechs-Uhr-Nachrichten liefen gerade. Oder möchten Sie etwas trinken? Ich habe mir erlaubt, den Champagner kalt zu stellen.“

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, holte sie Gläser. Sie hatte einen Plan, und sie sollte ihre Aufmerksamkeit besser auf den richten anstatt auf den viel zu intensiven Blick dieses Mannes. Zunächst wollte sie ihn mit Champagner und Kaviar verwöhnen und ihm dann die schlechte Nachricht bezüglich Mrs. Winthrop beibringen.

Mit einem Knall entkorkte sie die Flasche und füllte die Gläser mit der perlenden Flüssigkeit. Dann reichte sie Chase eins und fragte dabei: „Ist das Ihre übliche Ernährung, oder haben Sie diese Sachen für einen besonderen Anlass im Haus?“

Er hob sein Glas. „Es ist ein Geburtstagsgeschenk meiner Mutter.“

„Sie sehen erschöpft aus. Trinken Sie. Sie müssen einen aufreibenden Tag hinter sich haben.“

„Ich habe nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen“, meinte er. „Was ist mit Mrs. Winthrop passiert?“

Sunny füllte die Gläser noch ein bisschen nach und nippte kurz an ihrem, um sich Mut zu machen. „Ich habe sie gefeuert.“

„Sie haben was?“

Im Vergleich zu dem wütenden Funkeln in seinen Augen fand sie seinen eisigen Ton regelrecht harmlos. Vorsichtig stellte sie ihr Glas auf dem Küchentresen ab. „Ich kann es Ihnen erklären.“ Sie hob abwehrend die Hand. „Und falls Sie gewalttätig werden wollen, muss ich Sie warnen, ich kann nämlich Karate.“

„Ich bin niemals gewalttätig.“

„Das glaube ich Ihnen nicht.“

Chase musterte Sunny und bemerkte ihren herausfordernden Blick und ihre gestrafften Schultern. Sie würde nicht ein Stück nachgeben. In seinen Zorn mischte sich Bewunderung. Ich habe jedes Recht, wütend zu sein, erinnerte er sich rasch. Doch seine Wut verrauchte bereits. Diese Frau sah viel zu sehr wie die Jungfrau von Orleans aus, ehe sie auf den Scheiterhaufen ging. Wut brachte da gar nichts. Schließlich gab er auf und zuckte die Schultern. „Dann sind wir also quitt. Aber dass Sie Karate beherrschen, glaube ich Ihnen nicht.“

Sie strahlte. Ihm gingen fast die Augen über. Wie war er nur auf die Idee gekommen, sie sei nicht schön?

„Sie haben recht“, gestand sie. „Aber es ist immer mein Neujahrsvorsatz. Jedes Jahr.“ Sie verschränkte die Arme auf dem Tresen. „Ich nehme an, Sie möchten wegen Mrs. Winthrop eine Erklärung hören.“

Als Chase nickte, ließ Sunny einen Redeschwall über ihn ergehen, den sie sich schon den ganzen Tag zurechtgelegt hatte. Jetzt würde er bestimmt einsehen, dass der Kinderhort eindeutig Mrs. Winthrop vorzuziehen war.

Gespannt hielt sie die Luft an und wartete. Nichts an seiner Miene verriet, was er dachte. Als die Stille andauerte, begann sie mit dem Deckel der Kaviardose zu spielen. „Natürlich weiß ich, dass es mich nichts anging“, fügte sie ihrer Rede hinzu.

„Allerdings“, bestätigte er, doch ein Lächeln dämpfte den harschen Ton. „Andererseits sehe ich, dass Sie sich um meinen Neffen und meine Nichte kümmern. Vielleicht hatten Sie recht damit, bei ihnen zu bleiben, anstatt sie mit Mrs. Winthrop allein zu lassen.“

Ermutigt nickte sie. „Sie war so kalt. Das hätte Ihnen doch auffallen müssen, als Sie das Einstellungsgespräch führten.“

„Nun, ich habe kein Gespräch mit ihr geführt.“

„Sie haben sich vorher nicht mit ihr unterhalten?“, hakte sie verblüfft nach.

„Ich …“ Chase hielt inne und runzelte die Stirn. Warum hatte er plötzlich das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? „Ihre Referenzen waren ausgezeichnet. Und da ich in Boston war, konnte ich sie kaum persönlich kennenlernen.“

„Selbstverständlich“, stimmte sie ihm zu. „Aber warten Sie, bis Sie sie sehen. Sie werden es nicht übers Herz bringen, ihr die Kinder zu überlassen. Und Heather hat viel Platz.“ Sie hob ihr Glas und strahlte ihn an. „Dann ist das also geklärt.“

Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es wieder ab. „Nicht im geringsten. Jason und Emma sind es gewohnt, ein Kindermädchen zu haben, und ich bin der Ansicht, dass es für mich ebenfalls die beste Lösung des Problems ist.“

„Sie empfinden die Kinder als Problem?“

„Nein, das habe ich damit nicht gemeint. Ich bin das Problem. David und Laura haben mich als Vormund bestimmt, dabei weiß ich nicht das Mindeste über Kindererziehung.“

„Das Wichtigste bei der Kindererziehung ist Liebe“, klärte sie ihn auf.

„Ja, nun …“ Jetzt fühlte er sich erst recht schuldig. Warum versuchte er es bei dieser störrischen Frau überhaupt noch, die Oberhand zu behalten? „Aber Sie werden doch wohl nicht so naiv sein, zu glauben, Liebe könnte alle Probleme lösen.“

Sie hielt seinem festen Blick stand. „Ich würde es jederzeit einer pragmatischen Lösung vorziehen.“

„Es kann nicht alles von der Liebe abhängen. Ein Kindermädchen wird den Kindern den nötigen Halt geben. Und den brauchen sie jetzt.“

„Den nötigen Halt?“ Sunny rümpfte die Nase und versuchte eine neue Taktik. „Den können Sie ihnen bestimmt auch geben. Und bei Heather können die beiden sich austoben. Ein Kindermädchen ist so ernst und unpersönlich. Wollen Sie wirklich, dass die Kinder fern der Realität aufwachsen?“

Chase hob die Augenbrauen. „Ich wurde von einem Kindermädchen erzogen.“

„Oh.“

Er lächelte über ihre offenkundige Bestürzung. „Nicht, dass ich mich als ein besonders herausragendes Ergebnis dieser Erziehung betrachte. Dennoch spricht einiges für Ordnung und Disziplin im Leben eines Kindes.“

Sunny sah ihn einen Moment nachdenklich an. „Sie klingen genau wie Baron von Trapp in ‚The Sound of Music‘.“

Er nickte. „Ein gutes Beispiel. Er stellte für seine Kinder ein Kindermädchen an, und es klappte hervorragend.“

„Ja, aber musste sie heiraten, damit sie blieb. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie und Mrs. Winthrop ein romantisches Paar abgeben.“

Chase lachte laut und herzhaft, und der warme Klang seines Lachens erfüllte die ganze Küche. Am liebsten hätte Sunny eingestimmt. Das Grau seiner Augen wirkte nun wie Nebel und sehr geheimnisvoll. Menschen mit Geheimnissen hatten sie stets fasziniert. Doch diese Faszination hatte sie auch immer in Schwierigkeiten gebracht. Sie war sich nicht bewusst gewesen, dass sie krampfhaft die Kaviardose umklammert hatte, bis jetzt der Deckel absprang und einiges von dem Inhalt auf den Tresen kleckerte. „Das tut mir leid“, murmelte sie und seufzte. „Was für eine Verschwendung.“

„Nicht wenn wir es sofort essen. Es soll sehr gut schmecken zu Champagner.“

Sie beobachtete, wie er einen Cracker durchbrach und in die Dose stippte. Sie wollte es ihm gerade nachmachen, da bot er ihr den Cracker an.

„Sie zuerst.“ Als er ihr den Cracker dann in den Mund schob, streiften seine Finger ihr Kinn. Es war, als würde ein glühender Blitz sie treffen, und sekundenlang war sie unfähig, sich zu bewegen. Sehr langsam fing sie dann an zu kauen, schluckte und schmeckte gar nichts.

„Mögen Sie es?“

Mögen? Das war ein viel zu harmloser Ausdruck für das, was sie empfand. Allerdings nicht auf der Zunge.

Chase kniff die Augen zusammen. War Sunny etwa blass geworden? Und in ihren Augen las er Verwirrung und einen Anflug von Panik. „Sie müssen es nicht mögen“, versicherte er ihr eilig. „Ich hasse das Zeug. Meiner Meinung nach schmeckt es wie ein alter Fischköder.“

Erschrocken registrierte Sunny, dass er zur Spüle ging. Offenbar wollte er den Kaviar wegkippen.

„Nein, bitte, ich habe es doch kaum probiert.“

Er kam mit der ungeleerten Dose wieder zurück. „Sind Sie sicher?“

„Bestimmt. Ich will mich später an jede Einzelheit davon erinnern können.“ Sie stippte den Cracker in die Dose. „Ich wende die Technik der visuellen Vorstellungskraft an.“

„Wie bitte?“

„Erfolgreiche Athleten und Geschäftsleute machen das dauernd.“

„Kaviar essen?“

„Nein.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie stellen sich ihr Ziel vor. Man stellt sich vor, wie es sein wird, einen Millionen-Deal abzuschließen. Dazu benutzt man dann jede mögliche Sinneswahrnehmung. Und nun kommen der Champagner und der Kaviar ins Spiel. Ich will sichergehen, dass ich mir den Geschmack einpräge. Später, wenn ich meine Übungen mache, rufe ich ihn mir dann wieder ins Gedächtnis.“

„Und welches Ziel haben Sie?“

„Ich bin entschlossen, ‚Service with a Smile‘ zu einem so erfolgreichen Unternehmen zu machen, dass ich Lizenzen vergeben kann und Millionärin werde.“ Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Das ist ein langfristiges Ziel, und zur Steigerung meiner Motivation versuche ich mir vorzustellen, was ich alles tun kann, wenn ich reich und erfolgreich bin.“

„Wie zum Beispiel Kaviar essen und Champagner trinken.“

„Genau.“ Sie strahlte. „Das Essen der Reichen und Berühmten.“

Sie ist wirklich außergewöhnlich, dachte Chase und betrachtete erneut Sunnys Gesicht, als sie in den Cracker biss. Ihre Haut war bis auf einige kleine Sommersprossen auf der Nase makellos. Er wusste noch genau, wie sie sich angefühlt hatte. Zuerst wie kühle Seide, und dann hatte es ihn heiß durchflutet. Wie nannte sie das? Visuelle Vorstellungskraft?

Sein Blick glitt zu ihrem Mund. Ihre Lippen wirkten sehr weich und waren jetzt feucht. Wonach, außer nach salzigem Kaviar, würden sie schmecken? Er brauchte sich lediglich vorzubeugen, um … und konnte sich gerade noch daran hindern, es zu tun. Was? Sie küssen? Eine Frau, die er kaum kannte?

Chase sah Sunny direkt in die Augen. Sie bemerkte es, entdeckte dann aber weder Lachen noch Wut darin. Es war etwas viel Fesselnderes, was ihr ein Feuer durch den Körper sandte, dass sie das Gefühl hatte zu brennen. Sie blickte auf seinen Mund. Die Lippen waren schmal und männlich. Er würde sie nicht sanft auf ihre pressen. Und er würde nicht vorher fragen, sondern sich nehmen, was er wollte.

Keiner von ihnen rührte sich. Sie sahen sich nur staunend an. Er zog sich als Erster zurück, sie spürte das.

„Nun?“, fragte er.

Sie starrte ihn verdutzt an.

„Werden Sie in der Lage sein, sich daran zu erinnern?“

Werde ich jemals in der Lage sein, es zu vergessen?, dachte sie.

„Den Kaviar, meine ich“, fügte er hinzu, als sie schwieg.

Rasch schluckte sie den Bissen hinunter. Dann schüttelte sie sich, griff eilig nach dem Champagnerglas und spülte den Geschmack in ihrem Mund fort. „Es ist unvergesslich. Aber Sie haben recht; es schmeckt nach Fischköder. Die Vorstellung von Kaviar wird mir eindeutig nicht dabei helfen, reich zu werden.“ Sie stellte das Glas ab und versuchte das Pulsieren in ihrem Körper zu ignorieren.

Langsam holte sie tief Luft. Sie war nicht hier, um Champagner zu trinken oder Kaviar zu kosten oder zuzulassen, dass Chase Monroe III. … was? Sie mit einem Blick verführte?

„Was die Kinder betrifft“, begann sie und war erleichtert, dass ihre Stimme fast normal klang. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, Sie doch noch davon zu überzeugen, Heathers Kinderhort eine Chance zu geben?“

„Nein. Ich muss tun, was mir für die Kinder am besten erscheint.“

Das verstand sie, und sie hatte nichts dagegenzuhalten. Sie legte ihre Karte auf den Tresen und erhob sich. „Sollten Sie Mrs. Winthrop wieder einstellen und es funktioniert nicht, rufen Sie mich an.“ Damit ging sie.

„Haben Sie nicht etwas vergessen?“

Sie drehte sich um. „Was denn?“

„Den Grund, weswegen Sie ursprünglich hergekommen sind. Sie wollten Ihre Gewinnspanne erhöhen.“

„Sie sagten, Mrs. Winthrop würde sich um alles kümmern.“

„Ich könnte ihr auftragen, ‚Service with a Smile‘ in Anspruch zu nehmen.“

„Weshalb?“

Er zuckte die Schultern. „Es wäre praktisch und zeitsparend. Auf diese Weise könnte sie mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Außerdem scheinen mir gerade der Champagner und der Kaviar ausgegangen zu sein.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein Interview mit meinem Onkel wird aber nicht zu der Abmachung gehören.“

„Warum nicht?“

„Schon der ehemalige Starreporter Ihres Senders hatte damit seinen großen Tag.“

Chase nippte am Champagner und stützte sich auf den Ellbogen. „Leo Caldwell war Senator. Das öffentliche Interesse gehört nun mal zu diesem Job. Besonders wenn man seinen Posten zum persönlichen Vorteil nutzt.“

Wie der Blitz war Sunny bei ihm. „Niemand hat je bewiesen, dass er illegale Gelder angenommen hat!“

„Immerhin hat er einer Vereinbarung mit dem Staatsanwalt zugestimmt. Manch einer interpretiert das als Schuldgeständnis.“

„Sie können es interpretieren, wie Sie wollen“, stellte sie klar und stieß ihm den Zeigefinger in die Brust. „Aber Sie werden nichts von solchen schmutzigen Behauptungen in den Nachrichten bringen. Nicht wenn ich es verhindern kann!“

Wieder musste Chase an die Jungfrau von Orleans denken, diesmal in der Schlacht. Sunnys Augen waren einfach wundervoll, wenn sie leidenschaftlich wurde.

Sie stieß ihn noch einmal an. „Er ist ein alter Mann. Er hat das Angebot des Staatsanwalts angenommen, weil er des Kampfes müde war, und jetzt wird er die nächsten zehn Jahre im Gefängnis verbringen. Können Sie sich damit nicht zufriedengeben und ihn in Ruhe lassen?“

Alle Achtung. Loyalität war etwas, das er bewunderte, selbst wenn sie vergeudet war. „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Ihr Onkel völlig unschuldig ist.“

„Schuldig oder nicht, es ist jedenfalls nicht Sache der Presse, ihn zu verurteilen. Und genau das hat Jeff Miller getan.“

Er entdeckte einen Ausdruck des Schmerzes in ihrem Blick. Um dem Impuls, sie zu berühren, nicht nachzugeben, steckte er die Hände in die Hosentaschen. „Jeff arbeitet nicht mehr für uns. Wir haben jemand anders für ihn engagiert. Er beginnt nächste Woche seine Arbeit. Ich will Ihren Onkel nicht für die Abendnachrichten interviewen. Ich möchte mit ihm über ein Buch über Wirtschaftskriminalität sprechen, an dem ich schreibe.“

„Kein Interview. Mein Onkel ist fertig mit den Medien.“

„Es sei denn, der Preis stimmt.“

„Das ist nicht wahr!“

Er schwieg. Dabei wusste er mit Sicherheit, dass Caldwell über einen Vertrag für seine Biographie verhandelte, der ihm eine siebenstellige Summe einbringen würde. Doch er würde jede Wette eingehen, dass Sunny nichts davon ahnte.

„Seid ihr wütend aufeinander?“

Sie drehten sich zu Jason, der im Torbogen zur Küche stand.

„Nein“, antwortete Sunny als Erste.

„Haben wir dich aufgeweckt?“, fragte er und hob den Jungen auf den Arm.

Jason schüttelte den Kopf. „Ich habe schlecht geträumt.“

„Ich bringe dich wieder ins Bett.“ Er wandte sich an Sunny. „Werden Sie warten?“

„Natürlich.“

Sunny wartete fünfzehn Minuten, dann ging sie den Flur entlang zum Kinderzimmer. Chase lag vollständig bekleidet auf Jasons Bett und schlief. Das einzige Geräusch war ihr leises, gleichmäßiges Atmen.

Er liebt die Kinder, dachte sie spontan und trat näher. Beschützend hatte er den Arm um Jason gelegt. Süß. Doch sofort korrigierte sie sich. Chase Monroe war definitiv kein süßer Mann. Unnachgiebig, ja. Und leider höllisch gut aussehend. Ihr Blick glitt von seinen zerzausten Haaren über seinen ganzen Körper. Selbst schlafend verdiente dieser Mann einen zweiten Blick.

Aber er war Reporter, das durfte sie nicht vergessen. Hätte sie ihren Onkel nicht dazu ermutigt, Jeff Miller die Interviews zu geben, wäre Leo möglicherweise nicht dem Druck ausgesetzt gewesen, den Handel mit der Staatsanwaltschaft einzugehen. Wenn sie schlau war, machte sie einen großen Bogen um Chase Monroe III.

Doch bevor sie ging, deckte sie ihn noch zu und schaltete das Licht aus.

Als Sunny ihr Haus betrat, klingelte das Telefon, und dann erschrak sie beinahe zu Tode, als sie plötzlich schnelles Flügelschlagen hörte und gleich darauf Vogelkrallen auf der Schulter spürte. Sie zwang sich, ganz still zu stehen, und wartete, bis ihr Herzschlag sich normalisiert hatte, wobei sie sich sagte, dass der Vogel viel schreckhafter war als sie.

„Gracie, Sweetheart.“ Sacht streichelte sie dem Wellensittich über den Kopf. „Du solltest eigentlich in deinem Käfig sein.“

„Buenos días“, krächzte Gracie.

„Ah, jetzt verstehe ich.“ Mit sanftem, aber festem Griff hielt sie den Vogel fest, schaltete mit dem Ellbogen das Licht ein und ging zum Käfig. „Hector hat dir Spanisch beigebracht, und du dankst es ihm, indem du wegfliegst? Böses Mädchen, Gracie.“

Der Vogel antwortete mit weiteren spanischen Wörtern, und sie erkannte eine Redewendung, die Hector oft benutzte, wenn etwas am Computer schiefging. Sie hob die Augenbrauen, steckte die Hand in den Käfig und wartete, dass Gracie auf ihre Stange sprang.

„Wenn du so weitermachst, muss ich dir den Schnabel mit Seife auswaschen. Und Hectors Mund vielleicht auch.“

Sie hatte eben den Käfig verschlossen, als das Telefon aufhörte zu klingeln. Der Anrufer hinterließ keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sunny sah skeptisch auf die Uhr. Mitternacht. Könnte es so spät noch ein Kunde gewesen sein?

Sie gähnte und kletterte die Leiter zur Galerie hoch, auf der sie schlief. Wahrscheinlich hatte sich nur jemand verwählt. Da klingelte es erneut, und sie sprang rasch wieder hinunter und langte nach dem Hörer. Ein statisches Knistern drang aus der Leitung. Dann ertönte undeutlich eine Stimme: „Sunny, bist du es?“

„Wer spricht dort?“

„Onkel Leo.“

„Du klingst so anders. Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Sicher, sicher.“

Es knisterte erneut in der Leitung, und sie presste den Hörer dicht ans Ohr.

„… mehr Geld. Kannst du …“ Das Knistern und Rauschen wurde stärker. „… Versicherung?“

„Onkel Leo, ich kann dich kaum verstehen. Die Verbindung ist so …“

Das Rauschen hörte auf. „Ich frage nicht gern, aber ich brauche noch mehr Geld, um in die Berufung zu gehen. Kannst du etwas auftreiben?“

„Nein. Ich habe dir alles gegeben, was ich gespart hatte.“

„Kannst du über dein Geschäft nicht einen Kredit aufnehmen?“

„Nein, es ist ein Dienstleistungsunternehmen und hat so gut wie keine Vermögenswerte. Aber darüber haben wir doch schon gesprochen. Weißt du nicht mehr?“

„Die Versicherung …“ Was immer Leo ihr sagen wollte, ging im erneuten Rauschen der Leitung unter.

„Onkel Leo, bist du noch da? Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Plötzlich war nur noch das Freizeichen zu hören. Verwirrt legte Sunny auf und starrte auf das Telefon. Leo hatte so merkwürdig geklungen, beinahe verzweifelt. Aber er war nie verzweifelt. Selbst als er sie um die zehntausend Dollar gebeten hatte, hatte er ihr ruhig erklärt, er müsse lediglich einige Vermögenswerte verkaufen und könne ihr die Summe bald zurückzahlen.

Wie, um alles in der Welt, war es ihm überhaupt gelungen, mitten in der Nacht die Erlaubnis zu einem Telefongespräch zu bekommen? Selbst in dem Bundesgefängnis, in das man ihn vor einiger Zeit verlegt hatte, gab es Bestimmungen. Es war nicht der Country Club, wie die Presse es nannte.

Andererseits hatte Leo seine eigenen Methoden, um zu erreichen, was er wollte, offenbar sogar in einem Bundesgefängnis. Sunny lächelte und ging wieder nach oben. Morgen früh würde sie seine Anwälte anrufen, damit sie versuchten, das Geld aufzutreiben. Vielleicht würden die zur Abwechslung mal für das Geld arbeiten, das sie Leo kosteten.

3. KAPITEL

Lautes Hämmern riss Sunny aus tiefem Schlaf. Noch ganz benommen fragte sie sich, wie, um alles in der Welt, sie in eine Büffelherde geraten war. Sie wollte sich gerade wieder in die Kissen vergraben, als sie plötzlich Krallen in den Haaren spürte. Gracie. Ich bin also doch zu Hause, dachte sie. Als sie die Augen aufschlug, flog der Wellensittich im selben Moment über das Geländer der Galerie.

„Verdammt!“, murmelte sie. Sie konnte sich noch sehr genau daran erinnern, Gracie in den Käfig gesperrt zu haben, ehe sie zu Bett gegangen war. Mühsam richtete sie sich auf und schaute zum Wecker. Halb sieben?

Das Hämmern wurde lauter, und sie hielt sich genervt die Ohren zu. Hatte sie vielleicht einen Kater? Nach nur einem Glas Champagner? Sie warf einen finsteren Blick zur Tür, rollte sich von ihrem Futon und kroch auf allen vieren zum Kleiderschrank. Wie üblich klemmte die Schranktür, und sie musste erst dagegenschlagen, damit sie ein kleines Stück nachgab. Zum x-ten Mal schwor sie sich, einen neuen Schrank zu kaufen, sobald der Profit ihres Unternehmens stieg. Sie zog eine gelbe Jogginghose an, ein weites T-Shirt und begann nach ihren Hausschuhen zu suchen. Einen entdeckte sie unter dem Futon, den anderen unterm Schrank. Sie schlüpfte hinein, band ihre Haare zurück und kletterte rasch die Leiter hinunter.

Kaum hatte sie die Tür geöffnet, stürmte Emma in ihre Arme. Sie erwiderte die Umarmung des kleinen Mädchens, blinzelte verschlafen gegen das Sonnenlicht und erblickte Chase. Ihn hatte sie bestimmt nicht erwartet, und auf einmal war sie hellwach. Sie registrierte sein Jackett, das aus weichem, teurem Kaschmir war. Sein gestreiftes Hemd war frisch gebügelt, und die graue Hose, in der seine langen Beine steckten, hatte eine scharfe Bügelfalte. Im Vergleich zu ihm musste sie reichlich zerzaust aussehen.

Chase starrte Sunny ebenfalls an. Selbst die weite Jogginghose ließ keine Zweifel über die Länge ihrer Beine aufkommen. Und, gütiger Himmel, trug sie etwa Katzen an den Füßen?

Jason nahm den Daumen aus dem Mund. „Du hast ja Katzen als Schuhe“, stellte er fest, bückte sich und streichelte sie.

„Sie sehen nur wie Katzen aus. Ich trage sie, um den Mäusen Angst einzujagen“, erklärte Sunny.

„Mäuse?“ Jason spähte neugierig ins Zimmer. „Wo sind sie?“

„Sie verstecken sich. Solange ich diese Hausschuhe trage, trauen sie sich nicht heraus.“ Sunny stampfte ein paarmal mit den Füßen auf. „Sie haben viel zu viel Angst.“

Jason war sichtlich beeindruckt. „Kann ich sie mal anziehen?“

„Jason …“, mahnte ihn Chase.

Aber Sunny hatte die Schuhe schon ausgezogen, und im nächsten Moment stapfte Jason damit durchs Zimmer.

Chase behielt seinen Neffen im Auge. „Sie können gut mit den Kindern umgehen“, bemerkte er.

„Das ist nicht schwierig“, erwiderte Sunny und ging mit Emma auf dem Arm in ihre Wohnzimmernische.

Chase schaute sich interessiert um. Ein kurzer Tresen teilte eine kleine Küche von einer Couchgarnitur ab. Der dicke Strauß Rosen auf dem niedrigen Tisch davor ergänzte sich farblich mit der Patchworkdecke auf der Couch. Ein sonnengelbes Stoffquadrat übertraf das nächste. Auf dem Küchentresen standen einige Geräte, die gelegentlich auch benutzt zu werden schienen. Das Ganze wirkte einladend, besonders im Kontrast zu der büroähnlichen Einrichtung des übrigen Raums.

„Wie lange wohnen Sie schon hier?“, fragte Chase.

„Seit meinem Collegeabschluss. Mein Onkel lieh mir das Geld, um das Häuschen zu renovieren. Er wusste, dass ich zu Hause ausziehen wollte.“ Sunny machte eine Pause und lächelte. „Meine Mutter hatte kein Verständnis für meinen Auszug, und so schlossen wir den Kompromiss, dass ich nur ans Ende des Gartens ziehe.“

„Ihre Mutter lebt in derselben Straße?“

„Sie lebte hier, bis sie im letzten Jahr wieder geheiratet hat und nach Florida gezogen ist. Nun wohnen meine Tanten in dem Haus. Möchten Sie eine Cola?“ Sunny bückte sich und holte eine Dose Cola aus dem Kühlschrank.

Dabei rutschte ihr Hemd ein Stück hoch, und hingerissen blickte Chase auf ihre glatte weiße Haut. Er musste schlucken, da er plötzlich einen trockenen Hals bekam.

„Die Kinder dürfen doch einen Schluck Cola, oder? Der Saft ist nämlich alle.“

„Sicher“, antwortete er. „Haben Sie etwas gegen Kaffee?“, fragte er dann, als sie die Cola auf vier Gläser verteilte.

Sunny lachte auf. „Nein, aber es dauert zu lange, welchen zu kochen, und ich muss meine Dosis Koffein jetzt bekommen.“ Sie reichte Emma ein Glas und leerte ihr eigenes in einem Zug.

In diesem Moment landete Gracie auf Chase’ Kopf.

„Was, zum Teufel …“

„Machen Sie keine hastige Bewegung. Sonst bekommt sie Angst.“

„Wer bekommt Angst?“

„Gracie, mein Wellensittich.“

Jason streifte die Hausschuhe ab und kam wie der Blitz angerannt. „Darf ich sie streicheln?“

„Nur wenn du ganz vorsichtig bist. Sie fliegt sonst weg.“ Sachte streichelte Sunny ihr über den Kopf.

„Buenos días“, krächzte Gracie.

„Sie spricht ja!“ Jason sah den Vogel mit großen Augen an.

„Sie spricht spanisch?“, fragte Chase.

„Eine kleine Aufmerksamkeit von Hector“, erklärte Sunny trocken.

Unwillkürlich schaute Chase zur Galerie hinauf. „Wer ist Hector?“ Er hatte nicht den Eindruck gehabt, als würde Sunny mit jemandem zusammenleben.

„Mein Assistent. Er hat ein Buchhaltungsprogramm für ‚Service with a Smile‘ geschrieben, das ihm gleichzeitig als Magisterarbeit für die Uni diente. Zum Glück für mich hat er beschlossen, auch noch seine Doktorarbeit zu machen. Gib mir deine Hand, Emma, dann zeige ich dir, wie du Gracie streicheln kannst.“

Chase folgte ihr mit den Blicken. Die Kinder waren begeistert, und nicht nur von dem Vogel. Als Erstes hatte Jason heute Morgen nach Sunny gefragt, und Emma hatte angefangen zu weinen, als er erklärte, dass sie sie heute nicht sehen würden.

Es war nicht gut, wenn die Kinder zu sehr an ihr hingen. So hatte er das zumindest im Morgengrauen gesehen, als er in Jasons Bett aufgewacht war. War sein Leben und das der Kinder nicht schon kompliziert genug? Sunny Caldwell würde alles noch komplizierter machen. Trotzdem waren sie jetzt hier.

Sie setzte sich nun auf den Boden, winkelte ein Bein an und streckte das andere aus. Wie gebannt blickte er auf ihre nackten Waden und die zarten Fußknöchel. Von Neuem stieg Verlangen in ihm hoch, und es war noch stärker und intensiver als die Male davor. Warum konnte er nicht eine Minute in ihrer Nähe sein, ohne sie berühren zu wollen?

Sunny bemerkte seine Anspannung, als sie zu Chase sah. Sie erkannte es an der Haltung seiner Schultern und den zusammengepressten Lippen. Fühlte er sich ausgeschlossen? Warum schloss er sich ihnen dann nicht an? Andererseits war er nicht gerade so gekleidet, um auf dem Boden zu hocken und mit einem Vogel zu spielen.

Sie setzte Gracie auf Jasons Finger, stand auf und ging zu Chase. „Ich weiß genau, was Sie denken.“

„Tatsächlich?“

„Sie fragen sich, wohin Sie hier geraten sind.“ Doch als sie ihm die Hand auf den Arm legte und zu ihm hochschaute, entdeckte sie kein bestätigendes Lächeln in seinen Augen.

Kaum hatte Sunny ihn berührt, dachte Chase an gar nichts mehr. Er spürte nur noch ihre Nähe und nahm tief ihren Duft in sich auf. Sie roch nach Frühling und frischer Morgenluft, und er konnte sich nicht daran hindern, durch ihre Locken zu streichen.

Sunny versuchte ihr pochendes Herz zu ignorieren. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie viel größer Chase war. Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um seinen Hals zu sehen. Die kleine Ader pulsierte heftig, während er unglaublich sanft ihr Haar berührte. Ihr Atem flog, aber das lag sicher nur am Koffein. Sobald sie mehr Geld hatte, würde sie sich einen Entsafter kaufen und das morgendliche Colatrinken aufgeben.

Er blickte auf ihren Mund. „Ich weiß nur, was ich mir jetzt wünsche“, sagte er mit leiser, rauer Stimme.

Ihr Kopf war wie leer gefegt. Sie sollte sich zurückziehen, so wie es ihr letzte Nacht in seiner Küche gelungen war. Aber was sie jetzt empfand, war stärker, und es drängte sie zu ihm. Er schien das zu spüren, denn langsam beugte er sich über sie.

Seine Lippen waren nur noch wenige Zentimeter von ihren entfernt, da kicherte Jason plötzlich.

„Zur Hölle!“, rief der Junge, als Gracie in der nächsten Sekunde aufgeschreckt hochflatterte.

Sunny legte die Hände auf Chase’ Brust und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Erschrocken sah sie dann, dass Gracie Chase’ Jackettärmel beschmutzte. „Oh!“, rief sie und lief um den Küchentresen. „Nicht bewegen! Ich hole etwas zum Abwischen. Am besten Sodawasser, damit kein Fleck zurückbleibt.“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, beruhigte Chase sie und fragte sich, ob er dem Vogel danken oder ihn verfluchen sollte. Vorsichtig zog er das Jackett aus und legte es auf den Tresen. „Ich werde es reinigen lassen.“

Sunny blickte bestürzt auf den Ärmel. „Es ist Kaschmir, nicht wahr? Ich bezahle Ihnen die Reinigung.“

„Zur Hölle!“, wiederholte Jason, als Gracie kurz auf seinem Kopf landete.

Chase prustete und bemühte sich, es als Husten zu tarnen. Vielleicht wäre ihm das auch gelungen, wenn er in diesem Moment nicht zu Sunny gesehen hätte. Sie schien ein Lachen ebenfalls kaum unterdrücken zu können, und er warf ausgelassen den Kopf zurück, und sie lachten beide aus vollem Hals, als ein Mann hereinkam, ein Skateboard in der einen, einen Kassettenrecorder in der anderen Hand.

„Was ist so komisch?“, fragte er.

Während Sunny es ihm erzählte und sie einander vorstellte, musterte Chase Hector Rodriguez. Der junge Mann war etwa einen Meter achtzig groß und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen Ohrring, und den linken Unterarm zierte eine Tätowierung. Ein rascher Blick zu Jason verriet ihm sofort, wie fasziniert der Junge von Hector war, und er seufzte innerlich. Hector und er gaben sich die Hand. Sein Händedruck war fest, und Sunnys Assistent sah ihn dabei freundlich und mit intelligentem Blick hinter seiner Drahtgestellbrille an.

„Hector ist ein Zahlenzauberer“, erklärte Sunny den Kindern.

„Wie zaubern Sie Zahlen?“, wollte Jason wissen.

„Mit meinem Computer. Komm mit, ich zeig’s dir.“

Während die zwei zu Hectors Arbeitstisch gingen, flüsterte Sunny ihm zu: „Er ist wirklich sehr nett, auch wenn er nicht … äh …“

„Sie meinen, obwohl er weder Aktentasche noch Anzug trägt? Keine Sorge, ich trage auch nicht ständig Anzüge“, flüsterte er zurück und zwinkerte ihr zu.

Sunny schoss das Blut in die Wangen. Musste dieser Mann sie unbedingt an die Szene mit dem Handtuch erinnern?

„Sie sind sehr loyal, nicht wahr?“, sagte er.

„Ich habe nie großartig darüber nachgedacht.“

Viel zu aufmerksam sah er sie an. „Ja, das glaube ich Ihnen. Nun, sprechen wir über den Grund meines Besuchs.“

„Gern.“ Erleichtert holte sie ihre Geschäftsformulare aus der Schublade. „Die habe ich Ihnen ja bereits gestern schon gezeigt.“ Sie legte sie vor ihn auf den Tresen. „Die Checkliste soll verhindern, dass sich beim Aufschreiben Fehler einschleichen. Aber der Kunde muss sie auch genau ausfüllen. Wenn Sie zum Beispiel Ketchup wollen, müssen Sie hier die Marke und die Größe der Flasche angeben.“

„Ich bin nicht wegen Ihres Lebensmittelservice hier.“

„Aber ich dachte …“ Sunny runzelte die Stirn und stemmte dann die Hände in die Hüften. „Falls Sie noch immer glauben, ich würde Ihnen ein Interview ermöglichen …“

„Nein, deswegen bin ich auch nicht hier“, unterbrach Chase sie und warf einen Blick zum anderen Ende des Zimmers. Die Kinder standen neben Hector und waren völlig gefesselt von dem Computer. „Seit die beiden heute Morgen aufgewacht sind, fragen sie nach Ihnen.“

„Emma spricht wieder?“

„Nein, sie weinte. Die Wahrheit ist, dass sie erst aufgehört hat zu weinen, als ich ihr versprach, wir würden zu Ihnen fahren.“ Dass auch er mit dem Gedanken an sie aufgewacht war und sie unbedingt hatte wiedersehen wollen, verschwieg er ihr.

„Das tut mir leid. Aber sie hat bestimmt nicht nur meinetwegen geweint, sondern wegen der gesamten Situation.“

„Mag sein, aber außerdem mache ich mir auch um Jason Sorgen. Er ist die ganze Zeit so brav. Früher hat er seine Eltern zum Wahnsinn getrieben, und nun ist er so ernst. Als Sie gestern bei uns waren, hat er zum ersten Mal seit der Beerdigung wieder gelacht.“

Autor

Dixie Browning

Dixie Browning, Tochter eines bekannten Baseballspielers und Enkelin eines Kapitäns zur See, ist eine gefeierte Malerin, eine mit Auszeichnungen bedachte Schriftstellerin und Mitbesitzerin einer Kunstgalerie in North Carolina. Bis jetzt hat die vielbeschäftigte Autorin 80 Romances geschrieben – und dabei wird es nicht bleiben - sowie einige historische Liebesromane zusammen...

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Leanne Banks
<p>Mit mehr als 20 geschriebenen Romanen, ist Leanne dafür geschätzt Geschichten mit starken Emotionen, Charakteren mit denen sich jeder identifizieren kann, einem Schuss heißer Sinnlichkeit und einem Happy End, welches nach dem Lesen noch nachklingt zu erzählen. Sie ist die Abnehmerin der Romantic Times Magazine’s Awards in Serie. Sinnlichkeit, Liebe...
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