Baccara Extra Band 29

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UNVERGESSLICH WIE DEINE LEIDENSCHAFT von MAYA BANKS
Fassungslos sieht Kelly, wer im Restaurant sitzt: Ryan! Sie waren ein Herz und eine Seele, bis eine Lüge seiner Mutter ihr Glück zerstörte. Kellys süßes Geheimnis kann er nun auf den ersten Blick sehen. Warum ist er bloß hier? Er glaubt doch immer noch nicht, dass es sein Baby ist …

VIER WOCHEN IM PARADIES von MAUREEN CHILD
Mia stimmt zu, vier Wochen lang die Verlobte ihres reichen Nachbarn zu spielen – unter der Bedingung, dass ihre „Beziehung“ an der Schlafzimmertür endet. Doch gegen Daves Charme hat sie keine Chance – auch wenn sie weiß, dass er nach einem Monat aus ihrem Leben verschwinden wird.

FÜR IMMER IN DEINEN STARKEN ARMEN von JANICE MAYNARD
Beths Nachbar Drew ist ein heißer Typ – unbestritten. Doch auch so arrogant! Gerade als sie zu einem neuen Wortgefecht ansetzen, tobt ein Tornado übers Land. In letzter Sekunde retten sie sich in Beths Keller – wo sie unvermittelt in Drews starken Armen landet …

MEIN MONAT MIT DEM MILLIONÄR von MICHELLE CELMER
„Warum sollte ich dir helfen?“ Die Worte des Ölmagnaten Emilio Suarez treffen Isabelle hart. Einst gehörte sie zur High-Society, jetzt ist sie verarmt und angeklagt – nur Emilio kann ihr helfen! Aber seine Bedingung ist ungeheuerlich: Sie soll sein Dienstmädchen sein – und seine Geliebte!


  • Erscheinungstag 04.10.2022
  • Bandnummer 29
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510387
  • Seitenanzahl 496
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maya Banks, Maureen Child, Janice Maynard, Michelle Celmer

BACCARA EXTRA, BAND 29

1. KAPITEL

„Man könnte glatt glauben, dass an der Ehe doch etwas dran ist, oder?“, meinte Ryan Beardsley, während er zusah, wie sein Freund Rafael de Luca mit seiner strahlenden Braut Bryony tanzte.

Der Hochzeitsempfang fand in dem kleinen, schlichten Gemeindesaal von Moon Island statt. Es war nicht gerade der Rahmen, der Ryan für die Hochzeit eines Freundes vorschwebte. Aber wahrscheinlich war es passend, dass Rafe und Bryony hier auf der Insel heirateten, wo ihre Beziehung begonnen hatte.

Die Braut strahlte wirklich, und ihr Babybauch machte sie noch hübscher. Die beiden hielten sich mitten auf der improvisierten Tanzfläche so verträumt in den Armen, dass man den Eindruck hatte, sie hätten die Welt ringsum vergessen. Rafe wirkte, als hätte er das große Los gezogen, und vielleicht hatte er das ja auch.

„Sie sehen schon fast abstoßend glücklich aus“, erwiderte Devon Carter, der neben Ryan stand.

„Ja, das kann man wohl sagen.“

Ryan musste lachen, weil sein Freund richtig verdrießlich dreinschaute. Devon war selbst nicht weit vom Traualtar entfernt, und ihm war gar nicht wohl dabei. Trotzdem konnte Ryan nicht widerstehen. Er musste Dev einfach ein wenig piesacken.

„Zieht Copeland immer noch die Daumenschrauben an?“

„Und wie. Er meint, ich muss Ashley heiraten. Punkt. Er wird nicht lockerlassen, bis ich einwillige. Und da wir das Ferienresort ja jetzt woanders bauen, bin ich bereit für den nächsten Schritt. Ich will nicht, dass er das Vertrauen in mich verliert, weil dieser Deal geplatzt ist. Es gibt nur ein Problem: Er besteht auf einer Verlobungszeit, damit Ashley sich an mich gewöhnen kann. Man könnte meinen, der Mann lebt im vorletzten Jahrhundert. Wer arrangiert heutzutage noch für seine Tochter eine Heirat, verdammt noch mal? Und warum sollte eine Heirat Bestandteil eines Geschäftsabschlusses sein? Das will mir nicht in den Kopf.“

„Man könnte es ganz sicher schlechter treffen.“ Ryan musste daran denken, dass er selbst nur knapp einer solchen Ehe entkommen war.

„Immer noch keine Nachricht von Kelly?“

„Nein. Aber ich habe ja gerade erst angefangen zu suchen. Sie wird schon noch auftauchen.“

„Mann, warum machst du das überhaupt? Vergiss sie. Leb dein Leben weiter. Ohne sie bist du besser dran. Es ist verrückt, ihr hinterherzulaufen.“

„Klar bin ich ohne sie besser dran. Ich suche ja nicht nach ihr, um wieder mit ihr zu leben.“

„Warum hast du dann einen Privatdetektiv engagiert, um sie zu finden? Du solltest die Vergangenheit ruhen lassen. Vergiss Kelly.“

Ryan schwieg eine ganze Weile. Er konnte diese Frage nicht wirklich beantworten. Wie sollte er erklären, dass er unbedingt wissen wollte, wo Kelly war? Was sie machte. Ob es ihr gut ging. Das alles sollte ihm egal sein, verdammt. Er sollte sie wirklich vergessen, aber er konnte es nicht.

„Ich will ein paar Antworten“, murmelte er schließlich. „Sie hat den Scheck, den ich ihr gegeben habe, nie eingelöst. Ich möchte nur sicher sein, dass ihr nichts passiert ist.“

Er fand selbst, dass das eine lahme Begründung war.

Devon zog eine Braue hoch und trank einen Schluck von seinem Wein. „Nach dem, was sie sich geleistet hat, kommt sie sich bestimmt ziemlich idiotisch vor. Ich würde auch lieber unsichtbar bleiben.“

Ryan hob die Schultern. „Kann schon sein.“ Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte. Warum machte er sich deswegen Gedanken? Was ging es ihn an?

Warum hatte sie den Scheck nicht eingelöst?

Warum konnte er sie nicht vergessen? Sie verfolgte ihn regelrecht. Seit sechs Monaten verwünschte er sie. Er lag nachts wach und fragte sich, wo sie war und ob es ihr gut ging. Und er hasste sich dafür, dass er sich solche Sorgen machte. Auch wenn er sich sicher war, dass er sich unter den gegebenen Umständen um jede Frau sorgen würde.

„Deine Zeit und dein Geld“, riss Devon Ryan aus seinen Gedanken. „Ach, da ist ja Cam. War mir nicht sicher, ob er seine Festung tatsächlich verlassen würde, um zur Hochzeit zu kommen.“

Cameron Hollingsworth bahnte sich seinen Weg durch die Gäste. Er war groß und breitschultrig, und seine finstere Miene verlieh ihm etwas Unnahbares. Doch wenn er mit seinen Freunden zusammen war, konnte er sich durchaus entspannen.

Allerdings waren Ryan, Devon und Rafe die Einzigen, die er als solche ansah.

„Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin.“ Camerons Blick wanderte über die Tanzfläche und blieb an Rafe und Bryony hängen. „Wie war denn die Trauung?“

„Ach, wunderschön“, antwortete Devon. „Ich schätze, genau so, wie eine Frau sie sich erträumt. Rafe war das völlig egal. Für ihn zählt nur, dass Bryony jetzt seine Frau ist.“

Cam lachte auf. „Der Ärmste. Ich weiß nicht, ob ich ihm gratulieren oder kondolieren soll.“

Ryan lächelte. „Bryony ist eine tolle Frau. Rafe kann von Glück sagen, dass er sie hat.“

Devon nickte, und selbst Cameron zeigte den Anflug eines Lächelns. Dann wandte er sich mit spöttisch funkelnden Augen an Devon.

„Man hört, du seist selbst drauf und dran, vor den Altar zu treten.“

Devon fluchte leise, während er sich an seinem Weinglas festhielt. „Lass uns Rafes Hochzeit feiern, statt von meiner Hochzeit zu reden. Mich interessiert viel mehr, ob du es geschafft hast, das neue Grundstück für unser Hotel zu kaufen. Denn Moon Island ist ja jetzt offiziell tabu.“

Cam tat schockiert. „Du hast Zweifel? Dann lass dir sagen, dass jetzt zwanzig Morgen in Toplage direkt am Strand von St. Angelo uns gehören. Es war ein guter Abschluss. Und es kommt noch besser: Wir können anfangen zu bauen, sobald wir die Leute dafür hingebracht haben. Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir fast noch unseren ursprünglichen Termin für die große Eröffnung.“

Ihre Blicke wanderten automatisch zu Rafe, der immer noch eng umschlungen mit seiner Braut tanzte. Ja, der Mann hatte sie um Längen zurückgeworfen, als er das Bauvorhaben auf Moon Island gestoppt hatte. Aber Rafe sah so verdammt glücklich aus, dass er ihm einfach nicht böse sein konnte.

Ryans Handy vibrierte, und er zog es aus seiner Hosentasche. Er wollte den Anruf schon ignorieren, als er sah, wer da anrief. „Entschuldigung, diesen Anruf muss ich annehmen.“

Gleich darauf trat Ryan ins Freie. Die sanfte Meeresbrise zerzauste ihm das Haar, und er atmete tief die salzige Luft ein.

Das Wetter war der Jahreszeit entsprechend, aber kein bisschen heiß. Einen perfekteren Tag konnte man sich nicht wünschen, besonders für eine Hochzeit am Strand.

Mit Blick auf die Wellen in der Ferne meldete er sich.

„Ich glaube, ich habe sie gefunden“, sagte sein Privatdetektiv ohne lange Vorrede.

Ryan versteifte sich. „Wo?“

„Ich hatte noch keine Zeit, jemanden hinzuschicken, um sie näher anzusehen. Ich habe die Information erst vor ein paar Minuten erhalten. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es ist, und das wollte ich Sie umgehend wissen lassen. Bis morgen sollte ich Näheres erfahren.“

„Wo ist sie?“, wiederholte Ryan.

„Houston. Sie arbeitet dort in einem Diner. Zuerst gab es eine Verwechslung mit ihrer Sozialversicherungsnummer. Ihr Arbeitgeber hat sie falsch gemeldet. Als er sie korrigiert hat, erschien ihr Name auf meinem Bildschirm. Bis morgen Nachmittag habe ich Fotos und einen umfassenden Bericht für Sie.“

Houston. Die Ironie des Ganzen entging Ryan nicht. Die ganze Zeit über war er in ihrer Nähe gewesen, ohne es zu ahnen.

„Nein, ich werde hinfahren. Ich bin schon in Texas. In ein paar Stunden kann ich in Houston sein.“

Am anderen Ende der Leitung war es still. „Sir, vielleicht ist sie es doch nicht. Ich würde gern eine Bestätigung der Angaben haben, bevor Sie eine überflüssige Fahrt unternehmen.“

„Sie sagten, Sie seien sich ziemlich sicher, dass sie es ist. Falls es ein Irrtum ist, werde ich Sie nicht dafür verantwortlich machen.“

„Soll ich meinen Mitarbeiter also nicht hinschicken?“

Ryan zögerte. „Falls es Kelly ist, werde ich das rausbekommen. Falls nicht, sage ich Ihnen Bescheid, damit Sie Ihre Suche fortsetzen können. Sie brauchen niemanden nach Houston zu schicken. Ich fahre selbst hin.“

Im strömenden Regen fuhr Ryan zu dem kleinen Café in West-Houston, wo Kelly als Kellnerin arbeitete. Es hätte ihn nicht überraschen sollen. Als sie sich kennenlernten, hatte sie in einem schicken Café in New York bedient. Aber der Scheck, den er ihr gegeben hatte, hätte es ihr ermöglicht, eine ganze Weile nicht zu arbeiten. Er hatte gedacht, sie würde an die Uni zurückkehren. Selbst als sie sich verlobt hatten, hatte Kelly den Wunsch geäußert, ihr Studium abzuschließen. Er hatte das zwar nicht verstanden, aber ihren Entschluss unterstützt. Der Egoist in ihm hätte es lieber gesehen, wenn sie vollkommen abhängig von ihm gewesen wäre.

Warum hatte sie den Scheck nicht eingelöst?

Nachdem er Rafe und Bryony herzlich gratuliert hatte, war er mit der Fähre nach Galveston gefahren. Weder Cam noch Dev hatte er gesagt, dass er Kelly gefunden hatte, sondern nur, dass er sich um eine wichtige geschäftliche Angelegenheit kümmern müsse. Als er in Houston angekommen war, war es schon spät gewesen. Also hatte er eine schlaflose Nacht in einem Hotel verbracht.

Seit er am Morgen losgefahren war, regnete es ununterbrochen. Ein Blick auf das Navi sagte ihm, dass er noch ein paar Blocks von seinem Ziel entfernt war. Es frustrierte ihn, dass jede Ampel auf Rot sprang und er halten musste. Warum er es eilig hatte, wusste er nicht. Nach Auskunft seines Privatdetektivs arbeitete Kelly schon eine Weile in dem Café. Sie würde nicht weggehen.

Ihm schwirrten tausend Fragen durch den Kopf, aber er würde erst dann Antworten darauf finden, wenn er Kelly zur Rede gestellt hatte.

Ein paar Minuten später parkte er vor einem kleinen Diner, über dem ein schiefes Donut-Schild hing. Was für ein Laden. Warum arbeitete Kelly ausgerechnet hier?

Er betrat das Café und schaute sich um, ehe er in einer Nische Platz nahm. Eine Kellnerin, die nicht Kelly war, brachte ihm eine Speisekarte.

„Nur einen Kaffee.“

„Wie Sie möchten.“

Kurz darauf stellte sie die Tasse so resolut auf den Tisch, dass der Kaffee überschwappte. Mit einem entschuldigenden Lächeln warf sie Ryan eine Serviette hin.

„Sagen Sie einfach Bescheid, wenn ich Ihnen noch irgendetwas bringen soll.“

Er war kurz davor, sie nach Kelly zu fragen, als er in einiger Entfernung eine Serviererin an einem der Tische stehen sah. Sie wandte ihm den Rücken zu.

Das war sie. Er wusste es sofort.

Ihr honigblondes Haar war länger und zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber sie war es. Er spürte es instinktiv, und sein Herz klopfte sofort schneller, selbst nach all den Monaten.

Dann drehte sie sich zur Seite und wandte ihm das Profil zu, und Ryan wich alles Blut aus dem Gesicht.

Was, um Himmels willen …

Ihr runder Bauch ließ keinen Zweifel zu.

Sie war schwanger. Hochschwanger. So, wie es aussah, sogar noch weiter in ihrer Schwangerschaft als Bryony.

Genau in dem Moment, als sie sich ganz umdrehte, sah er hoch, und ihre Blicke begegneten sich. Schockiert starrte sie ihn aus ihren blauen Augen quer durch den Raum an. Auch sie hatte ihn sofort erkannt. Aber warum sollte sie sich auch weniger an ihn erinnern als er sich an sie?

Ehe er reagieren konnte, wurde ihr Blick eiskalt vor Wut. Ihre zarten Gesichtszüge verhärteten sich, und Ryan sah von seinem Platz aus, dass sie die Zähne zusammenbiss.

Welchen Grund hatte sie, dermaßen wütend zu sein, verdammt noch mal?

Sie ballte die Hände zu Fäusten, fast so, als würde sie ihm liebend gern einen Kinnhaken versetzen. Dann wandte sie sich wortlos um und verschwand durch die Schwingtür in Richtung Küche.

Ryan kniff die Augen zusammen. Okay, das war nicht so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Dabei war er gar nicht sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Dass sie sich unter Tränen entschuldigte? Dass sie ihn flehentlich darum bat, sie wieder aufzunehmen? Jedenfalls hatte er nicht erwartet, dass sie hochschwanger war und in einem Laden bediente, der eher zu jemandem passte, der die Highschool abgebrochen hatte, als zu einer Studentin wie Kelly, die auf dem Weg zu einem glänzenden Studienabschluss war.

Schwanger. Er atmete tief durch, um sich zu fassen. In welchem Monat war sie wohl genau? Mindestens im siebten.

Ihm wurde ganz anders, und sein Atem stockte.

Falls sie wirklich im siebten Monat schwanger war, war es womöglich sein Kind.

Oder das seines Bruders.

Kelly Christian stürzte in die Küche. Leise vor sich hinschimpfend versuchte sie, die Schnürbänder ihrer Schürze aufzuknoten. Ihre Hände zitterten so sehr, dass es ihr einfach nicht gelingen wollte.

Schließlich zog sie so heftig daran, dass die Schürze zerriss. Da warf sie sie einfach über den Haken, der für die Schürzen der Kellnerinnen vorgesehen war.

Warum war er hier? Sie hatte sich keine große Mühe gegeben, ihre Spuren zu verwischen. Ja, sie hatte New York verlassen, und damals hatte sie nicht gewusst, wohin ihr Weg sie führen würde. Es war ihr egal gewesen. Aber sie hatte auch nichts getan, weshalb sie sich verstecken müsste. Das hieß, er hätte sie jederzeit finden können. Warum jetzt? Aus welchem Grund sollte er sie nach sechs Monaten suchen?

Sie glaubte nicht an Zufälle. Dieses Café war kein Lokal, in das Ryan Beardsley zufällig kam. Nicht standesgemäß. Seine erlesene Familie würde lieber sterben, als ihrem Gaumen etwas zuzumuten, was nicht mindestens in einem Fünfsternerestaurant serviert wurde.

Wow, Kelly, so verbittert?

Sie schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst, weil sie so heftig auf diesen Mann reagierte.

„He, Kelly, was ist los?“

Kelly drehte sich um. Ihre Kollegin Nina stand mit besorgter Miene in der Küchentür.

„Mach die Tür zu“, zischte Kelly und machte Nina ein Zeichen, hereinzukommen.

„Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als ginge es dir nicht gut, Kelly. Ist was mit deinem Baby?“

Um Gottes willen, das Baby! Ryan müsste schon blind sein, um ihren Babybauch zu übersehen. Sie musste weg von hier.

„Ja, es geht mir gar nicht gut“, schwindelte sie. „Sag Ralph, dass ich wegmusste.“

Nina runzelte die Stirn. „Er wird nicht begeistert sein. Du weißt ja, was er davon hält, wenn wir auf der Arbeit fehlen. Wenn wir nicht gerade ein Bein oder einen Arm verloren haben oder Blut spucken, hat er kein Verständnis dafür, wenn man nicht zur Stelle ist.“

„Dann sag ihm, dass ich gekündigt habe“, murmelte Kelly auf dem Weg zum Hinterausgang. An der Tür blieb sie kurz stehen. „Tu mir einen Gefallen, Nina. Es ist wichtig, okay? Falls jemand im Diner nach mir fragt – egal wer: Du weißt rein gar nichts.“

„Kelly, bist du irgendwie in Schwierigkeiten?“

Ungeduldig schüttelte Kelly den Kopf. „Ich bin nicht in Schwierigkeiten. Ich schwöre es. Es geht um meinen … meinen Ex. Er ist ein richtiger Mistkerl. Ich habe ihn vor einer Minute vorn im Diner sitzen sehen.“

Entrüstet presste Nina die Lippen aufeinander. „Geh nur, meine Liebe. Ich kümmere mich hier schon um alles.“

„Danke.“

Gleich darauf eilte Kelly die schmale Straße hinter dem Café hinunter. Ihr Apartment lag nur zwei Blocks entfernt. Sie würde nach Hause gehen und sich überlegen, was um alles in der Welt sie als Nächstes tun sollte.

Fast wäre sie auf halbem Weg stehen geblieben. Warum lief sie eigentlich weg? Sie hatte nichts zu verbergen. Sie hatte nichts Schlimmes getan. Was sie hätte tun sollen, war, quer durchs Café zu marschieren, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Stattdessen lief sie weg.

Als sie die Treppen zu ihrer Wohnung im ersten Stock hinauflief, nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Sobald sie drinnen war, schloss sie die Tür und sank mit dem Rücken dagegen.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie war wütend. Wie konnte es sein, dass es sie so aus der Fassung brachte, Ryan Beardsley wiederzusehen? Nein, sie wollte ihm nicht gegenübertreten. Sie wollte ihn nie wieder sehen. Nie wieder sollte jemand die Macht haben, sie so zu verletzen wie er. Nie wieder.

Automatisch legte sie die Hände auf ihren Bauch und rieb ihn behutsam. Dabei war sie nicht sicher, wen sie damit mehr trösten wollte: ihr Baby oder sich selbst.

„Es war idiotisch, ihn zu lieben“, flüsterte sie. „Idiotisch zu glauben, ich könnte zu ihm passen und seine Familie würde mich akzeptieren.“

Kelly fuhr zusammen, als die Tür hinter ihr vibrierte, weil jemand anklopfte. Ihr Herz schlug schneller, und sie starrte auf ihre Wohnungstür, als könnte sie durch sie hindurchsehen.

„Kelly, mach die blöde Tür auf. Ich weiß, dass du da bist.“

Ryan. Um Gottes willen. Der Allerletzte, dem sie die Tür öffnen wollte.

Sie stützte sich gegen die Tür, unsicher, ob sie ihn einfach ignorieren oder antworten sollte.

Der zweite Schlag gegen ihre Tür war so heftig, dass sie erschreckt die Hand wegriss.

„Geh weg!“, rief sie schließlich. „Ich habe dir nichts zu sagen.“

Plötzlich erbebte die Tür und flog auf. Hastig machte Kelly einige Schritte rückwärts. Dabei hielt sie die Arme schützend vor ihren Babybauch.

Ryan stand im Türrahmen, groß und beeindruckend wie eh und je. Bis auf ein paar neue Fältchen um seinen Mund und seine Augen herum sah er unverändert aus. Eingehend betrachtete er sie von Kopf bis Fuß. Sie schien nichts vor ihm verbergen zu können. Er hatte es schon immer verstanden, ihr direkt ins Herz zu sehen. Nur das eine Mal nicht, als es am meisten darauf angekommen wäre.

Erneut durchzuckte Kelly ein heftiger Schmerz. Zum Teufel mit ihm! Was wollte er noch alles tun, um sie zu verletzen? Er hatte sie doch schon vollkommen erledigt.

„Verschwinde.“ Sie war richtig stolz darauf, wie ruhig ihre Stimme klang. „Verschwinde, oder ich rufe die Polizei. Ich habe nichts mit dir zu bereden. Jetzt nicht. Und auch nicht später.“

„Das ist schade“, Ryan trat näher, „denn ich habe jede Menge mit dir zu bereden. Zuallererst einmal würde ich nämlich gern wissen, von wem du schwanger bist.“

2. KAPITEL

Kelly zwang sich, Ryan nicht wütend anzuschreien, auch wenn ihre Emotionen in ihr hochkochten. „Das geht dich nichts an.“

„Das tut es sehr wohl, falls ich der Vater bin.“

Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte sie ihn an. „Wie kommst du denn darauf?“

Es war geradezu grotesk, dass ein Mann, der ohne Weiteres bereit gewesen war, zu glauben, dass sie mit jeder Menge anderer ins Bett gehüpft war, in ihr Apartment eindrang und wissen wollte, ob sie von ihm schwanger war oder nicht.

„Verdammt, Kelly, wir waren verlobt. Wir haben zusammengelebt und waren oft intim. Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, ob es mein Kind ist.“

Skeptisch betrachtete sie ihn einen Moment. „Woher soll ich das wissen? Schließlich war ich mit wahnsinnig vielen anderen Männern zusammen, unter anderem mit deinem Bruder.“ Achsel zuckend wandte sie sich ab und ging in die Küche.

Er folgte ihr dicht auf den Fersen, und sie spürte seinen Ärger fast körperlich. „Kelly, du bist eine Hexe. Eine kalte, berechnende Hexe. Ich habe dir alles gegeben, und du hast es für einen Seitensprung weggeworfen.“

Sie fuhr herum und war kurz davor, ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. „Verschwinde! Verschwinde, und komm nie wieder zurück.“

„Ich gehe nirgendwohin, Kelly. Nicht bevor du mir gesagt hast, was ich wissen will.“

Sie lachte auf. „Es ist nicht dein Baby. Zufrieden? Und jetzt geh.“

„Dann ist also Jarrod der Vater?“

„Warum fragst du ihn nicht selbst?“

„Wir reden nicht über dich.“

„Tja, und ich will über keinen von euch beiden reden. Ich will, dass du meine Wohnung verlässt. Es ist nicht dein Baby. Verschwinde aus meinem Leben. Ich bin aus deinem verschwunden, wie du verlangt hast.“

„Du hast mir keine andere Wahl gelassen.“

„Wahl? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich eine hatte. Du hast die Wahl für uns beide getroffen.“

„Du bist eine ganz schön harte Nuss, Kelly. Immer noch das unschuldige Opfer, wie ich sehe.“

Sie ging zur Haustür und hielt sie ihm schweigend auf.

Ryan verharrte reglos. „Warum lebst du so, Kelly? Es will mir nicht in den Kopf, warum du getan hast, was du getan hast. Ich hätte dir alles gegeben. Mensch, selbst bei unserer Trennung habe ich dir noch ganz schön viel Geld gegeben, weil ich nicht wollte, dass es dir an nichts mangelt. Um jetzt mitzubekommen, dass du in ärmlichsten Verhältnissen wohnst und einen Job hast, der weit unter deinen Möglichkeiten liegt.“

Kelly verspürte einen Anflug von Hass. Ja, so war es: Sie liebte und hasste ihn zugleich. Ihr Schmerz war so groß, dass es ihr den Atem verschlug. Sie dachte an den Tag zurück, als sie vor Ryan gestanden hatte, verzweifelt und völlig am Boden zerstört. Und wie er seine Unterschrift unter einen Scheck gesetzt und ihn ihr verächtlich hingeschoben hatte.

Sein Blick hatte ihr gesagt, dass er sie nicht liebte, nie geliebt hatte. Er vertraute ihr nicht.

Als sie ihn mehr gebraucht hatte als je zuvor, hatte er sie im Stich gelassen. Er hatte sie wie eine Hure behandelt.

Das würde sie ihm nie verzeihen.

Langsam wandte sie sich um und ging mit schweren Schritten zur Küchenschublade hinüber, in der sie den zerknitterten Umschlag mit dem Scheck verwahrte. Er erinnerte sie an zerbrochene Träume und allerschlimmsten Verrat. Sie hatte ihn sich oft angesehen, aber geschworen, nie in eine Bank zu gehen, um ihn einzulösen.

Mit dem Umschlag in der Hand kehrte sie zu Ryan zurück, der sie mit undurchdringlicher Miene betrachtete. Sie zerknüllte den Umschlag und warf ihn ihm an den Kopf.

„Hier hast du deinen Scheck. Nimm ihn und verschwinde endlich aus meinem Leben.“

Er hob den Umschlag auf, glättete ihn und zog den zerknitterten Scheck heraus. Dann schaute er sie wieder mit gerunzelter Stirn an. „Das verstehe ich nicht.“

„Du hast nie etwas verstanden. Wenn du nicht gehst, gehe eben ich.“

Ehe er sie daran hindern konnte, war sie zur Tür hinaus und warf sie ins Schloss.

Ryan starrte immer noch ungläubig auf den Scheck in seiner Hand. Warum? Kelly benahm sich, als sei er der reinste Abschaum. Was, verdammt noch mal, hatte er ihr je getan, außer sicherzustellen, dass sie versorgt war?

Als er sich in der Wohnung umschaute, fiel ihm auf, wie renovierungsbedürftig sie war, wie billig das Mobiliar. Zwei Türen des Küchenschranks hingen schief in den Angeln, und er war völlig leer. Überhaupt keine Lebensmittel.

Fluchend stellte er fest, dass auch im Kühlschrank nur eine Tüte Milch, eine halbe Packung Käse und ein Glas Erdnussbutter standen.

Als er auch in den übrigen Schränken rein gar nichts Essbares fand, wurde er immer wütender. Wovon lebte Kelly? Und vor allem: Warum lebte sie in solchen Verhältnissen?

Kopfschüttelnd betrachtete er noch einmal den Scheck. Der Betrag war hoch genug, um davon ein paar Jahre bescheiden, aber gut zu leben.

An einigen Stellen war die Tinte verschmiert, und er wies diverse Fingerabdrücke auf. Warum hatte sie ihn nie eingelöst? Ryan hatte so viele Fragen, dass er sie gar nicht klar formulieren konnte.

Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich damals so verhalten hatte? Schämte sie sich, von ihm Geld anzunehmen, nachdem sie ihn betrogen hatte?

Eins stand fest: Er würde nicht einfach wieder gehen. Es gab zu viele Fragen, auf die er Antworten haben wollte. Warum lebte sie in dieser schäbigen Wohnung und hatte einen Job, der ihr offenbar nicht genug Geld einbrachte, um sie zu ernähren, geschweige denn ein vernünftiges Leben zu führen? Was um alles in der Welt würde sie tun, wenn das Baby kam? Ob es nun sein Baby war oder nicht, es war ihm nicht egal. Nicht, nachdem sie ihm einmal so viel bedeutet hatte.

Sie gab nicht auf sich acht. Früher hatte immer er auf sie achtgegeben, und das würde er jetzt wieder tun. Egal ob ihr das passte oder nicht.

Hinter ihrem Wohnhaus bog Kelly in eine Nebenstraße ein. Sie ging nicht ins Diner, obwohl das am vernünftigsten gewesen wäre. Einen Tag keinen Lohn zu bekommen war nicht so schlimm, aber das fehlende Trinkgeld würde bei ihren kläglichen Ersparnissen schon ins Gewicht fallen.

Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Zeit, um sich zu fassen. Und Ryan würde schnurstracks ins Diner zurückkehren, um sie noch einmal zur Rede zu stellen.

Es hatte aufgehört zu regnen, doch dunkle Wolken in der Ferne kündigten weiteren Regen im Laufe des Tages an.

Kelly spürte Tränen aufsteigen. Aber sie war fest entschlossen, sich durch ihr unerwartetes Wiedersehen mit Ryan nicht aus der Bahn werfen zu lassen.

Der kleine Spielplatz in der Nähe ihrer Wohnung war verlassen, und sie setzte sich auf eine der Bänke, ganz benommen von widerstrebenden Gefühlen: Wut, Kummer und Schock.

Warum war Ryan hergekommen?

Offensichtlich war ihre Schwangerschaft eine große Überraschung für ihn. Doch ihr Treffen war ganz sicher kein seltsamer Zufall.

In den letzten Monaten hatte sie viel über ihre Beziehung nachgedacht, obwohl sie alles getan hatte, um ihn zu vergessen.

Ihr war einiges klar geworden. Sie hatten es viel zu eilig gehabt. Angefangen mit ihrer ersten Begegnung in dem Café, in dem sie ihn bedient hatte, bis hin zu ihrer überstürzten Verlobung hatte sie sich nicht die Zeit genommen, sich seiner sicher zu sein. Oh, ihrer selbst war sie sich sicher. Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Sie hatte sich auf ihn eingelassen, ohne zu hinterfragen, wie er zu ihr stand. Ob er sie auch liebte.

Die Hindernisse waren ihr damals unbedeutend erschienen. Er stand gesellschaftlich weit über ihr, aber sie war naiv genug gewesen, anzunehmen, dass Liebe alle Schranken überwinden würde und dass es egal war, ob seine Familie oder Freunde sie ablehnten. Sie würde sich als würdig erweisen, seinen Lebensstil mit ihm teilen.

Nein, sie hatte weder sein Vermögen noch seine Beziehungen, seine Erziehung oder seine Herkunft. Aber wem war das alles heutzutage überhaupt noch wichtig?

Sie war eine Närrin gewesen. Sie hatte ihr Studium vorläufig aufgegeben, weil sie alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, die perfekte Freundin, Verlobte und künftige Frau von Ryan Beardsley zu sein. Sie hatte ihm erlaubt, ihr die elegantesten Kleider zu kaufen. Sie war zu ihm in sein Apartment gezogen und hatte sich damit gequält, immer das Richtige zu sagen und sich ideal in sein Leben einzufügen.

Und sie hatte nie wirklich eine Chance gehabt.

Jeder, der glaubte, Liebe sei ein Allheilmittel, täuschte sich gründlich. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er sie genug geliebt hätte – oder überhaupt geliebt hätte. Wie hätte er sich sonst bei der ersten Gelegenheit von ihr abwenden können?

Kelly schloss die Augen, weil ihr schon wieder die Tränen kamen. Sie war aus New York geflüchtet und hier in Houston gelandet. Sie hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Es war vielleicht nicht das beste, aber es war ihr eigenes Leben.

Ihr war klar gewesen, dass sie erst nach der Geburt ihres Babys auf die Uni zurückkonnte, und deshalb arbeitete sie hart und sparte jeden Penny. Sie lebte in der billigsten Wohnung, die sie hatte finden können, und legte fast ihr ganzes Einkommen für später zurück. Nach der Geburt würde sie eine bessere Bleibe suchen und die beiden letzten Studiensemester absolvieren, damit sie und ihr kostbares Baby in gesicherten Verhältnissen leben konnten. Ohne Ryan Beardsley mit seinem dreckigen Geld und seiner schrecklichen Familie und all dem Misstrauen, das man ihr entgegengebracht hatte.

Und jetzt? Warum war Ryan hier? Und was bedeutete es für ihre Zukunft, dass er jetzt von ihrer Schwangerschaft wusste? Für ihre Pläne? Ihren Entschluss, nie wieder in eine Situation zu geraten, in der sie so sehr verletzt werden konnte?

Müde rieb sie sich die Stirn. Sie war erschöpft und nicht in der Lage, sich gegen Ryans Angriff zu wehren, was auch immer er vorhatte.

Sie wurde ärgerlich. Warum, zum Teufel, saß sie hier auf einer Parkbank und versteckte sich? Sie hatte nichts Schlimmes getan. Ryan konnte sie zu gar nichts zwingen. Im Gegenteil. Wenn er nicht umgehend ihre Wohnung verließ, würde sie die Polizei rufen.

Er hatte keine Macht mehr über sie.

Sie holte tief Atem, um sich zu beruhigen. Ja, er hatte sie aus der Fassung gebracht, weil sie nicht damit gerechnet hatte, ihn wiederzusehen. Aber das hieß nicht, dass sie sich von ihm überrollen lassen würde.

Dennoch fühlte sie sich sehr unwohl. Die Zukunft, die sie geplant hatte, schien durch Ryans Auftauchen plötzlich in Gefahr zu sein.

Falls er sich in den Kopf setzte, dass er der Vater ihres Kindes war, würde er nicht wieder weggehen. Aber selbst wenn sie es schaffte, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht sein Kind war, würde er meinen, es sei Jarrods Kind. Die Familie Beardsley war also auf jeden Fall ein ernsthaftes Hindernis für ihre Zukunft.

Jetzt würde sie jedoch erst mal Ryan aus ihrer Wohnung verjagen. Sie hatte vielleicht weder sein Geld noch seine Beziehungen, aber sie würde nicht gleich bei der ersten Widrigkeit aufgeben.

Weil es wieder anfing zu regnen, musste sie sich beeilen, nach Hause zu kommen.

Als sie dann die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufging, war sie doch ziemlich nass geworden. Leicht fröstelnd schloss sie auf.

Zwar hatte sie gehofft, dass Ryan aufgegeben hatte und gegangen sein würde. Aber es überraschte sie nicht, dass er in ihrem Wohnzimmer auf und ab ging.

„Wo bist du gewesen, verdammt?“

„Geht dich nichts an.“

„Und ob es das tut. Du bist nicht zurück zur Arbeit gegangen. Es regnet, und du bist bis auf die Haut nass. Bist du verrückt?“

Kelly lachte auf. „Das bin ich wohl. Oder war es. Aber jetzt nicht mehr. Verschwinde, Ryan. Das hier ist mein Apartment. Du hast kein Recht, hier zu sein. Du kannst mich nicht schikanieren. Wenn es sein muss, lasse ich dich von der Polizei rauswerfen.“

Überrascht blickte er sie an. „Du glaubst, ich würde dir wehtun?“

„Körperlich? Nein.“

Leise fluchend strich er sich mit einer Hand durchs Haar. „Du musst etwas essen. Du hast überhaupt keine Lebensmittel da. Wie zum Teufel willst du dich um dich selbst und dein Baby kümmern, wenn du den ganzen Tag auf den Beinen bist? Du nimmst hier eindeutig keine Mahlzeiten zu dir. Es gibt hier nichts zu essen!“

„Lieber Himmel, man könnte meinen, du sorgst dich“, spottete sie. „Aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Mach dir keine Sorgen um mich, Ryan. Ich kümmere mich sehr wohl um mich und mein Baby.“

Er ging auf sie zu. „Ja, ich sorge mich, Kelly. Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich das nicht tue. Ich war nicht derjenige, der weggeworfen hat, was wir miteinander hatten. Das warst du.“

Abwehrend hob sie eine Hand und wich hastig zurück. „Verschwinde!“

Für einen Moment schien es, als wolle er ihr weitere Vorhaltungen machen, doch dann atmete er tief durch.

„Okay, ich gehe. Aber morgen früh um neun komme ich zurück.“

Sie zog eine Braue hoch.

„Du hast einen Termin beim Arzt. Ich fahre dich hin.“

Er war also nicht untätig gewesen, während sie weg war. Klar, ein Mann wie Ryan brauchte nur zum Handy zu greifen. Unzählige Leute tanzten nach seiner Pfeife. Angewidert schüttelte Kelly den Kopf. „Vielleicht begreifst du es nicht, Ryan. Aber ich gehe mit dir nirgendwohin. Du bist nicht verantwortlich für mich. Ich habe meinen eigenen Arzt. Du schleppst mich nicht zu einem anderen.“

„Und wann hast du diesen Arzt zuletzt gesehen? Du siehst schrecklich aus, Kelly. Du gibst nicht auf dich acht. Das kann weder für dich noch dein Kind gut sein.“

„Tu nicht so, als würde dich das kümmern. Sei einfach so gut und geh.“

Er machte Anstalten, zu widersprechen, doch auch diesmal verkniff er sich einen Kommentar. Er ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal kurz um. „Neun Uhr morgen früh. Du wirst mitkommen, und wenn ich dich hintragen muss.“

„Ja, und vielleicht friert die Hölle ein“, murmelte sie, als er die Tür hinter sich ins Schloss warf.

Am nächsten Morgen wachte Kelly eine Viertelstunde zu spät auf. Sie würde sich beeilen müssen, um bis sechs Uhr im Diner zu sein.

Als sie kurz darauf ihre Wohnung verlassen wollte, hielt sie den Atem an, weil sie fast damit rechnete, dass Ryan draußen auf sie wartete. Anscheinend litt sie wegen ihm schon an Verfolgungswahn. Dabei hatte sie sich eingebildet, über ihn hinweg zu sein.

Im Diner war Nina schon damit beschäftigt, ihren ersten Kunden das Frühstück zu servieren. Schnell band Kelly ihre Schürze um, nahm ihren Bestellblock und ging zu ihren Tischen hinüber.

In der ersten Stunde schaffte sie es, alle Gedanken an Ryan und daran, dass er noch einmal auftauchen könnte, zu verdrängen. Leider fiel ihr das mit der Zeit aber immer schwerer. Schließlich verwechselte sie drei Bestellungen und kippte einem Kunden Kaffee über den Ärmel. Es half nichts. Sie musste sich in die Küche zurückziehen, um sich zu sammeln.

Gerade als sie ins Café zurückgehen wollte, erschien Ralph.

„Was machst du hier überhaupt?“

„Ich arbeite hier, schon vergessen?“

„Nein, nicht mehr. Du bist draußen.“

Kelly wurde blass und blickte ihn voller Panik an. „Du feuerst mich?“

„Du bist gestern weggegangen, als hier der Laden gebrummt hat. Ohne jeden Kommentar. Und du bist nicht zurückgekommen. Kannst du mir mal sagen, was das sollte? Und heute Morgen bist du wieder hier, und mein Laden ist voll von unzufriedenen Kunden, weil du mit deinen Gedanken woanders bist.“

Sie atmete tief durch, bemüht, ruhig zu bleiben. „Ralph, ich brauche diesen Job. Gestern … gestern ist mir schlecht geworden, okay? Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Da hast du vollkommen recht. Ich hätte dich nie einstellen sollen.“ Er presste die Lippen zusammen. „Wenn ich nicht so dringend eine Kellnerin gebraucht hätte, hätte ich nie im Leben eine Schwangere eingestellt.“

Oje. Sie wollte nicht betteln, aber was blieb ihr anderes übrig? Die Chancen, einen neuen Job zu finden, waren gleich null, hochschwanger, wie sie war. Sie brauchte nur noch ein paar Monate Arbeit bis zur Geburt. Dann hätte sie genügend Geld, um nicht mehr arbeiten zu müssen, und könnte sich um ihr Baby kümmern und ihr Studium beenden.

„Bitte gib mir noch eine Chance. Ich habe mich nie über irgendetwas beschwert, habe bisher keinen einzigen Tag gefehlt. Ich brauche diesen Job unbedingt.“

Ralph zog einen Umschlag aus seiner Brusttasche und hielt ihn ihr hin. „Hier, dein letzter Scheck, abzüglich der gestrigen Fehlstunden.“

Sie nahm ihn, und Ralph eilte durch die Schwingtür zur Küche hinaus.

Kelly wurde von Wut und Frust übermannt. Nach all den Monaten schaffte es Ryan immer noch, ihr Leben zu ruinieren. Sie band ihre Schürze ab, warf sie über den Haken und verließ das Diner durch die Hintertür.

Auf dem Rückweg zu ihrem Apartment wurde sie von Verzweiflung übermannt. Ihr verdammter Stolz! Sie hätte den Scheck, den Ryan ihr gegeben hatte, einlösen sollen. Zum Teufel mit ihm und seinen gemeinen Anschuldigungen. Sein Scheck hätte es ihr ermöglicht, ihr Studium abzuschließen und für ihr Kind zu sorgen.

Dabei hatte sie jeden Grund, ihn abzulehnen. Vielleicht hatte sie ihn deshalb nicht eingelöst, weil sie die Genugtuung erleben wollte, ihm den Scheck eines Tages an den Kopf zu werfen.

Es war ihr wichtig gewesen, dass Ryan begriff, dass sie nicht käuflich war. Aber was hatte sie davon? Einen anstrengenden Job, den sie jetzt auch los war, und eine schäbige Wohnung, in der sie ihr Kind auf keinen Fall großziehen wollte.

Ihr Stolz sollte ihr nicht länger im Weg stehen. Und Ryan Beardsley konnte sich zum Teufel scheren. Sie würde seinen Scheck einlösen.

3. KAPITEL

Als Ryan die Treppe zu Kellys Apartment hinaufging, war er sich nicht sicher, ob sie zu Hause sein würde. Doch im Diner hatte er von einem mürrischen Mann namens Ralph erfahren, dass sie zumindest nicht dort war.

Er ärgerte sich, dass ihre Wohnungstür nicht verschlossen war. Er trat ein und sah, wie Kelly auf allen vieren unter einen abgenutzten Sessel schaute. Sie seufzte frustriert und erhob sich.

„Was machst du denn da?“

Mit einem Aufschrei fuhr sie herum. „Verschwinde!“

„Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Deine Tür war nicht abgeschlossen.“

„Und da dachtest du, du könntest einfach reinkommen? Hast du noch nie von der Sitte gehört, dass man anklopft? Begreif es endlich, Ryan: Ich will dich hier nicht haben.“ Damit ging sie in die Küche, öffnete und schloss Schranktüren und Schubladen, weil sie offenbar etwas suchte.

Ryan seufzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie heute entgegenkommender sein würde, aber er hatte gehofft, nach dem anfänglichen Schock würde sie etwas weniger … wütend sein.

Als sie gleich darauf erneut auf dem Fußboden herumkroch, ging er zu ihr hinüber, um ihr aufzuhelfen. „Wonach suchst du denn?“

Sie wehrte seine ausgestreckte Hand ab. „Den Scheck. Ich suche den Scheck!“

„Welchen Scheck?“

„Den, den du mir ausgeschrieben hast.“

Er zog den zerknitterten und gefalteten Scheck aus der Tasche. „Diesen hier?“

Sie wollte ihn an sich nehmen, doch er gab ihn ihr nicht.

„Ja! Ich habe es mir anders überlegt: Ich werde ihn einlösen.“

„Setz dich, Kelly. Und dann erzählst du mir, was hier eigentlich los ist. Du wartest monatelang, dann wirfst du mir den Scheck an den Kopf und verlangst, dass ich endlich aus deinem Leben verschwinde, und jetzt hast du es dir anders überlegt? Bist du verrückt?“

Zu seiner größten Überraschung ließ sie sich auf einen der beiden Stühle an dem kleinen Küchentisch fallen und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Bestürzt stellte er fest, dass ihre Schultern bebten, weil sie begonnen hatte, lautlos zu weinen.

Einen Augenblick stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte es noch nie ertragen, wenn sie weinte. Dann kauerte er sich neben ihren Stuhl und zog sacht die Hände von ihrem Gesicht weg.

Sie wandte sich ab. Offensichtlich war es ihr unangenehm, dass er ihren Zusammenbruch miterlebte.

„Was ist los, Kelly?“

„Ich habe meinen Job verloren“, brachte sie mühsam heraus. „Wegen dir.“

Er wich zurück. „Wegen mir? Was soll ich denn bitteschön getan haben?“

Sie hob den Kopf, und ihre Augen blitzten. „Deine Standardfrage. Was habe ich getan? Natürlich hast du nichts falsch gemacht. Sicher war alles mein Fehler, genau wie alles andere, was in unserer Beziehung schiefgegangen ist. Gib mir einfach den Scheck und verschwinde. Du brauchst nie wieder einen Gedanken an mich zu verschwenden.“

„Glaubst du ernsthaft, ich würde jetzt einfach gehen?“ Er steckte den Scheck wieder ein und hatte Mühe, an sich zu halten. „Wir haben jede Menge klarzustellen, Kelly. Ich gehe nirgendwohin und du auch nicht. Zuallererst suchen wir den Arzt auf, damit du gründlich untersucht wirst. Du siehst nicht gut aus.“

Langsam erhob sie sich und schaute ihm fest in die Augen. „Mit dir gehe ich nirgendwohin. Wenn du mir den Scheck nicht geben willst, dann eben nicht. Geh. Wir haben nichts mehr zu bereden. Nie mehr.“

Er suchte erneut ihren Blick. „Wir reden über den Scheck, wenn wir beim Arzt waren.“

„Probierst du es jetzt mit Erpressung, Ryan?“

„Wenn du es so nennen willst. Es ist mir wirklich egal. Jedenfalls wirst du mit mir zum Arzt gehen. Wenn er an deinem Gesundheitszustand nichts zu bemängeln hat, gebe ich dir den Scheck und verschwinde.“

Misstrauisch sah sie ihn an. „Einfach so.“

Er nickte. Und er wies sie nicht darauf hin, dass kein Arzt ihr bescheinigen würde, dass sie vollkommen gesund war. Sie war völlig erschöpft, blass und hatte sehr wahrscheinlich ziemlich Untergewicht.

Eine Weile kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, als ob sie überlegen würde, ob sie einwilligen sollte oder nicht. Schließlich atmete sie tief aus.

„Okay, Ryan. Ich gehe mit dir zum Arzt. Sobald er bestätigt hat, dass mit mir alles in bester Ordnung ist, will ich dich nie wieder sehen.“

Falls er sagt, dass mit dir alles okay ist, sollst du deinen Willen haben.“

Sie setzte sich wieder, offensichtlich erschöpft. Ryan unterdrückte einen Fluch. War sie blind, oder wollte sie ihren Zustand einfach nicht wahrhaben? Sie brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte. Der darauf achtete, dass sie drei Mahlzeiten am Tag einnahm und ihre Füße hochlegte und sich ausruhte.

Er sah auf die Uhr. „Wir sollten gehen. Du hast deinen Termin in einer halben Stunde, und ich weiß nicht, wie dicht der Verkehr ist.“

Anscheinend ergab sie sich in ihr Schicksal. Jedenfalls raffte sie sich auf, holte ihre Handtasche und ging ihm voraus zur Tür.

Wenig später fuhr Kelly mit Ryan im Aufzug in den vierten Stock eines modernen Gebäudes hinauf, in dem sich die Arztpraxis befand. Müde und erschöpft stand sie neben ihm, während Ryan am Empfang alles Nötige erledigte.

Nachdem sie ihren Urin für eine Laboruntersuchung abgegeben hatte, brachte eine Arzthelferin sie in eins der Behandlungszimmer, wo Ryan auf sie wartete.

Als sie ihn hinausschicken wollte, bremste er sie. „Ich will mit eigenen Ohren hören, was der Doktor zu sagen hat.“

Sie schluckte nervös, denn sie ahnte, dass er eine Szene machen würde, falls sie widersprach. Mit dem Rücken zu ihm lehnte sie sich an die Untersuchungsliege.

Sie musste diese Untersuchung hinter sich bringen, den Arzt Ryan informieren lassen, dass alles in bester Ordnung war, und dann würde sie ihn endlich los sein.

Nach ein paar Minuten kam ein junger Arzt ins Zimmer und bedeutete ihr, sich auf der Liege auszustrecken. Nachdem er ihren Bauchumfang vermessen und die Herztöne des Babys abgehört hatte, zog er einen Apparat heran und strich kühles Gel auf ihren Bauch.

Kelly hob den Kopf. „Was machen Sie da?“

„Ich dachte, Sie würden vielleicht gern einen Blick auf das kleine Mädchen oder den kleinen Jungen werfen. Ich mache schnell einen Ultraschall, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Sind Sie damit einverstanden?“

Sie nickte, und der Arzt bewegte den Schallkopf über ihrem Bauch hin und her. Dann hielt er inne und zeigte auf den Bildschirm. „Das hier ist das Köpfchen.“

Ryan trat näher, um einen Blick auf den Monitor zu werfen. Kelly reckte den Hals, um das ebenfalls zu tun, und Ryan legte ihr schnell eine Hand unter den Kopf, um sie zu stützen. Mit Tränen in den Augen lächelte sie glücklich. „Sie ist bildschön!“

„Ja, das ist sie“, raunte Ryan ihr heiser ins Ohr.

„Oder er.“

„Würden Sie gern wissen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist?“, fragte der Arzt. „Das können wir schnell feststellen.“

„Nein … nein, ich glaube nicht“, sagte Kelly. „Es soll eine Überraschung sein.“

Die Untersuchung dauerte noch ein paar Minuten, dann stand der Arzt auf und wischte ihren Bauch ab. Er überreichte ihr ein Ultraschallbild, das er ausgedruckt hatte, und machte sich ein paar Notizen.

„Ich mache mir Sorgen um Sie.“

Mit Ryans Hilfe setzte Kelly sich auf und blickte den Arzt fragend an.

„Ihr Blutdruck ist viel zu hoch, und in Ihrem Urin finden sich Spuren von Eiweiß. Ihre Hände und Füße weisen ein starkes Ödem auf, und Ihrem Gewicht nach zu urteilen essen Sie nicht ausreichend. Diese Anzeichen können zu einer Eklampsie führen, und die wiederum kann die Schwangerschaft ernsthaft gefährden.“

Kelly sah ihn schweigend an.

„Was ist eine Eklampsie?“, wollte Ryan wissen.

„Das sind Schwangerschaftskrämpfe, denen ein stark erhöhter Blutdruck und eine erhöhte Ausscheidung von Eiweiß im Urin vorausgehen. Typischerweise tritt diese Komplikation bei Frauen nach ihrer zwanzigsten Schwangerschaftswoche auf. Es sind Krämpfe, die ganz plötzlich auftreten.“

Der Arzt betrachtete Kelly mit ernster Miene, ehe er fortfuhr.

„Sie sind drauf und dran, ins Krankenhaus geschickt zu werden und dort bis zur Geburt zu bleiben. Falls Sie und Ihr Mann mir nicht versprechen, dass Sie immer wieder die Beine hochlegen, sich Ruhe gönnen und sich besser ernähren, werde ich es nicht bei der Ermahnung belassen, sondern Sie direkt ins Krankenhaus einweisen.“

„Er ist nicht mein …“

„Versprochen“, unterbrach Ryan sie schnell. „Sie haben mein Wort: Sie wird kaum noch den kleinen Finger rühren.“

„Aber …“

„Kein Aber“, sagte der Arzt. „Ich glaube, Sie unterschätzen den Ernst Ihrer Lage. Falls sich Ihr Zustand verschlimmert, können Sie daran sterben. Eklampsie ist die zweithäufigste Todesursache bei Schwangeren in den USA und der Hauptgrund für Komplikationen bei Ungeborenen. Die Sache ist ernst, und Sie müssen alles tun, was nötig ist, um eine Verschlechterung Ihres Zustandes zu verhindern.“

Ryan wurde bleich, und Kelly spürte, wie auch ihr die Farbe aus dem Gesicht wich.

„Doktor, ich versichere Ihnen, dass Kelly von jetzt an nichts anderes tun wird, als auszuruhen und zu essen“, erklärte Ryan bestimmt.

Der Arzt nickte zustimmend und schüttelte ihnen beiden die Hand. „Ich möchte sie in einer Woche noch einmal sehen. Und falls sich das Ödem verschlimmert oder sie noch zusätzlich starke Kopfschmerzen bekommt, muss sie direkt ins Krankenhaus.“

Nachdem der Arzt gegangen war, saß Kelly vollkommen benommen von der Diagnose auf der Untersuchungsliege. Ryan legte eine Hand auf ihre und drückte sie.

„Kelly, ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst.“

Sorgen? Fast wäre sie in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Ihr Leben war ein absolutes Chaos, und sie sollte sich keine Sorgen machen?

„Komm“, sagte er leise. „Lass uns gehen.“

Widerspruchslos ließ sie sich von ihm zum Wagen führen. Das alles konnte unmöglich ihr passieren. Stumm saß sie dann neben Ryan und weigerte sich, ihn auf der Rückfahrt auch nur anzusehen. Sie hatte keinen Job, und nach Aussage des Arztes hätte sie, selbst wenn sie nicht gefeuert worden wäre, gar nicht arbeiten dürfen. Wie sollte sie da für sich, geschweige denn für ihr Baby sorgen? Sie hatte zwar einige Ersparnisse, aber die waren für das Baby und ihr Studium vorgesehen.

Sie fühlte sich absolut hilflos, und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Das Klingeln eines Handys schreckte sie aus ihren Gedanken, und als Ryan anfing zu telefonieren, spitzte sie die Ohren, denn es ging um sie.

„Wir fahren gerade zu Kellys Apartment, um ihre Sachen zu holen. Buch einen Flug für uns ab Houston und ruf zurück, um mir Flugnummer und Abflugzeit durchzugeben. Dann ruf Dr Whitcomb an – Adresse ist Hillcrest –, und lass Kellys Untersuchungsergebnisse an Dr Bryant in New York faxen. Spring bitte für mich ein, und lass Linda alle Verträge sichten, die ich unterschreiben muss. Ich werde in ein paar Tagen wieder im Büro sein.“

Abrupt beendete er das Gespräch.

„Was war das eben?“, fragte Kelly alarmiert.

Er warf ihr einen entschlossenen Blick zu. „Ich bringe dich nach Hause.“

„Nur über meine Leiche“, zischte sie. Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch und presste die Lippen fest aufeinander.

„Du wirst mitkommen.“ Sein Ton duldete keine Widerrede. „Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert, weil du dich ja weigerst, das selbst zu tun. Willst du die Gesundheit des Babys aufs Spiel setzen? Oder deine eigene?“

Schockiert starrte sie ihn an. „Verstehst du nicht, dass ich nichts mit dir zu tun haben will?“

„Oh ja, das hast du mir klargemacht, als du mit meinem Bruder geschlafen hast. Aber Tatsache ist, dass du wahrscheinlich von mir schwanger bist – oder ich bin eben der Onkel. Und deshalb werde ich nicht eher aus deinem Leben verschwinden, als bis ich überzeugt bin, dass ihr beide sicher seid. Du wirst mit nach New York kommen, und wenn ich dich in den Flieger tragen muss.“

„Es ist nicht dein Kind.“

„Von wem ist es dann?“

„Das geht dich nichts an.“

Er schwieg eine ganze Weile, ehe er schließlich wiederholte: „Du kommst mit. Ich will das nicht nur wegen eines Kindes, das vielleicht meins ist oder auch nicht.“

„Warum willst du es dann?“

Er antwortete nicht, sondern sah starr geradeaus auf die Straße.

Vor ihrer Wohnung angekommen, sprang Kelly aus dem Wagen und eilte die Treppe hinauf. Es gelang ihr nicht, Ryan davon abzuhalten, ihre Wohnung zu betreten.

„Kelly, wir müssen miteinander reden.“

Sie fuhr herum. „Ja, das müssen wir. Du wolltest mit mir über den Scheck sprechen. Du hast nicht lange gefackelt, ihn mir zu geben, als du mich damals eine Hure genannt hast. Ich will ihn zurück, und es ist mir ganz egal, was du über meine Motive denkst.“

„Ich stelle ihn dir nicht mehr zur Verfügung.“

„Na wunderbar.“

„Stattdessen möchte ich, dass du mit mir nach New York zurückkommst.“

„Du musst verrückt sein. Warum sollte ich das tun?“

„Weil du mich brauchst.“

„Damals habe ich dich auch gebraucht.“

Bevor er etwas erwidern konnte, wandte sie sich ab. Sie legte ihre Hände schützend auf den Bauch und versuchte, nicht in Panik zu geraten.

Hinter ihr blieb Ryan stumm. Beunruhigend stumm. Als er dann etwas sagte, klang seine Stimme seltsam belegt.

„Ich gehe jetzt deine Medikamente besorgen, und ich bringe uns etwas zu essen mit. Wenn ich zurückkomme, möchte ich, dass du gepackt hast.“

Gleich darauf hörte sie die Tür leise ins Schloss fallen.

Kelly sank auf den abgenutzten Sessel. Vor zwei Tagen hatte sie noch einen Plan für die Zukunft gehabt. Einen guten Plan. Heute hatte sie keinen Job mehr, ihre Gesundheit war gefährdet, und ihr Exverlobter drängte sie, mit ihm nach New York zurückzukehren.

Auch wenn der Gedanke sie schaudern ließ, würde sie ihre Mutter anrufen müssen. Sie hatte sich geschworen, dass sie eher sterben würde, als ihre Mom jemals um etwas zu bitten. Doch im Moment erschien ihr das als das kleinere Übel.

Also holte sie tief Luft und wählte die letzte Nummer ihrer Mutter, die sie hatte. Es war durchaus möglich, dass Deidre nicht mehr in Florida lebte. Wer wusste das schon?

Sobald Kelly ihren Highschool-Abschluss gehabt hatte, hatte ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt, damit ihr damaliger Freund einziehen konnte. Sie hatte Kelly erklärt, sie habe ihre Pflicht erfüllt. Die achtzehn besten Jahre ihres Lebens habe sie verschwendet, um ein Kind großzuziehen, das sie eigentlich nie hatte haben wollen.

Viel Glück, bis dann, verlang bloß nichts weiter von mir.

Ja, genau.

Kelly wollte schon auflegen, als ihre Mutter sich doch noch meldete.

„Mom?“

Eine lange Pause entstand. „Kelly? Bist du’s?“

„Ja, Mom, ich bin’s. Hör mal, ich brauche deine Hilfe. Ich brauche eine Bleibe. Ich bin … schwanger.“

Diesmal war die Pause noch länger. „Wo ist denn dein reicher Freund abgeblieben?“

„Ich bin nicht mehr mit ihm zusammen. Ich lebe in Houston. Ich habe meinen Job verloren, und mir geht’s nicht gut. Der Arzt macht sich Sorgen um das Baby. Ich brauche nur vorübergehend was zum Wohnen. Bis ich wieder auf den Beinen bin.“

Ihre Mutter seufzte. „Ich kann dir nicht helfen, Kelly. Richard und ich haben viel um die Ohren, und wir haben einfach nicht genug Platz.“

Das versetzte Kelly einen Stich. Sie hatte ja geahnt, dass es sinnlos war, aber irgendwie doch gehofft … Still schaltete sie ihr Handy aus, ohne noch irgendetwas zu sagen. Was hätte es auch zu sagen gegeben?

Ihre Mutter war nie mehr gewesen als ein resignierter Babysitter.

Sanft strich sie mit einer Hand über ihren Bauch. „Ich hab dich lieb“, flüsterte sie. „Ich werde nie einen einzigen Moment mit dir bedauern.“

Dann lehnte sie sich in den Sessel zurück und starrte an die Decke. Sie fand es schrecklich, so hilflos zu sein. Verzagt schloss sie die Augen. Sie war wirklich erschöpft.

Eine Weile später wurde sie von Ryan wachgeschüttelt. Er beugte sich über sie, einen Teller und ein Glas Wasser in den Händen.

„Ich habe dir etwas vom Thailänder mitgebracht.“

Sie liebte thailändisches Essen und war erstaunt, dass er sich daran erinnerte. Sie nahm ihm Teller und Glas ab.

Er holte sich einen Stuhl aus der Küche und leistete ihr Gesellschaft, während sie aß. Es war ihr unangenehm, dass er sie eingehend betrachtete, also konzentrierte sie sich ganz aufs Essen.

„Mich zu ignorieren, nützt gar nichts.“

Sie hielt inne. „Was willst du, Ryan? Ich verstehe immer noch nicht, warum du hergekommen bist. Oder warum du willst, dass ich mit dir nach New York zurückkehre. Oder warum du dich sorgst. Damals hast du nicht den kleinsten Zweifel daran gelassen, dass du so viel Abstand wie nur irgend möglich von mir haben wolltest.“

„Du bist schwanger. Du brauchst Hilfe. Reicht das nicht?“

„Nein, das reicht nicht!“

„Sagen wir so: Du und ich, wir haben eine Menge zu klären, unter anderem die Frage, ob du von mir schwanger bist oder nicht. Du brauchst Hilfe. Du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst. Du brauchst erstklassige medizinische Betreuung. All das kann ich dir geben.“

Nervös fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar und lehnte sich in den Sessel zurück. Da kauerte er sich neben sie und berührte zögernd ihren Arm, so, als fürchte er, sie würde zurückschrecken.

„Komm mit, Kelly. Du weißt, dass wir das alles klären müssen. Du musst an das Baby denken.“

Abwehrend hielt sie eine Hand hoch. Es ärgerte sie sehr, dass er versuchte, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber er nahm ihre Hand und hielt sie fest.

„Du kannst nicht arbeiten. Der Arzt sagt, du musst ruhen, sonst gefährdest du die Gesundheit deines Kindes und deine eigene auch. Falls du meine Hilfe für dich selbst nicht akzeptieren kannst, dann akzeptiere sie wenigstens deinem Baby zuliebe. Oder ist dir dein Stolz wichtiger als ihr oder sein Wohlergehen?“

„Und was werden wir tun, wenn wir in New York sind, Ryan?“

„Du wirst dir Ruhe gönnen, und wir werden gemeinsam überlegen, wie unsere Zukunft aussieht.“

Kelly wurde ganz anders. Es klang fast bedrohlich. Ihre Zukunft.

Sie wäre eine Närrin, wenn sie zustimmen würde. Und sie wäre eine Närrin, wenn sie es nicht täte.

Sie war bereit, ihren Stolz hinunterzuschlucken und seinen Scheck anzunehmen. Sollte sie da nicht auch bereit sein, ihrem Baby zuliebe seine Hilfe zu akzeptieren? Ihrem gemeinsamen Baby zuliebe?

„Kelly?“

„Ich komme mit“, erklärte sie leise.

„Dann lass uns packen und so schnell wie möglich aufbrechen.“

4. KAPITEL

Als Kelly am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie nicht gleich, wo sie war. Dann fiel es ihr ein: Sie war in New York – mit Ryan.

Ryan hatte dafür gesorgt, dass sie in nur wenigen Stunden gepackt hatte und am Flughafen war. Kurz vor Mitternacht waren sie in New York gelandet, und er hatte sie zu einem Wagen gebracht, der für sie bereitstand.

Als sie dann endlich in seinem Apartment ankamen, war sie todmüde. Sie war direkt ins Gästezimmer gegangen. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Schließlich kam ihr das Apartment schmerzlich vertraut vor – sie hatte hier ja einmal gewohnt. Selbst der Geruch war noch der gleiche wie damals – eine Mischung aus Leder und etwas undefinierbar Männlichem.

Am Ende des Flurs lag das Schlafzimmer, wo sie und Ryan sich so oft geliebt hatten. Dort hatte sie ihr Kind empfangen, und dort hatte sich ihr Leben unwiderruflich verändert.

Und sie hatte sich einmal mehr gesagt, dass sie verrückt war, hierher zurückzukommen.

Doch heute Morgen hatte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Nach einer kurzen Dusche zog sie sich an und ging ins Wohnzimmer, wo Ryan schon am Laptop arbeitete. Als sie eintrat, blickte er hoch.

„Das Frühstück ist fertig. Ich habe auf dich gewartet, weil ich nicht allein essen wollte.“

Wortlos folgte Kelly ihm in die Küche, wo der Tisch für zwei gedeckt war. Ryan servierte ihnen beiden Rührei, Schinken und Toast.

Kelly musste zugeben, dass sie sich besser fühlte als seit Wochen. Auf jeden Fall hatte sie sich seit Langem nicht so viel ausgeruht wie in den letzten vierundzwanzig Stunden.

„Wie geht es dir heute?“

„Gut.“ Sie probierte von ihrem Ei und begann dann, mit Appetit zu essen.

Die ganze Situation war kurios. Die übertriebene Höflichkeit. Das traute Frühstück zu zweit. Sie fand es dermaßen peinlich, dass sie am liebsten ins Gästezimmer zurückgegangen wäre, um sich im Bett zu verkriechen.

Nach einer halben Ewigkeit ergriff Ryan schließlich das Wort. „Ich habe es so eingerichtet, dass ich für eine Weile von der Wohnung aus arbeiten kann.“

Sie hielt mit Essen inne. „Warum?“

„Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand.“

„Ryan, das funktioniert nicht. Ich kann nicht hier sein, während du die ganze Zeit den Babysitter für mich spielst. Geh ins Büro. Tu, was du normalerweise tust, und lass mich einfach in Ruhe.“

Seine Lippen wurden schmal, und er ging ohne ein weiteres Wort.

Kelly starrte auf ihren Teller. Es war nicht fair, dass er so tat, als tue sie ihm unrecht. Als sei sie eine schreckliche, undankbare Hexe.

Gleichzeitig wurde sie furchtbar traurig. Wie sollte sie je über das hinwegkommen, was er ihr angetan hatte? Womöglich war er entschlossen, ihr ihren angeblichen Fehltritt nicht zu verzeihen. Aber sie war in diesem ganzen Schlamassel die Unschuldige. Ryan hatte sich von ihr abgewandt. Diese schlichte Tatsache schien ihm nicht einzuleuchten.

Sie war einfach zu nervös, um weiterzuessen. Also ließ sie ihr restliches Frühstück stehen und stand auf.

Ziellos schlenderte sie zurück ins Wohnzimmer und blieb vor dem großen Fenster stehen, von dem aus man einen Blick auf die Skyline von Manhattan hatte.

„Du solltest nicht so viel rumlaufen“, sagte Ryan hinter ihr.

Seufzend drehte sie sich um. Schockiert bemerkte sie, dass er nichts als ein Handtuch trug. Sie blickte wieder aus dem Fenster, doch vor ihrem inneren Auge sah sie Ryans breite Brust mit den durchtrainierten Muskeln vor sich. Und seinen perfekten Waschbrettbauch. Sie hatte Stunden damit verbracht, jeden Zentimeter seines Körpers zu erkunden.

„Tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe“, sagte er leise. „Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, weil wir ja mal eine Beziehung hatten.“

Kelly wäre fast in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Sie in Verlegenheit gebracht? Peinlich war nur, dass sie sich gerade vorstellte, wie er ohne sein Handtuch aussah.

Und natürlich ging er in seiner Arroganz davon aus – „in Anbetracht ihrer Beziehung“ –, dass er halb nackt durch die Wohnung spazieren konnte.

Sie musterte ihn abschätzig. „Falls du glaubst, du könntest da anknüpfen, wo wir aufgehört haben, weil wir mal ein Paar waren, irrst du dich gewaltig.“

Er blinzelte überrascht, dann wurde er ärgerlich. „Mensch, Kelly, traust du mir wirklich zu, dass ich dich zu einer sexuellen Beziehung zwingen würde, obwohl du schwanger bist und es dir nicht gut geht?“

„Die Antwort darauf möchtest du gar nicht hören.“

Er fluchte. „Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich die abgelegten Geliebten meines Bruders ausprobieren möchte?“

Mit geballten Fäusten zwang sie sich zu einer frivolen Antwort. „Na ja, da das deinem Bruder nichts ausgemacht hat, bin ich davon ausgegangen, dass das bei euch in der Familie liegt.“

Seine blauen Augen wurden eiskalt. Dann machte er kehrt und verschwand in seinem Schlafzimmer. Krachend fiel die Tür ins Schloss.

Kelly ließ sich in einen Sessel fallen. Welcher Teufel hatte sie bloß geritten, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen? Sie hatte es längst aufgegeben, sich zu verteidigen. Damals hätte Ryan ihr glauben sollen. Jetzt war es ihr eigentlich egal, was er dachte. Ihre Sehnsucht danach, dass er zu ihr stand und sie beschützte, war verflogen, als ihr klar geworden war, dass er sie nie geliebt oder ihr vertraut hatte.

Oje, was wollte sie hier? Wieder in New York zu sein, brachte zu viele Erinnerungen zurück, die sie besser vergessen hätte.

Ruhelos ging sie zurück in die Küche und beschloss, zum Mittagessen ihr Lieblingsgericht zuzubereiten. Die Zutaten waren alle vorrätig. So hätte sie wenigstens etwas zu tun. Während sie zusammenlebten, hatte sie immer gern für Ryan gekocht.

„Was machst du da, verdammt?“ Plötzlich stand Ryan neben ihr und nahm ihr die Pfanne aus der Hand. Dann brachte er Kelly zurück ins Wohnzimmer und befahl ihr, sich auf die Couch zu setzen. Er legte ihre Beine auf den Couchtisch und schob ein Kissen darunter. Sein Ärger von eben schien verraucht.

„Vielleicht hast du die Anweisung des Arztes nicht richtig verstanden. Du sollst ausruhen. Die Beine hochlegen.“ Er redete mit ihr, als sei sie nicht ganz bei Trost. Aber das konnte sie auch nicht sein. Schließlich hatte sie sich in diesen Schlamassel begeben.

„Ryan, wir müssen reden.“

Anscheinend überraschte ihn ihr veränderter Ton, aber er setzte sich trotzdem zu ihr. „Okay, leg los.“

„Ich will wissen, warum du nach Houston gekommen bist.“ Sie achtete sorgfältig darauf, neutral zu klingen.

Die Frage war ihm anscheinend unangenehm. Er wich ihrem Blick aus.

„Und wie hast du mich überhaupt gefunden?“

„Ich habe einen Detektiv engagiert.“

Kelly blieb der Mund offen stehen. „Warum? Damit du mir wieder vorwerfen kannst, dass ich eine Schlampe bin? Damit du mein Leben wieder auf den Kopf stellen kannst? Ryan, ich verstehe es einfach nicht. Du hasst mich doch. Ich weiß, was du von mir hältst. Als du mich vor die Tür gesetzt hast, hast du nicht den geringsten Zweifel daran gelassen. Warum um alles in der Welt solltest du also in der Vergangenheit wühlen wollen?“

„Verdammt, Kelly! Du bist verschwunden, ohne ein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem zu sagen. Du hast den Scheck nicht eingelöst. Ich dachte, dir wäre vielleicht was passiert – oder du wärst sogar tot.“

„Wie schade, dass ich es nicht bin.“

„Tu nicht so, als wäre alles meine Schuld.“ Sie hörte heraus, wie sehr Ryan sich beherrschen musste. „Du hast doch unsere Beziehung mit Füßen getreten. Du hast entschieden, dass ich nicht gut genug für dich bin. Ich habe nach dir gesucht, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass es dir womöglich schlecht geht, egal was du getan hast oder wie sehr ich dich vergessen wollte.“

Er wandte den Blick ab. Als er Kelly wieder anschaute, war seine Miene undurchdringlich. „Ich habe deine Fragen beantwortet. Jetzt will ich, dass du meine beantwortest.“

Als unvermittelt die Wohnungstür aufging, sahen sie beide hoch, und zu Kellys Entsetzen stand Ryans Bruder Jarrod in der Diele. „He, Ryan, der Portier hat gesagt, du bist zurück …“ Er brach ab. „Oh … hallo, Kelly.“

Ryan sah, dass Kelly erstarrte. Verdammt, sie glaubte bestimmt, er hätte das geplant. Und auch wenn sie alle drei tatsächlich ein paar Dinge klären mussten – jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Er stand auf und ging zu seinem Bruder hinüber.

Ryan hatte Monate gebraucht, um über seine Wut und Eifersucht hinwegzukommen und zu seinem jüngeren Bruder wieder eine normale Beziehung aufzubauen. Früher hatte er nichts dabei gefunden, dass Jarrod kam und ging, wann er wollte. Er hatte einen Schlüssel, und Ryan hatte sich über seine Besuche gefreut.

Aber das war, bevor Jarrod mit Kelly geschlafen hatte. Bevor die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben ihn betrogen hatten. Als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, Jarrod zu verzeihen, hatte er überlegt, dass er vielleicht auch Kelly aufspüren und sich wenigstens anhören sollte, was ihre Gründe waren.

Das Verhältnis zu seinem Bruder war nicht perfekt. Vielleicht würde es das nie wieder sein. Aber es hatte sich gebessert, und Jarrod kam wieder häufiger vorbei, obwohl er mehr auf der Hut war als früher.

Jetzt hatte Ryan Kelly zurückgebracht, und sie würden sich alle drei einer unvermeidlichen Aussprache stellen müssen. Einerseits fürchtete er sich davor, andererseits wusste er, dass er nicht nach vorn sehen konnte, ehe nicht endgültig geklärt wurde, was vorgefallen war. Doch das würde passieren, wenn er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, nicht vorher. Er und Kelly hatten jede Menge miteinander zu klären, bevor sie das Thema Jarrod und ihre Untreue anpackten.

„Mann, du kommst ungelegen“, begrüßte er seinen Bruder mit leiser Stimme.

Jarrod warf über Ryans Schulter einen nervösen Blick auf Kelly. „Das sehe ich. Ich besuche dich ein andermal.“

Als Ryan sich umdrehte, sah er, dass Kelly zitterte und die Hände zu Fäusten ballte. Sie war kreidebleich, ihr Blick gehetzt. „Was wolltest du denn?“, fragte er, weil Jarrod keine Anstalten machte, zu gehen.

„Nichts Wichtiges. Ich wollte nur Hallo sagen und dir ausrichten, dass Mom uns für Samstagabend zum Essen eingeladen hat. Ich habe dich eine Weile nicht gesehen, weil du mit deiner Ferienanlage beschäftigt bist, und hatte gehofft, wir könnten uns wieder öfter treffen, wie früher.“

Ryan seufzte. Er und Jarrod hatten sich immer gut verstanden. Bis zu dem Vorfall mit Kelly. Er hasste diese ganze Geschichte. Hasste es, dass eine Frau ihn und seinen Bruder entzweit hatte, den er nach dem Tod ihres Vaters praktisch großgezogen hatte.

„Ich rufe Mom nachher an, okay? Und wir treffen uns wieder. Nur nicht jetzt.“

„Ja, verstehe. Dann bis später.“ Als Ryan ihm die Wohnungstür aufhielt, flüsterte Jarrod ihm zu: „Nimmst du sie wieder auf, nach allem, was passiert ist?“

Ryans Miene verfinsterte sich. „Interessiert es dich gar nicht, dass sie vielleicht von dir schwanger ist?“

Jarrod wurde blass. „Hat sie dir das gesagt?“

Ryan betrachtete ihn einen Moment nachdenklich. „Nein, das hat sie nicht gesagt, aber dir ist doch sicher klar, dass es sein kann.“

„Äh … nein, das war ich nicht.“ Er schüttelte heftig den Kopf.

„Wenn du das sagst.“

Jarrod trat auf den Flur. Er schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich zu Ryan um, wich dessen Blick jedoch aus. „Ich habe verhütet. Hör mal, es tut mir leid. Ich weiß, dass es eine blöde Situation ist. Aber das Baby kann nicht von mir sein.“

Frustriert und hilflos sah Ryan ihm nach, als er zum Aufzug ging. Dann schloss er die Wohnungstür. Er war wütend auf Kelly, auf Jarrod und auf sich selbst. Das Baby war also von ihm, es sei denn … nein, außer Jarrod und ihm hatte sie ganz sicher keine anderen Partner gehabt.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, war er nicht auf den Hass und Ekel gefasst, die sich auf Kellys Miene widerspiegelten. Ehe er etwas sagen konnte, fixierte sie ihn mit eisigem Blick.

„Falls er noch ein Mal hierherkommt, bin ich weg. Ich bin nicht bereit, mich mit ihm im gleichen Raum aufzuhalten.“

„Du weißt doch, dass er immer mal vorbeikommt.“

Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Ich werde nicht hierbleiben.“

Warum war sie nur dermaßen zornig auf Jarrod? Wenn jemand einen Grund hatte, zornig zu sein, dann war es Jarrod. Immerhin hatte Kelly ihn beschuldigt, er habe versucht, sie zu vergewaltigen. Die ganze Situation ergab irgendwie keinen Sinn, und Ryan war es leid, herumzurätseln.

„Jarrod sagt, er hat ein Kondom benutzt.“

Tiefer Schmerz huschte über ihr Gesicht. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. „Und natürlich hast du ihm geglaubt.“ Das klang, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Widersprichst du ihm? Oder behauptest du, das Baby ist von mir?“ Bis jetzt hatte er keine Ahnung gehabt, wie sehr er sich wünschte, dass das Baby von ihm war. Insgeheim flehte er Kelly geradezu an, zu bestätigen, dass er der Vater war.

Ihre Miene war wieder undurchdringlich. „Ich behaupte gar nichts.“

Es frustrierte Ryan sehr, dass sie sich wieder in sich zurückgezogen hatte.

„Ich gehe für eine Weile aus dem Haus“, sagte er schließlich mürrisch. „Ich bringe etwas zu essen mit.“

Auf dem Weg in die Tiefgarage, wo sein BMW parkte, klingelte sein Handy. „Was ist?“, meldete er sich ungehalten.

„Ryan?“ Es war seine Mutter.

„Entschuldige, Mom, ich wollte dich nicht anschreien.“ Er stieg in seinen Wagen ein, startete den Motor aber noch nicht.

„Ryan, was ist los?“

„Nichts, Mom, ich habe nur viel zu tun. Was gibt’s?“

„Ich fände es schön, wenn du und Jarrod morgen mit mir zu Abend essen würdet.“

Ryan schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Es war nicht leicht, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber jetzt, wo Jarrod ihn besucht hatte, würde seine Mutter sowieso bald Bescheid wissen. Am besten informierte er sie gleich, damit sie sich daran gewöhnen konnte. „Mom, es gibt Neuigkeiten … Kelly ist bei mir … und sie ist schwanger.“

Am anderen Ende der Leitung wurde scharf der Atem eingesogen, und es folgte angespanntes Schweigen. „Verstehe“, meinte sie schließlich. „Dann ist es wahrscheinlich unpassend, Roberta einzuladen.“

Ryan nervte der schnippische Ton seiner Mutter, die seit Kellys Verschwinden immer wieder versuchte, sein Interesse an Roberta Maxwell zu wecken.

Obwohl sie es nie offen ausgesprochen hatte, war klar, dass seine Mutter mit Kelly nie einverstanden gewesen war. Es hatte ihr gar nicht gefallen, dass er sie heiraten wollte. Sie war höflich gewesen, aber nur, weil Ryan es von ihr verlangt hatte. Er würde keinem Mitglied seiner Familie gestatten, die Frau, die er zur Ehefrau nehmen wollte, respektlos zu behandeln.

Nach dem Vorfall mit Jarrod und Kelly hatte er allerdings erwartet, dass seine Mutter überheblicher reagieren würde. Sie war im Gegenteil seltsam mitfühlend gewesen. Trotzdem würde er Kelly im Moment auf keinen Fall zu einem schwierigen Abendessen mitnehmen, bei dem seine Mutter mit verkniffener Miene dasitzen und Jarrod dummes Zeug reden würde.

Er hatte sich gefragt, was bei der unausweichlichen Konfrontation mit Jarrod passieren würde. Jetzt wusste er es. Doch Kellys Reaktion war ganz anders gewesen, als er sie sich vorgestellt hatte.

„Ich glaube, wir kommen ein andermal zum Dinner. Kelly und ich schaffen das im Moment nicht.“

Er beendete das Telefonat und fuhr ziellos durch die Stadt. Er brauchte etwas Abstand.

Irgendwann merkte er, dass er auf dem Weg ins Büro war. Er fuhr nicht oft selbst, sondern ließ sich normalerweise chauffieren. Doch heute hatte er keine Lust gehabt, zu warten, bis ihn jemand abholte.

Jansen, sein Assistent, reagierte erstaunt, als er ihn sah. Immerhin hatte Ryan ihn gerade am Morgen informiert, dass er erst in ein paar Tagen zurückkommen würde.

Ryan ging in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und starrte aus dem Fenster.

Es war kalt geworden. Der Himmel grau, und das passte gut zu seiner Stimmung. Nach ein paar Tagen in Texas, wo es auch im Winter deutlich wärmer war, musste er sich erst wieder an das kalte Wetter im Nordwesten gewöhnen.

Sein Handy klingelte. Es war Cam, der garantiert wissen wollte, warum er dermaßen überstürzt von Moon Island aufgebrochen war, denn eigentlich hätte er mit Cam und Devon nach New York zurückfliegen sollen.

Er beschloss, sich der unvermeidlichen Fragerei zu stellen, und meldete sich.

„Da bist du ja. Ich versuche seit vierundzwanzig Stunden, dich zu erreichen. Wohin bist du bloß so plötzlich verschwunden?“

Ryan seufzte. „Mein Detektiv hat angerufen. Er hatte Kelly gefunden.“ Es entstand Schweigen. Dann hörte er, wie Cam jemandem etwas zuraunte. Wahrscheinlich Dev.

„Und?“

„Sie war in Houston. Ich bin hingefahren, um mich zu vergewissern, dass sie es war.“

„Und?“

„Sie war es. Ich habe sie mit zurück nach New York gebracht.“

„Du hast was? Warum um alles in der Welt hast du das getan?“

Ryan seufzte erneut. „Cam, sie ist schwanger.“

„Du liebe Güte. Was ist nur los, dass überall schwangere Frauen auf der Bildfläche erscheinen? Ich stelle dir die gleiche Frage, die ich Rafael gestellt habe, als Bryony aus dem Nichts aufgetaucht ist. Woher weißt du, dass es dein Kind ist?“

„Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass sie schwanger ist.“

„Äh … und du würdest deine Exverlobte einfach so mit nach New York bringen, weil sie von einem anderen schwanger ist?“

„Tu doch nicht so, als wüsstest du alles besser. Tatsache ist, dass das Baby von mir sein könnte. Oder von meinem Bruder. Verstehst du jetzt mein Problem?“

„Mann, ich würde sagen, du hast verdammt viele Probleme, die ich nicht haben möchte. Was hat sie denn zu der ganzen Sache zu sagen?“

„Das ist es ja. Sie ist wütend. Auf mich. Sie tut so, als ob ich ihr unrecht getan hätte. Ich versteh’s nicht. Sie hat nicht gesagt, von wem das Baby ist. Sie hat nicht bestritten, dass es meins ist, aber sie hat es auch nicht bestätigt.“

„Hast du dir mal überlegt, dass sie es womöglich gar nicht weiß?“

Ryan runzelte die Stirn, schwieg aber.

„Mann, tut mir leid, das musste mal gesagt werden. Wenn sie mit dir und deinem Bruder geschlafen hat und wer weiß mit wem sonst noch, dann hat sie wahrscheinlich keine Ahnung, wer der Vater ist.“

„Es reicht. Hör auf mit dem Quatsch. Kelly ist doch keine Schlampe.“

„Das habe ich nie behauptet.“

„Du hast es ganz klar angedeutet.“

„Hör mal, du bist auf den Falschen sauer. Ich frage dich nur – als Freund –, ob du den Verstand verloren hast. Ich fand es ja schon verrückt, dass du einen Privatdetektiv engagiert hast, um nach ihr zu suchen. Na ja, er hat sie gefunden, und nun musst du sehen, was du daraus machst. Ich rate dir bloß, was ich Rafael geraten habe, als er ähnliche Probleme hatte: Ruf deinen Anwalt an. Lass einen Vaterschaftstest machen.“

„Dazu will ich es nicht kommen lassen“, erklärte Ryan ruhig. „Ich will einfach nur wissen, was schiefgelaufen ist.“ Er schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch war sinnlos. Cam war ein unversöhnlicher Mistkerl, und das würde er immer bleiben. Sobald er gehört hatte, was Kelly getan hatte, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Aber ihm gegenüber war er ein loyaler Freund.

Cam schwieg einen Moment. „Hör zu, Mann: Tut mir leid. Ich verstehe, dass die ganze Geschichte dir Kopfschmerzen bereitet. Am besten, du genehmigst dir ein paar Drinks und suchst dir eine Frau für eine Nacht. Aber ich weiß ja, dass das nichts für dich ist, also schlage ich es dir auch nicht ernsthaft vor.“

Ryan lachte auf.

„Bleib dran. Dev will dich noch sprechen.“

„Bis später.“

Kurz darauf war Dev in der Leitung.

„Ich werde nicht alles wiederholen, was Cam eben gesagt hat, nur, dass ich ihm voll zustimme. Aber ich wollte dir sagen, dass ich für eine Weile weg bin.“

„Aha. Brennst du mit Ashley durch?“

Devs genervter Kommentar brachte Ryan zum Lachen.

„Nein. Es gibt ein paar Probleme mit dem Bau, und da wir bei diesem Projekt schon so viele Verzögerungen haben, will ich keine weiteren riskieren. Ich will selbst nach dem Rechten sehen. Das bringt mehr als Konferenzschaltungen und ewiges Herumtelefonieren.“

Stirnrunzelnd lehnte Ryan sich in seinem Schreibtischsessel zurück. „Wann willst du denn aufbrechen?“

„Übermorgen. Ich würde früher fliegen, aber ich kann nicht. Cam wird ab morgen unterwegs sein, und ich kann ja schlecht Rafe bitten, seine Hochzeitsreise zu unterbrechen.“

„Verstehe. Also habt ihr beide, du und Cam, mich angerufen, um zu sehen, ob nicht ich hinfliegen kann.“

„Na ja, schon, aber nachdem wir jetzt wissen, was du alles um die Ohren hast, werde ich hinfliegen. Ich kann es auf jeden Fall für übermorgen einrichten.“

Ryan überlegte einen Moment, dann entschied er spontan: „Nein, ich fliege hin.“

„Wow. Moment, Moment. Ich dachte, Kelly wäre bei dir. Eine schwangere Kelly.“

„Ja, richtig. Ich nehme sie mit. Das trifft sich sehr gut. So haben wir Zeit, fernab von … So haben wir Zeit für uns allein, um die ganze Geschichte zu klären.“

Ryan hörte, wie Dev am anderen Ende der Leitung tief aufseufzte.

„Du willst sie allen Ernstes zurück? Nach allem, was passiert ist?“

Ryan umfasste sein Handy fester. „Ich weiß es noch nicht. Ich brauche ein paar Antworten, bevor ich zu einer Entscheidung komme. Aber falls sie von mir schwanger ist, lasse ich sie nicht noch einmal gehen.“

„Okay, dann fliegst du zur Baustelle. Ich schicke dir eine E-Mail, in der die Probleme aufgelistet sind. Halt mich auf dem Laufenden und sag Bescheid, falls du Schwierigkeiten hast. Ich kann kurzfristig hinkommen.“

„Mach ich. Hör mal, mir ist klar, dass ihr beide mich für verrückt haltet, aber ich weiß es zu schätzen, dass ihr mir den Rücken stärkt.“

„Ja, du bist verrückt. Aber wenn es dich glücklich macht.“

Nachdem Ryan das Telefonat mit Dev beendet hatte, rief er Jansen in sein Büro. Er gab ihm eine ganze Reihe von Aufträgen, angefangen damit, dass er für Kelly sofort einen Termin bei einem Frauenarzt brauchte. Falls der Arzt sein Okay gab, dass sie reisen durfte, sollte sie ihn begleiten, damit sie ein paar Tage für sich waren. Und vielleicht schafften sie es ja, die Scherben ihrer Beziehung zu kitten.

Dann diktierte er eine Einkaufsliste, wobei er ignorierte, dass Jansen das Gesicht verzog. Kelly musste von Kopf bis Fuß eingekleidet werden.

5. KAPITEL

Kelly saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und grübelte vor sich hin. Sie konnte nicht hierbleiben. Es war dumm gewesen, zu glauben, dass sie es in an einem Ort aushalten könnte, wo sie Gefahr lief, Jarrod zu treffen.

Es war entwürdigend gewesen, dasitzen zu müssen, während dieser Mistkerl plötzlich mit Unschuldsmiene an der Wohnzimmertür stand. Aber sie war wie gelähmt gewesen.

Sie hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit, und sie würde nicht zulassen, dass sie je wieder in eine solche passive Rolle gedrängt wird. Falls ihr dieser fiese Typ noch ein Mal unter die Augen trat, würde sie ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern geben. Und Ryan sagen, was genau er mit seinem kostbaren Bruder machen konnte.

Sie hasste Jarrod abgrundtief. Und sie hasste Ryan, weil er sich von ihr abgewandt hatte, als sie ihn am allermeisten brauchte.

Nein, sie konnte nicht hierbleiben. Keine Minute länger.

Diesmal würde sie jedoch nicht spontan die Flucht ergreifen, ohne sich darum zu scheren, wohin der Wind sie trieb. Nein, sie würde sich alles genau überlegen. Sie würde irgendwohin gehen, wo sie in Ruhe und Frieden ihren Sohn oder ihre Tochter großziehen konnte.

„Du willst weg, stimmt’s?“

Ryans Stimme kam von der Tür her. Schuldbewusst schaute sie ihn an. Dabei ärgerte es sie, dass sie auch nur für eine Sekunde ein schlechtes Gewissen hatte.

„Es gibt für mich keinen Grund, zu bleiben.“

„Komm mit ins Wohnzimmer.“ Ryan streckte ihr die Hand hin. Sie zögerte. Sie wusste, dass sie ablehnen sollte, aber ein gewisser Unterton in seiner Stimme besänftigte sie. Sie ließ sich von Ryan ins Wohnzimmer führen.

Dort zog er sie neben sich auf die Couch. Nervös fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. „Ich war ein Idiot, und es tut mir leid. In deiner Verfassung solltest du keinen Stress haben, aber ich habe dir nur noch mehr Stress zugemutet.“

Kelly wollte etwas sagen, doch er legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Lass mich ausreden. Ich war den ganzen Morgen im Büro. Es gibt ein paar Probleme mit einem sehr wichtigen Projekt, um die sich meine Partner nicht kümmern können. Also muss ich selbst sofort persönlich dort hinfahren. Ich möchte, dass du mich begleitest.“

Verständnislos sah Kelly Ryan an. Warum sollten sie sich quälen? Warum wollte er unbedingt Zeit damit verschwenden, ihre Beziehung wiederzubeleben? Er war doch derjenige gewesen, der sie beendet hatte. Er hatte sich ein Urteil gebildet und sie verstoßen, als ob sie ihm nie etwas bedeutet hätte.

Sie öffnete den Mund, um ihn genau das zu fragen, doch er hinderte sie noch einmal daran.

„Lass mich für dich sorgen, Kelly. Lass uns für eine Weile alle Probleme der Vergangenheit vergessen und uns nur auf die Gegenwart konzentrieren.“

„Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Doch, es war mir noch nie etwas so ernst im Leben. Wir müssen eine Menge klären. Und das können wir nicht, wenn wir nicht bereit sind, Zeit zusammen zu verbringen und miteinander zu reden.“

Wenn er doch bloß damals bereit gewesen wäre, ihr zuzuhören, mit ihr zu reden und zu verstehen. Der einzige Mensch, auf den sie sich wirklich hätte verlassen können sollen, hatte ihr die kalte Schulter gezeigt und sie eine Lügnerin genannt. Und jetzt wollte er sich mit ihr versöhnen?

Sacht berührte er ihr Gesicht, und es überraschte Kelly, dass seine Finger zitterten. Er suchte ihren Blick, und sie schwieg unschlüssig. Zog sie diesen idiotischen Vorschlag tatsächlich in Erwägung? Das durfte nicht wahr sein! Abwehrend schüttelte sie den Kopf.

Da strich er federleicht mit dem Daumen über ihre Lippen.

„Kein Druck, keine Versprechen, keine Verpflichtungen. Nur du und ich und eine erholsame Woche am Strand. Es wäre ein Anfang. Mehr verlange ich nicht. Ich werde dich nur um das bitten, was zu geben du bereit bist.“

„Aber das Baby …“

„Ich würde nie etwas tun, was das Baby in Gefahr bringen könnte. Oder dich. Du musst erst noch einen Arzt aufsuchen und sein Okay einholen, dass du reisen darfst. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ich dich auf diese Reise mitnehme.“

Kelly senkte den Blick. Es war verlockend. Sehr verlockend sogar. Er bat sie, forderte nicht, und für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt in die Zeit, als sie zusammen waren – als hätte sie es mit dem wundervoll zärtlichen und fürsorglichen Ryan zu tun, mit dem sie damals verlobt gewesen war. Könnte sie ihn noch einmal verlassen, nachdem sie eine Woche mit ihm verbracht hatte? Denn mit einem Mann, der eiskalt ihre Beziehung beendet hatte, weil er nicht ihr, sondern einem anderen glaubte, gab es für sie keine Zukunft.

Kelly rang sich zu einer Entscheidung durch. Ja, sie würde Ryan begleiten. Sie wusste auch nicht, warum. Es würde nichts dabei herauskommen, aber sie wollte diese Woche mit ihm, bevor sie wieder ihrer Wege ging. Als sie zustimmend nickte, schien Ryan sehr erleichtert zu sein. Es war so einfach, sich einzureden, dass sie ihm etwas bedeutete, wenn er so gut schauspielerte. Aber natürlich bedeutete sie ihm nichts. Sonst wären sie noch zusammen, wären verheiratet und würden ihr erstes Kind erwarten.

„Dein Termin beim Arzt ist heute Nachmittag. Wenn er sein Okay gibt, fliegen wir morgen. Es ist also wichtig, dass du heute genügend ruhst. Wenn wir erst da sind, ist das Anstrengendste, was du unternehmen wirst, vom Hotelzimmer zum Strand zu spazieren.“

„Ich möchte getrennte Zimmer.“

„Ich habe eine Suite für uns reserviert.“

Sie runzelte die Stirn, widersprach aber nicht.

„Du wirst es nicht bereuen, Kell.“ Fast wäre Kelly in Tränen ausgebrochen. Wie waren sie bloß so weit von den Plänen abgekommen, die sie noch vor wenigen Monaten geschmiedet hatten?

„Wir kriegen das hin. Wir können alles klären.“

Sie schloss die Augen. Das sagte sich so leicht. Aber es war unmöglich, in die Zukunft zu blicken, bevor sie sich ihrer Vergangenheit gestellt hatten. Und sie wollte sich nicht an den schrecklichen Tag erinnern, an dem ihre Welt so brutal auf den Kopf gestellt worden war.

Der Doktor war sehr damit einverstanden, dass Kelly eine Woche ausruhte und entspannte, riet ihr jedoch, sich in medizinische Behandlung zu begeben, falls die Schwellungen schlimmer wurden oder sie andere Symptome entwickelte.

Ryan war bei dem Gespräch dabei gewesen und hatte sich ganz wie ein besorgter Ehemann und Vater verhalten. Statt sich zu freuen, deprimierte das Kelly sehr. Es verdeutlichte ihr noch mehr, wie hoffnungslos ihre Situation war.

Als sie ins Apartment zurückkehrte, standen mehrere Einkaufstüten in der Diele. Neugierig betrachtete sie sie, denn sie stammten aus Damenboutiquen. Und wenn sie nicht irrte, war eine der Tüten sogar aus einem bekannten Wäschegeschäft.

„Oh schön, Jansen war hier.“ Ryan ging zu den Einkaufstüten hinüber. „Die sind alle für dich. Für unsere Reise.“ Er trug die Taschen zur Couch und bedeutete Kelly, zu ihm zu kommen, um sich die Einkäufe anzusehen.

In den Tüten fanden sich einige Umstandssommerkleider und schicke Designer-Kleidung, außerdem Strandbekleidung bis hin zu Sandaletten. Und wie vermutet, enthielt die Lingerie-Tüte diverse sexy Dessous.

„Das hättest du nicht tun sollen“, murmelte sie. Wie schnell sie in alte Gewohnheiten verfallen waren! Das Ganze war ihr sehr unangenehm.

„Das war nicht ich. Jansen war für mich einkaufen.“

Kelly musste trotz allem lächeln, als sie sich vorstellte, wie Ryans hochgewachsener Assistent in der Abteilung für Umstandsmode nach passenden Kleidern suchte und – noch witziger – wie er in das Dessous-Geschäft ging, um Spitzenslips und BHs zu kaufen.

„Danke für alles“, sagte sie und schluckte ihren Stolz für den Augenblick hinunter.

Sein Lächeln wirkte echt. „Gern geschehen. Warum legst du dich nicht eine Weile hin, während ich unsere Koffer packe? Dann essen wir und gehen früh schlafen. Morgen reisen wir ja in aller Frühe ab.“

Kelly ließ ihre neuen Sachen auf der Couch liegen und stand auf. Es war idiotisch, Ryan gegenüber weich zu werden. Idiotisch, auch nur für eine Sekunde zu wünschen, alles wäre wie damals.

Aber die Sehnsucht tief in ihrem Herzen blieb. Von Traurigkeit übermannt, verließ sie eilig das Wohnzimmer, damit Ryan ihre Tränen nicht sah.

Am nächsten Morgen wurde Kelly sanft von Ryan geweckt. Während sie duschte, machte er für sie beide Frühstück, und anschließend brachte er ihr Gepäck in den Wagen.

Auf der Fahrt zum Flughafen schwieg Kelly. Einerseits fand sie die Aussicht auf eine Woche im Paradies mit Ryan aufregend, andererseits hatte sie Angst vor der erzwungenen Nähe. Sie hatte sich derart auf ihre Wut und ihren Hass konzentriert, dass es ein Schock für sie war, zu erkennen, dass sie Ryan immer noch sehr liebte. Und das frustrierte sie maßlos.

Nicht genug, dass sie einen Mann liebte, der ihre Liebe ganz offensichtlich nicht erwiderte: Sie liebte ihn auch noch nach seinem allerschlimmsten Verrat. Das war einfach erbärmlich.

Zu ihrer Überraschung flogen sie nicht mit einer normalen Fluglinie. Ryan hatte einen Privatjet gechartert, der sie ohne Zwischenlandung auf die Insel bringen sollte.

Der Flug dauerte nur wenige Stunden, aber nach der halben Strecke wurde sie unruhig. Außerdem hatte sie kalte Füße.

„Warum stellst du deinen Sitz nicht zurück?“ Er beugte sich zu ihr, um ihr behilflich zu sein. Dann schlug er ihr vor, sich auf die Seite zu drehen, damit er ihr den Rücken massieren konnte.

Widerstrebend nahm sie seinen Vorschlag an.

Mit seinen kräftigen, geschickten Fingern begann Ryan, ihren Rücken zu bearbeiten. Sie seufzte zufrieden, als ihre Muskeln sich langsam entspannten. Gähnend kuschelte sie sich tiefer in ihren Sitz und genoss Ryans Massage.

Für eine kleine Weile verdrängte sie die Vergangenheit aus ihren Gedanken, genauso wie die Zukunft. Sie konzentrierte sich ganz auf die Tatsache, dass Ryan bei ihr war und genauso liebevoll und zärtlich zu ihr war wie damals, als sie ein Paar waren.

Lächelnd schlief sie ein.

Als sie im Landeanflug waren, weckte Ryan sie auf und stellte ihren Sitz wieder gerade. Sie war so entspannt, dass sie einfach nur still dasaß, während sie landeten.

Eine Viertelstunde später geleitete Ryan sie vom Flieger zu einem Wagen, der für sie bereitstand, und kümmerte sich ums Gepäck. Dann fuhren sie zum Hotel.

Es lag direkt am Strand, und als sie eincheckten, meinte Ryan scherzhaft, dass es im Vergleich zu dem, das er und seine Partner gerade bauten, wie ein Billighotel aussehen dürfte, auch wenn es fünf Sterne hatte.

Kelly konnte das kaum glauben, als sie in eine großzügige Suite gebracht wurden, die um ein Vielfaches größer war als ihre ganze Wohnung in Houston.

Sie setzte sich auf die Couch und sah durch die Terrassentür auf den wundervollen Hotelstrand hinaus. Ryan verstaute ihr Gepäck und zog ihr dann die Schuhe aus, um nachzusehen, ob ihre Füße geschwollen waren. Er fing an, ihre Fußsohlen zu massieren, dann Spann und Knöchel. Sie seufzte behaglich.

„Tut das gut?“

„Oh ja.“

Er fuhr fort, sie zu massieren, und beobachtete Kelly dabei schweigend. Als sie eine Hand auf ihren Babybauch legte und lächelte, wollte er wissen, ob sich das Baby bewegte.

Sie nickte.

„Darf ich mal fühlen?“

Sie legte seine Hand auf die Stelle, auf der ihre eben gelegen hatte. Überrascht fuhr er zurück, als ihr Bauch sich bewegte. Seine Miene war fast ehrfurchtsvoll.

„Das ist ja unglaublich. Tut das nicht weh?“

„Nein. Es ist nicht immer angenehm, aber auf keinen Fall schmerzhaft.“

Einen Moment ließ er die Hand auf ihrem Bauch, dann stand er auf. „Möchtest du lieber auf der Terrasse zu Abend essen oder im Restaurant?“

„Hier, bitte. Die Aussicht ist so schön, und wir sind für uns.“

Er nickte zustimmend und rief dann den Zimmerservice an, um ihre Bestellung durchzugeben.

Eine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse am gedeckten Tisch und aßen schweigend. Dabei genossen sie den Sonnenuntergang und das Wellenrauschen in der Ferne.

Nach dem Essen schlug Ryan Kelly vor, ins Bett zu gehen, aber sie war noch nicht müde. Viel lieber wollte sie ihre kleine abgelegene Bucht erkunden. Zuerst fand Ryan einen Strandspaziergang zu anstrengend, aber schließlich erklärte er sich damit einverstanden, sie zu begleiten.

Kelly atmete tief die salzige Luft ein, als die Brise, die vom Meer herüberwehte, ihr langes Haar zerzauste. Sie streifte ihre Sandaletten ab, und ehe sie sich umständlich bücken konnte, um sie aufzuheben, kam Ryan ihr zuvor. Sie machte ein paar Schritte in die schäumende Brandung und genoss es, wie das Wasser ihre Füße umspülte.

Auch Ryan zog seine Schuhe aus und folgte ihr, nachdem er seine Jeans hochgekrempelt hatte. Er legte einen Arm um sie, als sie am Strand entlangschlenderten, aber Kelly widerstand dem Verlangen, sich enger an ihn zu schmiegen.

„Wir sollten nicht zu weit laufen, weil du nicht zu lange auf den Beinen sein darfst. Ich habe dem Doktor ja versprochen, dass das hier für dich eine erholsame Reise wird.“

„Es ist sehr viel erholsamer, als zwölf Stunden am Tag im Café zu stehen.“

Er umfasste ihre Taille fester. „Das wird nicht wieder vorkommen.“

Kelly erwiderte nichts, sondern ging vor Ryan her zurück zu ihrer Suite. Als sie sie wenig später erreichten, sank sie auf die Couch.

„Möchtest du etwas trinken?“

„Einen Saft, falls welcher da ist.“

Ryan sah im gut bestückten Kühlschrank nach und kam gleich darauf mit einem Glas Orangensaft zurück.

„Du solltest bald ins Bett gehen“, mahnte er. „Du hast jede Menge Zeit, den Strand zu erkunden, wenn du dich erst einmal eine Nacht lang ausgeruht hast.“

Auch wenn sie müde war, der Tag war so … perfekt gewesen, dass Kelly ihn gar nicht beenden mochte. Zeit mit Ryan zu verbringen war eine bittersüße Erfahrung. Eine Erinnerung an glücklichere Zeiten, als die Dinge noch …

Sie seufzte. Sie musste aufhören, ewig Erinnerungen nachzuhängen. Sie hatte eine Woche mit Ryan. Eine Woche, in der die Vergangenheit keine Rolle spielen sollte. Wenn er sie ausblenden konnte, würde sie das auch versuchen. Und danach würden ihre Erinnerungen an ihn vielleicht gar nicht mehr so bitter sein.

Sie musste lachen, weil sie Schwierigkeiten hatte, von der superbequemen Couch aufzustehen. Ryan half ihr auf die Füße.

Einen Moment lang blieb sie vor ihm stehen und ließ den Blick über sein markantes Gesicht gleiten. Es war das erste Mal, dass sie sich gestattete, ihn offen zu betrachten.

„Gute Nacht, Ryan.“

Es kam ihr vor, als wollte er sie küssen, und sie überlegte kurz, wie sie darauf reagieren würde. Doch dann wünschte auch er ihr nur eine gute Nacht. „Schlaf gut, Kelly.“

Auf dem Weg in ihr Zimmer merkte sie, dass sie ein klein wenig enttäuscht war.

6. KAPITEL

In dieser Nacht fand Kelly keinen Schlaf. Nicht, dass sie das überrascht hätte. Sie musste ununterbrochen an früher denken. An ihre erste Begegnung mit Ryan. Wie er sie vom ersten Moment an verzaubert hatte. Wie sie in eine leidenschaftliche Beziehung geschlittert war, die sie vollkommen vereinnahmte.

Von ihrer ersten Verabredung an waren sie wochenlang keinen einzigen Tag getrennt gewesen. Nach einem Monat war sie bei ihm eingezogen, und nach einem weiteren Monat trug sie seinen Ring am Finger.

Sie war sich nie ganz sicher gewesen, warum er sich für sie entschieden hatte. Sie hatte keinen Minderwertigkeitskomplex, doch Ryan Beardsley war ungewöhnlich reich. Er hätte jede Frau bekommen können. Warum also Kelly?

Ihre Familie hatte keine Beziehungen. Sie hatte weder Geld noch Prestige. Sie war eine einfache Studentin, die sich mehr schlecht als recht als Serviererin durchschlug.

Bis Ryan in ihr Leben trat.

Von da an hatte sich für sie alles geändert, und vielleicht hatte sie zu sehr auf Wolke sieben geschwebt, um je nach den wirklich wichtigen Dinge, zu fragen. Zum Beispiel, ob er sie liebte und ihr vertraute.

Wie würde er jetzt reagieren, wenn sie noch einmal versuchen würde, ihm zu erklären, was sich tatsächlich an dem Tag abgespielt hatte, an dem er sie vor die Tür gesetzt hatte? Damals hatte er ihr nicht geglaubt. Warum sollte das jetzt anders sein?

Als sie an jenen Tag zurückdachte, kamen ihr die Tränen.

Kelly hatte einen Schwangerschaftstest gemacht, und als sie das Ergebnis sah, war sie wahnsinnig glücklich und besorgt zugleich. Schnell legte sie den Teststreifen beiseite und stellte sich dann lächelnd vor, wie sie Ryan die große Neuigkeit eröffnete. Sie glaubte nicht, dass er wütend sein würde. Sie wollten ja sowieso bald heiraten und hatten oft darüber gesprochen, dann auch eine Familie zu gründen.

Sie konnte es kaum erwarten, es ihm zu sagen. Ihr fiel ein, dass er an diesem Tag keine wichtigen Termine hatte und den ganzen Nachmittag im Büro sein würde. Sie könnte also vorbeischauen und ihn überraschen.

Als sie sich vorstellte, wie er reagieren würde, wäre sie am liebsten quer durch ihr Schlafzimmer getanzt.

Ein Geräusch aus dem Wohnzimmer ließ sie innehalten. Dann lächelte sie. Wie wunderbar, Ryan war nach Hause gekommen! Manchmal überraschte er sie und kam zum Lunch vorbei. Heute war sein Timing einfach perfekt.

Sie wollte ihn gerade rufen, als Jarrod an der Schlafzimmertür erschien.

Einen Moment lang war sie sprachlos. Jarrod kam zwar regelmäßig vorbei, aber immer nur, wenn Ryan zu Hause war. Er musste doch wissen, dass Ryan heute arbeitete.

„Jarrod, was machst du hier? Ryan ist im Büro. Ich erwarte ihn erst später zurück.“

„Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden.“

„Okay. Was gibt’s? Lass uns ins Wohnzimmer gehen.“

Er ignorierte ihren Einwand und kam ins Schlafzimmer. Kelly hatte kein gutes Gefühl dabei. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

„Wie viel müsste man dir zahlen, damit du Ryan verlässt?“

Schockiert riss sie die Augen auf. Sie musste sich verhört haben. „Wie bitte?“

„Tu nicht so unschuldig. Du bist ein kluges Mädchen. Wie viel würde es kosten, dass du mit Ryan Schluss machst und aus seinem Leben verschwindest?“

„Du bietest mir Geld an? War das die Idee deiner Mutter? Ihr müsst beide verrückt sein. Ich liebe Ryan. Und er liebt mich. Wir werden heiraten.“

Etwas, das wie echtes Bedauern aussah, huschte über Jarrods Gesicht. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, dann fixierte er sie kalt. „Ich hatte gehofft, du würdest problemlos mitmachen. Die Summe, die wir dir anbieten, ist beachtlich.“

Das „wir“ bestätigte Kellys Verdacht, dass tatsächlich Ryans Mutter hinter diesem Auftritt steckte. Sie wollte Jarrod gerade sagen, wohin er und seine Mutter sich scheren konnten, als er einen weiteren Schritt auf sie zu machte. Als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, wich sie hastig zurück.

„Ich denke, du solltest jetzt gehen“, sagte sie, während sie nach dem Telefon griff.

Jarrod sprang übers Bett und schlug ihr den Hörer aus der Hand. Der plötzliche Angriff überraschte sie so sehr, dass sie sich nicht sofort verteidigte – sie konnte es einfach nicht.

Er drängte sie aufs Bett, fasste sie unsanft an, schob ihr Shirt hoch, zerrte an ihrer Hose. Sie versuchte, ihm ein Knie in den Bauch zu stoßen, doch er wich ihr aus und rollte sie unter sich.

Sie schrie auf. Er war grob. Und das tat weh. Sie war wütend und gleichzeitig in Panik. Ganz offensichtlich hatte er vor, sie in Ryans Bett zu vergewaltigen. War er komplett übergeschnappt? Ryan würde ihn dafür umbringen.

Brutal betatschte er sie am ganzen Körper. Ihr wurde klar: Wenn sie es nicht schaffte, ihn abzuwehren, würde er ihr in ihrem eigenen Zuhause Gewalt antun. Also wehrte sie sich mit neuer Kraft.

Schließlich gelang es ihr, ihm einen Schlag zwischen die Beine zu versetzen. Er ließ von ihr ab und presste die Hände auf die Stelle, die sie getroffen hatte. Kelly ließ sich auf den Boden fallen und versuchte verzweifelt, ihre Kleidung zu ordnen.

Dann sprang sie auf, die Hand an der Kehle, die furchtbar schmerzte. „Dafür wird er dich umbringen“, keuchte sie. „Wie konntest du dir nur einbilden, dass du damit durchkommst? Du bist sein Bruder! Du elender Mistkerl.“

Sie hastete zur Tür, weil sie unbedingt zu Ryan wollte. Doch das, was Jarrod sagte, ließ sie innehalten:

„Er wird dir niemals glauben.“

„Du bist wahnsinnig“, stieß sie hervor.

Aber Jarrod hatte recht behalten. Ryan hatte ihr nicht geglaubt. Jarrod hatte seinen Bruder von Ryans Wohnung aus angerufen, bevor sie Ryans Büro erreichen konnte. Er hatte Ryan seine eigene Version des Vorfalls geschildert, und der Clou seiner Story war, dass er Ryan genau voraussagte, was Kelly ihm erzählen würde. Mit dem Unterschied, dass Jarrod behauptete, Kelly habe mit dem Techtelmechtel angefangen. Auf seine Drohung hin, Ryan von ihrer Untreue zu berichten, habe sie sich dann die hübsche Story ausgedacht, dass Jarrod sie angegriffen habe.

Jarrod spielte seine Rolle perfekt. Er gab sich ganz als Opfer von Kellys Lügen und Intrigen. Und als Kelly dann in Ryans Büro erschien und genau die Geschichte erzählte, die Jarrod seinem Bruder vorhergesagt hatte, war Ryan außer sich vor Wut gewesen.

Er hatte ihr diesen verdammten Scheck ausgestellt und sie vor die Tür gesetzt.

Kelly lag in ihrem Bett, ganz benommen von den schmerzlichen Erinnerungen. Hier auf der Insel sollte sie also die Vergangenheit vergessen. Nach vorn schauen und da anknüpfen, wo sie und Ryan aufgehört hatten.

Vergessen, dass sie von den Menschen, denen sie vertraut hatte, schrecklich verraten worden war.

Als Ryan leise an ihre Tür klopfte, schüttelte sie ihre düsteren Gedanken ab. Entsetzt stellte sie fest, dass es schon Morgen war und sie höchstens ein Nickerchen gemacht hatte.

Schnell zog sie ihren Morgenmantel über und ging zur Tür, um zu öffnen.

Ryan war bereits angezogen. Anscheinend hatte er geschäftlich zu tun.

„Ich habe dir das Frühstück auf den Tresen gestellt. Ich muss ein paar Stunden auf die Baustelle. Kommst du allein zurecht?“

Kelly nickte, erleichtert, dass sie sich nicht sofort mit Ryan auseinandersetzen musste. Sie brauchte Zeit, um sich zu fassen.

„Ja, natürlich. Wann bist du zurück?“

Er sah auf seine Uhr. „Jetzt ist es acht. Ich sollte nicht länger als bis zum Mittag brauchen. Wenn du möchtest, können wir im Hotelrestaurant essen und dann einen Spaziergang am Strand machen. Lass es ruhig angehen, während ich weg bin. Ich würde mir Sorgen machen, wenn du allein an den Strand gehst.“

Kelly verdrehte die Augen. „Ich glaube, ich schaffe es noch, das Hotelzimmer allein zu verlassen.“

„Ich weiß. Ich sorge mich einfach und wäre lieber bei dir.“

„Okay, wir sehen uns zum Lunch.“

Er winkte ihr zu und ging. Einen Moment sah sie ihm nach. Dann schloss sie ihre Tür und lehnte sich dagegen.

Tag eins des Versuchs, die Vergangenheit zu vergessen und nach vorn zu schauen.

„Ob du das wohl schaffst?“, murmelte sie auf dem Weg ins Bad.

Sie hatte zwar fest vor, zumindest den Strandabschnitt direkt vor der Terrasse ihrer Suite zu erkunden, aber erst einmal wollte sie ausgiebig baden. Auch wenn sie später nochmals duschen musste, weil sie überall voller Sand war.

Als sie nach einer Weile vorsichtig aus der Wanne stieg, war sie richtig hungrig. Schnell zog sie sich an und legte ein wenig Make-up auf, damit sie sich in der Öffentlichkeit sehen lassen konnte.

Mit großem Appetit verspeiste sie ihr Frühstück, das aus Bagel, Zimtrolle und Obst bestand. Ryan hatte es für sie bereitgestellt, und sie genoss es bis zum letzten Krümel. Es war eine Weile her, dass sie mit Appetit gegessen und es ihr tatsächlich gut geschmeckt hatte.

Nachdem sie auch noch ein ganzes Glas Saft getrunken hatte, machte sie sich auf die Suche nach einem Handtuch, das sie am Strand ausbreiten konnte.

Am Hotelstrand standen Sonnenschirme für die Gäste bereit, und sie wollte unter einem davon auf Ryans Rückkehr warten.

Nachdem sie monatelang jeden Tag viele Stunden auf den Beinen gewesen war, um in einem undankbaren Job einen armseligen Lohn zu verdienen, fand sie einen faulen Strandtag schon fast dekadent. Sie wollte jede Minute genießen.

Die Sandaletten zog sie gar nicht erst an, denn sie wollte ja nicht weit gehen. Der warme Sand unter ihren nackten Füßen fühlte sich herrlich an. Zufrieden seufzend machte sie sich auf den Weg zu einem der Sonnenschirme in der Nähe.

Das Meeresrauschen klang wie Musik in ihren Ohren, so friedlich. Das hier war ein Ort, an dem sie ihre schmerzliche Vergangenheit vergessen konnte. Ein Ort, um zu genesen. Urlaub für die Seele.

Das hörte sich ein bisschen kitschig an, aber es gefiel ihr, und sie machte es kurzerhand zum Motto ihrer Reise.

Autor

Maya Banks
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