Baccara Spezial Band 10

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DAS GEHEIMNIS DER SCHÖNEN SCHLAFWANDLERIN von AMANDA STEVENS
Entsetzt erwacht Olive. Über ihr der Nachthimmel, unter ihr eine kaputte Brücke: Sie ist geschlafwandelt! Und wie schon einmal ist sie dabei unwissentlich Zeugin eines Mordes geworden, der ihrer Jugendliebe Jack King angelastet wird. Aber diesmal wird sie für Jack kämpfen …

BLUTMOND ÜBER CHICAGO von DEBRA WEBB
Der berüchtigtste Drogenboss von Chicago jagt Eva! Er will sich an der Krankenschwester für den Tod seines Bruders rächen. Ihr Ex, Bodyguard Todd Christian, zögert nicht und verspricht zu helfen. Doch auch das ist riskant: Was, wenn er Eva zum zweiten Mal das Herz bricht?

WO MEHR AUF UNS LAUERT ALS DER TOD von JANICE KAY JOHNSON
Psychologin Trina muss die dreijährige Chloe retten, die den gewaltsamen Tod ihrer Eltern beobachtet hat – denn der Killer will die kleine Waise ausschalten! Auf der Ranch von Gabe Decker finden die beiden Sicherheit. Und in Gabes starken Armen findet Trina noch unendlich viel mehr …


  • Erscheinungstag 12.02.2021
  • Bandnummer 10
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500777
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda Stevens, Debra Webb, Janice Kay Johnson

BACCARA SPEZIAL BAND 10

AMANDA STEVENS

Das Geheimnis der schönen Schlafwandlerin

Vorsichtig leuchtet Jack den sumpfigen See ab. Da, im Wasser treibt eine Leiche! Und auf der Brücke über den Pine Lake entdeckt er eine Frau, die schlafwandelt! Ein schreckliches Déjàvu: Schon einmal sollte ihm, Jack, ein Mord angehängt werden. Schon einmal war die schlafende Olive die einzige Zeugin. Nur Jacks zärtliche Gefühle für Olive sind aufregend neu …

DEBRA WEBB

Blutmond über Chicago

Wie beschützt er die Frau, die er mal geliebt hat, vor der Rache des gefährlichsten Drogenbosses in ganz Chicago? Vor dieser Frage steht Bodyguard Todd Christian, als er den Auftrag erhält, für Eva Bowmans Sicherheit zu sorgen. Und er hat sofort die Antwort parat: mit ganzem Körpereinsatz! Denn seine schöne Ex ist immer noch wie Feuer in seinem Blut …

JANICE KAY JOHNSON

Wo mehr auf uns lauert als der Tod

Die kleine Chloe hat den Mord an ihrer Familie beobachtet. Jetzt will der Killer sie zum Schweigen bringen – für immer. Army Ranger Gabe Decker bringt die Waise und ihre schöne Psychologin Trina auf seiner Ranch in Sicherheit. Weil sie ihn brauchen. Und weil er noch nie eine Familie hatte. Denn das werden Trina und Chloe für ihn im Fadenkreuz des Killers …

1. KAPITEL

Der Anruf kam überraschend.

Jack King hatte nicht die beste Laune. Er war den ganzen Tag im Büro gewesen, und die Langeweile hatte ihm schwer zugesetzt. Wenn es tatsächlich einmal vorkam, dass er zwischen zwei Aufträgen Luft hatte, dann fand er für gewöhnlich irgendeinen Vorwand, die Nähe seines überladenen Schreibtisches zu meiden.

Seit fünf Jahren arbeitete er für die Blackthorn Agency, ein bekanntes Unternehmen aus der Sicherheitsbranche mit Hauptsitz in Houston, Texas. Seine Abteilung befasste sich mit der Kontrolle der nationalen und lokalen Behörden, darunter auch die Einheiten der Polizei. Er selbst war spezialisiert auf die Aufdeckung von Korruptionsfällen. Das Problem begann im Allgemeinen an der Spitze und fraß sich dann schnell durch alle Ränge nach unten durch. Es war kein Job für zartbesaitete Seelen – Cops hielten üblicherweise zusammen und wussten sich nach außen abzuschirmen –, aber Jack liebte die Herausforderung, und er hatte schon vor Jahren gelernt, auf sich aufzupassen.

Als er am Morgen im Büro erschienen war, hatte er mit einem neuen Auftrag gerechnet. Stattdessen hatte sein Boss ihn an den Schreibtisch verbannt. Seitdem wanderte sein Blick alle paar Minuten zu der großen Uhr an der Wand vor seinem Büro. Die Stunden wollten einfach nicht verstreichen.

Um sechs Uhr konnte er endlich den letzten Bericht abheften und nach Hause gehen. Als er aus dem Fahrstuhl trat, klingelte sein Handy. Er beschloss, es zu ignorieren. Später sollte er sich wünschen, er hätte tatsächlich auf seine Intuition gehört. Er wollte nicht wieder nach oben gerufen werden, weil er irgendwo ein Komma oder einen Punkt vergessen hatte. Was auch immer anlag – es hatte Zeit bis Montag.

Trotzdem ließ es ihm keine Ruhe …

Er zog das Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Kein Name, nur eine Nummer. Die Vorwahl versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Seit mehr als fünfzehn Jahren hatte er keinen Kontakt zu irgendjemandem aus Pine Lake gehabt. Einen Tag nach seinem Highschoolabschluss hatte er die Stadt verlassen, und seine Eltern waren einen Monat später geflohen. Nur sein Onkel Leon war geblieben und hatte die Sache ausgesessen. Er war im vergangenen Frühling gestorben. Jack war nicht einmal zu seiner Beerdigung erschienen.

Dieser Anruf hatte nichts Gutes zu bedeuten, das wusste Jack. Er nickte dem Security-Mann am Eingang im Vorübergehen kurz zu, trat in die frühe Augusthitze hinaus und nahm das Gespräch an.

„Hallo!“

„Jack? Jack King, richtig?“

Unbehagen überkam ihn. „Ja, mit dem sprechen Sie.“

„Du hast keine Ahnung, wer hier ist, oder? Kein Wunder, ist ja auch lange her. Fünfzehn Jahre, um genau zu sein.“ Der Anrufer atmete tief durch. „Verdammt, es ist doch schwerer, als ich dachte. Hier ist Nathan. Nathan Bolt.“

Nathan Bolt! Er und Tommy Driscoll waren während der ganzen Schulzeit enge Freunde von Jack gewesen. Bis zu dem Tag im letzten Schuljahr, an dem Nathan und Tommy sich plötzlich gegen ihn stellten. Sie gaben sich gegenseitig ein Alibi für die Nacht, in der Anna Grayson ermordet wurde. Damals stand Jack allein im Fadenkreuz der Ermittlungen eines gnadenlosen Sheriffs.

Es gab so gut wie keine Beweise und noch weniger Verdächtige. Also konzentrierten sich die Ermittlungen ganz auf Jack. Schließlich war er der Freund der Toten gewesen, und im Gegensatz zu Tommy und Nathan hatte er kein Alibi. Das Verfahren gegen ihn zog sich über Monate hin und ließ ihn in der kleinen Stadt, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte, zu einem Aussätzigen werden. Dabei blieb es auch, als schließlich ein anderer verhaftet und verurteilt wurde.

In den folgenden Jahren hatte Jack sich bemüht, Pine Lake und alle Menschen, mit denen er dort zu tun gehabt hatte, zu vergessen. Es verging jedoch kein Tag, an dem er nicht an Anna dachte. Kein Tag, an dem er ihr nicht das lange und glückliche Leben gewünscht hätte, das sie verdient hatte. Im Geiste sah er sie vor sich: dunkles Haar, dunkle Augen. Ein Lächeln, das ein ganzes Stadion erhellen konnte.

Ihm traten Schweißperlen auf die Stirn. Ungeduldig wischte er sie mit dem Handrücken fort.

„Hallo? Jack? Bist du noch dran?“

„Bin ich.“ Er unterdrückte das Bedürfnis, das Gespräch zu beenden, noch bevor Nathan erklären konnte, wieso er sich nach so langer Zeit meldete. Oder woher er überhaupt Jacks Nummer hatte. Letzteres war vielleicht nicht so schwer zu erklären. Immerhin war er Onkel Leons Anwalt gewesen.

„Du fragst dich sicher, weshalb ich anrufe“, fuhr Nathan fort.

„Hat Leon dir meine Nummer gegeben?“

„Ja. Wir hatten einiges zu besprechen vor seinem Tod. Er sagte, ich soll dich anrufen.“

„Was gab es zu besprechen?“

Erneut ein kurzes Zögern. „Ich habe dir einen Brief wegen seines letzten Willens geschickt. Hast du ihn bekommen?“

„Habe ich.“

„Ach so. Ich dachte schon … Ich meine, du hast nie darauf reagiert. Er ist eine Zeit liegen geblieben, aber das ist natürlich meine Schuld. Ich hätte dranbleiben sollen. Und ich hätte anrufen sollen, als es passiert ist. Tut mir leid, dass ich das versäumt habe. Überhaupt tut mir vieles leid.“ Er seufzte. „Ich nehme an, dafür kannst du dir nicht viel kaufen.“

„Falls es um Leons Testament geht, sprich mit meinem Dad“, erklärte Jack schroff. „Er wird dir geben, was auch immer du brauchst.“

„Leon hat alles dir hinterlassen – das Haus und auch das Geld auf der Bank. Aber es geht heute nicht um deinen Onkel.“

„Sondern?“

„Ich muss mit dir über Tommy reden.“

Es hatte begonnen zu regnen. Jack drückte sich gegen die Hauswand, um nicht nass zu werden.

„Wieso?“

„Er ist der Sheriff von Caddo County. Schon seit drei Jahren. Leon hat dir sicher von der letzten Wahl erzählt. Es gab Gerüchte über Betrug und Einschüchterung.“

„Ich habe nie mit Leon über Politik gesprochen.“ Sie hatten in den letzten Jahren ohnehin wenig miteinander geredet, und das lag an Jack. Er hatte sich ganz auf die Arbeit gestürzt, weil es leichter war, sich mit den Fehlern anderer als mit den eigenen zu befassen. Zu letzteren zählte auch seine gescheiterte Ehe. An Anna dachte er jeden Tag, an seine Ex-Frau nie. Das sagte zweifellos mehr über ihn als über sie aus. Es war nicht ihre Schuld, dass es ihm schwerfiel zu vertrauen. Sie hatte es wirklich versucht, aber es war ihr nicht gelungen, die Mauern zu durchbrechen, die er um sich errichtet hatte.

„Ich habe mich schlau gemacht“, erklärte Nathan. „Ich kenne dein Tätigkeitsfeld bei der Blackthorn Agency. Du untersuchst Korruptionsfälle bei der Polizei.“

„Unter anderem.“

„Leon sagte, du seist der Beste.“

„Leon war voreingenommen.“

„Mag sein, aber du warst immer der Beste in allem, was dir etwas bedeutet hat.“

Hörte er da wieder den alten Neid? Früher war Tommy Driscoll sein Rivale beim Football gewesen, aber dabei hatte es sich um einen freundschaftlichen Wettstreit gehandelt. Ganz im Gegensatz zu der Rivalität, die zwischen Jack und Nathan im Klassenzimmer herrschte. Nathan musste immer in allem der Beste sein, um die Erwartungen seines Vaters zu erfüllen. Jack brauchte die guten Zensuren, um ein Stipendium zu bekommen. Die Tatsache, dass er schon sehr früh eine Zusage von einem renommierten College erhalten hatte, war eine bittere Pille für Nathan. Natürlich hatte das College nach dem Mord an Anna einen Rückzieher gemacht – der Fall war durch alle Medien gegangen. Das wiederum war eine bittere Pille für Jack.

„Ich weiß, ich überfalle dich“, fuhr Nathan fort, „aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen soll. Wir haben hier ein echtes Problem, Jack. Ein Drogenproblem. Crack, Meth, Gras. Einfach alles. Und niemand scheint etwas dagegen zu tun. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Ausmaße es angenommen hat.“

„Ich habe an der Grenze gearbeitet. Ich weiß, wie das aussehen kann.“

„El Paso ist das eine, aber wir reden hier von Pine Lake. Allein im letzten Jahr hatten wir zehn Mordfälle in Caddo County. Zehn! In einer Großstadt ist das nicht viel, aber du wirst dich erinnern, wie ruhig es hier früher war.“

Er erinnerte sich nur zu gut.

„Irgendetwas stimmt nicht mehr in unserer Stadt. Früher waren es vereinzelte Vorfälle, aber jetzt scheint eine Organisation dahinterzustehen. Ein paar mächtige Leute. Und ich glaube, Tommy steckt mit drin. Bis zum Hals.“

„Wo drin?“

„Ich brauche dich, um das herauszufinden.“

„Wenn du meine Firma engagieren willst, musst du über die üblichen Kanäle gehen. Das Einholen von Aufträgen fällt nicht in meinen Bereich. Ich mache die Jobs, die man mir zuteilt.“

„Ich dachte, wir könnten das unter uns regeln. Ich zahle dafür – wie viel auch immer du willst.“

„Kein Interesse.“

„Nicht einmal, wenn dich das zu Annas Mörder führen würde?“

„Ihr Mörder wurde vor fünfzehn Jahren hinter Gitter gebracht.“

„Und was, wenn es der Falsche war? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“

Das hatte er – öfter, als ihm lieb war. Vor ein paar Jahren war er sogar ins Staatsgefängnis gefahren, um Wayne Foukes noch einmal selbst zu verhören. Anschließend war er überzeugter denn je, dass der Mann hinter Gitter gehörte. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er dort aus den richtigen Gründen saß.

„Was, wenn ich dir sage, dass Tommy gelogen hat, als es darum ging, wo er in der besagten Nacht war?“, fragte Nathan. „Würdest du dann kommen?“

Jacks Puls beschleunigte sich. „Das heißt, du hast gelogen.“

„Ich musste es tun. Er hat gedroht, sonst jemanden, der mir sehr nahestand, zu verletzen.“

„Wovon redest du?“

„Erinnerst du dich an meine Cousine Olive? Sie ist zusammen mit meiner Tante zu uns gezogen, nachdem ihr Vater tödlich verunglückt war.“

„Nicht wirklich.“ Jack hatte eine vage Erinnerung an ein schmales rothaariges Mädchen mit Brille.

„Sie ist dir wahrscheinlich gar nicht richtig aufgefallen, aber sie ist mir damals ständig nachgelaufen. Tommy hat es nicht direkt so gesagt, aber es war klar, dass Olive es ausbaden müsste, falls ich ihm kein Alibi für die Nacht gebe.“

„Dann hat er also nicht bei euch übernachtet.“

„Doch, das hat er, aber ich bin einmal in der Nacht wach geworden und habe gesehen, dass er nicht da ist.“

„Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, dich damit an die Polizei zu wenden? Oder an deinen Vater? Er war doch ein hohes Tier in der Verwaltung. Er hätte dich vor Tommy Driscoll und jedem anderen beschützen können.“

„Es ging ja nicht um mich. Ich hatte Angst um Olive.“ Nathan senkte die Stimme. „Es ging ihr sowieso schon schlecht genug. Sie hat sehr unter dem Tod ihres Vaters gelitten. Sogar eine leere Drohung hätte sie um den Verstand bringen können. Dabei glaube ich nicht, dass es nur so dahingesagt war. Tommy hatte eine grausame Ader, Jack. Vor dir hat er sie verborgen, aber an mir hat er sie oft genug ausgelassen.“

„Du hast nie etwas davon gesagt.“

„Durch meinen Vater war ich es schon gewohnt, getriezt zu werden.“

Was spielte das alles noch für eine Rolle? Jack war nie angeklagt worden. Er hatte das alles hinter sich gelassen. Hier in Houston war er glücklich. Oder wenigstens zufrieden. Er hatte Freunde und einen guten Job. Wieso sollte er sich jetzt wieder mit der Vergangenheit befassen?

Weil ein Mann für ein Verbrechen ins Gefängnis geschickt worden war, das er wahrscheinlich nicht begangen hatte. Wayne Foukes war ein Brandstifter, ein Drogendealer und ein Vergewaltiger. Er hatte viele Leben zerstört. Er hatte es verdient, hinter Gittern zu sitzen – aber das hatte Annas Mörder auch.

„Kommst du?“, drängte Nathan.

„Was genau erwartest du von mir?“

„Genau dasselbe, was du sonst auch tust, wenn du es mit Korruption zu tun hast. Du deckst den Dreck auf, und wir beseitigen ihn.“

„Wird es den Leuten nicht merkwürdig vorkommen, wenn ich nach über fünfzehn Jahren plötzlich wieder in der Stadt auftauche?“

„Du hast doch den perfekten Vorwand – das Erbe deines Onkels. Du kannst ja sogar in seinem Haus wohnen, während du entscheidest, was du damit machen willst. Ich schicke jemanden zum Putzen vorbei, und dann kann er auch gleich den Kühlschrank auffüllen. Du könntest ein paar Tage Urlaub am See machen. Ich bitte dich ja nur, Augen und Ohren offen zu halten, während du hier bist. Stell ein paar diskrete Fragen. Du weißt schon, was zu tun ist.“

„Ich denke darüber nach.“

„Wie lange?“

„So lange ich brauche“, knurrte Jack unwirsch. „Ich habe einen Job. Ich kann nicht einfach kommen und gehen, wann ich will.“

„Lass dir nicht zu viel Zeit“, warnte Nathan. „Wie auch immer deine Entscheidung ausfällt – dieses Gespräch muss unter uns bleiben. Mein Leben könnte davon abhängen.“

Nathan wusste einen dramatischen Schlusspunkt zu setzen, das musste Jack ihm lassen.

Als sie aufgelegt hatten, schob er das Handy in die Tasche und lehnte sich gegen die Mauer. Er wollte über die ganze Sache schlafen. Am Montag konnte er mit seinem Boss reden.

Sein Apartment lag nur noch ein paar Blocks entfernt, doch den ganzen Weg hatte er das vage Gefühl, verfolgt zu werden. Verstohlen warf er einen Blick in die Scheiben der Gebäude auf der anderen Straßenseite, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Im Feierabendverkehr konnte ein Schatten leicht untergehen …

Olive Belmont eilte die schattige Straße hinunter und unterdrückte den Wunsch, einen Blick über die Schulter zu werfen. Sie hatte schon den ganzen Tag das merkwürdige Gefühl, dass etwas nicht stimmte, aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein.

In drei Wochen begann die Schule, und Olive würde ihre neue Stelle als Leiterin der Highschool von Pine Lake antreten. Mit knapp dreißig war sie bedeutend jünger als alle ihre Vorgänger. Unter diesen Umständen war etwas Nervenflattern wohl nachvollziehbar.

Dennoch konnte sie ihr Unbehagen nicht einfach nur dem Job zuschreiben. Pine Lake war nicht mehr die Stadt von früher. Wie Hunderte andere ländliche Städte im Süden versank sie in einem Meer von Drogen und Gewalt.

Der Abstieg war langsam gekommen. So langsam, dass Olive die Auswirkungen erst spät bemerkt hatte. An einem schwülen Abend wie diesem war der Verfall förmlich zu riechen. Sogar die schönen alten Häuser im Queen-Anne-Stil an der Primrose Avenue wirkten heruntergekommen. Ständig hörte man, dass jemand die Stadt verlassen hatte. War sie deshalb an diesen Job gekommen? Wollte ihn sonst niemand haben?

In letzter Zeit litt sie wieder unter Albträumen. Es waren schreckliche Träume vom Fallen, die sie noch aus ihrer Jugend kannte. Die Situation war immer dieselbe: Sie befand sich auf einer Brücke und hielt sich verzweifelt daran fest. Sie spürte, wie die Kraft ihrer Finger nachließ, während sie hilflos mit den Beinen ruderte. Dann stürzte sie rücklings in einen tiefen Abgrund. Jemand sah ihr vom Geländer aus zu. Olive konnte das Gesicht nie erkennen, aber sie meinte, der Zuschauer könne ihr Vater sein. Er war auf einer Brücke umgekommen, als sein Wagen frontal mit einem anderen zusammengestoßen war.

Jahrelang hatte Olive diesen Traum nicht mehr gehabt, aber jetzt quälte er sie immer wieder. Sie schlug dabei nie auf das Wasser auf, aber allein das Gefühl des Fallens war schrecklich. Sie hoffte inständig, dass das alles aufhörte, sobald das Schuljahr begonnen und so etwas wie Routine eingesetzt hatte. In der Zwischenzeit half vielleicht ein Gespräch mit Mona Sutton. Sie kannte die Schulpsychologin, seit sie vor mehr als fünfzehn Jahren auf die Highschool von Pine Lake gekommen war. Mona hatte sie unter ihre Fittiche genommen und ihr geholfen, über den Tod ihres Vaters hinwegzukommen. Olives Mutter war zu sehr in ihrem eigenen Schmerz gefangen gewesen, um zu merken, wie sehr ihre vierzehnjährige Tochter litt. Aber Mona hatte ihr damals beigestanden und auch später wieder, als der Stress im College dazu führte, dass die alten Träume zurückkamen. Sicher würde sie auch jetzt helfen, aber ihr Verhältnis hatte sich geändert, da Olive ihre Vorgesetzte geworden war.

Olives Haus befand sich direkt an der Ecke von Elm Street und Holly Street. Außer ihr war niemand auf der Straße. Für einen Moment hatte sie das schreckliche Gefühl, alle Einwohner könnten die Flucht ergriffen haben, während sie sich auf das neue Schuljahr vorbereitet hatte. Dann bellte irgendwo ein Hund, und ein Wagen war zu hören.

Sie trat auf die Fahrbahn, um die Straße zu überqueren. Plötzlich leuchtete ein Paar Scheinwerfer auf und blendete sie. Olive erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ins Licht. Der Motor heulte auf. Instinktiv wich sie auf den Bürgersteig zurück. Den Bruchteil einer Sekunde später schoss eine schwarze Limousine an ihr vorbei, doch sie erkannte weder den Wagen noch seinen Fahrer.

Olive hätte schwören mögen, dass der Wagen absichtlich einen Schwenk in ihre Richtung gemacht hatte. Schwer atmend blieb sie unter einer Laterne stehen und versuchte zu verstehen, was da gerade passiert war.

Wahrscheinlich war alles ganz harmlos. Jemand hatte sie erkannt und wollte sich einen Spaß daraus machen, der neuen Schulleiterin einen Schrecken einzujagen. Sie war ziemlich klein und wirkte um Jahre jünger als ihr Alter. Sie musste damit rechnen, dass sich so etwas mit dem Beginn des Schuljahres noch öfter wiederholte. Eine Herausforderung ihrer Autorität. Wenn sie die nächsten Monate überstehen wollte, sollte sie schnellstmöglich lernen, ihre Nerven im Griff zu haben.

Olive eilte zu ihrem Haus. Sie schloss die Tür hinter sich ab und legte vorsichtshalber noch den Riegel vor, der weiter oben befestigt war.

Ein ungewöhnlicher Platz für einen Riegel. Eher dafür gedacht, jemanden drinnen zu halten als zu verhindern, dass jemand hereinkam …

Jack suchte eine Bar aus, von der aus er die Straße gut im Blick behalten konnte. Aus einem Drink wurden drei. Es wurde schon dunkel, als er nach Hause ging. Unter der Dusche versuchte er, die unwillkommenen Erinnerungen fortzuspülen, die ihn zum Trinken gebracht hatten. Immer wieder sah er Annas Gesicht vor sich. Er wollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie in dem Sommer gewesen war, als er sich in sie verliebt hatte: eine wunderbare Frau mit einem strahlenden Lächeln und endlos langen Beinen. Stattdessen sah er im Geiste vor sich, wie sie aus dem See gezogen wurde, die Lippen blau, die Haut grau, die Augen offen und blind.

Das letzte Schuljahr hätte ihre schönste Zeit sein sollen. Ein langer Abschied, bevor das College sie trennte. Jack war zum Kapitän des Football-Teams gewählt worden, Anna war die Anführerin der Cheerleader. Das amerikanische Klischee. Im Nachhinein betrachtet schien sogar ihr Tod banal – das schönste Mädchen der Schule wurde zum Opfer eines Gewaltverbrechens. Es gab täglich Tragödien dieser Art in den Nachrichten, aber aus irgendeinem Grund schaffte dieser Fall es bis in die landesweiten Sendungen.

Eine Zeit lang hatte Jack nicht mehr das Haus verlassen können, ohne dass ihm Mikrofon hingehalten wurden. Die Klatschpresse machte ihn zum meistgehassten Siebzehnjährigen des Landes. Eines Abends fiel dann Wayne Foukes bei einer Verkehrskontrolle auf – wegen eines defekten Rücklichts. Unter den Drogen in seinem Kofferraum fand die Polizei einen Ring von Anna.

Foukes wurde vor Gericht gestellt, und die Reporter vor Jacks Haus verschwanden, aber die Menschen mieden ihn noch immer. Als er die Stadt verlassen hatte, hatte er sich geschworen, nie wieder zurückzukehren – und nun änderte ein Anruf von Nathan alles.

Er zog sich eine Jeans über und machte es sich vor dem Fernseher bei einem Footballspiel bequem.

Irgendwann klingelte sein Handy. Das Display zeigte erneut die Vorwahl von Pine Lake, aber nicht die Nummer, unter der Nathan ihn angerufen hatte.

„Jack King“, meldete er sich.

„Hallo, Jack. Hier ist Tommy Driscoll.“ Ein leises Lachen drang durch die Leitung. „Mann, ich wollte, ich könnte jetzt dein Gesicht sehen. Wahrscheinlich hättest du jeden erwartet, nur nicht mich.“

Damit hatte er recht. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass seine beiden ehemals besten Freunde sich nach fünfzehn Jahren am selben Abend bei ihm meldeten?

„Was kann ich für dich tun, Tommy? Oder sollte ich Sheriff Driscoll sagen?“

„Ach, das weißt du schon, was?“ Er klang geschmeichelt. „Wer hätte damals gedacht, dass ausgerechnet ein paar schräge Vögel wie wir bei der Polizei landen würden, was?“

„Ich bin kein Cop.“

„Aber du bist einer gewesen. Bei der Polizei in Houston. Du siehst, ich habe dich über die Jahre im Auge behalten.“ Er schien auf die Bestätigung zu warten, dass Jack umgekehrt dasselbe getan hatte. „Jetzt bist du bei der Blackthorn Agency“, sagte er schließlich, als Jack schwieg. „Nach allem, was man so hört, macht ihr die wirklich harten Jobs. Muss spannend sein. Und ich wette, es bringt auch gutes Geld. Sieht so aus, als hättest du es geschafft.“

„Wieso rufst du an, Tommy?“

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Es geht um Nathan.“

Jack war mit einem Schlag hellwach. „Was ist mit ihm?“

„Hast du in letzter Zeit von ihm gehört?“

Etwas in Tommys Ton bereitete Jack Unbehagen. „Wieso sollte ich etwas von Nathan gehört haben? Ihr habt euch doch schon seit Jahren nicht mehr gemeldet.“

„Du klingst verbittert.“

„Nein, nur vorsichtig.“

„Verständlich nach allem, was passiert ist. Damals hatten wir einfach nur Angst. Ich will unser Verhalten nicht entschuldigen, aber es war eine harte Zeit für alle.“

Die halbherzige Entschuldigung war wohl nur dem Umstand zuzuschreiben, dass Tommy etwas von ihm wollte. Genau wie Nathan. Er würde es ihnen nicht leicht machen.

„Es war wirklich grauenvoll“, sagte Tommy in das angespannte Schweigen hinein. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie grauenvoll es erst für dich sein musste.“

„Nein, das kannst du nicht.“

Tommy atmete scharf ein. „Hör mal, Mann – ich würde dich nicht belästigen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass Nathan in Schwierigkeiten steckt. In ernsten Schwierigkeiten. Und jetzt, wo es ihm um die Ohren fliegen könnte, sucht er nach einem Ausweg.“

„Wie meinst du das?“

Tommy zögerte. „Ich habe das Gefühl, dass er versuchen könnte, mir eine Falle zu stellen.“

„Inwiefern?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Und was soll ich dabei tun?“

„Nichts. Absolut gar nichts. Genau darum geht es mir. Falls Nathan versucht, sich mit dir in Verbindung zu setzen, möchte ich nur, dass du mich informierst. Das ist alles.“

„Und wieso glaubst du, er könnte mich anrufen?“

„Er ist verzweifelt. Vielleicht glaubt er, du hättest noch eine Rechnung offen, und er könnte es zu seinem Vorteil nutzen. Ein guter Rat von einem alten Freund …“ Driscolls Ton war kalt geworden. „Glaub ihm kein Wort. Nathan Bolt lügt, wenn er den Mund aufmacht. So war er schon immer. Genau wie sein Vater.“

„Worüber hat er gelogen?“, fragte Jack vorsichtig.

Tommy zögerte. „Vielleicht spielt es nicht einmal mehr eine Rolle.“

„Vielleicht doch …“

Erneut eine Pause. „Er war nicht zu Hause in der Nacht, als Anna ermordet wurde. Er ist vor Mitternacht gegangen und erst kurz vor Sonnenaufgang zurückgekommen.“

2. KAPITEL

Jack saß auf dem Bootsanleger seines Onkels. Ein feiner Nebel senkte sich über den See und tauchte das Labyrinth von Wasserläufen, die sich durch das morastige Sumpfgebiet der Bayous zogen, in ein gespenstisches Licht. Pine Lake lag weniger als eine Viertelmeile entfernt, aber die Bäume verdeckten die Lichter der Stadt. Er sah nichts weiter als die Silhouetten der Sumpfzypressen, von deren Ästen das dichte spanische Moos wie ein undurchdringlicher Vorhang herabhing und nur gelegentlich einen Blick auf die alte Brücke freigab.

Verdammt, es war wirklich dunkel hier draußen.

Jack hatte niemandem gesagt, dass er hier war – weder Nathan noch Tommy. Das kleine Holzhaus war makellos sauber gewesen, der Kühlschrank gefüllt. Sogar das Boot seines Onkels hatte man gereinigt und den Tank gefüllt. Es ärgerte ihn, dass Nathan sich offenbar sicher war, dass er kommen würde, aber letztlich hatte sein ehemaliger Freund ja recht behalten.

Das ganze Wochenende lang hatte er über die beiden Telefonate nachgedacht. Am Montagmorgen war er dann ins Büro gefahren, um die Situation mit seinem Boss zu besprechen. Ezra Blackthorn hatte sich die Geschichte aufmerksam angehört, hatte sich aber mit jedem Rat zurückgehalten. Es war allein Jacks Entscheidung gewesen, sich wieder in den Sumpf seiner Vergangenheit zu begeben. Die Chancen mochten gering sein, aber wenn es sie gab, musste er sie nutzen. Er wollte Annas Mörder hinter Gitter bringen und ein für alle Mal klären, was in jener Nacht damals wirklich passiert war.

Er ging davon aus, dass weder Nathan noch Tommy ihm die Wahrheit sagte. Jeder der beiden verfolgte ganz offensichtlich eigene Ziele. Er konnte sich sehr wohl vorstellen, dass Tommy Driscoll sich auf zweifelhafte Geschäfte einließ. Schon als Junge hatte er sich mit seinem angeborenen Charme aus jeder Situation herausgeredet, und Jack hatte keinerlei Zweifel daran, dass er dieses Talent auch heute noch nutzte.

Bei Nathan war die Einschätzung schwieriger. Er hatte von Hause aus Geld und Ansehen. Wieso sollte er das aufs Spiel setzen?

Es war Jack einerlei, was die beiden wollten. Ihn interessierte nur eines: dass einer von ihnen – oder beide – gelogen hatte, was ihr Alibi für den Mord an Anna betraf.

Seine innere Unruhe irritierte ihn. Als er ein Licht auf der alten Brücke aufblitzen sah, glaubte er schon, unter Halluzinationen zu leiden.

Aber nein, das Licht kam wieder. Kein flackerndes Licht, sondern der schwankende Strahl einer Taschenlampe, der über das Holz tanzte. Die alte Brücke wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt, aber die morschen Holzbohlen waren für alle Kinder stets eine Herausforderung gewesen.

Nun bewegte sich das Licht nicht mehr. Entweder hatte jemand die Taschenlampe auf den Boden gelegt oder sie irgendwo am Geländer befestigt. Wenn er sich sehr konzentrierte, meinte er eine Gestalt zu erkennen. Er war versucht, den Motor des Bootes anzuwerfen, um das Licht des Scheinwerfers zu nutzen, aber Nebel und Dunkelheit würden es ersticken. Davon einmal abgesehen, ging es ihn nichts an, was dort geschah. Er war nicht nach Pine Lake gekommen, um …

Er hörte, wie etwas Schweres auf das Wasser aufschlug. Der Strahl der Taschenlampe blitzte durch die Bäume, tanzte über die Wasseroberfläche – verschwand. Am Ende der Brücke tauchte das Licht wieder auf. Minuten später hörte Jack, wie ein Motor angeworfen wurde. Langsam entfernte sich der Wagen.

Wie sollte er das alles deuten? Die Menschen benutzten den See seit jeher als Müllkippe. Die Strafe dafür war hoch, aber hier fanden selten Kontrollen statt. Das war zweifellos der Grund gewesen, wieso Annas Mörder ihren Körper an dieser Stelle ins Wasser geworfen hatte.

Dieses Aufklatschen …

Jack wusste, dass das Geräusch ihm keine Ruhe lassen würde. Am besten sah er sich das einmal genauer an.

Minuten später lenkte Jack das Boot Richtung Brücke. Auf dem Wasser erschien alles noch dunkler als an Land. Er wollte kein Licht anschalten, schon gar nicht den Scheinwerfer, für den Fall, dass jemand in der Nähe war, aber es war gefährlich, ohne Licht auf dem See zu sein. Wenn er von der Mitte des Wasserlaufs abkam, konnten ihm die Wurzeln der Zypressen unter der Wasseroberfläche gefährlich werden. Außerdem konnten sich die Schlingpflanzen am Ufer um den Propeller des Außenbordmotors wickeln.

Erst als er in der Nähe der Brücke war, warf er den Scheinwerfer an und richtete ihn auf das Ufer. Hohe Zypressen erhoben sich wie bärtige Wächter zu beiden Seiten der Brücke aus dem Sumpf. Die Uferstreifen waren gesäumt von Teppichen aus Seerosen.

Er fuhr unter der Brücke hindurch, fuhr einen Bogen und kehrte zurück. Durch den Nebel hindurch erkannte er Schildkröten und Frösche im Scheinwerferlicht. Er sah die rot leuchtenden Augen eines Alligators, aber nichts Ungewöhnliches.

Das war reine Zeitverschwendung, und er wusste es. Was war auch gewesen? Er hatte gehört, wie etwas ins Wasser klatschte. Hatte das Licht einer Taschenlampe gesehen. Es gab keinen Grund, anzunehmen, dass hier irgendetwas Unrechtmäßiges …

Sie trieb auf dem Rücken im flachen Wasser. Zwischen den Seerosen.

Jack benutzte das Paddel, um näher heranzutreiben. Er versuchte nicht, die Frau herauszuziehen. Sie war tot, keine Frage. Die Kugel hatte sie von hinten in den Kopf getroffen und war zwischen den Augen ausgetreten. Er kannte diese Art Wunden aus seiner Zeit als Cop. Meist handelte es sich um Exekutionen aus dem Drogenmilieu. Ihr Gesicht war stark zerstört. Jack konnte nur vermuten, dass die Frau Anfang zwanzig gewesen sein mochte. Langes blondes Haar umfloss ihren Kopf.

Er verharrte einen Moment wie benommen, bevor er die Nummer von Tommy Driscoll wählte.

Es klingelte fünfmal, bevor der Sheriff sich endlich meldete. Er klang gereizt. „Driscoll.“

„Tommy, hier ist Jack King.“

„Jack? Es ist schon ganz schön spät …“

„Nicht in diesem Fall.“

„Hast du etwas von Nathan gehört?“

„Es geht um etwas anderes.“

Langes Schweigen. „Wo bist du?“

„Im Boot meines Onkels – auf dem Pine Lake. Ungefähr fünfzig Meter südlich der alten Brücke. Es ist wohl am besten, du kommst raus. Hier liegt eine Tote im Wasser.“

Er hörte, wie Tommy scharf einatmete. „Weißt du, wer es ist?“

„Eine Frau. Weiß. Blond. Anfang zwanzig, vermute ich. Sieht so aus, als hätte ihr jemand von hinten in den Kopf geschossen und ihren Körper dann von der Brücke ins Wasser geworfen.“

„Ich nehme an, wir brauchen keinen Krankenwagen“, bemerkte der Sheriff trocken.

„Nein, aber einen Gerichtsmediziner. Ich bleibe hier, bis du kommst.“

Jack ließ das Handy in die Tasche gleiten und schaltete den Scheinwerfer aus. Er hatte das ungute Gefühl, nicht allein zu sein. Jemand beobachtete ihn.

Nach kurzem Zögern warf er den Scheinwerfer wieder an und ließ den Lichtstrahl über das Ufer und dann über das Geländer der Brücke gleiten. Es hätte ihn nicht gewundert, dort oben jemanden stehen zu sehen, aber er entdeckte niemanden. Er war allein mit einer Toten.

Langsam schwenkte er den Lichtstrahl hinüber zu den Bäumen. In der Bewegung sah er etwas Weißes durch die Zweige der Zypressen blitzen. Wahrscheinlich eine Eule. Als er das Licht noch einmal darauf richtete, erkannte er, dass das Weiße nicht in einem Baum war, sondern oben auf der Brücke. Irgendetwas lag auf der obersten Verstrebung des Brückengeländers.

Ohne lange zu überlegen, stieß er sich mit dem Paddel ab, bis er mitten in der Fahrrinne war, und warf den Motor an, um zur Brücke zurückzukehren. Nun ließ er das Licht von Nahem auf das spanische Moos am Brückengeländer fallen. Was auch immer er erwartet haben mochte – das war es nicht!

Die Brücke befand sich gut vier Meter über der Wasseroberfläche. Unten war ein Geländer angebracht, darüber die Verstrebungen der Brückenkonstruktion, die in ungefähr sechs Metern Höhe von einem Eisenträger abgeschlossen wurden.

Auf diesem schmalen Eisenträger lag jemand. Eine Frau, seitlich in sich zusammengekrümmt.

Olive schlug die Augen auf. Sie hatte wieder ihren alten Albtraum gehabt. War gefallen. Tiefer und tiefer ins Nichts. Der Traum war so realistisch gewesen, dass sie immer noch den Geruch des Sumpfes in der Nase zu haben meinte. Sie spürte sogar eine leichte Brise auf ihrem Gesicht.

Einen Moment verharrte sie regungslos und atmete tief durch, während sie versuchte, ihren rasenden Puls zu beruhigen.

Was war das für ein Geräusch? Der Deckenventilator?

„Bewegen Sie sich nicht“, hörte sie plötzlich einen Mann in der Nähe sagen.

Sie wollte sich aufsetzen, aber eine Hand an ihrer Schulter drückte sie zurück. Eine zweite Hand umfasste ihr Handgelenk. Panik stieg in ihr auf. Sie wollte sich wehren, wollte mit aller Kraft nach dem Mann schlagen – doch dann wurde sie sich bewusst, dass etwas nicht stimmte. Das leichte Quietschen kam nicht vom Deckenventilator. Sie war nicht einmal in ihrem Schlafzimmer. Sie war …

„Wo bin ich?“, keuchte sie.

„Keine Angst, ich halte Sie.“ Die Stimme war tief und sanft. Olive empfand sie gleichermaßen beruhigend und beängstigend.

„Wo … halten Sie mich?“

„Sie kennen die alte Brücke am Pine Lake?“

„Ja, natürlich …“ Sie versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Von unten schien ein Licht herauf. Sie wollte hinuntersehen, aber die Hand an ihrer Schulter hielt sie an ihrem Platz. „Ich bin auf der Brücke?“

„Mehr oder weniger.“

Sie geriet in Panik, als sie daran dachte, wie morsch die Brücke war. Sie musste den Drang bezähmen, mit den Armen um sich zu schlagen und nach einem Halt zu suchen. Jetzt begriff sie, woher die knarrenden Geräusche und das Schwanken unter ihr kamen.

„Sie müssen ruhig bleiben, okay? Ich lasse Sie nicht fallen, aber dafür müssen Sie genau tun, was ich Ihnen sage.“

Sie begann zu zittern.

„Wir bringen Sie nach unten, aber dazu gehören ein paar vorsichtige Manöver.“

„Wieso kann ich nicht einfach aufstehen und die Brücke verlassen?“

„Sie sind nicht direkt auf der Brücke, Sie sind oben auf dem Geländer.“

„Auf dem Geländer?“

„Ja, auf dem höchsten Punkt der Brückenkonstruktion.“

„Das ist doch unmöglich!“ Noch während sie protestierte, begriff sie, dass die fedrigen Formen um sie herum die Zweige der Zypressen waren. Sie spürte die Nachtluft an ihrem Gesicht und das Eisen in ihrem Rücken. Erneut hatte sie das entsetzliche Gefühl, ins Nichts zu fallen. „Bitte lassen Sie mich nicht los!“, flehte sie eindringlich.

„Das tue ich nicht“, versprach er.

Aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm. „Wie bin ich hier heraufgekommen?“

„Sagen Sie es mir.“

„Manchmal schlafwandle ich. Ich träume immer vom Fallen …“

„Diesmal werden Sie nicht fallen. Falls Sie fallen, falle ich mit – und mir steht im Moment nicht der Sinn nach Schwimmen. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun müssen. Sie liegen auf Ihrer linken Seite mit dem Gesicht zum Wasser. Versuchen Sie sich zu orientieren.“

„Ich sehe Zypressen. Unter uns ist irgendwo ein Licht …“

„Sehen Sie nicht nach unten. Konzentrieren Sie sich auf die nächste Aufgabe. Hören Sie mir gut zu. Sie müssen sich auf den Bauch drehen, aber Sie haben nicht viel Platz dafür. Ich schätze, dass der Balken um die dreißig Zentimeter breit ist.“

Sie streckte eine Hand aus und stieß auf nichts als Luft. „Das geht nicht. Es ist nicht genug Platz da.“

„Wenn der Platz für Sie ausgereicht hat, um sich auf die Seite zu drehen und zu schlafen, dann reicht er auch, damit Sie sich auf den Bauch drehen können. Sie sind klein, Sie brauchen nicht viel Platz.“

„Das kann ich nicht! Bitte, zwingen Sie mich nicht!“

Er schwieg einen Moment. „Wie heißen Sie?“

„Olive Belmont.“

„Olive Belmont? Wie die Cousine von Nathan Bolt?“ Er klang überrascht.

„Ja. Kennen Sie Nathan?“

„Wir sind zusammen aufgewachsen. Hören Sie mir zu, Olive! Wir schaffen das zusammen, okay? Ich bin bei Ihnen. Gleich können Sie mich sehen. Legen Sie die rechte Hand auf den Träger und umklammern Sie ihn mit den Fingern. Machen Sie dasselbe mit der linken Hand, während Sie sich langsam drehen.“

Olive umklammerte den Eisenträger mit der einen Hand, verharrte dann aber regungslos. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie begann, sich langsam zu bewegen. Die ganze morsche Brückenkonstruktion ächzte. Sie erstarrte. „Ich kann das nicht.“

„Doch, Sie können das. Die Brücke bricht nicht zusammen. Nehmen Sie sich Zeit. Genau so. Ganz langsam.“

Olive konzentrierte sich. Sie ließ sich von seiner ruhigen, tiefen Stimme leiten, bis sie endlich schwer atmend bäuchlings auf dem Träger lag.

„Gut gemacht. Jetzt gehen Sie auf Hände und Knie. Kriechen Sie langsam auf mich zu. Sehen Sie nicht nach unten, sehen Sie mich an!“

Das Licht von unten genügte. Olive konnte die Silhouette des Mannes vor ihr ausmachen.

„Folgen Sie mir. Ganz langsam. Wir haben alle Zeit der Welt.“

Sie sah das Glitzern seiner Augen, sah die markante Linie seines Kinns. Er schien sich sehr sicher zu fühlen, vollkommen entspannt.

Zentimeter für Zentimeter näherten sie sich dem Ende der Brücke. Er hatte dabei den komplizierteren Part, weil er sich rückwärts bewegte.

„Wir haben es gleich geschafft. Immer die Ruhe bewahren.“ Er hielt an, und sie tat es ihm automatisch gleich. „Jetzt kommt der schwierigere Teil.“

„Der schwierigere?“, wiederholte sie schwach.

„Wir müssen uns über die Seite nach unten bewegen. Die Streben bilden am Ende der Brücke eine Art Leiter. Ich nehme an, darüber sind Sie auch nach oben gekommen.“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Es ist nicht so schwer, wie es sich anhört. Als Kind bin ich zigmal hinauf- und hinuntergeklettert. Nathan auch.“

„Das klingt gar nicht nach Nathan.“

„Es hat einiges gebraucht, ihn dazu zu bringen …“

Er ging als Erster über die Seite. Olive zählte stumm bis zehn. Dann drehte sie sich langsam, bis sie mit den Füßen Halt fand.

Die Bewegung schien den rostigen Bolzen den Rest gegeben zu haben. Es knackte! Das eine Ende des Trägers knickte unter ihr weg.

Olive fiel …

3. KAPITEL

Jack zog Olive auf die Leiter. Er hatte den Arm fest um sie gelegt und stützte sie, während sie mit den Füßen Halt suchte. Nachdem sich das eine Ende des Trägers gelöst hatte, geriet die ganze Brückenkonstruktion gefährlich in Bewegung, knackte und knirschte unheilvoll. Langsam, Schritt für Schritt, nahmen sie den Weg nach unten. Auf dem Boden der Brücke angekommen klammerte Olive sich an Jacks Arm. Schwer atmend starrte sie auf die morschen Bohlen, durch die an mehreren Stellen das Wasser zu sehen war.

„Wir sollten uns beeilen, hier wegzukommen.“ Er zog sie mit sich von der Brücke.

Endlich! Sie hatten wieder festen Boden unter den Füßen. Olive atmete tief durch.

„Alles in Ordnung?“

Sie nickte wortlos. Jetzt konnte sie ihn deutlicher sehen. Er war groß und schlank, hatte breite Schultern und lange Beine, dunkles Haar und dunkle Augen. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.

Sie sah ihn so deutlich, dass sie schon dachte, der Mond sei zwischen den Wolken hervorgetreten, aber dann begriff sie, dass das Licht von einem Boot kam, das am Ufer lag.

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Wenn du mich nicht gefunden hättest …“ Ein Schauer überlief sie. „Woher wusstest du, dass ich da oben bin?“

„Es war reiner Zufall, dass ich dich entdeckt habe.“ Er sah sie forschend an. „Du weißt wirklich nicht, wie du dort hinaufgekommen bist?“

Sie waren beide unbewusst auf das vertraute Du übergegangen. Es schien unter den Umständen nur natürlich.

„Ich weiß nicht einmal, wie ich zum See gekommen bin – oder wie ich das Haus verlassen habe.“ Sie sah auf ihre nackten Füße und begriff erst jetzt, dass sie nur ihren Pyjama trug. Aber das kümmerte sie im Moment am wenigsten. Sie zupfte sich ein Blatt aus dem Haar und ließ es zu Boden fallen. „Ich erinnere mich an überhaupt gar nichts.“

„Was ist mit Geräuschen?“, fragte er. „Hast du irgendetwas gehört? Ein Auto vielleicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Man schlafwandelt immer im Tiefschlaf. Ich erinnere mich nie an etwas.“

„Passiert das oft?“

„Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Ich hatte als Kind mal so eine Phase, und ich dachte, ich sei darüber hinweg. Es ist wie eine Art Gedächtnisschwund. Ich weiß nicht einmal, was mich geweckt hat.“

„Vielleicht hast du meine Gegenwart gespürt, als du dort auf dem Eisenträger lagst – oder vielleicht hast du meine Hand an deiner Schulter gefühlt. Ich habe versucht, dich nicht zu erschrecken.“

„Danke. Das hätte in einer Katastrophe enden können.“ Da sie jetzt wieder richtig wach war und in Sicherheit, wuchs ihre Neugier. „Du hast gesagt, du bist mit Nathan aufgewachsen. Seid ihr zusammen zur Schule gegangen?“

„Ja, auch schon zum Kindergarten.“

„Warte, ich kenne dich!“, entfuhr es ihr, als sich die Teile des Puzzles zusammenfügten. „Du bist Jack King.“

„Ich nehme an, mein Ruf eilt mir voraus.“

Olive ging nicht darauf ein. „Als meine Mutter und ich nach Pine Lake gezogen sind, haben wir bei Nathan und seinem Dad gewohnt, bis wir eine eigene Wohnung hatten. Du warst oft mit Tommy Driscoll und ein paar anderen Jungen bei uns. Ihr wart meist am Pool. Die anderen Freunde von Nathan haben mich gar nicht beachtet, aber du warst immer nett zu mir.“

„Wirklich?“

Sie lachte verlegen. „Ich nehme an, für dich war ich auch unsichtbar. Du erinnerst dich nicht an mich, oder?“

„Jetzt schon, aber du hast dich verändert. Keine Brille und keine Zahnspange mehr.“ Er musterte sie. „Aber ich glaube, ich sehe da immer noch ein paar Sommersprossen.“

Olive spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Sie hatte nie jemandem gestanden, dass sie damals heimlich für Jack King geschwärmt hatte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert.“

„Vielleicht solltest du mit der Einschätzung warten, bis wir besseres Licht haben.“

„Ich sehe dich sehr gut.“

Herannahende Wagen waren zu hören. Kurz darauf wurden Autotüren zugeschlagen, und die Stimmen von Männern drangen durch die Dunkelheit.

„Das wird der Sheriff sein. Hier sind wir!“, rief Jack.

Olive sah verblüfft hinüber. „Du hast die Polizei gerufen? Wieso hast du nicht gewartet, bis sie hier sind, um mich herunterzuholen?“

„Ich wollte dich nicht länger als nötig dort oben lassen. Außerdem habe ich die Cops nicht deinetwegen gerufen.“ Er zögerte, während sein Blick an ihr vorbei zum Wasser glitt. „Ich … Ich habe eine Tote gefunden, bevor ich dich dort auf der Brücke entdeckt habe.“

Olive presste sich entsetzt eine Hand an die Kehle. „Eine Tote? Weißt du, wer sie ist?“

„Nein, aber wenn sie hier aus der Gegend kommt, kann der Sheriff oder einer seiner Männer sie sicher identifizieren.“

Olive schloss für einen Moment die Augen. „Pine Lake ist klein. Hier kennt jeder jeden.“

„Ich weiß.“

Eine Mischung aus Angst, Trauer und gleichzeitig Erleichterung überkam sie. Wäre sie von dem Eisenträger gefallen, könnte sie jetzt auch dort im Wasser liegen und tot sein! Aber dank Jack King war sie gerettet.

Sie schlang sich die Arme um die Taille. „Konntest du sehen, woran sie gestorben ist? Ist sie ertrunken?“

„Diese Fragen solltest du dem Sheriff stellen. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte mich in seine Untersuchung eingemischt.“

Jack deutete auf Tommy Driscoll und zwei seiner Männer, die sich den Weg durch das Unterholz bahnten. Die Deputies trugen Uniform, während Tommy in Jeans, Cowboy-Stiefeln und einem weißen Hemd erschien. Er sah aus, als käme er direkt von einer Feier.

Der Sheriff blieb wie angewurzelt stehen, als er sie entdeckte. Er sagte über die Schulter hinweg etwas zu einem der Deputies, bevor er ans Ufer trat.

Olive versuchte, sich ihre Verachtung für den Sheriff von Caddo County nicht anmerken zu lassen. Sie respektierte sein Amt, nicht aber seine Person. Von Nathans Freunden hatte sie Tommy Driscoll am wenigsten gemocht. Schon als Teenager war er arrogant und überheblich gewesen – und es machte nicht den Anschein, dass sich daran etwas geändert hatte.

Die Zeit hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Seine Muskeln waren abgeschlafft, seine Züge hatten sich verhärtet. Zwar war er noch immer mit seiner Jugendliebe aus Highschoolzeiten verheiratet, aber es gab seit Jahren Gerüchte über Affären. Beth Driscoll unterrichtete Naturwissenschaften an der Highschool von Pine Lake. Sie war hübsch und eine engagierte Lehrerin. Olive verstand nicht, wieso eine so patente Frau sich mit einem solchen Mann abgab.

Er und Jack maßen sich kurz mit Blicken, bevor Tommy knapp nickte. „Jack.“

„Tommy.“

Sie gaben einander nicht die Hand.

„Schön, dich zu sehen. Tut mir leid, dass es unter solchen Umständen ist. Seit wann bist du in der Stadt?“

„Seit ein paar Stunden.“

„Gutes Timing.“ Tommy sah zu Olive hinüber und registrierte ihren Pyjama und die nackten Füße. „Olive? Was machst du denn hier?“

„Sie ist gerade dazugekommen“, erklärte Jack.

Tommy runzelte die Stirn. „Woher?“

„Von der Straße. Sie hat mein Boot gehört.“

Olive musste sich zusammenreißen, um Jack nicht mit offenem Mund erstaunt anzusehen. Irgendwie gelang es ihr, ihren Schock unter Tommys durchdringender Musterung zu verbergen.

„Olive kann sicher für sich selbst sprechen“, bemerkte er barsch.

Sie nickte. „Ich habe gerade einen Spaziergang gemacht, als ich das Boot gehört habe. Ich wollte sehen, wer noch so spät auf dem Wasser ist. Ich dachte, vielleicht entsorgt jemand seinen Müll. Du weißt, wie schädlich das für die Umwelt ist.“

„Ich weiß, dass du dich für Umweltbelange einsetzt“, bemerkte Tommy trocken, „aber du willst allen Ernstes behaupten, du hast zu dieser Zeit noch einen Spaziergang gemacht? Im Pyjama? Und ohne Schuhe?“

„Ich hatte nicht geplant, mich so weit vom Haus zu entfernen. Die letzte Zeit war sehr stressig, und ich wollte einfach nur frische Luft schnappen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und ehe ich michs versah, war ich bis zum See gelaufen.“

Tommys Blick wanderte von Olive zu Jack und zurück zu Olive. Er senkte die Stimme, als er auf sie zutrat. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Es war mehr als deutlich, was er damit meinte. Sie ärgerte sich, dass er Jack etwas unterstellte. „Natürlich“, beschied sie Tommy kühl. „Ich glaube, du hast im Moment Wichtigeres zu tun, als dir Sorgen um mich zu machen.“

Er wandte sich an Jack. „Wo ist die Tote?“

„Ich kann dich mit dem Boot hinbringen.“

Tommy nickte. „Okay, fahren wir.“

Die Deputies waren ein paar Meter entfernt stehen geblieben. Tommy ging zu ihnen und besprach leise etwas.

„Was sollte das denn?“, flüsterte Olive Jack empört zu.

„Vertrau mir, ich weiß, was ich tue.“

„Indem du die Polizei anlügst?“

„Das ist schon in Ordnung“, versicherte er ihr.

Olive war nicht wirklich überzeugt, aber jetzt war es zu spät, sich umzubesinnen.

Nervös sah sie zu, wie die beiden Männer ins Boot stiegen und losfuhren. Am anderen Ufer stellte Jack den Motor ab und richtete den Scheinwerfer auf die Seerosen.

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis sie zurück waren.

„Es wird leichter sein, sie von der anderen Seite zu bergen“, sagte Tommy zu den beiden Deputies. „Ich hoffe, ihr habt Gummistiefel dabei.“

Jack kam jetzt auch das Ufer herauf, und Olive trat unwillkürlich an seine Seite, hielt den Blick aber auf den Sheriff gerichtet. „Wer ist sie, Tommy?“

Er zögerte. „Ich nehme an, du wirst es sowieso bald erfahren. Es ist Jamie Butaud.“

Olive spürte Übelkeit in sich aufsteigen. „Sicher?“

„Ziemlich sicher. Die Beschreibung passt. Jack hat auf ihrem linken Arm ein Tattoo entdeckt. Ich erinnere mich daran, es bei Jamie gesehen zu haben.“

„Das Herz“, murmelte Olive.

„Kanntest du sie?“, fragte Jack leise.

„Sie war vor ein paar Jahren in einer meiner Klassen, bevor sie die Schule abgebrochen hat. Ich habe mir immer Sorgen um sie gemacht. Sie wirkte so verloren.“

„Sie hat für Nathan gearbeitet, nicht wahr?“ Tommy sah sie fragend an.

„Ja, an der Rezeption.“

„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“

Olive zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht so genau. Ich bin selten bei Nathan in der Kanzlei, aber ich habe Jamie gelegentlich in der Stadt gesehen – meist mit ihrem Freund.“

„Ist sie noch mit Waller zusammen?“

„Marc? Soweit ich weiß – ja.“

„Der Junge bedeutet nur Ärger. Genau wie sein Vater.“ Tommy fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Ich möchte, dass ihr Stillschweigen über das hier bewahrt – zumindest, bis wir die Angehörigen informiert haben. Und ich würde mich gern mit Waller unterhalten, bevor er versucht, die Stadt zu verlassen.“

Olives Blick wanderte von Tommy zu Jack. „Du glaubst nicht, dass es ein Unfall war?“

„Davon ist auszugehen“, bestätigte Tommy. „Nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung wissen wir mehr, aber zuerst einmal müssen wir sie aus dem Wasser bekommen. Es ist nicht nötig, dass ihr dabei seid. Hank kann dich nach Hause bringen, während wir auf den Doc warten.“

„Ich kann sie fahren“, erbot sich Jack.

Tommy schien nicht erfreut über das Angebot. „Mit deinem Boot? Soweit ich weiß, lebt Olive in der Stadt.“

„Wir fahren zum Haus meines Onkels und holen meinen Wagen. Ich glaube, du brauchst deine Männer hier vor Ort.“

Tommy sah Olive grimmig an. „Bist du damit einverstanden?“

Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie weitaus lieber mit Jack King allein war als mit irgendeinem der anderen anwesenden Männer, aber sie nickte nur und wandte sich an Jack. „Danke.“

„Keine Ursache.“

„Ich erwarte euch beide gleich morgen früh in meinem Büro. Und vergesst nicht, was ich gesagt habe – behaltet das Ganze für euch.“

Wortlos gingen Jack und Olive hinunter zum Boot. Olive mied es, zu der Stelle hinüberzusehen, wo sie die Tote gefunden hatten. Ihr Blick wurde wie magisch angezogen von den Eisenverstrebungen der Brücke. Wenn Jack sie dort oben nicht entdeckt hätte …

Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab. Ihr war noch etwas ganz anderes klar geworden: Während sie dort oben geschlafen hatte, hatte jemand Jamie ins Wasser geworfen. Die tote Jamie.

Kurze Zeit später hielt Jack vor Olives Haus. Sie hatte ihm gesagt, wie er fahren musste, aber sonst war kaum ein Wort zwischen ihnen gefallen.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Er sah sie fragend an.

„Ja, ich habe nur nachgedacht. Was für eine schreckliche Heimkehr für dich“, sagte sie leise. „Dieser Abend muss viele Erinnerungen bei dir geweckt haben.“

„Die ganze Stadt ist nichts als eine große schreckliche Erinnerung.“ Er warf einen Blick in den Rückspiegel und ließ seinen Blick über die Straße gleiten.

„Wieso bist du dann zurückgekommen?“

„Ich muss das Erbe meines Onkels abwickeln. Einiges lässt sich nicht per Telefon oder Mail erledigen.“

„Oh, natürlich. Es hat mir sehr leidgetan, von seinem Tod zu hören. Er war ein netter Mann. Ich mochte seine Geschichten immer sehr.“ Ihr Bedauern klang aufrichtig.

Jack sah sie überrascht an. „Seine Geschichten?“

„Er hat Kurse an der Abendschule belegt, an der ich manchmal unterrichte. Er war einer meiner Lieblingsschüler.“

„Leon hat die Abendschule besucht? Ich wusste gar nicht, dass er sich noch für etwas anderes als Angeln interessiert.“

„Dein Onkel war ein sehr talentierter Geschichtenerzähler.“

„Reden wir von demselben Leon King?“

Sie lächelte. „Mit Sicherheit. Er hat immer sehr anerkennend von dir gesprochen. Er war stolz auf das, was du erreicht hast, nach allem, was du hier erlebt hast.“ Einen Moment hielt sie inne, dann setzte sie nachdenklich hinzu: „Offen gestanden habe ich nie geglaubt, dass du es getan hast.“

„Wieso?“

„Weil ich beobachtet habe, wie du Anna angesehen hast. Jeder konnte sehen, dass du verrückt nach ihr warst. Außerdem hättest du es einfach nicht tun können. Du kannst niemandem wehtun – es sei denn, jemand bedrängt dich.“

„Und das ist dir alles während dieser kurzen Fahrt klar geworden?“

„Das wusste ich schon vor Jahren. Du bist ein guter Mann. Genau wie dein Onkel.“

„Ich bin lange fort gewesen“, sagte er. „Vielleicht bin ich nicht mehr der Mann, für den du mich hältst.“

„Und ich bin vielleicht nicht die Frau, für die du mich hältst.“ Verlegen setzte sie hinzu: „Falls du überhaupt an mich denkst, heißt das.“

„Es ist schwer, jemanden zu vergessen, den man zehn Meter über dem Wasser auf einem schmalen Eisenträger getroffen hat.“

Er sah, wie sie sich mit einem leichten Schaudern abwandte und aus dem Fenster schaute. Sie war sehr verführerisch mit ihrem zerzausten roten Haar und den leicht geöffneten Lippen. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte er die Einladung vielleicht angenommen, die in ihrem Lächeln lag, aber eine Affäre war im Moment das Letzte, was er brauchte – erst recht mit der Cousine von Nathan Bolt. Er war in die Stadt gekommen, um einen Mörder zu finden. Das konnte sehr unangenehm werden. Jeder musste sich vielleicht für eine Seite entscheiden. Wenn alles vorbei war, konnte er nach Houston zurückkehren, während Olive immer noch hier leben musste. Jack wusste nur zu gut, wie es war, Aussätziger in Pine Lake zu sein.

Sie lächelte zögernd. „Ich weiß jetzt, wieso du dem Sheriff gesagt hast, ich sei gerade erst am See eingetroffen“, sagte sie. „Du glaubst, ich war oben auf der Brücke, als der Killer Jamies Körper ins Wasser geworfen hat.“

„Davon kann man wohl ausgehen. Ich kann nicht mehr als fünf Minuten gebraucht haben, um nach dem Aufschlag des Körpers an der Brücke zu sein – und du warst bereits dort.“

„Und deswegen hast du lieber behauptet, ich sei auf der Straße gewesen.“

Er legte einen Arm über die Rücklehne ihres Sitzes. „Ich habe das Aufklatschen gehört und kurz danach, wie ein Motor ansprang. Der Wagen fuhr auf der anderen Seite des Sees davon. Selbst wenn du in dem Moment wirklich auf der Straße gewesen wärst, hättest du nichts sehen können.“

„Ach, deswegen hast du gefragt, ob ich einen Wagen gehört habe. Ich habe dir ja schon gesagt – wenn ich schlafwandle, erinnere ich mich nie an etwas.“

„Mag sein, aber das weiß Jamies Mörder nicht. Er oder sie möchte vielleicht nicht das Risiko eingehen, dass dir doch noch etwas einfällt.“

„Glaubst du wirklich, dass ich in Gefahr sein könnte?“

Er hätte ihr gern versichert, alles sei gut, aber ein trügerisches Gefühl von Sicherheit konnte gefährlich sein. „Solange du dem Mörder keinen Grund gibst, sich bedroht zu fühlen, wird er sich zurückhalten. Offiziell war ich als Erster vor Ort. Falls er nervös wird, wird er sich zuerst an mich halten.“

„Kein großer Trost!“

„Sollte es aber sein. Ich weiß damit umzugehen.“

„Leon hat mir erzählt, dass du ein Cop gewesen bist. Jetzt arbeitest du im Security-Bereich. Bei all deiner Erfahrung müsstest du doch eine Ahnung haben, wie Jamie umgekommen ist.“

„Willst du das wirklich wissen?“

Sie nickte stumm.

„Sie hat eine große Austrittswunde zwischen den Augen. Ich nehme an, man hat ihr aus kurzer Entfernung von hinten in den Kopf geschossen.“

„Oh Gott …“

„Ohne eine genauere Untersuchung des Gerichtsmediziners kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich kenne solche Wunden von Morden, die wie eine Hinrichtung inszeniert werden.“

„Eine Hinrichtung?“ Sie war sichtlich schockiert. „Wer würde der armen Jamie so etwas antun?“

„Hat es nie irgendwelche Gerüchte über illegale Aktivitäten gegeben?“

„Vor Jahren hatte sie ein paar Probleme. Es ging um den Besitz von Drogen. Ihre Mutter hat Nathan gebeten, sie zu vertreten, aber die Familie hatte kein Geld. Er wollte den Fall pro bono übernehmen, wenn Jamie sich bereit erklärt, die Abendschule zu besuchen und ihren Abschluss nachzuholen.“

„Was ist mit ihrem Freund?“

„Ich kenne ihn nicht persönlich, aber Tommy hatte recht. Marc Waller hat ständig Probleme. Er wurde ebenfalls wegen Drogenbesitz verhaftet – aber in seinem Fall war es so viel, dass auch der Verdacht auf Drogenhandel dazukam. Hätte man ihn verurteilt, wäre er für lange Zeit hinter Gitter gewandert. Aber Nathan hat erreicht, dass die Anklage fallen gelassen wurde – wegen irgendwelcher Formfehler. Müßig zu sagen, dass das bei der Polizei nicht gut angekommen ist.“

„Nathan Bolt scheint die richtige Adresse zu sein, wenn es um Drogenprobleme geht“, bemerkte Jack trocken.

„Es gibt nicht viele Alternativen, und mein Cousin ist sehr gut in seinem Job.“ Olive seufzte. „Jamies Tod wird ihn schwer treffen. Falls sich herausstellt, dass Marc Waller irgendetwas damit zu tun hatte, wird Nathan es sich nie verzeihen können.“

Alle diese Informationen waren höchst interessant für Jack. Am Abend seiner Rückkehr stolperte er über ein Mordopfer – eine junge Frau, die Nathan Bolt unter seine Fittiche genommen hatte. Das konnte kein Zufall sein.

„Es ist schon spät“, sagte Olive. „Wir sollen beide morgen früh im Büro des Sheriffs erscheinen …“

„Richtig. Ich bringe dich zur Tür.“

Sie stiegen aus und gingen zusammen die Stufen zur Veranda hinauf. Die Haustür stand offen.

„Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten“, sagte Olive nervös. „Wahrscheinlich habe ich vergessen, die Tür zu schließen.“

Jack schob sich an ihr vorbei, nachdem er einen prüfenden Blick in den Garten geworfen hatte, und stieß die Tür mit dem Fuß weiter auf.

„Wo ist der Lichtschalter?“

„Links von dir.“

„Warte hier.“ Rasch bewegte er sich durch das ganze Haus und inspizierte jedes Zimmer, bevor er zum Eingang zurückkehrte. „Alles in Ordnung.“

„Vielen Dank, dass du nachgesehen hast.“ Olive trat ein und folgte seinem Blick zum Riegel oben an der Tür. „Eine Vorsichtsmaßnahme. Auch wenn sie heute Abend nicht gewirkt hat.“

„Du hast den Riegel im Schlaf geöffnet?“

„Offensichtlich.“

„Du solltest eine Alarmanlage installieren lassen – sie muss so laut sein, dass sie dich weckt, sobald eine Tür oder ein Fenster geöffnet wird.“

„So etwas hatte meine Mutter anbringen lassen, als es mit meiner Schlafwandelei begann. Ich habe in diesem Haus darauf verzichtet, weil ich dachte, es sei nicht mehr nötig. Nach der Erfahrung von heute Abend werde ich mich sofort darum kümmern …“

Jack ließ seinen Blick ein letztes Mal durch das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer gleiten. Die Wände waren weiß gestrichen, die Möbel grau – ähnlich seiner eigenen Wohnung. Olive hatte Farbtupfer gesetzt durch leuchtend rote und türkise Kissen und Läufer. Er nahm das alles in sich auf – nicht, weil er sich für ihr ästhetisches Empfinden interessierte, sondern weil ein Haus viel über einen Menschen aussagen konnte, der dort lebte.

Olive Belmont erschien ihm wie ein offenes Buch. Falls ihr Cousin Dreck am Stecken hatte, dann wusste sie mit Sicherheit nichts davon. Andererseits wäre es nicht das erste Mal, dass er getäuscht wurde.

Er wandte sich wieder Olive zu. „Bist du sicher, dass du jetzt zurechtkommst?“

„Natürlich. Falls ich überhaupt schlafe, wird es nicht tief genug sein, um das Bett wieder zu verlassen.“

Im Geiste sah Jack das Bett vor sich: weiße Leinenwäsche und weiche Kissen.

„Dann gute Nacht.“ Spontan beugte er sich herab, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen. In diesem Moment drehte Olive den Kopf, sodass seine Lippen ihre streiften.

Er trat keinen Schritt zurück und entschuldigte sich auch nicht. Stattdessen schob er seine Finger in ihr Haar und presste seine Lippen auf ihre – diesmal mit Absicht. Sie erwiderte seinen Kuss ohne zu zögern. Als er sich von ihr löste, wirkte sie für einen Moment verwirrt, als sei sie erneut aus einem irritierenden Abenteuer zu sich gekommen.

„Was für ein seltsamer Abend!“, murmelte sie.

„Das finde ich auch.“ Er ging.

4. KAPITEL

Olive verließ am nächsten Morgen gerade den Coffee Shop, als Jack hineingehen wollte. Er hielt ihr die Tür auf, und sie trat zu ihm auf den Bürgersteig. Dabei gönnte sie es sich, einen Moment lang diskret den Sitz seiner verblichenen Jeans zu bewundern und das Baumwollhemd, das er über der Hose trug, die Ärmel aufgekrempelt.

Sein Haar war noch dunkler, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Die braunen Augen erinnerten sie an Schokolade. Sie hatte sich am Vorabend geirrt: Er hatte sich seit der Highschool ganz eindeutig verändert. Das Sonnenlicht zeigte feine Linien unter seinen Augen. Dies war nicht mehr der Siebzehnjährige, den die Stadt damals vertrieben hatte. Er war erwachsen geworden. Härter.

„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn. „Sieht ganz so aus, als hätten wir beide dieselbe Idee gehabt.“

„Scheint so.“ Er ließ den Blick unverhohlen über sie gleiten.

Sie war froh, sich an diesem Morgen etwas mehr Mühe mit ihrem Outfit gegeben zu haben, weil sie am Vormittag die erste Lehrerkonferenz hatte und sie einen guten Eindruck machen wollte. Dass Jack das weiße Kleid und die neuen Schuhe sichtlich gutzuheißen schien, war nur die Kirsche auf der Torte.

„Willst du zum Büro des Sheriffs?“, erkundigte er sich.

„Ich war schon dort.“ Sie traten ein wenig beiseite, um den Kundenstrom nicht zu behindern. „Das Gespräch war kurz. Ich konnte nicht mehr sagen als gestern, und Tommy hat kaum etwas über die Ermittlungen erzählt. Ich nehme an, Jamies Tod hat sich schon herumgesprochen. In einer so kleinen Stadt ist es schwer, etwas geheim zu halten.“

„Hast du das wiederholt, was du schon gestern gesagt hast?“

„Ich bin bei der Geschichte geblieben, falls du das meinst – auch wenn es mir schwergefallen ist. Ich arbeite mit Kindern und nehme meine Funktion als Vorbild sehr ernst. Was sagt es über meinen Charakter aus, wenn ich bei einer Mordermittlung so locker mit der Wahrheit umgehe?“

„Du hast nichts gesehen und nichts gehört. Wieso solltest du dich überflüssigerweise einem Risiko aussetzen?“

„Wahrscheinlich hast du recht.“

„Ich sollte mir jetzt meinen Kaffee holen und gehen. Tommy erwartet mich sicher schon.“

„Und ich muss zur Schule.“ Sie überlegte. „Sollen wir uns später zusammensetzen, um uns auszutauschen? Um zehn habe ich eine Lehrerkonferenz, aber dann bin ich den ganzen Nachmittag im Büro.“

„Ich versuche, dich anzurufen.“

Eine unverbindliche Antwort, die Olive nicht persönlich nahm. Sie hatte den Gutenachtkuss am Abend zuvor genossen, aber sie deutete nicht zu viel hinein. Jack hatte impulsiv gehandelt, und sie hatte entsprechend reagiert. Wahrscheinlich war es noch eine Nachwirkung der Rettungsaktion gewesen. Olive gestand sich offen ein, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, aber wahrscheinlich war das nur der Erinnerung an alte Zeiten zuzuschreiben.

Außerdem war es am besten, Distanz zu wahren. Nach dem gestrigen Abend gab es mit Sicherheit Klatsch. Der Ruf war in einer so kleinen Stadt wichtig, besonders für jemanden in ihrer Position. Die nächsten Wochen waren entscheidend. Sie konnten den Tenor des ganzen Schuljahres bestimmen, wenn nicht ihrer ganzen Laufbahn. Es wäre dumm, jetzt alles, wofür sie gearbeitet hatte, aufs Spiel zu setzen.

Sie murmelte einen Abschiedsgruß und wollte die Straße überqueren. Plötzlich schoss ein schwarzer Pick-up über die Kreuzung. Jack zog sie gerade noch auf den Bürgersteig zurück, konnte aber nicht verhindern, dass sie mit dem Absatz hängen blieb und zu Boden fiel. Der Kaffeebecher flog ihr aus der Hand. Hilflos starrte Olive auf die braunen Flecken auf ihrem weißen Kleid.

Jack war sofort an ihrer Seite. „Alles in Ordnung?“

„Ich glaube schon.“ Sie nahm seine Hand und richtete sich rasch wieder auf. Einige Leute waren bereits stehen geblieben. Olive wollte am liebsten im Boden versinken. „Das ist nun schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass du mich rettest. Und das zweite Mal in weniger als einer Woche, dass ich fast angefahren wurde. Ich sollte wirklich besser aufpassen.“

„Der Wagen ist viel zu schnell gefahren.“ Jack hob den Becher auf und warf ihn in einen Mülleimer.

Olives Fußgelenk schmerzte, und der Absatz ihres rechten Schuhs wackelte. Der Morgen hatte sich zu einer Katastrophe entwickelt. Jetzt musste sie erst wieder nach Hause gehen und sich umziehen. Da blieb kaum noch Zeit, sich auf die Konferenz vorzubereiten. Sie haderte mit ihrem Schicksal – bis sie an Jamie Butaud denken musste. So betrachtet waren ein paar Kaffeeflecken auf dem Kleid wirklich nicht der Rede wert.

„Hast du den Fahrer gesehen?“, fragte Jack sie.

„Es ging viel zu schnell. Und du?“

„Ich habe mir einen Teil des Nummernschildes gemerkt. Den melde ich zusammen mit einer Beschreibung des Wagens dem Sheriff. Irgendjemand wird den Truck erkennen.“ Er ließ den Blick für einen Moment über die Passanten schweifen, bevor er sich wieder ihr zuwandte. „Du sagst, es sei schon einmal passiert?“

„Ja, am vergangenen Freitag. Ich habe länger im Büro gearbeitet, und es war schon fast dunkel, als ich nach Hause ging. Der Wagen tauchte auf wie aus dem Nichts, und die Scheinwerfer haben mich geblendet, als ich die Straße überqueren wollte.“

„Am vergangenen Freitag, sagst du?“ Sein Ton war schärfer geworden.

„Ja, wieso?“

Er zögerte. „Ach, nichts weiter. Ich habe nur an meinen eigenen Freitag gedacht. War es derselbe Wagen?“

„Nein, eine Limousine. Die Marke kann ich dir nicht sagen. Ich glaube nicht, dass ich mir deswegen Sorgen machen sollte. Wahrscheinlich will mich nur jemand auf die Probe stellen.“

„Wie meinst du das?“

„In drei Wochen beginnt mein erstes Jahr als Leiterin der Highschool von Pine Lake.“

„Als Leiterin?“

Sie lachte unsicher. „Sag jetzt nicht, ich sei zu jung dafür. Das habe ich schon oft genug gehört.“

„Ich wollte sagen, du bist sehr mutig.“

„Das werden wir bald sehen. Aber wie auch immer – ich glaube, dass hinter diesen Vorfällen nur der Versuch steckt, meine Autorität herauszufordern. Vielleicht ein Versuch, mich einzuschüchtern. Keiner der Wagen hat mich wirklich in Gefahr gebracht.“

„Trotzdem sollte man es anzeigen. Du hättest dich beim Sturz verletzen können. Was auch immer für ein Motiv dahintersteckt – der Täter darf nicht damit durchkommen.“

„Es sind nur Jugendliche. Sobald sie gemerkt haben, dass sie bei mir nichts erreichen, werden sie sich eine andere Beschäftigung suchen.“ Sie sah sich um. Ein paar Leute tuschelten miteinander. Offenbar hatten sie Jack erkannt. Olives Herz sank. Es würde wie ein Lauffeuer durch die Stadt gehen: Jack King war zurück in Pine Lake – und am selben Abend wurde eine junge Frau ermordet. Olive Belmont war mit ihm am See gesehen worden und nun auch vor dem Coffee Shop. Nicht auszudenken, was die Gerüchteküche ihr für eine Rolle in diesem Spektakel zuschrieb!

Jack hatte die Zuschauer auch bemerkt.

„Ignoriere sie“, bat Olive.

„Diese Menschen bedeuten mir nichts.“ Sein Ton war kalt geworden.

„Wieso bist du dann zurückgekommen?“

„Das habe ich dir gestern schon gesagt – ich muss einiges erledigen.“

„Mag sein, aber ich habe gesehen, wie du die Leute gerade angesehen hast. Diese Menschen! Geht es dir um Rache?“

„Nicht um Rache – um Gerechtigkeit.“

Olives Unbehagen wuchs. „Dein Onkel hat nie geglaubt, dass Wayne Foukes Anna ermordet hat. Siehst du das auch so?“

„Wayne Foukes hat sich vieler Verbrechen schuldig gemacht, aber er ist mit Sicherheit nicht der Mörder von Anna.“

„Wie kannst du das wissen, wenn du nicht …“

„Wenn ich nicht der Mörder bin?“

„… wenn du nicht neue Beweise gefunden hast. Ich habe dir schon gestern gesagt, dass ich dich nie für den Täter gehalten habe.“

„Du hast mir auch gesagt, dass du mich für einen guten Mann hältst. Im Moment sagt deine Miene etwas anderes.“

Es stimmte, sie stand an diesem Morgen irgendwie anders zu ihm. Er war ihr ein wenig zu distanziert, ein wenig zu verschlossen. Aber was, wenn er recht hatte? Was, wenn ein kaltblütiger Mörder in der kleinen Stadt untergetaucht war, um nun, fünfzehn Jahre später, erneut zu töten?

Jack wartete geduldig auf ihre Antwort.

„Ich halte dich immer noch für einen guten Mann“, sagte sie schließlich. „Aber ein guter Mann mit einer Mission kann sehr viel Unheil anrichten.“

„Die Unschuldigen haben nichts von mir zu befürchten.“

Sie schloss für einen Moment die Augen. „Ich … ich sollte gehen.“

Gerade als sie sich abwenden wollte, streckte er eine Hand aus und schob eine Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter ihr Ohr. Unwillkürlich schoss ihr Puls in die Höhe.

Ihr wurde bewusst, dass sie ein ernsthaftes Problem hatte.

Jack warf einen Blick über die Schulter zu Tommy Driscoll hinüber. Der Sheriff von Caddo County saß an seinem Schreibtisch und telefonierte nun schon seit fünf Minuten.

Als er den Blick von Jack auffing, legte er eine Hand über die Sprechmuschel. „Tut mir leid …“

„Kein Problem.“

„Brauchst du etwas? Kaffee? Ein Wasser …?“

„Nein, danke.“ Jack wandte sich wieder dem Fenster zu. „Lass dir Zeit.“

Er war froh, ein paar Minuten zu haben, um sich zu sammeln. Seine Wut hatte ihn selbst überrascht. Dass die Menschen aus Pine Lake ihn mit ihrem Misstrauen immer noch so herunterziehen konnten, verhieß nichts Gutes für eine objektive Untersuchung.

Auch der Besuch des Kommissariats setzte ihm zu. An dem Morgen, an dem er von Annas Tod erfahren hatte, hatte man ihn hierhergebracht. Auch nach solch langer Zeit erinnerte er sich noch mehr als deutlich an diese Stunden. Zuerst die bebende Stimme seiner Mutter, die ihn aus dem Tiefschlaf holte. Wie benommen hatte er sich angezogen und war hinunter in die Küche gegangen, wo sein Vater und Sheriff Brannigan bei einem Kaffee saßen. Sein Vater war ebenso ernst gewesen wie der Sheriff.

Sie müssen mich zusammen mit Ihren Eltern auf das Kommissariat begleiten.

Während der Fahrt in die Stadt erfuhr Jack von Annas Tod. Hin und her gerissen zwischen Trauer und Schock saß er schließlich zwischen seinen Eltern dem Sheriff gegenüber und erlebte sein erstes Verhör. Jacks Eltern hatten fast ihr ganzes Leben in Pine Lake verbracht. Sheriff Brannigan war ein Freund. Sie waren überzeugt, wenn Jack einfach die Wahrheit sagte, würde alles gut werden. Nach fünf Stunden intensiven Verhörs hatte Jacks Vater sich schließlich entschlossen, einen Anwalt anzurufen.

Als sie das Kommissariat verlassen durften, hatte die Nachricht von dem Mord an Anna sich bereits herumgesprochen. Auf dem Parkplatz hatten sich Freunde, Nachbarn und Klassenkameraden versammelt. Der brodelnde Verdacht und die gehässigen Rufe waren schwer zu ertragen, aber nichts setzte Jack so zu wie das stille Weinen seiner Mutter. Seine Eltern hatten ihm während der ganzen Tortur zur Seite gestanden und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie an seine Unschuld glaubten. Aber nach diesem Morgen hatte Jack das Gefühl, dass beide ihn nie wieder so ansahen wie früher.

„Jack? Bist du bereit?“

Tommys Stimme durchdrang den Nebel der Erinnerungen. Jack drehte sich um. „Was?“

„Das Gespräch. Bist du bereit?“

„Ja, wir wollen es hinter uns bringen.“

Tommy reckte sich. „Nochmals Entschuldigung für das Telefonat. Der Bürgermeister ist immer schwer zu stoppen, wenn er erst einmal loslegt. Vor dem Anruf hast du mir von einem schwarzen Pick-up erzählt, der Olive heute Morgen fast umgefahren hat.“

„Ja, es hätte nicht viel gefehlt.“

„Schwarze Pick-ups gibt es hier wie Sand am Meer. Könnte schwierig werden, ihn zu finden, auch wenn du einen Teil des Nummernschildes hast. Ist dir sonst irgendetwas Besonderes an dem Wagen aufgefallen? Irgendwelche Aufkleber? Beulen?“

Jack verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Schulter gegen den Fensterrahmen. „Der Wagen war mattschwarz. Eine Speziallackierung.“

„Das könnte helfen.“ Tommy machte sich ein paar Notizen, riss das Blatt vom Block und ging nach nebenan, um es einem seiner Männer zu geben. Ein paar Minuten später kehrte er zurück und ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken. Er bedeutete Jack mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. „Was diesen schwarzen Pick-up angeht – eindeutig ein Fall von rücksichtslosem Fahrstil, aber du glaubst doch nicht, dass der Fahrer bewusst versucht hat, Olive anzufahren, oder?“

„Sie sagt, es war der zweite Vorfall dieser Art in weniger als einer Woche. Sie glaubt, es stecken Schüler dahinter, die sehen wollen, ob sie ihr Angst machen können.“

„Klingt nachvollziehbar. Die Jungs hier fahren wie die Verrückten. Wir waren ja in dem Alter nicht anders. Und unter uns gesagt: Olive Belmont ist keine sehr aufmerksame Verkehrsteilnehmerin. Sie ist mit ihren Gedanken meist woanders. Und nicht nur sie. Nimm zum Beispiel die Leute, die an ihrem Smartphone kleben, während sie über die Straße gehen. Wenn die dann noch auf einen Fahrer treffen, der gerade eine SMS schreibt, hast du das ganze Ausmaß des Grauens.“

„Olive war nicht an ihrem Smartphone.“

„Nein, aber sie hat sich mit dir unterhalten. Sie war abgelenkt. Ich will nicht sagen, dass ich mich nicht darum kümmere. Das werde ich. Aber selbst wenn ich den Fahrer finde, wird nicht mehr als eine Ermahnung dabei herauskommen. Manchmal hilft das ja.“

Autor

Amanda Stevens
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Janice Kay Johnson
Janice Kay Johnson, Autorin von über neunzig Büchern für Kinder und Erwachsene (mehr als fünfundsiebzig für Mills & Boon), schreibt über die Liebe und die Familie und ist eine Meisterin romantisch angehauchter Krimis. Achtmal war sie für den renommierten Romance Writers of America (kurz RITA) Award nominiert, 2008 hat sie...
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Debra Webb
Debra Webb wurde in Alabama geboren und wuchs als Tochter von Eltern auf, die ihr beibrachten, dass alles möglich ist, wenn man es nur zielstrebig verfolgt. Debra liebte es schon immer, Geschichten zu erzählen und begann schon mit neun Jahren zu schreiben. Die Farm, auf der sie aufwuchs bot viel...
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