Baccara Gold Band 6

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ZUERST WAR ES NUR BEGEHREN von NAOMI HORTON
Nach einer enttäuschenden Ehe lernt Brenda den attraktiven, aufrichtigen John kennen, der sie jede Nacht mit sinnlichen Zärtlichkeiten verwöhnt. Brenda ahnt nicht, dass er eigentlich nur herausfinden will, ob sie etwas mit den kriminellen Machenschaften ihres Ex-Mannes zu tun hat …

FESTIVAL DER LEIDENSCHAFT von AMY J. FETZER
Still und unerkannt wohnt Lane in South Carolina - bis Tyler auftaucht und ihre Gefühle, ihr Leben, einfach alles durcheinanderwirbelt! Der charmante Geschäftsmann mit den blauen Augen überredet sie sogar, ein Festival zu besuchen - dabei muss sie die Öffentlichkeit um jeden Preis meiden!

SPIEL NICHT MIT DEM FEUER von DONNA STERLING
Eine heiße Nacht in Florida mit Dr. Jack Forrester - was für eine verlockende Vorstellung für Callie! Aber sie ist nun mal die Ermittlerin und er der Verdächtige. Bevor sie ihrem verzehrenden Verlangen nach Liebe nachgibt, muss sie es unbedingt schaffen, Jacks Unschuld zu beweisen …


  • Erscheinungstag 28.09.2018
  • Bandnummer 0006
  • ISBN / Artikelnummer 9783733724702
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Naomi Horton, Amy J. Fetzer, Donna Sterling

BACCARA GOLD BAND 6

1. KAPITEL

„Aber Wyman ist … ein Lügner! Er hat uns von Anfang an bewusst angelogen“, rief Brenda Sinclair ungehalten. Sie saß an ihrem Schreibtisch im Baustellenbüro und warf dem älteren Mann, der ihr gegenüber saß, einen vorwurfsvollen Blick zu. „Bill, du weißt doch, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn mich jemand anlügt.“

„Verdammt noch mal, Brenda, sei doch vernünftig“, erwiderte Bill Taft heftig, ohne seinen Ärger zu verbergen. Als Brendas Vorarbeiter konnte er sich das erlauben. „Okay, der Mann hat uns angelogen. Das ist wahr. Aber er ist unser bester Schreiner. Du weißt ja, dass wir mit dem Projekt bereits in Verzug sind, weil wir nicht genug Leute haben. Wir können es uns nicht leisten, einen einzigen Mann zu verlieren, und schon gar nicht jemanden wie Wyman.“

„Wyman wird gefeuert.“ Brendas Stimme klang ungewohnt hart. „Ich möchte, dass er noch heute die Werkstatt verlässt“, fügte sie hinzu.

„Aber …“

„Kein Aber, Bill. Meine Entscheidung ist endgültig. Selbst wenn Wyman der einzige Schreiner in ganz Oregon wäre, wir arbeiten nicht länger mit einem Lügner zusammen.“

Brenda hielt Bills wütendem Blick stand und redete weiter. „Hätte er mir von vornherein die Wahrheit eingestanden und gesagt, dass er im Gefängnis war, wäre alles okay gewesen. Aber stattdessen erzählt er uns diese Geschichte, dass er die letzten drei Jahre in England bei Landhausprojekten mitgearbeitet hätte.“ Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Plötzlich fühlte sie den Ärger wegen einer ganz anderen Sache, die sie persönlich betraf, wieder in sich aufsteigen. „Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Lügen“, erklärte sie noch einmal.

„Mit dieser Entscheidung könntest du das ganze Projekt gefährden“, redete Bill ihr ins Gewissen. „Wir sind noch nicht so lange im Geschäft. Es ist das erste größere Projekt für uns, und das muss reibungslos abgewickelt werden, verstehst du?“

Past Time Restorations ist meine Firma. Ich entscheide hier, wer für uns arbeitet und wer nicht. Frank Wyman gehört nicht länger zum Personal. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Bill warf Brenda einen verständnislosen Blick zu und stand auf. „Ich werde ihm sagen, dass er seine Sachen packen soll“, meinte er scheinbar ruhig, aber die Verärgerung war ihm deutlich anzusehen.

Brenda schluckte. „Ich weiß, dass du mich in diesem Punkt für überspannt hältst, und vielleicht bin ich das auch. Aber siehst du, ich bin mein ganzes Leben lang angelogen worden. Deshalb kann ich jetzt keine Lügen mehr ertragen.“

Bill runzelte die Stirn und schaute Brenda erneut an. „Weißt du, vor einem halben Jahr, als du es erfahren hast, konnte ich deine Reaktion verstehen. Aber wie lange willst du ihnen noch Vorhaltungen machen? Vielleicht hätten deine Eltern es dir früher sagen sollen …“

„Sie sind nicht meine Eltern“, unterbrach Brenda ihn kühl. „Ich möchte die Sache nicht weiter diskutieren. Es ist einzig und allein meine Angelegenheit und geht dich nichts an.“

„Zum Teufel, Brenda.“ Bill holte Luft, bevor er weitersprach. „Es geht mich schon etwas an, wenn ich sehe, wie du dich selber quälst. Marge und ich, wir kennen dich schon seit deiner Kindheit. Du könntest unsere Tochter sein.“

„Bill, bitte!“

„Was hätten sie denn machen sollen, Brenda? Welche andere Wahl hätte Marilyn gehabt?“

„Du meinst, außer einer Abtreibung? Nun, sie hätte mich selbst großziehen können.“ Fast versagte Brenda die Stimme. Sie konnte nur mit Mühe weiterreden. „Sie hätte mich nicht ihrer Schwester überlassen sollen wie einen Wanderpokal.“

„Marilyn war damals gerade sechzehn Jahre alt“, erinnerte Bill sie. „Du hattest doch Glück, dass deine Tante und dein Onkel dich adoptierten. Sonst wärest du zu vollkommen fremden Leuten gekommen. Sieh doch endlich ein, dass Evelyn und Tom Pattison alles für dich getan haben, auch wenn sie nicht deine leiblichen Eltern sind.“

„Aber das ist ja gerade das Problem. Sie sind nicht meine Eltern. Meine Eltern sind tot, zumindest meine Mutter ist es“, beharrte Brenda.

Bill erwiderte nichts darauf, damit sie sich nicht noch weiter in die Sache hineinsteigerte. Er ging zur Tür. „Wirst du die Arbeitsvermittlung wegen eines neuen Schreiners anrufen?“, fragte er im Hinausgehen.

„Ja, das erledige ich.“

„Gut“, sagte er kurz angebunden, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Bill ist ganz schön wütend auf mich, dachte Brenda. Sie stieß einen Seufzer aus und wandte sich der großen Zeichnung zu, die entrollt auf ihrem Schreibtisch lag.

An verschiedenen Stellen hatte sich Brenda darauf Notizen gemacht, Absprachen und Kalkulationen hastig notiert. Manche Punkte waren mit einem Kreis markiert. Einige Maßangaben waren durchgestrichen und mit Rotstift durch neue ersetzt worden. Und schließlich hatten auch etliche Kaffeetassen ihre Ringe auf dem Papierrand hinterlassen.

Für einen Außenstehenden war es ein heilloses Durcheinander, aber Brendas geschultes Auge wusste damit umzugehen und alles Ungültige zu ignorieren. Sie betrachtete die Zeichnung fast liebevoll. Die eine oder andere Sache ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen. Nach einer Weile nickte sie zufrieden.

Wenn Brian Renfrews Restaurant fertig wäre, würde es ein Prunkstück viktorianischer Eleganz sein. Mr. Renfrew liebte diese Architektur und wollte an nichts sparen.

Er legte größten Wert auf stilechte Details, angefangen bei den geschwungenen Sprossen der bleiverglasten Fenster bis zu den reich verzierten Eichentüren. So führte zum Beispiel eine Wendeltreppe mit hundertachtzehn handgedrechselten Spindeln hinauf in den ersten Stock, wo sich noch drei kleinere exklusive Speisezimmer für besondere Gäste befanden.

Das alles kostete nicht nur viel Geld, sondern auch viel Zeit. Und gerade die Zeit drohte knapp zu werden.

Brenda warf einen kritischen Blick auf den Terminplan, der rechts von ihr an der Wand hing. Sie waren bereits drei Wochen in Verzug. Dass Wyman jetzt ausfiel, machte die Sache nicht gerade leichter.

Es gibt eben Situationen, da kann man keine Kompromisse schließen, ermahnte sich Brenda. Die Wahrheit ist immer das wichtigste. Wo käme man hin, wenn man dieses Prinzip missachtete?

Brenda musste sich dazu zwingen, nicht weiter über das Thema nachzudenken. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das rhythmische Hämmern, das aus dem Keller kam.

Wenn sie genauer hinhörte, war die Geräuschkulisse vielfältig. Irgendwo kreischte eine Kreissäge. Etwas knallte auf den Boden, offenbar ein Stapel Bretter, und gleich darauf fluchte ein Handwerker laut.

All das hatte etwas Vertrautes und Befriedigendes für Brenda. Sie fühlte, wie die Arbeit voranging, wie ihre Entwürfe Gestalt annahmen, und wurde wieder zuversichtlicher. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie zu wenige Leute hatten, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie beträchtlich hinter dem Zeitplan herhinkten. Sie würden schon damit fertig werden. Es würde sicher Ersatz für Wyman geben.

Wir haben es immer noch geschafft, sagte sich Brenda.

Die schwere Maschine reagierte mit einem satten Brummton, als John Garrison in die Kurve ging. Mit der Eleganz eines Raubvogels glitt das Motorrad durch die einsame Berggegend.

John hatte seinen Helm abgenommen, um den Wind in seinem Haar zu spüren. Er wusste, dass er leichtsinnig handelte. Die Polizei würde ihm eine Verwarnung verpassen, wenn sie ihn dabei erwischte. Und, was weit schlimmer war, er könnte sich im Falle eines Sturzes eine lebensgefährliche Kopfverletzung zuziehen. Aber John ging das Risiko ein, um dieses herrliche Gefühl der Freiheit voll auszukosten.

Seit Monaten schon hatte er kein Motorrad mehr gefahren, und es tat gut, wieder einmal im Sattel zu sitzen. Er fühlte sich frei und unbeschwert. Es gab nur ihn, die schmale kurvige Straße und den weiten Horizont.

Das Motorrad war gemietet. Johns eigenes stand noch in Fort Worth, aber das machte ihm nichts aus. Worauf es ankam, war das Gefühl grenzenloser Freiheit. Darüber konnte er leicht alles andere vergessen.

Für eine kleine Weile war er versucht, einfach immer weiter südwärts zu fahren. Niemand würde ihn vermissen, mit Ausnahme von O’Dell vielleicht. Aber auch der würde früher oder später einen Ersatzmann für ihn finden.

Er, John Garrison, könnte einfach verschwinden und irgendwo ein neues Leben beginnen. Ein Leben, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Es würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten unterzutauchen. Er arbeitete schon zehn Jahre lang als Geheimagent. Das bedeutete, alle möglichen Rollen zu spielen, immer wieder die verschiedensten Identitäten anzunehmen und ständig auf der Hut zu sein.

In der letzten Zeit war es ihm allerdings zunehmend schwerer gefallen, so zu leben. John wusste kaum noch, wer er selbst war. Er hatte das ewige Lügen und Versteckspielen satt, auch wenn es Recht und Ordnung diente.

Warum sollte er seinen Job nicht aufgeben und noch einmal von vorn beginnen? Ein normales Leben leben mit einer Frau und ein oder zwei Kindern in einem hübschen Vorstadthäuschen. Samstags würde er den Rasen mähen und mit seinem Sohn auf den Fußballplatz gehen. Es wäre ein Leben erfüllt von der Liebe und Geborgenheit einer Familie. Und auch die Nächte wären nicht mehr so einsam.

Ohne es zu wollen, musste John an Brenda Sinclair denken. Gestern Abend hatte er ihr Foto wohl ein halbes Dutzend Mal in den Händen gehalten und diese smaragdgrünen Augen betrachtet.

Es ist ein Job wie jeder andere auch, hatte er sich immer wieder gesagt und das Foto in die Akte zurückgelegt. Aber schon nach ein paar Minuten hatte er es wieder herausgenommen. Die Augen dieser Frau und das sanfte Lächeln, das ihre Lippen umspielte, übten eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn aus.

Vergangene Nacht hatte John sogar von Brenda Sinclair geträumt. Er hatte sie im Traum geliebt. Als er wieder aufwachte, war er völlig orientierungslos. Erst nach ein paar Minuten wusste er wieder, dass er sich in einem Motelzimmer befand. Für den Rest der Nacht hatte er sich unendlich einsam gefühlt und …

„Verdammt noch mal. Das ist ja nicht zu fassen.“ Brenda starrte ungläubig in den Kofferraum ihres Wagens. Die Vertiefung, in der normalerweise das Reserverad saß, war leer. Noch gestern hatte sie das Rad dort gesehen, ja, sie hatte es sogar beim Auspacken von Kartons mit der Hand berührt. Und jetzt war es einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Ein zweites Mal sah sie sich den linken Hinterreifen ihres Wagens an. Er war natürlich noch genauso platt wie vor einigen Minuten, als sie die Panne entdeckt hatte. Es ist zum Verrücktwerden, ging es Brenda durch den Kopf. Sie war irgendwo in der Wildnis mit einem platten Reifen gestrandet.

Für die Verabredung, die sie mit einem Interessenten am Telefon getroffen hatte, war sie sowieso schon zu spät. Vorausgesetzt, dass die angegebene Adresse stimmte.

Eines stand für Brenda fest: In der Nähe gab es weder ein Telefon, noch war ein Reserverad aufzutreiben.

Sie überlegte, was sie machen sollte, und schaute sich in der Gegend um. Sie hatte keine Vorstellung; wo sie sich eigentlich befand. Die schmale Straße führte in die Berge hinauf. Brenda war einfach der etwas vagen Beschreibung, die sie am Telefon bekommen hatte, gefolgt. Angeblich sollte hier irgendwo ein weißes Haus stehen, von der Straße aus gut sichtbar. Aber die Straße war in dieser Höhe von dichtem Kiefernwald gesäumt.

Außer dem heulenden Wind in den Baumkronen herrschte Stille. Es war schon später Nachmittag. Bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen. Die Szene hatte etwas Unheimliches.

Plötzlich raschelte etwas im hohen Gras am Straßenrand. Brenda fuhr zusammen. Dann war es wieder ganz ruhig. Nur von weiter Ferne konnte man das Dröhnen eines Motorrads vernehmen.

Brenda warf noch einen letzten verzweifelten Blick auf den platten Reifen und ging leise fluchend wieder zurück an den Kofferraum.

Vom Hinschauen würde der Reifen auch nicht wieder ganz werden. Und es hatte auch keinen Zweck, darauf zu warten, bis jemand vorbeikam. Seit Brenda vor einer Stunde die Abzweigung von der Hauptstraße in die Berge genommen hatte, war ihr nicht ein einziges Fahrzeug begegnet.

Falls doch jemand hier oben wohnen sollte, machte er es nicht gerade publik. Man konnte weder Häuser noch Briefkästen von der Straße aus sehen. Noch nicht einmal ein Schild Privatgrundstück – Betreten verboten! stand am Straßenrand.

Brenda überlegte, ob Bill sie vielleicht suchen würde. Aber da sie ihm nur hinterlassen hatte, dass sie zu einem Interessenten fahren wollte, kam das nicht in Frage. Er würde ganz sicher annehmen, dass sie nach ihrem Besuch direkt nach Hause gefahren wäre.

„Also bin ich ganz allein auf mich gestellt“, murmelte sie vor sich hin und schloss missmutig den Kofferraumdeckel.

Sollte sie die Straße weiter bergauf gehen, in der Hoffnung, irgendwann auf das Haus zu stoßen, oder sollte sie zur Hauptstraße zurückkehren?

Es war ein höchst unbehaglicher Gedanke, allein durch den dichten Wald wandern zu müssen. Erst recht, wenn es bald dunkel wäre. Vielleicht sollte sie lieber über Nacht im Wagen bleiben und sich erst bei Tageslicht auf den Weg machen.

Mit einem Mal schien das Motorradgeräusch näher zu kommen. Sie wusste nicht, ob sie froh sein sollte.

Ehe sie noch darüber nachdenken konnte, kam die schwere Maschine schon um die Kurve. Der winzige schwarze Punkt wuchs mit atemberaubender Geschwindigkeit. Jetzt sah Brenda den verchromten Lenker in der untergehenden Sonne blitzen. Der große Scheinwerfer glich dem Auge eines Zyklopen.

Wie gebannt starrte Brenda auf das dröhnende Ungetüm. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, es würde geradewegs auf sie zurasen.

Schon wollte sie sich am Waldrand in Sicherheit bringen, da schlug der Fahrer einen Bogen um sie und ihren Wagen. Sie spürte den Windzug, den das Motorrad verursachte, auf ihrer Wange, da war es auch schon vorüber.

Brenda legte die Hand über die Augen und schaute dem davonfahrenden Ungetüm blinzelnd nach. Die Maschine wurde langsamer. Brenda sah, dass der Fahrer wendete. Mit wesentlich verlangsamtem Tempo kam er wieder auf sie zu. Als er nah genug war, musterte er sie und ihren Wagen. Dann brachte er die Maschine zum Stehen.

Brenda versuchte, sich schnell einen ersten Eindruck von dem Fahrer zu verschaffen. Er war groß und kräftig mit sonnengebräunten muskulösen Oberarmen unter dem knappen T-Shirt. Entgegen den Vorschriften trug er keinen Helm, sodass sein schwarzes Haar vom Wind zerzaust war.

Offensichtlich war er auf Reisen, denn das Motorrad war mit Taschen und einem Schlafsack bepackt. Zuoberst lag eine schwere Lederjacke.

Was Brenda enorm störte, war die schwarze Spiegelbrille, die die Augen des Fahrers verdeckte. Das hatte etwas Bedrohliches an sich.

Ich muss ihn unbedingt loswerden, ging es Brenda durch den Kopf. Er darf nicht wissen, dass ich hier allein und vollkommen hilflos bin.

Während sie fieberhaft nachdachte, war es ganz still. Nur das Auspuffrohr des Motorrads gab beim Abkühlen seltsame Knacklaute von sich. Brendas Spannung wuchs.

„Ist etwas mit dem Wagen?“, fragte der Fahrer lässig. Seine Stimme klang tief und sexy, ganz so, wie es Brenda erwartet hatte.

„Eigentlich nicht. Ich, ich meine …“

Er nickte bedächtig und betrachtete die langen Schatten der hohen Kiefern. „Es ist ziemlich einsam hier oben. Eine Frau, die allein fährt, sollte hier nicht länger als notwendig anhalten.“

Brenda holte tief Luft. Wenn er doch nur die verdammte Spiegelbrille abnehmen würde. Alles, was sie in dem dunklen Glas sehen konnte, war ihr eigenes verstörtes Gesicht.

Sie riss sich zusammen und schaute den Motorradfahrer so energisch wie möglich an. „Ich bin nicht allein. Wir haben nur angehalten, um etwas auf der Straßenkarte nachzusehen. Und mein Beifahrer, ich, ich meine, mein Mann ist ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten.“

Brenda fand es schrecklich, dass sie log. Dabei hatte sie sich doch geschworen, immer nur die Wahrheit zu sagen.

„Versteht Ihr Mann denn etwas von Autos?“, fragte der Fahrer, wobei er das Wort „Mann“ extra betonte.

Brenda gab sich alle Mühe, ihn weiterhin unerschrocken anzusehen, aber sie hatte ein komisches Gefühl dabei. Sie wusste, dass er sie im Schutz der Spiegelbrille ungehindert beobachten konnte, während sie sich seinen Blicken gnadenlos ausgeliefert fühlte. Es war einfach nicht fair.

Als ob er Brendas Gedanken erraten hätte, nahm der Fahrer die Brille ab und steckte sie in den Ausschnitt seines T-Shirts. „Ich sage das nur, weil Ihr Reifen ziemlich platt aussieht.“

Seine Stimme klang jetzt beruhigend, fast sanft. Aber es war nicht die Stimme, sondern seine Augen, die Brenda faszinierten. Zum ersten Mal konnte sie die Augen des Mannes sehen. Sie waren von einem tiefen intensiven Blau so wie ein stiller Bergsee. Augen, in denen man ertrinken kann, wenn man nicht Acht gibt, schoss es ihr durch den Kopf.

„Sie wissen doch, was Reifen sind, Lady?“

Sie war immer noch nicht fähig, ihm etwas zu erwidern.

„Reifen, diese runden Dinger, die unter dem Auto sind“, meinte er.

Der Fahrer schaute Brenda lächelnd an. Sie erkannte erleichtert, dass es ein warmes humorvolles Lächeln war und er sich nicht über sie lustig machte.

Dennoch fühlte Brenda, wie sie errötete. Das war ihr schon jahrelang nicht mehr passiert. Mit einem Mal wurde ihr die Komik der Situation klar. Der Motorradfahrer hatte sie sicher längst durchschaut.

Brenda deutete lachend mit dem Fuß auf den defekten Reifen. „Ich glaube, platter wird er nicht.“

Er stimmte in ihr Lachen ein, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mir die Sache mal näher anschaue?“

„Natürlich nicht. Aber ich glaube, Sie können da auch nichts machen.“

Brendas Argwohn war verflogen, nachdem sie ihm in die Augen gesehen hatte. Der Fremde hatte einen offenen, ehrlichen Blick, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte.

Der Mann stieg vom Motorrad. „Ich will mir nur den Reifen ansehen. Sie können sich in den Wagen setzen und die Türen verriegeln, wenn Sie sich dort sicherer fühlen.“

Brenda errötete zum zweiten Mal. „Es liegt nicht an Ihnen. Die Gegend ist nur so furchtbar einsam.“ Fröstelnd schaute sie sich um. Die Dämmerung war hereingebrochen. Der Wald wirkte finster und bedrohlich.

„Ich verstehe. Das hier ist auch nicht gerade eine schöne Gegend, um einen Platten zu bekommen. Aber den Reifen wird Ihr Mann sicher schnell wechseln können.“

„Ich bin doch allein hier“, gestand Brenda verlegen.

Der Motorradfahrer lächelte. „Ja, das ist mir schon länger klar. Sie sind eine sehr schlechte Lügnerin.“

Brenda war das Ganze furchtbar peinlich. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie belogen habe.“

„Sie haben es schon richtig gemacht. Wenn Sie hier in der Einsamkeit auf einen miesen Typen stoßen, könnte es unangenehm für Sie werden.“

Sie nickte. „Das kann man wohl sagen.“

„Aber Sie haben Mut bewiesen, Lady. Können Sie vielleicht Judo oder so was Ähnliches?“

„Ich habe mal einen Kung-Fu-Film gesehen“, antwortete Brenda mit einem schüchternen Lachen.

„Heißt das, ich muss mich gut benehmen?“, fragte der Motorradfahrer und grinste wie ein Schuljunge.

„Genau das heißt es.“

Jedes Mal, wenn er sie ansah, spürte Brenda, dass ihr Herz schneller schlug. Diese unglaublich blauen Augen hatten eine Botschaft für sie. Eine Botschaft, die auf der ganzen Welt verstanden wird. Interesse oder erotische Ausstrahlung, wie immer man es nennen will.

Zu allen Zeiten haben Männer und Frauen diese Botschaft ausgetauscht. Zunächst ist es nicht mehr als eine gegenseitige Versicherung, dass man in dem anderen den Mann, die Frau erkannt hat. Dass da ein Funke glimmt, der sich entzünden könnte, wenn die Situation günstig wäre.

Brenda hatte genügend Erfahrung mit Männern, um die Botschaft zu verstehen. Sie hatte es auch schon das eine oder andere Mal zugelassen, dass der Funke sich entzündete. Und wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es wieder passieren könnte.

Du liebe Güte, deine Fantasie geht mit dir durch, Brenda Sinclair, schalt sie sich. Diese einsame Straße war kaum der richtige Ort für einen Flirt – genauso wenig wie dieser Easy Rider-Typ auf seinem Motorrad der richtige Mann dafür war.

Die tiefe Stimme des Fremden riss Brenda aus ihren Gedanken. „Es sieht gar nicht so schlecht aus. Geben Sie mir Ihren Wagenschlüssel, damit ich das Reserverad holen kann. In zehn Minuten ist Ihr Wagen wieder flott.“

„Es gibt noch ein kleines Problem“, gestand Brenda und schluckte. „Ich habe kein Reserverad.“

Der Motorradfahrer enthielt sich jeden Kommentars, aber sein Blick sprach Bände.

„Ich weiß, dass so etwas nicht passieren darf“, verteidigte sie sich eifrig. „Aber ich schwöre Ihnen, gestern war das Rad noch da. Ich hatte Kartons mit Spezialschrauben im Wagen, und ein paar dieser Dinger sind mir unter das Reserverad gerollt, weil ein Karton undicht war. Glauben Sie mir …“ Während Brenda redete, wurde ihr bewusst, dass sie sich wie ein Schulmädchen herausredete. Sie brach mitten im Satz ab. „Das interessiert Sie sicher alles nicht“, sagte sie dann so gelassen, wie sie es vermochte. „Auf jeden Fall sehen Sie jetzt, dass die Sache nicht so einfach ist.“

Im Gegenteil, die Sache ist außerordentlich einfach, dachte John im Stillen. Alles verlief genau nach Plan. Brenda Sinclair hatte sich auf einen Anruf hin in diese verlassene Gegend locken lassen. Er hatte in der Nacht zuvor ihr Reserverad aus dem Wagen genommen und auch dafür gesorgt, dass sie einen Platten bekam. Dennoch war John mit dem Ergebnis aus einem unerfindlichen Grund nicht so zufrieden, wie er es hätte sein sollen.

Vielleicht hatte die Frau es ihm zu leicht gemacht. Sie war so nett und anständig, dass sie kein Gegner für ihn war. Man brauchte nur in ihre smaragdgrünen Augen zu sehen, um zu erkennen, dass ihre und seine Welt himmelweit voneinander entfernt waren.

Jetzt kam er sich richtig gemein vor, und ohne es zu wollen, fluchte er leise. Brenda musste den Eindruck bekommen, es sei ihretwegen. Als John bemerkte, wie sie zusammenzuckte, riss er sich zusammen. „So etwas kann jedem passieren“, meinte er versöhnlich.

Erleichtert atmete Brenda auf. „Ja, aber trotzdem verstehe ich nicht, wie so ein Rad von einem auf den anderen Tag verschwinden kann.“

Die Lady ist doch kritischer, als ich dachte, sagte sich John. Hoffentlich schöpft sie keinen Verdacht. Ich muss sie ablenken. „Es passieren die verrücktesten Dinge im Leben. Ein Reserverad, das sich in Luft auflöst, ist noch relativ harmlos.“

Brenda nickte, aber die Sache ging ihr nicht aus dem Kopf. „Vielleicht hat sich einer meiner Männer das Rad ausgeliehen und vergessen, mir Bescheid zu sagen.“

„Einer Ihrer Männer? Das klingt gefährlich.“

„Ich meine die Handwerker, die ich in meiner Firma beschäftige.“ Brenda sah ihn schelmisch von der Seite an. „Ich wusste gar nicht, dass Motorradfahrer so leicht einzuschüchtern sind.“

John musste lachen. „Nur wenn es um die Ehemänner oder Freunde von hübschen Frauen geht.“ Er warf Brenda einen prüfenden Blick zu. „Der Ehemann, den Sie erwähnten, existiert gar nicht, nicht wahr?“

„Hat die Tatsache, ob ich verheiratet bin oder nicht, etwas damit zu tun, ob Sie mir Pannenhilfe leisten?“

„Natürlich nicht, aber davon hängt ab, ob ich Sie zum Abendessen einlade, wenn ich Sie nach Hause gebracht habe.“

Zunächst war Brenda sprachlos, wie John es erwartet hatte. Aber sie fing sich überraschend schnell. „Sie wollen mich nach Hause bringen? Wie kommen Sie denn auf die Idee?“

„Ich empfehle es wärmstens, Lady. Es ist kein anderer Retter in Sicht, und Sie müssen wohl oder übel mit mir vorlieb nehmen.“

„Hat der Retter auch einen Namen?“, fragte Brenda.

Mit einem charmanten Lächeln streckte er ihr die Hand entgegen. „Gestatten: John Garrison. Zu Ihren Diensten.“

John war froh, dass er bei diesem Auftrag keinen Decknamen benutzen musste. Mit dem eigenen Namen war die Sache nicht ganz so kompliziert. Eine Seltenheit in seinem Job.

„Brenda Sinclair.“ Ihre Stimme kam John jetzt sehr selbstbewusst vor, und ihr Händedruck war erstaunlich fest. „Wie Sie schon sagten, Sie sind der einzig verfügbare edle Ritter weit und breit. Ich hoffe, ich kann Sie überreden, dass Sie an der ersten Telefonzelle anhalten und den Pannendienst benachrichtigen.“

„Nein, das ist keine gute Idee. Es kann Stunden dauern, bis die Sie hier finden.“

„Was schlagen Sie vor?“

„Ich schlage gar nichts vor. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben.“ Er nahm den Helm, der über dem Motorradlenker hing, und hielt ihn ihr hin. „Sie setzen jetzt dieses Ding auf und steigen auf mein Motorrad. Ich fahre Sie nach Hause.“

„Nein“, das ist nicht nötig. Es macht mir wirklich nichts aus, auf den Pannendienst zu warten.“

Brendas Stimme klang sehr entschlossen. John befürchtete schon, es würde auf eine längere Diskussion hinauslaufen.

Er schüttelte heftig, den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Es ist nicht meine Art, eine Frau allein zu lassen, wenn es gefährlich werden könnte.“

Brenda stand vor ihm und schaute ihn mit ihren großen grünen Augen nachdenklich an. Ihr seidiges blondes Haar flatterte im Wind.

Sie sah jetzt genauso aus wie auf dem Foto, das John so fasziniert hatte. Er hatte das dringende Verlangen, seinen Arm um sie zu legen, ihr übers Haar zu streichen und sie zu küssen. Aber er wusste, dass er es nicht tun durfte. Er hatte einen Auftrag auszuführen. Wie er seinen Job in diesem Moment hasste. Am liebsten hätte er ihr auf der Stelle alles gestanden. Vielleicht würde sie ihm verzeihen und … Er verdrängte die Bilder des Traumes, in dem er sie geliebt hatte.

„Sie müssten meinetwegen einen Umweg machen. Ich wohne in Newport, das liegt nördlich von hier, und Sie sind in Richtung Süden gefahren.“

John war froh, dass Brendas Worte ihn in die Wirklichkeit zurückholten. Er riss sich zusammen und spielte seine Rolle weiter. „Das macht mir nichts aus. Wissen Sie, ich habe nämlich kein festes Ziel. Ich bin auf der Suche nach Arbeit, und da ist es ziemlich egal, ob man ein paar Kilometer mehr nach Süden oder nach Norden fährt.“

Brenda schien immer noch nicht ganz überzeugt zu sein. „Aber …“

„Sind Sie eigentlich immer so hartnäckig?“, unterbrach er sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er die Lederjacke von seinem Gepäck und legte sie ihr über die Schultern. „Meinen Sie nicht, dass Sie es mittlerweile gemerkt hätten, wenn ich Sie belästigen wollte? Mein einziger Hintergedanke ist, Sie vielleicht auf einen Hamburger und ein Bier einzuladen, wenn wir wieder in die Zivilisation zurückkehren.“

Er blickte Brenda eindringlich an. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin jetzt seit drei Wochen mit dem Motorrad unterwegs. Und wenn eine hübsche Frau wie Sie mir ihre Gesellschaft und ein warmes Bett für eine Nacht anbietet, sage ich bestimmt nicht nein. Aber ich hoffe, dass ich nicht so aussehe, als müsste ich mir etwas mit Gewalt nehmen.“

Brenda war von seiner Offenheit beeindruckt. Sie fürchtete fast, noch einmal zu erröten. „Okay, okay, Mr. Garrison, ich habe Sie schon verstanden“, antwortete sie, ohne noch weiter zu zögern, und schlüpfte in die schwere Lederjacke. „Also, worauf warten wir noch?“

2. KAPITEL

Es war schon dunkel, als John und Brenda den Highway erreichten. Im Lichttunnel des Scheinwerfers glitt das Motorrad mit den beiden durch die Nacht, und das Dröhnen des Motors hallte laut von den Bergen wider.

John lenkte die schwere Maschine mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit. Mühelos erklomm sie die Steigungen, ratterte durch die Senken und nahm die Kurven im sanften Bogen.

Im Windschatten von Johns breitem Rücken fühlte sich Brenda herrlich geborgen. Sie spürte die Wärme und atmete den seltsam herben Geruch von Leder und Motoröl ein. Brenda hatte das Gefühl, auf einem Riesenvogel zu reiten. Der hämmernde Rhythmus des Motors übertrug sich auf sie. Das Motorrad, das endlose silberne Band der Straße, sie und John schienen miteinander zu verschmelzen.

Wenn es nach Brenda gegangen wäre, hätte diese Fahrt durch die Nacht nicht so bald zu enden brauchen. Viel zu schnell erreichten sie ihr kleines Holzhaus in einem Vorort von Newport.

John brachte die Maschine zum Stehen und stellte den Motor ab. Sogleich hüllte sie eine ungewohnte Stille ein. Brenda hatte sich während der Fahrt dicht an Johns Rücken geschmiegt und wäre beinah eingeschlafen. Leicht benommen richtete sie sich auf.

„Sind Sie noch da, Lady?“ John tastete mit der Hand nach ihr.

Er bekam nur ein leises „Hm“ zur Antwort.

Dann stieg er von der Maschine ab. Feuchte kalte Luft blies Brenda ins Gesicht. Sie fröstelte. Fürsorglich schlug John ihr den Kragen der Lederjacke hoch und reichte ihr die Hand. „Achtung. Denken Sie an das Auspuffrohr. Es ist rot glühend.“

Vorsichtig stieg Brenda ab. Es war ein seltsames Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Sie atmete die kalte Nachtluft tief ein, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Die Fahrt war ein Erlebnis für sie gewesen. Sie fühlte sich leicht erschöpft, aber glücklich.

Erst nach einer Weile wurde Brenda bewusst, dass John sie nachdenklich anschaute. Es war eine sternenklare Nacht. Sein Gesicht sah in diesem Licht etwas anders aus. Die feinen Fältchen um die Augen traten deutlicher hervor, und sein Blick wirkte eine Spur härter.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll. Eigentlich habe ich immer noch ein schlechtes Gewissen, Sie von Ihrem Kurs abgebracht zu haben.“ Brenda zog die Lederjacke aus, faltete sie zusammen und gab sie ihm.

John warf sie lässig über seine Schulter. „Sie könnten sich revanchieren, indem Sie meine Einladung zu Bier und Hamburger annehmen.“

Nicht, dass dies für Brenda kein verlockendes Angebot gewesen wäre. Sie überlegte, schüttelte dann aber lächelnd den Kopf. „Es ist schon sehr spät.“

„Wie wär’s mit einem Kaffee? Sie könnten mich auf eine Tasse hereinbitten.“

Wieder fiel es Brenda schwer, die Bitte abzuschlagen. „Auch dafür ist es schon zu spät, fürchte ich.“

„Sie haben recht.“ John lächelte sie an, und seine Augen leuchteten im Sternenlicht. „Ich schätze, meine Chancen für ein warmes Bett stehen auch sehr schlecht.“

In diesem, Moment wünschte sich Brenda, eine andere Frau zu sein. Eine unkomplizierte, lebenslustige Frau, die eine Nacht mit einem aufregenden Mann ohne weiteres genießen kann. Aber sie wusste, dass sie nicht der Typ dazu war. „Es tut mir leid“, hauchte sie.

Er nickte und zwang sich, wieder zu lächeln. „Können Sie mir dann bitte ein gutes, billiges Motel empfehlen?“

„Wir haben das ‚Sunset Inn’ ungefähr zwei Kilometer von hier. Ich habe gehört, es ist in Ordnung. Nicht besonders elegant, aber sauber und preiswert“, antwortete Brenda, und zu ihrem eigenen Erstaunen fügte sie hinzu: „Sie könnten aber auch in meinem Wintergarten übernachten.“

John schien sehr erstaunt zu sein.

„Allerdings müssten Sie auf dem Fußboden schlafen. Sie könnten Ihren Schlafsack ausrollen.“

John war noch immer sprachlos. Zum zweiten Mal an diesem Tag verwünschte er seinen Job. Er war das ewige Lügen ja schon lange leid. Aber wenn er in Brendas smaragdgrüne Augen sah, wurde alles noch viel schlimmer. Was hatte diese Frau an sich, dass sie ihn beinahe hypnotisierte?

Nein, er konnte ihre Einladung nicht annehmen. Brenda war in doppelter Hinsicht gefährlich für ihn. Zum einen war er immer versucht, sich ihr zu offenbaren und seinen Auftrag zu vergessen, und zum anderen hatte er von ihr zu intensiv geträumt. Schon wegen dieses Traums durfte er nicht mit ihr in einem Haus nächtigen. Das würde nicht gut gehen.

Er räusperte sich. „Nein, danke, das kann ich nicht annehmen. Ich mache mich jetzt lieber auf den Weg. Wenn man einen Job sucht, muss man früh aufstehen.“

„Ach ja, Sie sagten schon, dass Sie arbeitslos sind. Was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?“

Das hat sie also geschluckt, dachte John erleichtert. „Ich mache mal dies, mal das. Wie es so gerade kommt. In meiner Lage darf man nicht wählerisch sein.“

„Aha, Sie sind also ein Allroundtalent.“

„Nun, so würde ich es auch wieder nicht sagen. Wenn ich die Wahl habe, arbeite ich am liebsten mit Holz.“

„Sie meinen Schreinerarbeiten?“, fragte Brenda ungläubig.

Er nickte. Es klappte besser, als er erwartet hatte. Er dürfte jetzt nicht zu schnell vorpreschen. „Nicht leicht, im Holzbereich einen Job zu bekommen. Als Letztes habe ich in Chicago beim Bau gearbeitet. Aber dann ging es mit der Konjunktur bergab, und ich bin nach Nebraska gegangen. Dort war ich im Straßenbau. Der Job war noch schlimmer. Jetzt versuche ich mein Glück hier an der Küste.“

„Ich kann es nicht glauben“, meinte Brenda lachend. „Das ist heute Ihr Glückstag, John.“

„Wieso? Haben Sie etwas zu zimmern für mich?“

„Das kann man wohl sagen. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie so etwas schon mal gemacht haben. Es sind richtig feine Schreinerarbeiten, geschnitzte Balken, Vertäfelungen, gedrechselte Spindeln und so etwas. Das ist Ihnen sicher kein Begriff.“

Mit gespieltem Gleichmut zuckte John die Schultern. „Ganz so ist es nicht. Mein Vater war Möbelschreiner. Ich ging bei ihm in die Lehre. Aber heutzutage ist die Nachfrage nach handgeschnitzten Sachen gleich Null.“

Brenda ließ ihn kaum ausreden. „Haben Sie eigenes Werkzeug?“

„Das wichtigste schon.“ Er runzelte die Stirn. „Was soll die Fragerei eigentlich?“

„Können Sie morgen Früh bei dieser Adresse sein?“ Brenda hatte ein Kärtchen aus ihrer Handtasche gekramt. „Melden Sie sich bei Bill Taft.“

„Warum so geheimnisvoll? Wie heißt die Firma?“

Past Time Restorations. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir uns heute getroffen haben“, erklärte Brenda gut gelaunt.

„Das Vergnügen war ganz meinerseits. Und nicht nur wegen des Jobs“, versicherte John ihr.

Sie sahen einander für ein paar Augenblicke stumm an. Es schien John das Natürlichste von der Welt zu sein, Brenda in seine Arme zu ziehen und sie zu küssen. Mit aller Kraft musste er gegen das Verlangen ankämpfen.

„Nochmals vielen Dank, Brenda.“

„Ich habe Ihnen zu danken, John.“

„Gute Nacht. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen“, sagte er und stieg auf sein Motorrad. „Wenn es mit dem Job klappt und ich hier bleibe, sehen wir uns vielleicht mal wieder.“

„Darauf können Sie rechnen. Gute Nacht, John.“

Der Motor heulte auf, John gab Gas und fuhr davon, ohne sich noch einmal nach Brenda umzudrehen.

Das wäre also erledigt, dachte er, den Job habe ich. Aber so richtig darüber freuen konnte er sich nicht. Er war vielmehr wütend auf sich.

Verdammt, der Flirt vor der Haustür wäre gar nicht nötig gewesen, dachte er. Die Sache hätte auch so geklappt. John musste sich eingestehen, dass er nicht nur aus beruflichem Pflichtgefühl handelte. Er empfand es als überaus aufregend, mit Brenda zu flirten. Wie ein verliebter Student hatte er mit ihr vor der Haustür gestanden, hatte das uralte Spiel gespielt und die Spannung genossen, ob sie ihn hereinlassen würde. Vielleicht sagte sie schon am ersten Abend Ja?

John wusste, dass er sehr überzeugend sein konnte. Es gehörte zu seinem Beruf. Als Geheimagent hatte er gelernt, wie man das Vertrauen anderer Leute erschleicht. Allerdings hatte er noch nie so weit gehen müssen, seine Ermittlungen bis ins Schlafzimmer einer Frau fortzusetzen.

„Das Beste wäre, wir stecken die Werkstatt an, du kassierst die Versicherungssumme und setzt dich nach Tahiti ab“, bemerkte Bill Taft trocken.

Brenda spielte mit ihrem Zeichenstift. „Vielleicht“, erwiderte sie gelassen. Sie war nicht bei der Sache. Ihre Aufmerksamkeit galt jemand anderem. Durch die offene Tür beobachtete sie einen der Handwerker bei der Arbeit.

Er war so gut gebaut, dass sie nicht den Blick von ihm abwenden konnte. Ein Bild von einem Mann; groß, schlank und kräftig, ohne wuchtig zu wirken. Sein nackter Oberkörper war braun gebrannt und glänzte leicht vor Schweiß. Brenda betrachtete fasziniert das Spiel seiner Muskeln. John Garrison war wirklich einer der attraktivsten Männer, die sie jemals kennen gelernt hatte.

Aber er war auch der klassische Fremde. Trotz seiner Tüchtigkeit und Besonnenheit wirkte er einsam und unnahbar. Er hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Ein Mann, den man akzeptiert, ohne zu viele Fragen zu stellen.

John arbeitete jetzt bereits seit sechs Tagen in der Werkstatt, ohne dass Brenda mehr über ihn erfahren hätte. Sie wusste weder, wo er herkam, noch was für ein Leben er bisher geführt hatte. Er war einfach da. Und sie fühlte jedes Mal ein leichtes Prickeln, wenn sie ihn traf.

Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und schloss die Tür, um sich nicht länger ablenken zu lassen. Dann wandte sie sich Bill zu. „Ich habe dir doch gesagt, dass Renfrew einverstanden ist, wenn wir die Feinarbeiten später fertig machen. Es geht ihm nur darum, dass er das Lokal wie angekündigt am Ersten des Monats eröffnen kann. Schlimmstenfalls müssen wir die letzten Arbeiten nachts vornehmen. Aber im Augenblick sieht es ja so aus, als ob wir Zeit aufholen.“

„Ja, ja, ich weiß“, meinte Bill unbeeindruckt. „Und wenn du zufällig noch ein paar arbeitslose Motorradfahrer aufgabelst, ist unsere Mannschaft fast wieder komplett.“

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass es mir leid tut, Bill“, erwiderte Brenda gereizt. „Ich hätte dich fragen sollen, bevor ich John Garrison einstellte. Aber du musst zugeben, dass er nicht schlecht arbeitet.“

„Er versteht sein Handwerk besser als die meisten anderen, die hier arbeiten“, brummte Bill. „Aber ich finde es nach wie vor komisch, wie du ihn kennen gelernt hast.“

„Ich hatte nun mal einen Platten, Bill. Wenn Garrison nicht vorbeigekommen wäre, würde ich vielleicht immer noch da oben sitzen und auf Hilfe warten.“

„Und nach einer Adresse suchen, die gar nicht existiert. Dieser angebliche Interessent hat sich nicht wieder gemeldet, nicht wahr?“

„Worauf willst du hinaus, Bill?“

„Nichts Besonderes. Aber es ist doch seltsam, dass jemand, der es erst so eilig hat, eine antike Haustür einbauen zu lassen, nichts wieder von sich hören lässt.“

Brenda runzelte unwillig die Stirn. „Du weißt doch, wie reiche Leute sind. Sie wissen nicht, was sie wollen. Erst sind sie Feuer und Flamme für eine Idee, im nächsten Moment überlegen sie sich die Sache wieder.“

„Und wie kommt es, dass dein Reserverad nicht wieder aufgetaucht ist?“

„Hör schon auf damit, Bill. Dafür kann es viele Erklärungen geben. Es kommen eine ganze Menge Leute in die Werkstatt, Lieferanten, Vertreter, Kunden und so weiter. Vielleicht war es aber auch Frank Wyman, der sich dafür rächen wollte, dass ich ihn gefeuert habe. Ich verstehe wirklich nicht, warum du so misstrauisch bist, Bill.“

„Das weißt du genau.“

Sie seufzte ungeduldig. „Er wird nicht mehr hier auftauchen. Darryl Sumner und ich, wir waren nur sechs Monate verheiratet. Er interessiert sich ganz bestimmt nicht mehr für mich.“ Um Bill zu beruhigen, lächelte Brenda jetzt unbekümmert. „Du willst doch nicht etwa sagen, dass Garrison etwas mit ihm zu tun hat?“

Bill ließ sich nicht beirren. „Es geht mir nicht aus dem Kopf, dass Garrison just in dem Moment aufgetaucht ist, als dein Exmann aus dem Gefängnis entlassen wurde. Darryl Sumner hat dich dafür verantwortlich gemacht, dass die Polizei ihn gefasst hat. Er hat damals geschworen, es dir heimzuzahlen.“

Brenda winkte ab. „Das war typisch Darryl. Er hat den Mund so voll genommen, weil sein Ego angekratzt war. Natürlich konnte er es nicht verstehen, dass ich ihn verlassen habe. Die Polizei glaubt jedenfalls nicht, dass ich in Gefahr bin.“

„Aber er hat dir doch Drohbriefe aus dem Gefängnis geschrieben…“

„Ja, damit wollte er mir Angst machen“, gab Brenda zu. Das ist ihm allerdings auch gelungen, fügte sie im Stillen hinzu.

„Auf jeden Fall habe ich ein ungutes Gefühl, dass Sumner auf freiem Fuß ist und dass dieser Garrison für uns arbeitet. Dir scheint der Lackaffe mit seinem Motorrad ja recht gut zu gefallen.“

Eine leichte Röte überzog Brendas Wangen. „Lass ihn in Ruhe. Das Motorrad ist das Einzige, was er hat, Bill.“

„Wenn du mich fragst, kommt er geradewegs aus dem Gefängnis, Brenda. Ich mag seinen hungrigen Blick nicht, ich mag seine ganze Art nicht.“

Das ist ja nicht zum Aushalten, dachte Brenda. Ich muss den alten Stier irgendwie ablenken. „Du redest mit mir wie mit einem Teenager, Bill. Aber ich weiß, was dahinter steckt. Seit Janie diesen gut aussehenden jungen Mann mit dem schicken Motorrad kennt, bist du auf alle Männer, die Motorrad fahren, schlecht zu sprechen. Wie heißt er noch gleich, der Schwarm deiner Tochter? Ted Shipley.“

„Todd. Er heißt Todd. Und es ist kein schickes Motorrad, was er fährt, sondern eine frisierte Selbstmordmaschine.“

„Marge findet ihn aber ganz nett.“

„Meine Frau kann sich auch nicht in einen siebzehnjährigen Jungen hineindenken. Aber ich kann es, weil ich selbst mal einer war. Deshalb will ich nicht, dass meine Tochter mit so einem Typen ausgeht, verstehst du?“, rief Bill aufgebracht.

Brenda musste ein Lachen unterdrücken. Der gute Bill benahm sich so eifersüchtig wie die meisten Väter, wenn ihre Töchter flügge werden.

Das Ablenkungsmanöver war nicht geglückt. „Ich mag nicht, wie er dich ansieht“, beharrte Bill.

„Wer, Todd Shipley?“

„Garrison, natürlich“, knurrte Bill. „Er scheint sich hier ja schon wie zu Hause zu fühlen. Fragt die Leute aus und schnüffelt hier herum.“

Brenda wurde ungeduldig. „Das haben wir nun doch schon hundert Mal besprochen. Er hat das Telefonbuch gesucht, weiter nichts.“

„In deinem Schreibtisch?“

„Das Telefonbuch lag nun mal auf meinem Schreibtisch. Er musste da suchen.“

Bill ließ nicht locker. „Als ich hereinkam, hat er aber in deinen Unterlagen gewühlt.“

Brenda riss der Geduldsfaden. „Lass gut sein. Du kannst Garrison nicht leiden. Damit kann ich leben. Aber er ist einer der besten Schreiner, den ich kenne. Und wir brauchen ihn.“

„Dann soll er also bleiben?“

Sie sah ihren Vorarbeiter fest entschlossen an. „Ja. Und lass ihn bitte in Ruhe.“

„Okay, aber ich werde ein Auge auf ihn haben“, antwortete er mit der ihm eigenen Sturheit und ging.

Vor dem Büro traf er auf John. „Haben Sie nichts anderes zu tun, als hier herumzulungern und zu horchen?“

„Ich muss an den Materialschrank. Brauche neue Schrauben“, erwiderte John gelassen.

„Ich warne Sie, Garrison, versuchen Sie es ja nicht bei Brenda.“

John musterte Bill mit einem verächtlichen Blick. „Spielen Sie sich nicht auf. Das Einzige, was ich versuche, ist Zeit aufzuholen, damit wir fristgerecht fertig werden.“

Bill antwortete nichts darauf. Aber John war nicht entgangen, wie wütend Brendas Vorarbeiter auf ihn war. Ich muss ihn eine Weile kaltstellen, dachte er. Der alte Fuchs ist misstrauisch geworden und könnte alles vermasseln.

Bisher war John noch keinen Schritt weitergekommen. In den vergangenen Tagen hatte er sich bemüht herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen Brenda und ihrem Exmann gab, hatte aber nicht den geringsten Hinweis darauf entdeckt.

Außerdem wurde Brendas Telefon abgehört. Auch das hatte nichts außer der Erkenntnis gebracht, dass sich beinah jeder respektable Junggeselle im Lincoln County mit Brenda Sinclair verabreden wollte.

John hatte mit Interesse und Erleichterung festgestellt, dass sie die meisten Einladungen ablehnte. Einmal war sie allerdings mit einem jungen Bankkaufmann, Cross war sein Name, ausgegangen. Aber sie hatte sich relativ früh von ihm wieder nach Hause bringen lassen und ihn sehr förmlich an ihrer Tür verabschiedet.

Am Mittwochabend hatte Brenda sich mit einem Architekten getroffen. Wenn John daran dachte, wurde er allerdings ziemlich wütend. Mr. Pallenberg war ein eitler Yuppie, der aussah wie aus dem letzten Männermode-Journal entsprungen. Zudem galt er als aufgehender Stern am Architektenhimmel.

Ausgerechnet ihn hatte Brenda vor ihrem Haus zum Abschied geküsst. Für Johns Geschmack etwas zu lange und intensiv. Am liebsten wäre er dazwischengegangen, um dem Knaben eine Lektion zu erteilen. Aber er hatte nicht aus seinem Versteck hervorkommen dürfen.

„Hallo.“

John hätte diese Stimme unter Tausenden erkannt. Er wandte sich um und schaute in Brendas smaragdgrüne Augen. „Hallo. Wollen Sie sich davon überzeugen, dass Ihre neueste Kraft anständig arbeitet?“

Brenda lächelte ihr burschikoses Lächeln, das John so liebte. Er konnte sich keine reizvollere Frau vorstellen als die schlanke, zierliche Brenda mit einem fein geschnittenen Gesicht und den kurzen blonden Locken.

Sie hatte viele Gesichter, und jedes Mal faszinierte sie ihn aufs Neue, ob sie mit einem Kunden über die geeignetste Holzart für ein Fenstersims fachsimpelte oder ob sie, ganz Geschäftsfrau, einem unpünktlichen Lieferanten die Meinung sagte. Im nächsten Moment konnte sie mit ihren Handwerkern auf einem Bretterstapel sitzen, Kaffee trinken und Scherze machen.

„Soweit ich weiß, dürfte das nicht nötig sein. Es hat sich schon, herumgesprochen, dass Sie sehr talentiert sind“, gab Brenda freimütig zu.

„Danke. Es macht Spaß, wenn die Leute gute Arbeit zu schätzen wissen.“

Brenda betrachtete anerkennend die viktorianische Tür, an der John gerade arbeitete. „Das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Ich verstehe nicht, dass ein begabter Schreiner wie Sie arbeitslos ist. Viele Spezialwerkstätten würden sich um Sie reißen.“

„Ich habe es nie darauf angelegt, irgendwo Meister zu werden“, erwiderte John mit einem lässigen Lächeln. „Wenn ein Mann erst mal einen festen Job hat und besser verdient, denkt er daran, ein Haus zu kaufen und sesshaft zu werden. Er sieht die Frauen mit anderen Augen an und kommt auf die gefährlichsten Ideen. Ehe er es sich versieht, ist er dann ein ehrbarer Bürger mit Haus und Familie.“

„Und das wollen Sie sicher niemals werden.“

John fuhr fort, den einsamen Wolf zu spielen. „Mich hat es niemals lange genug an einem Ort gehalten, um überhaupt in Versuchung zu kommen.“

Brenda nickte verständnisvoll. Aber er wusste, dass sie nichts verstand. Wie hätte sie ihn, der das Leben eines Geheimagenten führte, auch verstehen können? Kein Mensch mit einem normalen Leben konnte sich vorstellen, wie es war, immer nur Masken zu tragen und niemals man selbst sein zu dürfen.

Es hatte Frauen in Johns Leben gegeben, mehrere Frauen sogar. Aber eine feste Beziehung war immer an seinem Beruf gescheitert.

Brenda wechselte das Thema. „Es wird wunderschön, nicht wahr?“

„Sie meinen das neue Restaurant?“

„Nein, nicht das Restaurant, sondern das Haus als Ganzes.“

John nickte nur.

„Ich wette, Adam und Mark haben Ihnen erzählt, dass alte Häuser für mich eine Seele haben und dass ich manchmal sogar mit den Häusern spreche.“ Brenda lachte etwas verlegen. „Es stimmt. Manchmal rede ich mit alten Häusern. Ich schwöre Ihnen, dass sie mir sogar hin und wieder antworten.“

John verzog keine Miene. „Das ist schon in Ordnung. Sie können reden, mit wem Sie wollen.“

„Sie machen sich lustig über mich.“

„Ganz und gar nicht. Ich möchte nur wissen, was Ihnen die alten Häuser erzählen.“ John hätte stundenlang mit Brenda einfach nur dastehen und reden können. Sie hat eine wunderbare Ausstrahlung, dachte er. Eben das gewisse Etwas, das eine Frau haben sollte.

„Ihr Barbaren, ihr habt es ja noch gar nicht versucht, mit einem alten Gebäude in Kontakt zu kommen“, verteidigte sie sich, „So ein Haus hat eine eigene Geschichte. Im Laufe der Jahre haben viele Generationen ihr Leben darin verbracht. Es ist ihnen zur Heimat geworden.“

„Aber nicht alle Menschen brauchen eine Heimat.“

„Ich weiß. Es gibt Menschen, die schlagen nirgendwo Wurzeln. Sie lassen sich treiben wie ein ankerloses Schiff. Solche Menschen können auch den Zauber eines alten Hauses nicht ermessen.“ Plötzlich brach Brenda ihre Rede ab. „Entschuldigen Sie, Sie haben mich zum Philosophieren verleitet. Ich wollte nur sagen, wenn Sie vorhaben, hier länger zu bleiben, würde ich das begrüßen. Der Job ist Ihnen sicher, solange Sie mögen.“

John war überrascht. So viel Anerkennung hätte er nicht erwartet. „Das ist gut zu wissen“, antwortete er schlicht. Und diesmal meinte er, was er sagte. Aber gleich darauf hätte er sich für seine Sentimentalität ohrfeigen können. Das Angebot war nicht für ihn, John Garrison, bestimmt. Es war für einen Mann gedacht, der nicht existierte. Zurück zum Geschäft, ermahnte er sich.

„Was war eigentlich mit meinem Vorgänger los?“, erkundigte er sich scheinbar arglos.

„Ich habe ihn gefeuert“, gestand Brenda ohne Umschweife. „Er war unehrlich.“

„Hat wohl was mitgehen lassen.“

„Nein, er hat uns Märchen aufgetischt. Dabei kam er aus dem Gefängnis.“

„Und Sie mögen keine Ex-Sträflinge?“

Brenda war jetzt sehr ernst. „Ich mag keine Lügner.“

Ihre Stimme klang ungewohnt bitter. Für einen Augenblick hatte John das Gefühl, Brenda habe ihn durchschaut. Sein Herz begann zu hämmern. Aber dann gewann die Routine des Geheimagenten wieder die Oberhand.

„Das geht wohl jedem so“, versicherte er Brenda, ohne sie anzusehen.

„Bill meint, ich bin in dieser Beziehung zu empfindlich.“

„Sind Sie das?“

Die Frage schien sie zu verunsichern. Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein, Lügner sind nicht besser als Diebe. Vielleicht ist Lügen sogar noch schlimmer.“

John hatte immer noch ein ungutes Gefühl bei dem Thema. „Wie meinen Sie das?“

„Ein Dieb stiehlt einfach nur Gegenstände wie einen Fernsehapparat, eine Uhr oder ein Auto. Man kann die Sachen durch neue ersetzen. Aber ein Lügner stiehlt einem das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hat. Es ist etwas viel Wertvolleres, und man kann es nicht ersetzen.“

„Aber nicht jede Lüge ist böse gemeint. Es gibt auch Notlügen, die wir erzählen, um andere nicht zu verletzen.“

„Sie meinen die Lügen, die man Kindern erzählt. Wie die über das Christkind, den bösen Wolf und die tote Oma?“ Brenda machte eine abwehrende Handbewegung. „Die Sache ist komplizierter, als Sie denken. Lassen wir das lieber.“

„Wie Sie wollen“, meinte John verunsichert.

Es entstand ein peinliches Schweigen. Brenda fühlte, dass sie ihm eine Erklärung schuldig war.

„Vor ein paar Monaten habe ich herausgefunden, dass meine Familie mich Zeit meines Lebens angelogen hat. Es betrifft aber etwas sehr Wichtiges. Etwas, worauf ich ein Recht gehabt hätte, es zu wissen. Deswegen habe ich gerade so empfindlich reagiert. Es hat nichts mit Ihnen zu tun, John.“

Während John erleichtert aufatmete und sich von seinem Schrecken erholte, sah Brenda auf die Uhr. „Du liebe Güte, ich sollte schon vor zwanzig Minuten bei Barton’s Antiques sein.“

„Es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe.“

„Schon gut. Es war nicht Ihre Schuld“, sagte sie lächelnd. Aber sie wusste es besser. Immer wenn sie mit John redete, wurde eine längere Unterhaltung daraus. Er verstand es meisterhaft, sie abzulenken, sodass sie all die wichtigen Dinge vergaß, die sie als selbstständige Unternehmerin noch zu erledigen hatte. „Ich muss gehen. Bis bald.“

„Noch eine Sekunde, Brenda. Ich möchte mich bei Ihnen für den Job bedanken. Darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?“

„Zu Hamburger und Bier?“, fragte sie lächelnd.

„Wenn Sie unbedingt wollen. Ich hatte eher an das Steakhaus unten am Fluss gedacht.“

Brenda zögerte mit ihrer Antwort. Sie fand das Angebot sehr verlockend. Aber dann schüttelte sie sanft den Kopf. „Ich fürchte, ich muss Ihre Einladung ausschlagen, John. Seien Sie mir nicht böse.“

„Sicher haben Sie es sich zum Prinzip gemacht, nicht mit Ihren Angestellten auszugehen. Habe ich recht?“

„In gewisser Weise ja. Es kann dem Betriebsklima schaden.“

John schien ihre Reaktion erwartet zu haben. „Okay, ich verstehe. Ich wollte ja nur fragen.“ Er nickte Brenda zu und machte sich pfeifend wieder an seine Arbeit.

Es war keine direkte Lüge, sagte sich Brenda, als sie allein war. Sie hatte zwar bisher kein festes Prinzip, nicht mit ihren Angestellten auszugehen, aber es war auch noch nie vorgekommen. Und um den Frieden in der Firma nicht zu stören, wollte sie gar nicht erst damit anfangen.

Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sie Johns Einladung abgelehnt hatte. Sie hatte bemerkt, wie John sie ansah. Wenn ein Mann eine Frau auf diese Weise anschaute, dann gefiel sie ihm. Brenda kannte diesen Blick der Männer, und sie wusste, worauf das Ganze schließlich hinauslaufen würde. Darryl hatte sie damals auch so angesehen.

Ihr ging es ähnlich, wenn sie einen Mann attraktiv fand. Hatte sie John heute nicht auch ständig ins Visier genommen, als sie sich unbeobachtet glaubte? Bill hatte mit seiner Bemerkung gar nicht so falsch gelegen.

Eigentlich war es eine herrliche Sache, diese stummen Blicke zwischen einem Mann und einer Frau, die so viel verrieten und der Auftakt zu einem Flirt oder mehr sein konnten. Aber Brenda war kein argloser Teenager mehr, der mit dem ersten besten Mann flirtete. Schließlich war sie schon einmal auf einen jungen Rebellen mit unwiderstehlichem Lächeln hereingefallen.

John Garrison war zwar sehr attraktiv, aber bei ihm würde es bestenfalls für eine kurze Affäre reichen. Brenda hatte sich geschworen, nie wieder an den falschen Mann zu geraten. Ihre Erfahrung mit Darryl Sumner war bitter genug.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. John war genau ihr Typ. Es hatte zwischen ihnen gefunkt. Sie hätte nur mit dem Finger schnippen zu brauchen.

Leider ist er kein Mann für eine ernsthafte Beziehung, dachte sie. Er war nicht der Mann, den sie mit nach Hause zu ihrer Mutter nehmen würde, wenn sie noch eine richtige Mutter gehabt hätte.

3. KAPITEL

John trieb den letzten Nagel mit drei kurzen Hammerschlägen ins Holz und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten.

Die viktorianische Sitzbank passte perfekt in die geschwungene Fensternische. Das Foto, das Brenda ihm gegeben hatte, hing an der Wand. John verglich noch einmal kritisch die Vorlage mit der fertigen Bank.

Nicht schlecht, alter Junge, lobte er sich. Du bist noch nicht so eingerostet, wie du dachtest.

Es machte ihm Spaß, wieder mit Holz zu arbeiten. Er hatte schon fast vergessen, wie gut sich ein poliertes Fichtenbrett anfühlte und wie unnachahmlich frisch gesägtes Holz roch. Erst jetzt wurde John klar, dass er dies alles sehr vermisst hatte.

Gedankenverloren schaute er sich um. Er war ganz allein in dem großen Raum, der einmal das Hauptrestaurant sein würde. Alle anderen Handwerker waren längst nach Hause gegangen.

In einer Ecke stand die große Kreissäge. Daneben lagen mehrere Bretterstapel. Der Boden war mit Sägemehl und kleinen Holzstückchen bedeckt. In der Mitte stand ein großer Tisch mit halbentrollten Zeichnungen und den allgegenwärtigen Kaffeetasse. Über allem schwebte der warme anheimelnde Duft einer Holzwerkstatt.

Endlich wusste John, wo er hingehörte. Er war zu den wesentlichen Dingen zurückgekehrt. Die Arbeit mit Holz hatte etwas Ehrliches und Sauberes an sich, für das sich alle Mühe lohnte.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Überlegungen. Er sah auf die Uhr. Das musste für ihn sein. Rasch ging er zum Telefon und nahm den Hörer ab. „Hier Garrison.“

„Ich bin es, O’Dell. Was haben Sie bis jetzt herausbekommen?“

„Rein gar nichts. Wenn Sumner mit ihr Kontakt aufgenommen hat, ist er gewiefter, als wir denken. Die Frau hängt da jedenfalls nicht mit drin, O’Dell. Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit.“

„Sie sind erst sechs Tage da, Garrison. Warum so voreilig?“

John zeichnete mit seiner Stiefelspitze Linien ins Sägemehl. „Wir sind einfach nicht auf der richtigen Fährte.“

O’Dell schnaubte, verächtlich „Beruht Ihre Äußerung auf Fakten, oder haben Sie das nur im Gefühl?“

„Hören Sie, dieses Gefühl hat mir mehr als einmal das Leben gerettet“, konterte John.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Schließlich meinte O’Dell trocken: „Er ist auf dem Weg zu Ihnen. Wir haben Beweise.“

„Wann haben Sie ihn entdeckt?“, fragte John alarmiert.

„Ich weiß es nicht. Wir haben seine Spur wieder verloren. Halten Sie die Augen offen, Garrison.“

John fluchte leise.

„Ich schicke Ihnen zwei Leute als Verstärkung.“

„Nein, ich brauche keine Hilfe. Lassen Sie mich nur machen.“

„Ich entscheide, ob ich Ihnen Verstärkung schicke oder nicht. Die beiden bleiben im Hintergrund, bis Sie Hilfe brauchen.“

Ungeduldig kickte John ein Holzstückchen durch den Raum. „Sie wissen doch, dass ich keine Leute im Hintergrund mag. Ich arbeite lieber allein. Je mehr Leute in eine Sache verwickelt sind, desto größer ist auch das Risiko, entdeckt zu werden.“

„Matsui und Carlson sind Profis. Sie leisten sich keine Pannen.“

„Wenn Sie es sagen, Chef. Ich warne Sie, falls etwas schief läuft, knöpfe ich mir die beiden persönlich vor.“

„Sonst noch ein Problem, Garrison?“

„Ja, der Vorarbeiter Bill Taft. Er ist lästig. Können Sie ihn eine Weile aus dem Verkehr ziehen?“

„Wird erledigt. Ist das alles?“

John brummte ein kurzes „Ja“ in den Hörer.

Aber sein Vorgesetzter war noch nicht zufrieden. „Hören Sie, bleiben Sie dieser Sinclair so dicht auf den Fersen wie möglich. Die nächsten Tage sind äußerst kritisch. Sumner kann jeden Moment auftauchen. Ich will über jede Bewegung von ihm Bescheid wissen.“

„Schon gut, ich habe verstanden“, erwiderte John. „Regen Sie sich nicht auf, O’Dell. Das ist nicht besonders gut für Ihre Gesundheit.“ Er legte den Hörer auf, noch bevor sein Chef antworten konnte.

Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür. Brenda kam mit einer Zeichnung in der Hand herein.

Johns Herz begann vor Schreck wie wild zu klopfen. Hatte sie das Telefonat mitgehört? Verdammt, wie konnte er auch so unvorsichtig sein und O’Dell hier anrufen lassen. Er beobachtete Brenda angespannt, ohne etwas zu sagen.

Plötzlich brach Brenda in Gelächter aus. „Entschuldigen Sie, John, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich kam vorbei, um die Zeichnung zu holen, und hörte Stimmen. Ich dachte schon, es wären Einbrecher im Haus…“

Er entspannte sich wieder und deutete aufs Telefon. „Es muss sich jemand verwählt haben. Er wollte Pizza bestellen, mit einer doppelten Portion Käse, aber ohne Anchovis.“

„Ich hoffe, Sie haben ihm gesagt, dass wir leider nicht ins Haus liefern“, antwortete Brenda schmunzelnd.

„Und ich hoffe, dass Sie nicht jedes Mal allein ein Haus betreten, wenn Sie das Gefühl haben, es könnten Einbrecher dort sein“, erwiderte John ernst. „Das nächste Mal machen Sie sich aus dem Staub und benachrichtigen die Polizei.“

„Okay, Sie haben recht“, sagte Brenda gehorsam wie ein Schulmädchen. Aber im nächsten Augenblick war sie wie umgewandelt. „Wie kommt es, dass Sie noch hier sind? Sie wissen doch, dass wir keine Überstünden bezahlen können.“

John deutete auf die Sitzbank. „Gefällt sie Ihnen?“

Brenda machte große Augen und ging zum Fenster. Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Oh, John, die Bank ist absolut perfekt. Die Proportionen, der obere Bogen, die geschnitzten Armlehnen, das alles ist Ihnen wunderbar gelungen. Die Bank ist genauso schön wie das antike Vorbild.“

John war ehrlich stolz auf seine Arbeit. Er lehnte lässig an der Wand und beobachtete Brenda, wie sie mit der Hand über die Schnitzereien fuhr. „Sie brauchen mir nur zu sagen, wie Sie es gern hätten, Lady. Ich habe Ihnen doch versprochen, dass ich es gut mache.“

Brenda wandte sich lächelnd zu ihm um. „Natürlich, John, aber ich wusste nicht, dass Sie zaubern können. Man hat den Eindruck, als wäre die Bank ein Original und über hundert Jahre alt.“

„Warten Sie nur, bis ich die Holzoberfläche an die alte Täfelung angepasst habe. Dann sieht es noch echter aus.“

In einer Ecke der Bank entdeckte Brenda eine winzige Figur. „Oh, was ist das? Es sieht aus wie ein Einhorn.“

„Ist mir nicht besonders gut gelungen“, gestand John, „mein Vater konnte so etwas viel besser schnitzen.“

„Ich finde es großartig. Das ist also Ihr Zeichen? Signieren Sie alle Ihre Arbeiten, John?“

„Ich mache es nur, wenn mir ein Werkstück gefällt.“

Er stand jetzt neben Brenda und konnte den Duft ihres Parfüms wahrnehmen. Eine blonde Locke war ihr in die Stirn gefallen. Fast hätte er sie zurückgestrichen. Um sich abzulenken, versuchte er, sich auf das Einhorn zu konzentrieren. Aber immer wieder warf er einen verstohlenen Blick auf Brendas feines Profil. Sie sah reizend aus, und er sehnte sich danach, ihre Wange zu berühren.

„Mein Vater hat grundsätzlich alle seine Arbeiten signiert“, erzählte John. „Ich erinnere mich, dass er einmal mit seinen Leuten den Innenausbau eines Apartmenthauses übernommen hatte. Nach der Fertigstellung ging er auf den Boden und schnitzte sein Einhorn in einen der Balken. Das war einfach verrückt. Niemand wird das Zeichen dort oben entdeckt haben. Aber er sagte immer, ein Schreiner soll keine Arbeit übernehmen, für die er nicht persönlich gerade stehen kann.“

„Ihr Vater muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein. Und wenn Sie Ihr handwerkliches Können von ihm haben, dann war er ein ausgezeichneter Tischler.“

„Er war nicht schlecht“, erwiderte John und strich mit dem Finger über das Einhorn. „Aber in meiner Kindheit war die Möbelschreinerei fast nur noch ein Hobby für ihn. Damit konnte er die Familie nicht mehr ausreichend ernähren. Er verdiente sein Geld mit Zimmermannsarbeiten und Innenausbauten. Seine Firma übernahm Aufträge in ganz Texas.“

„Es geht mich zwar nichts an“, sagte Brenda leise, „aber wieso haben Sie, ich meine …“

„Sie meinen, warum ich nicht mit meinem Vater und meinem Onkel in unserer Firma arbeite, anstatt mit dem Motorrad von einem Gelegenheitsjob zum anderen zu kurven?“

Brenda nickte. Sie bemerkte einen bitteren Zug um Johns Mundwinkel.

„Sie sind schon alle tot. Mein Vater und mein Onkel hatten einen Unfall auf dem Bau. Eine Wand, die nicht richtig abgestützt war, stürzte auf sie. Der Onkel war sofort tot, mein Vater starb nach ein paar Tagen an seinen Verletzungen.“

Was John ihr nicht sagte, war, dass sein Vater ihm auf dem Sterbebett verraten hatte, dass es kein Unfall war, sondern geplanter Mord. Brenda legte ihre kleine schmale Hand auf Johns. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Lebt Ihre Mutter noch?“

„Nein. Als Dad starb, hatte sie keinen Lebensmut mehr. Kurz nachdem ich das College abgeschlossen hatte, starb sie. Als ob sie nur darauf gewartet hätte, bis ich mich selbst versorgen konnte.“ John spürte den sanften Druck der kleinen Hand. Er schaute Brenda an und entdeckte Tränen in ihren Augen. „Nicht doch“, sagte er sanft und wischte ihr behutsam eine Träne von der Wange. „Ich wollte Sie nicht traurig machen.“

„Ich weiß, Sie können nichts dafür.“ Verlegen wandte sich Brenda ab, um sich die Tränen wegzuwischen. „Es tut mir nur so leid für Ihre Familie.“

„Es ist schon komisch“, meinte John nachdenklich. „Als Kind kann man sich nicht vorstellen, jemals allein gelassen zu werden. Man denkt, alles geht immer so weiter. Dann wacht man eines Tages auf, und alles hat sich verändert.“

Während er zart über Brendas Handrücken strich, dachte er an die Einsamkeit und Verzweiflung, die er nach dem Tod seiner Eltern empfunden hatte. Schließlich hatte er den Entschluss gefasst, den Mörder seines Vaters zur Rechenschaft zu ziehen. Der Wunsch nach Rache hatte seinem Leben damals wieder einen Sinn gegeben. Das Schicksal wollte es, dass sich sein Leben dadurch grundlegend änderte.

Brenda fühlte, wie schmerzvoll die Erinnerung für John immer noch sein musste. Eine Weile standen sie beide Hand in Hand da, ohne etwas zu sagen.

Dann brach Brenda das Schweigen. „Haben Sie schon etwas gegessen? Es ist gleich acht.“

„Ich wollte mich gerade auf die Suche nach etwas Essbarem machen.“

„Darf ich Sie begleiten? Heute Mittag war keine Zeit für meinen Lunch. Ich komme um vor Hunger.“

„Okay. Denken Sie etwa an Hamburger und Bier?“

„Mir wäre eher nach Pizza zumute.“

John lachte. „Mit einer doppelten Portion Käse und Anchovis?“

„Haargenau.“

Immer noch Hand in Hand gingen sie hinaus. Um die Haustür abzuschließen, musste Brenda John ihre Hand entziehen. Aber als sie über den Parkplatz gingen, fasste er ihre Hand wieder, als ob sie alte Freunde wären.

„Wohin wollen wir fahren?“

„Sie kennen sich besser in der Stadt aus als ich, Lady. Bitte schlagen Sie was vor.“

„Es gibt eine Pizzeria am Marktplatz, aber die ist immer voller Jugendlicher. La Ristorante liegt am Fluss, ist aber ein bisschen zu elegant für heute. Stadtauswärts gibt es eine neue Pizzeria, die soll gut sein. Ich war selbst noch nicht da. Aber wir könnten auch zu Luigi’s fahren.“ Brenda lächelte entschuldigend. „Er backt eine Superpizza, aber er hat nur Straßenverkauf und kein Restaurant.“

„Dann nehmen wir die Superpizza eben mit. Ich würde Sie gern zu mir einladen, Brenda, aber zurzeit bin ich obdachlos.“

Brenda runzelte die Stirn und schaute John zweifelnd an.

„Das Motel wurde mir auf die Dauer zu teuer. Ich bin auf der Suche nach einer kleinen Pension oder einem möblierten Zimmer, habe bis jetzt aber noch nichts gefunden.“

„Schlafen Sie etwa unter freiem Himmel?“

„Um ehrlich zu sein, ich schlafe auf der Baustelle. Renfrew’s Restaurant ist zwar bis jetzt ziemlich karg möbliert, aber es ist trocken und sauber dort.“ Er lachte verlegen. „Bis auf das Sägemehl, aber das macht mir nichts aus.“

„Ich finde es entsetzlich“, rief Brenda entrüstet. „Können Sie nicht für ein paar Tage bei Adam und Mark wohnen, bis Sie etwas anderes gefunden haben?“

„Sie sind nicht auf dem Laufenden, Lady. Adam musste selbst ins Motel umsiedeln, weil Marks Freundin in die Wohnung eingezogen ist.“

„Ich verstehe. Gibt es denn gar keine andere Lösung?“

John sah Brenda prüfend von der Seite an. „Ich hätte wohl doch Ihr Angebot annehmen sollen, in Ihrem Wintergarten zu nächtigen.“

Sie wurde ernst. „Na schön. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie es nur als vorläufige Bleibe betrachten.“ Dann blieb sie stehen und schaute ihn fest an. „Und wenn klar ist, dass mein Angebot nur für den Wintergarten gilt. Ich mag kein Katz-und-Maus-Spiel.“

John verzog das Gesicht zu einem jungenhaften Grinsen. „Einverstanden, wenn Sie mir erklären, was ein Katz-und-Maus-Spiel ist.“

Brenda versuchte, ein strenges Gesicht aufzusetzen. „Sie wissen genau, was ich meine. Also benehmen Sie sich danach.“

„Schon gut, ich verspreche es lhnen hoch und heilig.“

Ein paar Stunden später lag John auf einem weichen Lammfell vor dem offenen Kaminfeuer in Brendas Wohnzimmer.

Die Pizza hatte wirklich ausgezeichnet geschmeckt. John war entspannt und bester Laune. Er fühlte sich eher den angenehmen Dingen des Lebens und der schönen Frau an seiner Seite zugeneigt als der bloßen Pflichterfüllung.

In gewisser Weise hatte es jedoch auch mit seinem Auftrag zu tun, dass er sich in Brendas Wohnung eingeladen hatte. Er wollte sich bei ihr umsehen. Je später es wurde, desto mehr trat dieses Motiv allerdings in den Hintergrund. Es war lange her, dass er einen so schönen Abend erlebt hatte. Meistens steckte hinter seinen Besuchen ein beruflicher Zweck. Jede Geste, jedes Wort musste wohl überlegt sein.

Wie er so dalag und Brenda im warmen Licht des Feuerscheins betrachtete, wünschte er sich nichts sehnlicher, als ein ganz normaler Mann zu sein. Kein Geheimagent, sondern nur er selbst, John Garrison.

Brenda wandte sich zu ihm. „Möchten Sie Kaffee?“

„Sehr gern.“ John stand auf. „Ich werde Ihnen in der Küche helfen. Wenn ich noch länger so faul hier herumliege, schlafe ich ein.“

„Das muss wohl an der luxuriösen Atmosphäre liegen“, sagte sie und lachte. „Ich weiß selbst nicht, wie ich nun schon ein Jahr in einem Haus ohne verputzte Wände und gestrichene Fenster wohnen kann.“

Das Haus war tatsächlich in einem halb fertigen Zustand. Die Tapeten waren von den Wänden entfernt worden, und der Putz bröckelte. Wo noch eine halbwegs intakte Putzschicht zu finden war, hatte Brenda verschiedene Wandfarben ausprobiert.

Eine Wand im Wohnzimmer war herausgerissen, sodass man in den anliegenden Raum sehen konnte. Es waren zwar schon neue große Fenster eingesetzt, aber die Rahmen waren weder versiegelt noch gestrichen.

Trotz allem hatte das kleine Haus schon jetzt etwas Gemütliches, fand John. Das Mobiliar bestand größtenteils aus geschmackvollen Einzelstücken. Die bequemen alten Ledersessel hatten es ihm besonders angetan. Das riesige Kuschelsofa wäre etwas für ein jung verheiratetes Paar. John wollte sich das nicht näher ausmalen. Bunte Seidenkissen, Körbe mit Krimskrams und üppige Grünpflanzen verliehen dem Raum eine behagliche persönliche Note.

John nahm die beiden Bierflaschen und folgte Brenda in die Küche.

„Dieses Haus bestätigt nur das Sprichwort vom Schuster, der selbst die schlechtesten Schuhe hat“, erklärte Brenda in heiterem Plauderton. „Ich nehme mir immer wieder vor, einen Monat von der Firma frei zu nehmen und alles fertig zu machen. Aber dann geraten wir entweder in Zeitdruck, oder es bietet sich ein neues Projekt an, das ich nicht sausen lassen will. Und schon arbeite ich wieder sechzehn Stunden täglich für die Firma.“

Sie nahm John die Bierflaschen ab. „Eines Tages, das verspreche ich Ihnen, wird dieses Haus nicht mehr wie eine Baustelle aussehen.“

„Mir gefällt es auch jetzt schon. Es ist um vieles gemütlicher, als meine Bleiben normalerweise sind“, gestand John und erwiderte ihr Lächeln.

„Sie meinen die Straßengräben, in denen Sie zu nächtigen pflegen“, neckte ihn Brenda.

„Ja, so ungefähr.“

John trat ans Erkerfenster, wo Brenda sich eine kleine Essecke zum Frühstücken einrichten wollte. Er blickte auf einen Garten mit hohen Laubbäumen, der von einer Mauer umgeben war. Durch die Bäume hindurch schimmerte das Meer. Sogar im Mondlicht war die Aussicht umwerfend schön. Die Küste stieg nach Norden hin steil an und war von riesigen zerklüfteten Felsblöcken gesäumt. Deren schwarze Umrisse wirkten im Samtblau des Abends wie gewaltige Ruinen alter Tempel.

Jetzt erinnerte sich John, dass er schon einmal in dieser Gegend gewesen war. Es musste Jahre her sein. Auf einer der seltenen Ferienreisen mit seinen Eltern war er hierher nach Oregon gekommen. Sie hatten zusammen lange Strandwanderungen unternommen und Steine übers Wasser hüpfen lassen.

Es hatte ihm und seinen Eltern damals gut gefallen. Im nächsten Sommer wollten sie wiederkommen. Aber daraus wurde nichts, weil Johns Vater viel zu sehr mit seiner Firma beschäftigt war. So gingen die Jahre dahin, bis es zu spät war.

John versuchte, die Erinnerungen an seine Kindheit, die ihn schon den ganzen Tag verfolgten, abzuschütteln. Er ging an den kleinen Küchentisch, zog einen Stuhl hervor und setzte sich rittlings darauf.

Brenda war gerade dabei, das Kaffeemehl in die Kaffeemaschine zu geben, und zählte angestrengt die Löffel.

„Erzählen Sie mir von sich“, forderte John sie auf.

„Damit ich Sie zu Tode langweile? Viel lieber möchte ich etwas von Ihnen hören. Sie erleben sicher aufregende Sachen, wenn Sie mit Ihrem Motorrad unterwegs sind. Wie lange machen Sie das eigentlich schon? Und da ist noch etwas, was mich sehr interessiert. Wieso sind Sie wie Robin Hood gerade in dem Augenblick vor mir aufgetaucht, als ich Sie am dringendsten brauchte?“, wollte sie wissen.

Zunächst war John wegen Brendas letzter Frage verunsichert. War es eine Anspielung? Aber dann merkte er, dass Brenda vollkommen arglos war. Seine Miene hellte sich auf. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe mich auch schon öfter gefragt, warum es solche Zufälle gibt.“

Als das Wort „Zufall“ fiel, würde Brenda hellhörig und runzelte die Stirn. John erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ich benehme mich wie ein Anfänger, schalt er sich. Sein Gesicht verzog sich zu einem jungenhaften Grinsen. „Als ich anhielt, um Ihnen Pannenhilfe zu leisten, war ich völlig abgebrannt. Ich hatte gerade noch fünfzig Cent im Portmonee. Wenn Sie mir nicht den Job gegeben hätten, hätte ich wohl irgendwo als Tellerwäscher anfangen müssen.“

Die Bemerkung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Brenda lachte entspannt. „Ich habe Sie aber nicht aus Mitleid engagiert. Es war der reine Selbsterhaltungstrieb. Wenn ich für Wyman keinen Ersatz besorgt hätte, würde Bill Taft bis heute kein Wort mehr mit mir reden. So waren Sie für mich ein Geschenk des Himmels.“

Autor

Naomi Horton
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