Baccara Spezial Band 16

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JENE NACHT AM ECHO LAKE von AMANDA STEVENS
Ihre Nichte ist spurlos verschwunden! Rae muss sofort an jene Schicksalsnacht vor fünfzehn Jahren am Echo Lake denken, die für zwei Mädchen verhängnisvoll endete. Damals gab sie Tom die Schuld. Inzwischen ist er Sheriff – und genau der Mann, den Rae jetzt dringend braucht …

STIRB, WENN DU MICH LIEBST von JANIE CROUCH
„Du. Bist. Nicht. Mehr. Allein. Okay?“ Wie gern würde Bree dem sexy Deputy Tanner Dempsey glauben und sich beschützt fühlen. Aber was Tanner nicht weiß: Seit Jahren wird Bree gnadenlos von einer IT-Organisation gejagt, die sie töten will. Und Tanner auch, wenn er im Weg steht …

WER BIST DU WIRKLICH, GINNY? von RITA HERRON
Ein neuer Name, eine neue Identität. Aber ist das genug Tarnung, um den Killer ihrer Schwester zu überführen? Reese weiß es nicht. Doch mit der Hilfe des Ermittlers Griff Maverick muss sie es riskieren. Auch wenn Griff nie erfahren darf, wer sie wirklich ist …


  • Erscheinungstag 11.02.2022
  • Bandnummer 16
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510455
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda Stevens, Janie Crouch, Rita Herron

BACCARA SPEZIAL BAND 16

AMANDA STEVENS

Jene Nacht am Echo Lake

Wie ein Fluch lasten auf Sheriff Tom Brannon die Ereignisse am Echo Lake vor fünfzehn Jahren, die zwei Mädchen zum Verhängnis wurden. Nun wird die Nichte der schönen Rae Cavanaugh vermisst. Rae gibt Tom schon lange die Schuld daran, dass ihre Schwester damals verschwand – und doch ist sie die Einzige, die er begehrt …

JANIE CROUCH

Stirb, wenn du mich liebst

Eine junge Frau, die versucht, im Supermarkt Babynahrung zu klauen – Deputy Tanner Dempsey macht nur seinen Job, als er die zarte Bree Daniels anspricht. Aber in ihren Augen sieht er nackte Angst. Er will ihr und ihren kleinen Zwillingen helfen. Doch damit beginnt für ihn ein albtraumhafter Kampf gegen sehr mächtige Feinde …

RITA HERRON

Wer bist du wirklich, Ginny?

Irgendetwas stimmt nicht mit der hübschen Journalistin Ginny Bagwell, die angeblich über Feuerteufel recherchiert. Griff Maverick, Ermittler bei Brandstiftungen, spürt genau, dass es Ginny um etwas anderes geht. Sie fragt ihn über einen Mordfall an einer jungen Frau in der Stadt aus und dreht sich ständig um. Als sei sie auf der Flucht vor jemandem …

1. KAPITEL

Ein Blutmond hatte über den Nadelwäldern von East Texas gehangen, als die drei Mädchen verschwunden waren. Die alten Leute in Belle Pointe hatten es für ein Omen gehalten. Tom Brannon fand, dass es schlicht und ergreifend Pech gewesen war. Er hatte seine Taschenlampe vergessen, als er aus dem Haus gerannt war. Im spärlichen Licht der Mondfinsternis hatte er kaum etwas gesehen, als er sich am Ufer des Sees vorangekämpft hatte. Er hatte gehofft, dass er die drei Mädchen nach seiner Suche sicher im Zimmer seiner Schwester vorfinden würde.

Fünfzehn Jahre waren seitdem vergangen, doch Tom überkam immer noch ein Schauer, wenn sich der Mond rötlich färbte und vom See der Duft der Nadelbäume herübergeweht wurde. Er stand gerade vor der Polizeistation und sah zum Himmel hinauf. Er sollte nicht über den Mond nachdenken. Es gab Wichtigeres, um das er sich kümmern musste. Haushaltskürzungen, steigende Kriminalitätsraten und der Stapel an Beschwerden, der jeden Tag größer zu werden schien. Es gab immer etwas zu tun. Die Arbeit als Sheriff auf dem Land fand niemals ein Ende.

Er musste unwillkürlich an seine Schwester Ellie denken, die abgeschieden am Echo Lake lebte. Er hatte sie einmal gefragt, ob sie nicht einsam war. Sie hatte nur geschnaubt und gemeint, alles andere als das Leben am See würde sie verrückt machen. Außerdem war sie nur zwanzig Minuten von der Stadt entfernt, und dort fand sie genug Gesellschaft. Sie wirkte glücklich, aber Tom fragte sich, ob sie immer noch Albträume hatte und sich unter dem Bett oder in ihrem Schrank versteckte, bis die Monster verschwunden waren. Er fragte nicht nach. Sie standen sich zwar nahe, aber es gab Dinge, über die sie nicht sprachen. Drei Mädchen waren in der Blutnacht in dem verlassenen Krankenhaus verschwunden, und Ellie war die Einzige, die noch sie selbst war. Sich deshalb schuldig zu fühlen, machte vieles schwer. Tom wusste das nur zu gut.

Vielleicht brachte der Mond ihn dazu, oder er machte sich zu viele Sorgen, aber er musste nach ihr sehen und ihre Stimme hören, um sich zu beruhigen. Aber er hätte früher anrufen müssen, denn gerade lief ihre Radio-Show Midnight on Echo Lake, die sie in ihrem Studio hinter dem Haus produzierte. Er könnte in ihrer Show anrufen und über Bigfoot oder Aliens reden, die angeblich in der Nähe des Sees in den Wäldern gesichtet worden waren. Das würde sie bestimmt freuen, auch wenn sie ihn später zurechtweisen würde, weil er sich über ihre Hörer lustig gemacht hatte.

Manche Dinge kann man nicht erklären, würde sie ihm sagen. Manche Menschen brauchen eine Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu sprechen, ohne dass man sich über sie lustig macht.

Manche Leute sind einfach verrückt, würde Tom erwidern.

Vielleicht war er eine dieser Personen. Den ganzen Abend über hatte er ein ungutes Gefühl verspürt. Er glaubte nicht an Vorahnungen, aber er vertraute auf seine Instinkte. Irgendetwas ging hier vor sich. Es lag etwas im Wind, auch wenn er hoffte, dass es nur ein sommerlicher Sturm war.

„N’Abend Sheriff.“

Tom sah seinen neuen Angestellten über den Parkplatz auf sich zu kommen. Er blickte aus Reflex auf die Uhr. Das Department arbeitete in Sechs-Stunden-Schichten. Tom arbeitete seit sechs Uhr morgens … er hatte zwei Schichten durchgearbeitet.

„Du bist aber früh dran“, bemerkte er. „Gute Angewohnheit.“

„Ja, Sir“, antwortete der junge Mann mit einem ernsten Nicken. Billy Navarro hatte vor Kurzem seinen Abschluss bei der East Texas Police Academy gemacht und war so motiviert, dass Tom sich an sich selbst vor zehn Jahren erinnert fühlte. Sein Vater hatte bereits dreißig Jahre als Sheriff von Nance County gearbeitet, als Tom dazugekommen war. Er hatte ein Jahr lang unter ihm gearbeitet, bis Porter Brannon im Schlaf einen Herzinfarkt erlitten hatte. Tom hatte danach neun Jahre unter dem Nachfolger seines Vaters gearbeitet und sich vom einfachen Streifenbeamten zum Ermittler und schließlich zum Sheriff hochgearbeitet, bis er vor zwei Jahren das Amt des Sheriffs für die gesamte County übernommen hatte.

Die Wahl zum Sheriff war unschön und äußerst persönlich verlaufen. Tom war von seinem Wahlgegner und anderen Leuten in der Echo Lake Star angegriffen worden. Alles an ihm war durch den Dreck gezogen worden, von seinem Alter bis hin zu seiner Seriosität. Zwischendurch hatte er sich gefragt, wieso er überhaupt in die Fußstapfen seines Vaters hatte treten wollen. Am Ende hatte er die Wahl knapp gewonnen, was seinen Rivalen, den Cavanaughs, nicht gefallen hatte. Er vermutete, dass sich die Feindschaft zwischen ihnen und seiner Familie bis zur nächsten Wahl nicht verbessern würde.

„Vorsicht vor dem Blutmond“, murmelte Billy neben ihm.

„Was hast du gerade gesagt?“

„Das hat meine Oma gemeint, als ich losgegangen bin.“ Billy trat von einem Fuß auf den anderen. „Was ist das für eine Verabschiedung?“

„Das ist nur ein altes Märchen. Halte einfach Augen und Ohren offen, dann wird alles gut.“

Tom würde einem Anfänger niemals sagen, dass es hier in Belle Pointe und der ländlichen Umgebung anders war, Streife zu fahren, als in den unsicheren Straßen der Großstädte. Er wollte, dass Billy konzentriert blieb. Nance County war ländlich, hatte aber dennoch Probleme mit drogenbezogenen Straftaten. Immer häufiger fanden sich Meth-Dealer in verlassenen Häusern auf dem Land, wo sie die Droge in großen Mengen produzierten. Über die Verbindung zur Interstate konnten sie das Meth schnell verteilen. Es war ein großes, schnelles Geschäft. Synthetisches Marihuana und Fentanyl sowie die üblichen Problemdrogen Kokain und Heroin waren Tom hier auch schon untergekommen.

Billy sah in den Himmel. „Ich weiß, dass es nur ein Aberglaube ist, aber irgendetwas liegt heute in der Luft, findest du nicht auch?“

Tom spürte es ebenfalls, aber er wollte Billy nicht noch mehr verunsichern. Er zuckte daher mit den Schultern, um seine eigenen unangenehmen Vorahnungen loszuwerden und drehte sich zur Tür. „Statik in der Luft“, sagte er nur. „Es kommt ein Sturm auf uns zu.“

„Der Himmel ist strahlend blau.“

„Noch“, sagte Tom. „Mit wem bist du heute Abend unterwegs?“

„Naomi Clutter.“

„Das ist gut, sie ist hart im Nehmen. Es gibt niemand Besseren. Wenn ihr Probleme haben solltet, kannst du dich auf sie verlassen, aber ich erwarte dasselbe von dir.“

„Ja, Sir.“

Tom ging wieder hinein. Auf dem Weg zu seinem Büro, das sich an der Front des Gebäudes befand, begegnete ihm kaum jemand. Er sah durch die hohen Fenster auf die Straße hinaus. Er hatte das Büro seines Vaters nur wenig verändert. Der Schreibtisch war noch derselbe. Die Plastikstühle standen schon seit Jahrzehnten am selben Platz. Selbst die Bilder und Urkunden an den Wänden brachten ihre eigenen Erinnerungen mit sich. Tom hatte das Büro zuerst anders einrichten wollen, um ihm eine persönliche Note zu verleihen, aber er hatte nie die Ruhe dafür gefunden. In letzter Zeit hatte er kaum Zeit für sich selbst gehabt. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal mit einer Frau ins Kino oder essen gegangen war. In dieser Stadt war er von lauter Menschen umgeben und in den letzten Monaten doch zu einem Einsiedler wie seine Schwester geworden.

Er rieb sich die Stirn, um die Kopfschmerzen loszuwerden, die mit der Erschöpfung gekommen waren. Vor ihm lag Papierkram auf dem Schreibtisch. Er holte sich einen Kaffee und schlug den letzten Finanzbericht auf. Die Stunden vergingen, und ohne Pause arbeitete er bis Mitternacht durch. Dann stand er auf, um sich die Beine zu vertreten.

Als er wegen des vermissten Mädchens angerufen wurde, sah er gerade aus dem Fenster hoch zum Mond.

Rae Cavanaugh stellte den Geschirrspüler an, wischte über alle Arbeitsflächen und stellte bei der Kaffeemaschine den Timer für den nächsten Morgen. Sie hasste es, so spät noch Hausarbeiten zu erledigen, aber sie war nach dem Abendessen vor dem Fernseher eingeschlafen, weil es so ruhig und friedlich gewesen war. Sie hatte sich zu lange keine Pause mehr gegönnt, und ein wenig Entspannung war ihr gerade recht gekommen.

Ihre Nichte Sophie hatte sie schließlich geweckt. Sie hatte Rae eine gute Nacht wünschen wollen und war danach in ihr Zimmer gegangen. Sonst dröhnte immer noch Musik durch die Tür, aber an diesem Abend schien Sophie ruhiger zu sein. Vielleicht hatte sie sich ja etwas eingefangen oder sie hatte Streit mit ihrem Freund. Bei einem Teenager war das schwer zu sagen.

Sie überlegte, ob sie hinaufgehen und nachfragen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie war zu müde, um sich mit Sophies Stimmungsschwankungen auseinanderzusetzen, und sie wollte ihr außerdem etwas Raum lassen. Das war schließlich der Sinn des Besuchs auf unbestimmte Zeit gewesen … Sophie und ihren Eltern eine kleine Auszeit zu verschaffen.

Rae hatte sofort gewusst, dass etwas schlecht lief, als ihr Bruder sie um Hilfe gebeten hatte. Er wusste einfach nicht mehr weiter, hatte er gesagt. Jackson hatte so etwas noch nie zuvor zugegeben, besonders nicht vor seiner Schwester. Seit ihrer Kindheit waren sie bittere Rivalen gewesen, und es hatte nicht geholfen, dass ihr Vater Rae offenbar vorzog. Er hatte ihrem Bruder aber die Leitung der Cavanaugh Industries überlassen. Rae leitete den Finanzvorstand, was bedeutete, dass sie die Buchhaltung war, nur unter einem besseren Namen. Damit und mit der Pflege ihres Vaters hatte sie schon genug zu tun. Doch dann war Sophie zu ihr gekommen. Nichts an der Situation war ihre Schuld. Rae schob es ausschließlich auf ihren Bruder und ihre Schwägerin. Diese hatten die Dinge aus dem Ruder laufen lassen. Sophie hatte immer alles bekommen bis auf Aufmerksamkeit und feste Regeln. Jetzt waren ihre Eltern am Ende ihrer Weisheit, weil Sophie unabhängiger sein wollte und Jackson leider zu spät bewusst geworden war, dass seine Prinzessin alles andere als lieb und nett war.

Rae schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich in den Garten. Sie betrachtete den Mond, trank aber nichts. Was für eine seltsame Nacht. Sie fühlte sich unbehaglich, aber nicht, weil sie sich mit Jackson gestritten oder Ungereimtheiten in der Buchhaltung gefunden hatte. Selbst die Klage einer benachbarten Ranch hatte sie nicht beunruhigt. Das würde sich schon alles klären lassen.

Doch heute Abend konnte Rae nichts mehr daran ändern. Ihr Vater würde sich um die Klage kümmern. Er wusste, wie man mit so etwas umging und am Ende sogar besser dastand als vorher. Er und Jackson verbrachten zahllose Stunden mit den hauseigenen Anwälten und diskutierten über Vorgehensweisen und passende Zeugen. Rae wurde dabei natürlich außen vorgelassen, aber sie hatte nichts dagegen. Falls etwas schieflief, wusste sie von nichts.

Rae sah zum Zimmer ihrer Nichte hoch. Es war dunkel, doch sie konnte den Schein des Laptops sehen.

Ich sollte auch ins Bett gehen, dachte sie. Sie goss das Glas Wein, das sie nicht angerührt hatte, in der Küche in die Spüle und sah noch einmal durch das Fenster zum Mond hoch, bevor sie nach oben ging. Auf dem Weg schaltete sie das Licht aus und horchte an Sophies Tür. Sie konnte leise Musik und Sophies Stimme hören, die klang, als würde sie sich mit jemandem unterhalten. Doch Rae klopfte nicht an. Ich lasse ihr lieber ein wenig Privatsphäre.

Im Schlafzimmer ließ sie sich angezogen auf das Bett fallen und legte einen Arm über die Augen. Sie würde gleich wieder aufstehen und sich bettfertig machen, aber sie wollte zuerst einen Moment dösen. Sie wollte ihren Bruder vergessen, der gerade mit Freunden auf einem Tauch-Abenteuer war und seine Frau Lauren, die Freunde in New Orleans besuchte. Ohne die eigene Tochter konnten beide nämlich tun und lassen, was sie wollten. Rae wollte ihnen den Spaß ja gönnen. Sie wollte den Egoismus und die fehlenden Fähigkeiten als Eltern nicht verurteilen. Ich war ja selbst nicht besser, als Mum gestorben ist, gerade bei Riley.

Die schöne, schlaue und warmherzige Riley. Raes zwei Jahre jüngere Schwester. Das Mädchen, das in der schicksalhaften Nacht vor fünfzehn Jahren in die verlassene Klinik gegangen war und danach nie wieder gesehen wurde.

Riley hatte mit ihrer besten Freundin Jenny Malloy bei einer Freundin übernachtet. Doch Ellie Brannons Eltern hatten wegen eines Notfalls wegfahren müssen, und Tom war beauftragt worden, sich um sie zu kümmern. Er war damals sechzehn gewesen, genauso alt wie Rae. Alt genug, um nicht feiern zu gehen, während er ein Auge auf die Mädchen haben sollte. Sie waren vierzehn gewesen und hätten es auch besser wissen müssen. Aber sie hätten unter Toms Aufsicht sicher sein sollen.

Rae hatte es mit den Jahren hingenommen, dass ihre Gefühle hinsichtlich Tom Brannon bestenfalls irrational und schlimmstenfalls bösartig waren. Alte Wunden heilten nun mal langsam.

Rae rollte sich auf die Seite, zog ihr Kissen an sich und sah aus dem Fenster. Genau wie vor fünfzehn Jahren war heute Blutmond. Sie wollte nicht darüber nachdenken … weder an Riley, noch wie sehr Rae sie immer noch vermisste.

Als sie einschlief, war das Letzte, woran sie dachte, trotzdem Rileys Lächeln, und das Letzte, was sie hörte, war Rileys verzweifelter Schrei nach Hilfe.

Sophie spielte mit dem Gedanken, die Taschenlampenfunktion ihres Handys anzuschalten, aber um den See herum wohnten ein paar Leute. Über ihr schien schwach die Mondfinsternis, sodass sie kaum sah, wohin sie trat. Sie wollte zu der Ruine, die früher einmal eine psychiatrische Klinik gewesen war und nun verlassen am Flussufer stand.

Das Gebäude war schon immer gruselig gewesen, aber nach dem Verschwinden der drei Mädchen war es noch düsterer geworden. Sophie war noch gar nicht auf der Welt gewesen, als ihre Tante verschwunden war. Ellie Brannon war irgendwann zurückgekommen und Jenna Malloy auch … zumindest körperlich, aber Riley Cavanaugh war spurlos verschwunden. Nun befand sich Sophie auf dem Weg dorthin.

Sie hatte keine Angst. Nicht wirklich. Im Mondlicht konnte sie am Rand des Sees die Stümpfe von Zypressenbäumen und am Ufer schwach Farn erkennen. Sophie fand, dass es in der Stadt unheimlichere Orte gab. Trotzdem warf sie immer wieder einen Blick über ihre Schulter.

Ihre Tante Rae hatte tief geschlafen, als Sophie sich aus dem Haus geschlichen hatte. Da sie ihren Führerschein erst in ein paar Monaten bekommen würde, war sie mit dem Fahrrad bis zur Brücke über den See gefahren und hatte es darunter zurückgelassen. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß gehen. Vor sich sah sie jetzt den Schornstein des alten Heizraums über den Baumwipfeln. Nun war sie doch nervös, denn es wirkte gespenstisch.

Hinter ihr knackte etwas. Sophie riss den Kopf herum und sah in den Wald hinein, doch bis auf den Farn und das Wasser bewegte sich nichts in der leichten Brise. Vor ihrem Gesicht schwirrte eine Mücke herum. Sophie verscheuchte sie. Ich hätte Insektenspray mitbringen sollen, dachte sie.

Sie verharrte kurz, dann machte sie sich wieder auf den Weg. Direkt vor ihr lag die alte Klinik … drei Stockwerke hoch, kaum mehr als zerfallender Backstein und eingeschlagene Fenster.

Sophie atmete tief ein, dann kämpfe sie sich durch das Unkraut und die Büsche voran, bis sie in einem der bogenförmigen Eingänge stand. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Sie war schon oft hier gewesen, aber niemals nachts. Sie kannte die Bahren und Rollstühle, die im Gebäude herumstanden, den offenen Fahrstuhlschacht und die vergitterten Abschnitte im dritten Stockwerk. Mit dem Licht fuhr sie über das Graffiti von Bibelsprüchen und die Bilder von Dämonengesichtern an der Decke.

Der Prediger. So war der Patient genannt worden, der aus einer selbst gebauten Kanzel heraus gepredigt hatte, als die Klinik schon lange geschlossen und die Patienten einfach sich selbst überlassen worden waren. Manche von ihnen waren in umliegende Dörfer gebracht worden, hieß es, aber Sophie vermutete, dass es nur eine Legende war.

Dann spielen wir jetzt!

Sie wanderte von Raum zu Raum und ließ ihr Licht über die Wände gleiten. Sie suchte nach einem Zeichen, das sie ins nächste Level führen würde. Das Dach war teilweise eingestürzt, und Sophie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie das Gebäude über ihr zusammenbrach und sie unter einem Schotterhaufen dunkler Geheimnisse und vergessenen Leids begrub. Würde Rae sich die Schuld geben? Oder ihre Eltern? Würde es ihnen überhaupt etwas ausmachen?

Waren das leise Schritte hinter ihr? Diese Vorstellung verursachte ihr eine Gänsehaut. Sophie drehte sich langsam um. Der Lichtstrahl traf kurz auf eine Silhouette, die aber sofort davonschoss.

Sophie schluckte, und ihr Atem ging schneller. „Prediger?“, fragte sie leise. „Bist du das?“

Rae schrak hoch. Irgendetwas hatte sie geweckt. In ihrem Traum hatte jemand an die Haustür gehämmert. Einen Moment lag sie lauschend da, aber sie konnte nur einen Ast hören, der gegen das Fenster kratzte.

Sie stand auf und hielt abrupt inne. Sie war sich sicher, dass sie ihre Schlafzimmertür geschlossen hatte, doch nun stand sie offen, als hätte jemand sie aus dem Flur heraus beobachtet.

Das war doch verrückt. Wenn Sophie etwas von ihr gewollt hätte, wäre sie hereingekommen, hätte das Licht eingeschaltet und Rae geweckt. Das Mädchen war so subtil wie ein Vorschlaghammer. Rae musste unwillkürlich daran denken, wie still Sophie gewesen war, als sie nach Hause gekommen war. Irgendetwas war vorgefallen, und Rae bereute es jetzt, nicht nachgefragt zu haben.

Sie ging zu Sophies Zimmer. Immer noch war Musik zu hören. Vielleicht war Sophie ja noch wach und brauchte ein offenes Ohr. Rae klopfte sanft an. Als niemand antwortete, klopfte sie lauter. Sie hatte erwartet, dass Sophie die Tür abgeschlossen hatte, aber Rae konnte sie einfach öffnen. Sie sah das übliche Chaos. Auf Sophies Bett stand ihr Laptop, aus dem die Musik kam. Das Fenster war offen, und eine leichte Brise wehte hinein. Nur das Licht des angrenzenden Badezimmers erleuchtete das Zimmer. Rae trat ein und rümpfte die Nase. Nasse Handtücher waren in eine Ecke geworfen worden, und um den Spiegel herum lagen Kosmetikprodukte verteilt. Sophie war nirgendwo zu sehen.

Raes Herz schlug schneller. Das war noch kein Grund zur Sorge. Sophie war wahrscheinlich in der Küche und holte sich etwas zu essen. Rae sah zuerst im Badezimmer nach und ging dann nach unten. Doch Sophie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Auch nicht im unteren Badezimmer, auf der Veranda oder in der Garage. Sie war unauffindbar.

Immer ruhig bleiben. Vermutlich traf sie sich heimlich mit ihrem Freund.

Trotz der späten Uhrzeit rief sie bei ihm zu Hause an. Sein Vater versicherte ihr, dass Dylan in seinem Zimmer war, nachdem er um kurz nach zehn Uhr nach Hause gekommen war. Rae bestand darauf, persönlich mit Dylan zu sprechen, und sein Vater willigte schließlich ein. Er gab Dylan das Telefon, und dieser schwor, Sophie das letzte Mal gesehen zu haben, als er sie um zehn Uhr zu Hause abgesetzt hatte.

Rae setzte sich auf die Veranda und rief dann jeden an, der ihr einfiel, doch keiner von Sophies Freunden hatte sie gesehen. Wie hatte sie verschwinden können, ohne dass Rae es bemerkte? Sie hatte schließlich einen leichten Schlaf.

Mach dir keine Sorgen. So spät ist es noch nicht. Es war gerade kurz nach Mitternacht. Während der Woche musste Sophie da zwar schon längst zu Hause sein, aber sie hielt sich ja auch sonst nicht an Regeln. Rae versuchte noch ein weiteres Mal, Sophie anzurufen, und schrieb ihr außerdem eine ganze Reihe von Nachrichten.

Wo bist du?

Langsam mache ich mir Sorgen. Ruf mich an, sobald du das hier liest. Ich will nur wissen, dass es dir gut geht.

Sophie, ruf mich an! Sofort! Ich meine es ernst!

Ich werde nicht böse, ich verspreche es, aber ruf mich bitte an. Ich mache mir große Sorgen um dich.

Sophie, bitte ruf mich an.

Ich habe Angst um dich.

Irgendwann ging Rae wieder in Sophies Zimmer. Sie sah sich den Laptop genauer an, ging Sophies Schränke durch und suchte überall nach einem Hinweis darauf, wo Sophie abgeblieben sein könnte. Irgendwann ging sie zum Auto und fuhr ziellos durch die Stadt.

Als sie wieder nach Hause kam, konnte sie nicht länger ruhig bleiben. Sophie war zwar erst seit wenigen Stunden verschwunden und hatte Ähnliches auch schon bei ihren Eltern getan, aber nun war Rae für sie verantwortlich.

Sie ließ sich auf Sophies Bett fallen und verschickte weitere Nachrichten, während sie den Laptop durchsuchte. Zu guter Letzt wählte sie eine Nummer, von der sie niemals erwartet hätte, sie heute Nacht anzurufen.

Tom hätte mitten in der Nacht alles erwartet, aber keinen Anruf von Rae Cavanaugh. Er sah sofort auf die Uhr, als er das Klingeln hörte. Er hätte schon vor einer Stunde nach Hause fahren sollen, aber die Entscheidung zu bleiben, war offenbar richtig gewesen. Ein Anruf der Cavanaughs wäre allerdings zu jeder Uhrzeit an sein Handy oder nach Hause weitergeleitet worden. Sie waren eine mächtige Familie, und das ließen sie ihn auch gern wissen.

Er vermutete, dass ihr Anruf mit dem Rabauken zu tun hatte, der heute Abend in Schwierigkeiten geraten war und nun über Nacht in einer Zelle saß. Tom hatte keine Lust auf Streitereien, aber es machte keinen Unterschied, ob er Raes Zorn jetzt oder erst am Morgen über sich ergehen lassen würde. Er hatte eine dicke Haut, was die Cavanaughs betraf.

„Sheriff Brannon“, meldete er sich aus Gewohnheit und erwartete sofort eine Erwiderung.

„Hier ist Rae Cavanaugh.“

Sie hörte sich außer Atem an und sogar besorgt. Tom runzelte die Stirn. „Was kann ich für dich tun, Rae?“

„Sophie ist verschwunden.“

Sofort überkam ihn wieder das ungute Gefühl. „Sophie?“

„Meine Nichte, die Tochter von Jackson. Sie wohnt momentan bei mir. Sie ist um zehn nach Hause gekommen und um Mitternacht habe ich nach ihr gesehen, und sie war nicht in ihrem Zimmer. Danach habe ich alle angerufen, die mir eingefallen sind … ihre Freunde und ihren Freund Dylan. Aber niemand hat sie gesehen, Tom.“ Er hatte sofort vor Augen, wie sie das Telefon umklammerte, als es aus ihr heraussprudelte. Sie schwieg einen Moment und klang danach gefasster. „Ich weiß, wir haben in der Vergangenheit unsere Schwierigkeiten gehabt, aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen soll. Ich weiß nicht, was ich noch machen kann. Ich habe schon überall gesucht. Sie geht nicht ans Telefon und antwortet nicht auf Nachrichten. Ich muss immer wieder an die Nacht denken, als …“

„Warte, warte“, unterbrach er sie. „Du meintest, sie ist um zehn nach Hause gekommen, und jetzt ist es kurz nach Mitternacht. Sie ist also seit ungefähr zwei Stunden weg. Viele Teenager schleichen sich davon.“

„Ich weiß. Ich rede mir die ganze Zeit ein, dass sie nur bei Freunden ist, aber ich habe mit allen gesprochen, und niemand hat sie gesehen.“

„Vielleicht ist sie ja bei jemandem, den du nicht kennst.“

„Das mag sein, sie lebt noch nicht lange bei mir. Aber Tom“, nun hörte er ihre Sorge, „ich habe etwas auf ihrem Laptop gefunden. Sie hat Dutzende Bilder von der alten Klinik gespeichert. Ich glaube, sie hat sie selbst gemacht. Vielleicht ist sie …“

„Eigentlich wollte ich gerade nach Hause gehen, aber ich kann gern noch eine Runde fahren und mich dort umschauen.“

„Ich komme mit!“

„Du solltest besser dableiben, falls sie nach Hause kommt.“

„Ich hinterlasse ihr eine Nachricht und nehme mein Handy mit. Ich kann nicht hier herumsitzen und nichts tun, sonst werde ich verrückt.“

Er seufzte leise. „In Ordnung, aber wenn du vor mir da bist, warte an der Brücke, ja? Du gehst nicht ohne mich weiter.“

„Tom …“

„Was?“

Sie zögerte. „Willst du es gar nicht sagen?“

„Was soll ich sagen?“

„Dass es meine Schuld ist. Ich bin schließlich für sie verantwortlich.“

„Finden wir sie erst einmal und bringen sie nach Hause.“

Tom legte auf und sagte einem Deputy Bescheid. Eine Streife würde an der Brücke auf sie warten. Sie konnten sich gemeinsam den Weg durch den Wald suchen. Wahrscheinlich war das Mädchen nur irgendwo auf einer Party, aber bei vermissten Kindern ließ Tom es nicht darauf ankommen.

Als er zu seinem Auto ging, konnte er nicht anders, als einen Blick zum Himmel zu werfen. Der Mond war hinter einer Sturmfront verschwunden.

2. KAPITEL

Raes Auto stand bereits am Straßenrand, als Tom beim See ankam. Er rief nach ihr.

„Hier unten!“

Mit der Taschenlampe in der Hand hangelte sich Tom zum See hinunter. Auf den Steinen und der lockeren Erde rutschte er mehr, als dass er lief. Rae stand am Ufer und sah unter die Brücke. Als er sie im Taschenlampenlicht betrachtete, machte sein Herz einen Sprung.

„Gut, dass du auf mich gewartet hast.“

„Ich habe ihr Fahrrad gefunden“, sagte sie über die Schulter hinweg und deutete mit dem Licht ihrer Taschenlampe unter die Brücke.

„Bist du dir sicher, dass es ihres ist?“

„Ja, sie hat es mitgebracht, als sie bei mir eingezogen ist.“

„Wann war das?“

„Vor drei Wochen“, sagte sie und zögerte dann kurz. „Sie hatte Ärger zu Hause.“

„Ärger?“

„Das Übliche. Jackson gefallen ihre Freunde nicht, ihr Kleidungsstil und ihr Musikgeschmack. Und du weißt ja, wie gern sich Teenager das anhören. Sophie ist nicht einfach, und mein Bruder ist nicht besonders geduldig und mitfühlend. Sie brauchten alle mal eine Pause.“

„Und du hast ihnen ausgeholfen?“

„Wie man es bei der eigenen Familie eben macht, ja.“

„In guten Familien.“ Als Tom sich umsah, fiel sein Taschenlampenlicht wieder auf Rae. Sie war auf das Fahrrad konzentriert. Die zerzausten, hellbraunen Haare fielen über ihren Rücken, und auf ihrer Nase konnte er ein paar Sommersprossen erkennen. Ihre Kleidung war zerknittert. Sie war bestimmt in Eile aufgebrochen. Aber selbst jetzt hatte sie etwas Anziehendes an sich. Rae hatte schon immer gut ausgesehen, ihr Temperament hatte ihm allerdings weniger gefallen. In der Highschool war sie immer gereizt, misstrauisch und im Wettstreit mit anderen gewesen. Riley war die Nette gewesen. Bis heute tat es Tom weh, an sie zu denken.

Er ging nun mit betont ruhiger Stimme seine Routinefragen durch. „Ihr hattet keinen Streit?“

„Nein. Eigentlich sind wir sogar ganz gut klargekommen.“

„Eigentlich?“

„Wie du schon sagest, sie ist jung und meine einzige Erfahrung mit anderen Teenagern war bisher …“

Riley.

Tom wusste, was sie hatte sagen wollen. Raes und Rileys Mutter war früh gestorben. West Cavanaugh hatte erneut geheiratet und die Kinder in der Obhut vieler Babysitter und Hausmädchen aufwachsen lassen. Rae hatte sich um Riley gekümmert. Sie war so beschützend gewesen, dass Riley oft zu Toms Schwester geflohen war, damit sie mal durchatmen konnte.

Tom fragte sich, ob Rae manchmal daran zurückdachte, wenn sie nicht schlafen konnte.

Ein Motorengeräusch erklang, und kurz darauf stießen Billy Navarro und Naomi Clutter zu ihnen. Tom erklärte ihnen alles, dann gingen sie in Richtung der alten Klinik. Bei jedem Schritt sagte sich Tom, dass es zu früh war, um sich ernsthaft Sorgen zu machen. Teenager verschwanden manchmal, besonders wenn sie aus einem schwierigen Haushalt kamen. Er kannte Sophies Eltern zwar nicht gut, aber er hatte genug mit Jackson zu tun gehabt, um zu wissen, dass er ein Arsch sein konnte. Seine Frau schien die anspruchsvolle Sorte Ehefrau zu sein.

Aber das war gerade egal. Hauptsache, wir finden Sophie.

Der Himmel war klar, und die Mondfinsternis ließ den See silbern glänzen, sodass die umliegenden Wälder noch dunkler und dichter wirkten. Niemand sagte etwas. Tom konnte nicht anders, als an die Nacht vor fünfzehn Jahren zu denken, in der er allein am Seeufer entlanggerannt war.

„Deine Schwester lebt hier irgendwo, nicht wahr?“, fragte Rae.

„Ja, am anderen Ende der Brücke.“

„Ich habe mir ihre Show ein paar Mal angehört. Sie hat eine beruhigende Stimme, aber die Anrufer sind schon seltsam“, sagte Rae. „Von wo aus rufen die an, und meinen sie das alles ernst?“

„Ab und zu erlaubt sich jemand einen Scherz, aber die meisten brauchen einfach ein offenes Ohr. Zumindest sagt Ellie mir das immer.“

„Ich sehe sie nicht oft in der Stadt. Wie geht es ihr?“

„Gut so weit. Sie ist sehr beschäftigt und hat gern ihre Ruhe.“

Rae erschauderte. „Ich würde da draußen verrückt werden.“

„Eure Ranch liegt auch abgeschieden“, warf Tom ein.

„Das ist etwas anderes. Da sind immer Leute. Mein Vater, die Haushälterin oder Aushilfen. Es ist wie eine kleine Stadt. Wir sind eine der letzten großen Ranches in der Umgebung.“

Rae sah auf den See hinaus. „Ich habe gehört, dass man mitten in der Nacht, wenn es ruhig ist, die Schreie der früheren Patienten hören kann. Ich glaube eigentlich nicht daran, aber wenn man hier steht, kann man sich vieles einbilden.“

„Wahrscheinlich sind das die Pfauen der Thayers“, meinte Tom. „Sie laufen frei herum, seitdem Mrs. Thayer gestorben ist.“

Billy und Naomi kletterten vor ihnen die Eindämmung hinauf. Tom bot Rae gar nicht erst Hilfe an. Sie kletterte selbstsicher hinauf und wartete auf ihn. Oben angekommen sahen alle zur Ruine hinüber.

Von den wenigen unbeschädigten Fenstern wurde das Mondlicht reflektiert und ließ den Ort wie etwas Lebendiges wirken. Er konnte sich nur zu gut geisterhafte Figuren hinter den zerbrochenen Fensterscheiben vorstellen. Mit einem Kopfschütteln erinnerte er sich daran, dass es nur eine Art Monster wirklich gab: Menschen.

„Wir gehen hinten herum“, sagte Naomi.

Tom nickte und drehte sich zu Rae um. „Bist du dir sicher, dass du nicht lieber hier warten willst?“

„Nein, ich will mit hineingehen. Wenn Sophie dich allein sieht, erschreckt sie sich vielleicht.“

„In Ordnung, aber bleib in meiner Nähe und pass auf, wo du hintrittst, ich traue dem Gemäuer nicht. Ein falscher Schritt und das ganze Ding bricht zusammen.“

„Das steht schon seit Jahrzehnten. Es hat sogar Tornados überlebt.“

Sie gingen durch einen der Torbögen und beleuchteten die Graffitis an den Wänden.

„Ich habe mich immer gefragt, wie es hier drin aussieht. Es ist noch grusliger, als ich erwartet habe“, flüsterte Rae. Sie sah sich das Bild an der Decke an. „Was ist das?“

„Das ist der Prediger.“ Tom leuchtete auch auf das Fresco des Dämons. Die Augen schienen durch das Mondlicht beinahe zu leuchten. „Du warst noch nie hier drin? Das überrascht mich. Ich dachte, das ist eine Art Mutprobe.“

„Ich habe nie bei so etwas mitgemacht, und nachdem Riley verschwunden ist …“ Sie machte eine Pause. „Ich stand oft davor, habe mich aber nie hineingetraut. Nach der Schule bin ich immer im Wald herumgewandert und habe nach ihr gerufen. Selbst als ich wusste, dass sie schon lange weg war. Ich habe mir vorgestellt, wo sie war, was sie durchlebt haben muss und wie sie um Hilfe gerufen hat.“

Tom hörte das Zittern in Raes Stimme. Er hatte in dieser Nacht auch Angst gehabt. Solche Angst, dass er nicht klar hatte denken können. Er hatte gewusst, dass das Gebäude unsicher war, aber nicht, dass es noch andere Gefahren gab. Auf einmal hatte er leise Schritte gehört und einen Schlag auf den Kopf bekommen. Er war auf die Knie gefallen und beim nächsten Schlag ohnmächtig zusammengebrochen.

Am nächsten Morgen war er unten am Ufer aufgewacht. Das Blut war in seinem Haar und auf seiner Kleidung getrocknet. Sein Angreifer hatte wohl gedacht, dass er tot war, und ihn die Eindämmung heruntergerollt. Tom hatte seine Schwester mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben sehen. Bis heute wusste keiner, warum sie nicht ertrunken war. Tom hatte sie wiederbelebt und bis zu seinem Auto getragen.

Trotz achtzehn Stichen und einer Woche Krankenhausaufenthalt gab er sich immer noch die Schuld, die anderen nicht gerettet zu haben, auch wenn er tief im Innersten gewusst hatte, dass es für Riley und Jenny zu spät gewesen war.

Rae erstarrte neben ihm und deutete auf die zerbrochenen Fliesen zu ihren Füßen. „Tom, sieh mal da.“ Er kniete sich hin.

„Ist das Blut?“

Er berührte den Fleck. „Ja, und es ist noch frisch, aber es ist nicht viel. Lies nicht zu viel hinein.“ Zu spät. Er hörte Raes schnellen Atem, als sie wild mit der Taschenlampe umher schwenkte.

„Sophie! Bist du hier? Ich bin es, Rae. Antworte mir!“ Er hörte sie scharf einatmen. „Ich habe etwas gesehen!“

Tom stand auf. „Wo?“

Sie deutete zur Treppe. „Da oben war jemand. Ein Mann. Ich glaube, er hat uns beobachtet.“

„Bleib hier.“

Tom entsicherte seine Waffe und ging vorsichtig die Treppe hinauf. Er leuchtete den langen Flur entlang. Rechts und links standen Türen offen. Überall lag Schutt herum.

„Sophie?“, rief er. „Bist du hier? Ich bin Sheriff Brannon. Ich bin mit deiner Tante hier. Wir wollen nur wissen, ob es dir gut geht.“ Mit der Waffe in der rechten und der Taschenlampe in der linken Hand ging er den Flur entlang und leuchtete in jeden Raum hinein. Plötzlich hörte er Schritte auf der Treppe. „Rae, bist du das?“

„Ja, ich komme hoch.“

Er widersprach ihr gar nicht erst. „Pass aber auf, der Boden ist morsch.“

Tom hörte Rae hinter sich, drehte sich aber nicht um. In einer dunklen Ecke sah er Augen aufleuchten. „Wer auch immer da ist: Hände hoch und rauskommen, sodass ich dich sehen kann. Rae, bleib da, wo du bist.“

„Wer ist denn da?“, fragte sie.

„Weiß ich nicht. Bleib bei der Treppe.“

Vor ihm huschte ein Schatten durch den Flur. „Stehen bleiben!“

Kurz sah er ein Gesicht, bevor es verschwand.

Tom tastete sich voran, bis sein Fuß ins Leere trat. Er befand sich am Rande eines alten Fahrstuhlschachts. Von oben hing ein Seil herab. Tom beugte sich hinein und beleuchtete den stockfinsteren Schacht. Irgendetwas lag auf dem Boden.

„Tom?“

Er streckte einen Arm aus, um Rae zurückzuhalten. „Vorsicht, da geht es tief runter. Vielleicht bis in den Keller.“

„Was ist das?“

„Es muss ein Aufzug gewesen sein. Jemand hat ein Seil angebracht, um sich daran herunterzulassen.“

Tom steckte die Waffe ein und griff nach dem Seil, doch Rae zog ihn zurück. „Bist du verrückt? Du weißt nicht, ob es dein Gewicht aushält.“

Sie hatte recht. „Suchen wir uns einen anderen Weg in den Keller.“

Als sie draußen waren, warf Tom einen Blick zum Himmel. Die Mondfinsternis näherte sich ihrem Ende. Er wollte darin etwas Gutes sehen, aber nachdem er Blut auf dem Boden und diese Gestalt im Fahrstuhlschacht gesehen hatte, fiel es ihm schwer. Rae ging still und angespannt neben ihm her.

Er konnte die anderen Deputys in der Dunkelheit anhand ihrer Taschenlampen erkennen. „Seid vorsichtig, wir haben jemanden gesehen.“

„Das Mädchen?“, fragte Naomi.

„Nein, das nicht. Wir suchen nach einem Weg in den Keller. Einer von euch bleibt hier und einer bewacht die Tür vorne. Niemand haut von hier ab, ohne dass ich es mitbekomme.“

Sie teilten sich auf. Tom und Rae gingen an der Seite des Gebäudes entlang, bis sie den Eingang zum Keller fanden. Betonstufen führten zu einer rostigen Metalltür. Tom öffnete sie und leuchtete hinein. Ihm schlug der Geruch von nassem Schlamm und totem Fisch entgegen.

„Ich gehe allein rein, und du passt hier auf.“

„Ich komme mit. Sophie untersteht meiner Verantwortung.“ Rae legte ihm eine Hand auf den Arm. „Tom, bitte.“

Er trat einen Schritt zurück. „Kannst du das riechen? Willst du immer noch reingehen?“

„Will ich nicht, nein. Aber ich werde nicht gehen, bevor wir jeden Zentimeter dieses Gebäudes durchsucht haben.“

„Dann lass uns gehen.“

Rae hielt sich die Nase zu, als sie Tom in den Keller folgte. Der Geruch war bestialisch. Sie schluckte mehrmals und kämpfte mit Übelkeit. Das Gebäude stand auf einem erhöhten Boden, aber über die Jahrzehnte war Feuchtigkeit eingedrungen, sodass Schimmel und Ungeziefer hier ein Zuhause gefunden hatten. Rae hätte schwören können, Wasser fließen zu hören, dabei hatte es seit Wochen nicht mehr geregnet. Selbst die Luft fühlte sich feucht an, und der Boden unter ihren Sneakern war rutschig.

Fast wollte sie sich an Toms Shirt festhalten, als sie an den verlassenen Gerätschaften vorbeigingen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wofür die Vorrichtungen früher genutzt wurden, aber in ihrem Kopf erschienen unwillkürlich Vorstellungen von Schnallen und Untersuchungstischen. Die Klinik hatte früher sogar eine Leichenhalle besessen.

Immer wenn Rae versuchte, einen Blick nach vorne zu werfen, schob Tom sich vor sie.

„Was machst du da?“

Er sah über die Schulter zu ihr. „Was meinst du?“

„Du stellst dich immer wieder vor mich. Hast du etwa Angst, was ich sehen könnte?“

„Nein, aber nur ich bin bewaffnet, und wir wissen nicht, wen oder was wir hier finden. Deshalb bleibst du hinter mir.“

„Du hast etwas gesehen, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Kannst du nicht einfach hinter mir bleiben?“

„Glaubst du, Sophie ist …“

„… am Leben“, beendete er ihren Satz. „Wir haben keinen Grund, etwas anderes zu glauben.“

„Bis auf das Blut.“

„Es könnte von einem Tier stammen.“

Rae schob sich trotz Toms Protesten an ihm vorbei. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie im Taschenlampenlicht etwas auf dem Boden entdeckte. Tom kniete sich schnell hin.

„Nur alte Kleidung.“

Hatte sie sich die Erleichterung in seiner Stimme nur eingebildet? „Bist du dir sicher?“

Er nahm einen Metallstab vom Boden und pikste in den Haufen. „Siehst du?“

Rae atmete erleichtert aus. Dann hörte sie etwas. Das Geräusch wurde wie ein Echo von den Wänden zurückgeworfen. Wieso hatte sie darauf bestanden, mitzukommen? Sie hasste enge Räume. Sie hatte immer das Gefühl, dass jemand ihr in den Schatten auflauerte.

Tom rief jetzt nach seinem Kollegen.

„Ich bin hier, Sir.“ Billys Stimme erklang von draußen.

„Siehst du irgendetwas?“

„Nein, Sir. Hier ist alles ruhig. Wie sieht es drinnen aus?“

„Das finden wir gleich heraus“, sagte Tom.

Rae ließ den Taschenlampenstrahl durch den Raum gleiten. Neben dem Eingang glänzte etwas.

„Tom?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. „Hier unten ist jemand.“

Es lief ihr kalt den Rücken herunter, und sie hielt die Taschenlampe fester mit beiden Händen. Im Lichtschein war eine Gestalt zu sehen. Groß, schlank, mit mittellangem Haar und einem wilden Bart. Zuerst dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet, doch dann blitzten die Augen im Licht auf, und die Person ließ sich auf den Boden fallen. Wie ein Krebs krabbelte die Gestalt in ein Loch neben dem Eingang.

„Hast du das …“

Tom fluchte leise und rannte hinterher.

„Wohin geht das?“, fragte Rae mit stockendem Atem.

Tom kniete sich hin und leuchtete in die Öffnung. „Sieht aus wie ein Tunnel oder eine Zwischendecke. Ich kann alte Rohre erkennen.“

„Du gehst da nicht rein.“

„Hol Billy her.“

„Tom, du kannst doch nicht …“

„Zeig ihm, wo ich reingegangen bin.“

Sie erwiderte nichts, sondern holte den Deputy. Als sie mit Billy vor dem Tunnel stand, war Tom verschwunden.

Der Tunnel schien unendlich lang zu sein. Tom musste geduckt gehen und zeitweise sogar krabbeln. Enge Orte machten ihm nichts aus, aber es roch so faul, dass ihm schlecht wurde. Irgendwann spürte er, dass es wieder bergauf ging. Hinter sich hörte er Rae etwas rufen, aber das Echo verzerrte es. „Bleib da“, rief er zurück.

Schließlich erreichte er eine weitere Gittertür, und mit ihr ließ der Geruch plötzlich nach. Tom konnte einen leichten Windzug spüren. Der Tunnel hatte ihn bis zum alten Heizraum geführt. Hohe Fenster ließen das Mondlicht hinein. Er leuchtete mit der Taschenlampe durch den gesamten Raum, bevor er sich zu Boden fallen ließ. Überall lagen offene Konservendosen herum. Er sah außerdem eine Matratze und einen Campingkocher. Jemand lebte hier!

Eine Bewegung blitzte in seinem Augenwinkel auf. Als er sich umdrehte, warf sich eine Gestalt aus dem Tunnel heraus auf ihn. Tom verlor das Gleichgewicht, fluchte und wehrte den Angreifer ab.

„Das reicht.“ Er hielt den abgemagerten, bärtigen Mann fest und stieß ihn zu Boden.

„Ich hab nichts getan. Du darfst mir nicht wehtun.“

„Du hast mich angegriffen. Ich habe mich nur verteidigt.“

Der Mann zuckte zusammen und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

„Sieh mich an.“ Tom leuchtete auf seine Dienstmarke. „Ich heiße Tom Brannon, ich bin der Sheriff von Nance County. Lebst du hier?“

Der Mann setzte sich hin. „Ich schlafe manchmal hier. Das darf ich doch, oder?“

„Kommt darauf an, was du machst. Wie heißt du?“

„Marty.“

„Hast du auch einen Nachnamen?“

„Booker.“

„Hast du heute Nacht jemanden in der Ruine gesehen, Marty? Ein Mädchen?“ Tom sah sich weiter um. Auf dem Boden lag etwas. Er zog einen Handschuh über und hob ein Handy in einer pinken Silikonhülle hoch. „Woher hast du das?“

„Gefunden.“

„Wo?“

Marty nickte vage in Richtung Tür. „Dahinten. Wer’s findet, darf’s behalten.“

Das Handy war nicht gesperrt. Tom behielt den Mann im Auge, während er die Kontaktliste durchging. In diesem Moment stürmte Rae mit Billy Navarro im Schlepptau herein.

„Wir haben ein Licht gesehen und Stimmen gehört.“ Sie hielt inne, als sie den Fremden sah. „Wer ist das?“

„Er sagt, er heißt Marty Booker.“ Tom hielt das Handy in die Höhe. „Kennst du das hier?“

Sie riss die Augen auf. „Das ist Sophies. Wo hast du es gefunden?“

„Es lag hier auf dem Boden.“ Er übergab das Handy Billy, der es eintütete.

„Wie ist es dahingekommen?“

Tom nickte zu dem Mann in der Ecke. „Das versuche ich gerade herauszufinden. Er sagt, er hätte es drüben im Gebäude gefunden.“

Rae ging einen Schritt auf den Mann zu. „Hast du Sophie gesehen?“ Als er nicht antwortete, ging sie noch näher zu ihm. „Du hast ihr Handy, also musst du sie gesehen haben. Wo ist meine Nichte?

Der plötzliche Ausbruch überraschte Tom. Er hielt Rae fest, als sie auf den Mann losgehen wollte. „Lass mich los!“

„Beruhig dich.“

„Aber er weiß etwas!“

Marty Booker gab einen erschrockenen Laut von sich und vergrub das Gesicht in den Armen.

„Wenn du meiner Nichte auch nur einen Finger gekrümmt hast, werde ich …“

„Das reicht“, sagte Tom. „Wir werden nichts von ihm erfahren, wenn du ihm drohst.“

Rae riss sich los. „Wieso tust du denn nichts?“

„Wenn du mich lassen würdest, könnte ich etwas tun.“

Marty Booker sah von Tom zu Rae. „Ich hab nix getan. Ich schwör’s. Ich tu niemandem weh.“

„Aber du hast heute Nacht ein Mädchen gesehen“, sagte Tom. Marty druckste kurz herum, dann zuckte er mit den Schultern. „Vielleicht, ja.“

„Wo?“, fragte Rae.

Der Mann nickte wieder in Richtung Klinik. „Manchmal seh’ ich sie da drüben in der Klinik, aber sie sehen mich nie.“

Tom hob eine Hand, um Rae vom Sprechen abzuhalten. „Wen?“

„Die Kinder. Ihn.

„Ihn?“

Booker sah nach oben, als wenn er etwas an der Decke erblicken würde. „Ihn.“

Tom drehte sich zu Rae um. „Hast du ein Bild von Sophie?“

Sie suchte einen Moment auf ihrem Handy. Tom hielt es Booker hin. „Hast du dieses Mädchen heute Nacht gesehen?“

Er zögerte. „Vielleicht. Ich kann nachts nicht gut sehen.“

„Weißt du, wo sie jetzt ist?“

Er hat sie.“

„Wer?“, fragte Tom.

„Der Prediger“, flüsterte Marty. „Der Prediger hat das Mädchen.“

3. KAPITEL

Bereits am Morgen hatte sich das Verschwinden von Sophie Cavanaugh herumgesprochen. Toms Deputys waren in der Dämmerung zur Ruine aufgebrochen und suchten die gesamte Umgebung ab. Das Blut war zur Probe ins Labor geschickt worden, und Noah Goodnight, Toms Spezialist für Technik, ging Sophies Handy und Laptop durch.

Nach einem Anruf in der benachbarten County hatte Tom erfahren, dass Marty Booker dort bei seiner Familie wohnte. Der dortige Sheriff erkannte den Namen sofort. „Eine traurige Geschichte“, hatte der Sheriff Tom erzählt. „Er hat als Kind ein schweres Hirntrauma erlitten und ist seitdem nie mehr derselbe gewesen. Er ist aber nicht gewalttätig. Er wandert nur manchmal in der Gegend herum.“

Tom glaubte auch nicht, dass Marty Booker etwas mit Sophies Verschwinden zu tun hatte.

Mit der Erwähnung des Predigers konnte Tom nichts anfangen. Silas Creed war seit dem Verschwinden der drei Mädchen nie mehr in Nance County gesehen worden. Die meisten glaubten, dass er sie in einem verlassenen Haus gefangen gehalten hatte. Tagelang hatten die Polizei und unzählige Freiwillige die Umgebung abgesucht. Jenny Malloy war Wochen später in einem katatonischen Zustand auf einer abgelegenen Straße gefunden worden. Sie hatte weder ihren Entführer beschrieben noch der Polizei helfen können, das andere Mädchen zu finden. Über die Jahre hinweg hatte sie immer wieder Zeit in psychiatrischen Institutionen verbracht.

Tom zweifelte daran, dass Silas Creed nach Nance County zurückgekehrt war, denn der Mann musste mittlerweile schon sechzig sein.

Bevor er sich an den Schreibtisch setzte, entschied er sich dazu, Rae einen Besuch abzustatten.

Sie wohnte in einem der älteren Viertel der Stadt in einem weißen Bungalow aus der Vorkriegszeit. Im Vorgarten standen knochige Eichenbäume, deren Äste mit Louisianamoos bewachsen waren.

Tom sah ein Auto in der Auffahrt. Er kannte Raes brandneuen SUV, und er konnte sich nicht vorstellen, dass der ältere Coupé Jackson oder Lauren Cavanaugh gehörte. Daher schrieb Tom sich das Kennzeichen auf.

Rae öffnete sofort, als er klingelte. „Hast du sie gefunden?“, fragte sie direkt.

„Nein, deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte mich nach dir erkundigen. Deiner Reaktion nach hast du auch noch nichts gehört?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, wir können die letzte Nacht noch einmal zusammen durchgehen. Vielleicht fällt uns noch etwas ein.“

Rae trat einen Schritt zur Seite und bat ihn hinein. „Ich weiß nicht, ob es was bringt, aber jeder Versuch ist es wert.“ Sie trug Jeans, Sneaker und ein schlichtes weißes T-Shirt. Sie war ungeschminkt, und ihre Haare hatte sie zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden. „Ich hatte schon darüber nachgedacht, zur Ruine zu fahren. Ich kann nicht hier rumsitzen und nichts tun.“

„Meine Deputys durchkämmen gerade die gesamte Umgebung. Aber es wäre keine schlechte Idee, eine größere Suche auf die Beine zu stellen.“

„Wir sind schon dabei.“ Ein Mädchen in Sophies Alter kam in den Raum. „Tut mir leid, ich wollte nicht lauschen.“

„Macht nichts“, sagte Rae. „Sheriff Brannon, das hier ist Hannah Tucker, eine von Sophies Freunden.“

„Sophies beste Freundin.“

„Hanna ist heute Morgen vorbeigekommen und hat mir geholfen, eine Liste von Sophies Freunden, Bekannten und Lieblingsorten zusammenzustellen.“

„Das ist eine gute Idee.“ Sie folgten Rae in die Küche. Der Tisch war zu einer Arbeitsfläche umgestaltet worden. An der Küchenzeile saß ein Teenager mit dunklem Haar und einem grübelnden Ausdruck vor einem Laptop. Er sah hoch, als sie hineinkamen. Sein Blick blieb kurz an Tom hängen, dann sah er schnell wieder weg.

„Das ist Dylan Moody, Sophies Freund.“

„Schön, dass du hier bist“, sagte Tom. „Ich würde dir und Hannah gern ein paar Fragen stellen.“

„Ist das denn erlaubt?“, fragte Hannah. „Mir ist es egal, aber wir sind beide noch nicht volljährig. Ich tu alles, damit Sophie wieder nach Hause kommt, und Dylan sicherlich auch.“

„Es ist erlaubt“, erklärte Tom. „Aber ihr müsst mir nichts sagen, wenn kein Elternteil dabei ist.“

„Was wollen Sie wissen? Wir haben Detective Jarvis schon alles gesagt.“

„Das verstehe ich, aber ich habe ein paar neue Fragen. Ich weiß, es ist nicht einfach.“ Er lächelte Dylan verständnisvoll an. „Du hast Sophie gestern um zehn Uhr nach Hause gebracht, richtig?“

„Sie darf wochentags nicht länger ausgehen, seitdem sie hier wohnt.“ Er warf Rae einen Blick zu.

„Ist dir etwas aufgefallen, als du sie nach Hause gebracht hast?“

„Alles war wie immer.“

„Wie hat sie sich verhalten?“

Dylan zögerte einen Moment zu lange. „Ihr ging es gut.“

„Wann hast du das letzte Mal mit Sophie gesprochen, Hannah?“

„Sie hat mir gestern geschrieben, als sie nach Hause gekommen ist. Nichts Wichtiges, nur eine Frage zu unserer Hausaufgabe in Chemie, und ich habe sie nach ihrem Date gefragt.“

„Sie hat nichts über die alte Klinik gesagt?“

„Zu mir nicht. Zu dir, Dylan?“

Dylan sah Hannah stirnrunzelnd an, dann sagte er: „Nein. Aber sie ist manchmal hingefahren, um Bilder zu machen. Sie meinte, die Ruine würde zu ihr sprechen. Sie ist schon immer etwas anders gewesen.“

„Deshalb mögen wir sie so“, sagte Hannah.

„Es ist immer noch eine Mutprobe, nachts dort hinzugehen, nicht wahr?“

„Ich kann nicht für alle sprechen, aber wir sind etwas erwachsener als die anderen“, antwortete Hannah.

„Wie sieht es mir dir aus, Dylan? Musstest du diese Mutprobe je machen?“

Dylan schien die Frage nicht zu gefallen. „Wie Hanna schon sagt: Wir machen so etwas nicht.“

„Sophie schien mir nie wie eine, die bei so etwas mitmachen würde“, warf Rae ein. „Wenn überhaupt wäre sie die treibende Kraft dahinter, nicht wahr?“ Sie sah erst zu Dylan, dann zu Hannah und zurück zu Tom. Tom konnte Raes Blick nicht deuten. Vermutete sie, dass die beiden etwas verschwiegen?

„Ja, das stimmt allerdings“, sagte Hannah.

Tom sah einen Ausdruck über Dylans Gesicht huschen.

„Du meintest, wir könnten eine Gruppe zusammenstellen, die nach ihr sucht“, sagte Hannah und drehte sich zu Rae. „Sag mir einfach, was ich machen soll, Sophie war immer wie eine Schwester für mich.“

Tom wunderte sich über die Vergangenheitsform, in der Hannah von Sophie sprach.

„Danke, ihr beide. Ihr habt mir sehr geholfen, aber ich müsste jetzt leider allein mit Sheriff Brannon sprechen.“

„Ja, natürlich. Wir müssen sowieso wieder zur Schule.“

Sie brachte die beiden zur Tür und kam zurück in die Küche. Sie sah mehr als müde aus.

„Kaffee?“, fragte sie.

„Wenn es nicht zu viel Aufwand ist.“

„Milch oder Zucker?“

„Schwarz reicht mir.“ Rae brachte zwei Tassen, und sie setzten sich an den Tisch.

„Was denkst du über die beiden?“, fragte sie schließlich.

„Was meinst du?“

Rae runzelte die Stirn. „Sie verschweigen uns etwas. Ich mag mir das eingebildet haben, aber ich glaube, sie sind gekommen, um mehr von mir zu erfahren.“

„Da steckt mehr dahinter“, bestätigte Tom.

Rae sah ihn überrascht an. „Du glaubst doch nicht, dass sie etwas damit zu tun hatten, oder? Sie sind schließlich noch fast Kinder.“

„Auch Kinder können böse Dinge tun“, sagte Tom. „Ich vermute, sie wussten, dass Sophie in die alte Klinik gehen wollte, aber sie trauen sich nicht, es zuzugeben. Ich werde beide noch einmal auf der Station befragen. Einer wird schon nachgeben. Ich würde mir gern Sophies Zimmer anschauen, wenn das in Ordnung ist.“

„Ich habe schon alles durchsucht.“

„Ein zweiter Blick schadet doch nicht.“

Rae atmete tief durch und stand auf. „Dann komm mit.“

Mit den dunklen Ringen unter den Augen und dem bleichen Gesicht sah sie extrem verwundbar aus. Tom hätte niemals gedacht, dass dieses Wort mal auf Rae Cavanaugh zutreffen könnte. Sonst wirkte sie immer steinhart, und er bemerkte erst jetzt, dass sie ihm nur bis zur Schulter ging. Vermutlich hatte sie durch ihre Persönlichkeit größer gewirkt, aber jetzt sah sie klein, ängstlich und verloren aus.

„Tom …“

„Es sind noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen. Wir haben noch Zeit.“

„Versprich mir, dass du sie findest.“

„Das kann ich dir nicht versprechen. Aber ich schwöre dir, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Sophie nach Hause zu bringen.“

Rae seufzte. „Das muss wohl reichen.“

Tom Brannon trug niemals eine Uniform. Rae fragte sich, ob er sich damit von den anderen im Department unterscheiden oder ob er Vergleiche mit seinem Vater umgehen wollte. Porter Brannon hatte nämlich immer die kakifarbene Uniform und Cowboy-Stiefel getragen. Tom stand seine Alltagskleidung, eine tief sitzende Hose, dunkle Hemden und eine Krawatte, sehr gut. Ich bin bestimmt nicht die einzige Frau, die das findet, dachte Rae. Wieso ihr das gerade jetzt auffiel, wusste sie nicht.

Sie hielt vor Sophies Zimmer an und flehte: Bitte, bitte, bitte, lass es gut ausgehen.

„Hier, bitte schön.“ Sophie hatte das Zimmer nach ihrem Geschmack eingerichtet. An den Wänden hingen Poster von Bands, um den Rand ihres Spiegels hatte sie Bilder geklebt, ihr Bett war in Pink und Weiß bezogen.

Rae gefiel nichts davon, und die Unordnung machte sie verrückt, aber sie war auch kein fünfzehnjähriger Teenager. Manchmal fragte sie sich, ob sie je jung gewesen war. „Sophie mag Pink“, sagte sie überflüssigerweise.

Tom sah sich um. „Das ist nicht zu übersehen. Erinnert mich an das Zimmer meiner Schwester früher.“

„Ich habe vor ein paar Stunden mit Jackson gesprochen“, sagte sie. „Er ist auf dem Weg nach Hause, und er ist außer sich vor Wut.“

„Wenn die eigene Tochter verschwindet, ist das mehr als verständlich.“

„Das ist nett von dir.“

Tom sah sie fragend an, dann ließ er den Blick schweifen. „Glaubst du nicht, dass ich seine Gefühle nachvollziehen kann? Dass mein Vater damals nicht dasselbe für deinen Vater empfunden hat? Es war für alle schrecklich, aber deine Familie hat am meisten gelitten. Meine Familie wusste das immer.“

Jedes Wort fühlte sich wie ein Schlag an. „Ich habe mir geschworen, nicht mehr an früher zu denken. Das hier ist nicht dasselbe. Es geht um ein anderes Mädchen in einer anderen Situation. Aber als ich den Mann gestern gehört habe …“, Rae erschauderte. „Glaubst du, der Prediger ist wieder zurück?“

„Ich bin mir nicht mal sicher, ob es den Prediger jemals gegeben hat“, sagte Tom. „Silas Creed hatte mit sich zu kämpfen. Der Prediger war nur ein Hirngespinst, ein Monster, das sich jemand ausgedacht hat, um Kinder von der alten Klinik fernzuhalten.“

„Wir sehen ja, wie erfolgreich das war. Aber wenn er Riley und Jenna nicht entführt hat, wieso ist er dann abgehauen?“

„Er wusste wahrscheinlich, dass man ihm die Schuld geben würde. Oder er war es wirklich. Ich weiß nur, dass die Person, die mir damals den Kopf eingeschlagen hat, stark genug war, um mich aus der Klinik zu ziehen und mich den Damm herunterzurollen.“

„Du hast wirklich großes Glück gehabt.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen. Wenn ich noch einmal zu diesem Tag zurück könnte …“

Rae wandte sich ab. Sie wollte nicht hören, was Tom bereute. Damit hatte sie genug zu kämpfen. „Wieso sollte Marty Booker dann behaupten, der Prediger hätte Sophie entführt?“

„Marty Booker hat es nicht einfach. Die Beschreibung, die er gegeben hat, passt zu dem Gesicht, das an die Decke gemalt war. Ich bin mir nicht sicher, was er wirklich gesehen hat. Seine Schwester holt ihn später ab.“

„Du lässt ihn gehen?“

„Erst einmal, aber wir haben ein Auge auf ihn.“

Rae setzte sich auf das Bett. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun.“

„Du tust alles, was du tun kannst. Mach dich nicht verrückt.“

„Das ist einfacher gesagt als getan.“

„Ich weiß.“ Tom sah die Bilder am Spiegel genauer an. „Hat Sophie ein Tagebuch geführt?“

Rae fuhr über die Bettdecke. „Ich weiß es nicht. Heutzutage ist doch alles in den sozialen Medien. Ich kenne mich damit nicht aus.“ Rae sah ihm dabei zu, wie er hinter den Spiegel blickte und die Dielen auf dem Boden abtastete. „Was machst du da?“

„Teenager verstecken überall Dinge“, erklärte er.

„Sophie wohnt noch nicht einmal drei Wochen hier. Glaubst du wirklich, sie hätte die Dielen abmontiert, um darunter etwas zu verstecken?“

„Man sollte die Jugend von heute nicht unterschätzen. Ich habe schon vieles gesehen.“

Rae ging zum Fenster und sah in den Garten hinaus. „Erzähl mir von damals.“

Tom tat gar nicht erst so, als wüsste er nicht, wovon sie sprach. „Du wolltest doch nicht daran denken oder darüber sprechen.“

„Ich hab meine Meinung geändert.“

„Wäre es nicht besser, wenn wir stattdessen über Sophie nachdenken?“ Tom klang müde und verunsichert.

Rae drehte sich herum. „Wir denken doch an Sophie. Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, aber was ist, wenn beide Fälle miteinander zu tun haben? Was ist, wenn es tatsächlich der Prediger war? Deshalb möchte ich deine Version dieser Nacht hören.“

Tom hob eine Augenbraue. „Meine Version?“

„Was du erlebt hast. Aus deiner Sicht eben. Wieso hast du die drei damals allein gelassen?“ Sie versuchte, neutral zu klingen, schaffte es aber nicht.

Sie hätte sich über ein Schweigen nicht gewundert, aber er antwortete ihr mit fester Stimme. „Ich bin auf eine Party gegangen, weil ich ein Mädchen treffen wollte.“

„Wen?“

„Ashley Reardon. Erinnerst du dich an sie?“ Rae hatte eine hübsche, blonde Cheerleaderin vor Augen. „Ashley? Ja. Ich wusste nicht, dass ihr zusammen wart.“

„Waren wir auch nicht. Wir haben uns nur gegenseitig im Auge gehabt. Aber nach allem, was danach passiert ist …“

Rae wusste nicht, ob sie sich wegen seiner ehrlichen Antwort besser oder schlechter fühlte. Sie war diejenige, die sich um ihre Schwester hatte kümmern sollen, und nun war auch noch ihre Nichte unter ihrer Aufsicht verschwunden.

„Ashley hat mich damals angerufen, weil sie mich sehen wollte. Ich wollte nicht Nein sagen. Wir haben uns nur ein paar Minuten unterhalten. Ich war nicht einmal eine Stunde lang weg, aber als ich nach Hause gekommen bin, waren die drei nicht mehr da.“

„Woher wusstest du, wo du suchen musstest?“

„Ich habe so lange herumtelefoniert, bis mir ein Freund von der Mutprobe erzählt hat. Danach bin ich direkt zur Brücke gefahren und den restlichen Weg gerannt. Ich wusste, ich würde richtig Ärger bekommen, wenn meine Eltern es herausfanden, aber das war mir egal. Sobald ich da war, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war.“

Rae erschauerte. „Und dann bist du angegriffen worden.“

„Noch so ein dummer Fehler. Ich habe nicht aufgepasst.“

„Du warst erst sechzehn.“

Kurz trafen sich ihre Blicke, dann wandte er den Kopf ab. „Fast siebzehn. Alt genug, um es besser zu wissen.“

„Was sagt das über mich aus? Ich habe geschlafen, als Sophie das Haus verlassen hat. Ich wusste, dass irgendetwas mit ihr los war, habe aber nicht versucht, mit ihr zu reden.“

„Du konntest doch nicht wissen, dass sie abhauen würde.“

„Konntest du auch nicht.“

Tom sah sie überrascht an. Die Worte waren selbst für sie eine Überraschung. Tom war so viele Jahre ihr Feind gewesen. Wieso konnte sie jetzt mit ihm mitfühlen? Wieso wollte sie auf einmal auf ihn zugehen? Wieso wollte sie, dass er sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass alles gut werden würde?

Sie war nur müde und hatte Angst. Rae schlang die Arme um sich und sah überall hin, nur nicht in seine grauen Augen.

„Ich bin fertig.“

Das war sie auch. Sie wollte gern allein sein. Hier in Sophies Zimmer fühlte sich alles falsch an. Sie führte Tom zurück in den Flur. Als sie die Zimmertür schloss, klingelte ihr Handy. Tom stand an der Treppe.

„Hallo?“

„Rae, hier ist Dad. Sag nichts. Hör mir nur zu. Etwas ist passiert. Du musst sofort zur Ranch kommen.“

4. KAPITEL

Rae umklammerte das Handy. „Dad, was ist los?“

Er schwieg so lange, dass sie dachte, er hätte aufgelegt. „Bist du allein?“

Rae sah zu Tom hinüber, der am Treppenabsatz stand.

„Sheriff Brannon ist bei mir“, sagte sie.

Ihr Vater fluchte. „Werde ihn los.“

„Er wollte gerade gehen. Mach dir keine Sorgen, ich komme, so schnell ich kann.“

„Komm auf der Stelle.“ Ihr Vater legte auf.

Tom sah sie fragend an. „Alles in Ordnung?“

„Mein Vater kommt momentan nicht gut zurecht. Sophies Verschwinden weckt schmerzhafte Erinnerungen in ihm. Ich soll zu ihm auf die Ranch kommen.“

„Ich würde auch gern mit ihm sprechen, und auch mit Jackson und seiner Frau, wenn sie wieder da sind. Vielleicht sollte ich mitkommen.“

Rae biss sich auf die Lippe. „Kannst du warten, bis ich ihn etwas beruhigt habe? Ich komme am besten zu ihm durch, wenn wir unter uns sind. Er ist in letzter Zeit nicht auf der Höhe gewesen. Letzten Winter hatte er einen leichten Herzinfarkt.“

„Das wusste ich nicht.“

Sie brachte Tom zur Tür. Er spürte vermutlich, dass etwas vor sich ging. Aber sie konnte ihm nichts sagen, sie wusste ja selbst nicht, wieso ihr Vater angerufen hatte.

„Wenn dir noch irgendwas einfällt oder du etwas hörst …“

„… rufe ich an“, sagte sie und öffnete die Haustür. „Versprochen.“

Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, als er davonfuhr. Erst als sein Auto hinter einer Ecke verschwunden war, rannte sie nach drinnen, suchte ihre Autoschlüssel und fuhr das Auto aus der Garage. Sie sah sich zu beiden Seiten um, drückte das Gaspedal durch und raste los.

Fünfzehn Minuten später fuhr sie durch den Torbogen auf die Cavanaugh-Ranch. Sie hatte die schönsten Erinnerungen an die Ranch. Wie sie mit Jackson und Riley an einem verschneiten Nachmittag ausgeritten war. Das knisternde, warme Kaminfeuer. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und das Lachen ihrer Mutter, das aus der Küche hallte. Ihr Vater, der in seinem Sessel seinen Whiskey trank, den Hund zu seinen Füßen. Wie sie im See tauchen gewesen waren oder auf der Veranda gesessen hatten, als in der Entfernung Gewitterwolken vorbeigezogen waren.

Nach dem Tod ihrer Mutter war alles den Bach heruntergegangen. Ihr Vater hatte noch einmal geheiratet und sich dann wieder scheiden lassen. Riley war verschwunden. Rae und Jackson hatten sich so weit auseinandergelebt, dass sie sich manchmal fragte, ob ihr Bruder sie hasste. Aber selbst wenn er es vorher noch nicht getan hatte, würde er es jetzt tun.

Rae parkte hinter dem Haus. Sie stieg gerade die Stufen zur Hintertür hinauf, als sie Stimmen aus dem Rosengarten ihrer Mutter hörte. Sie folgte dem Steinweg, bis sie durch die offene Glastür in das Büro ihres Vaters sehen konnte.

Jacksons wütende Stimme hallte durch den Garten. „Wie kannst du mir dafür die Schuld geben? Ich war nicht einmal da!“

„Genau deshalb ist es deine Schuld“, hörte Rae ihren Vater sagen. „Du bist ihr Vater, und trotzdem hast du keinerlei Probleme damit, sie deiner Schwester aufzuhalsen. Dabei weißt du genau, dass Rae keine Erfahrung mit jemandem wie Sophie hat.“

„Jemandem wie Sophie? Was soll das denn heißen?“

„Muss ich es dir buchstabieren?“

„Sie hat nun mal einen eigenen Willen.“

„Sie ist eine verzogene Göre. Was sie braucht, ist eine starke Hand und jemanden, der ein besseres Auge auf sie hat. Du hast beides nicht getan und deine Frau hat nicht geholfen. Sie weiß nur, wie man schnell Geld verprasst.“

„Reicht es nicht, dass du meine Tochter beleidigst? Ich hatte gehofft, du hast zumindest ein wenig Verständnis oder Mitgefühl. Das Letzte, was ich brauche, ist einen Vortrag von dir.“

Rae gefiel der Tonfall ihres Bruders nicht. Wieso stritten sie sich jetzt über Jacksons zweite Frau? War ihnen nicht bewusst, dass es gerade Wichtigeres gab?

„Ich sage dir das, weil ich es gut meine“, hörte sie ihren Vater erwidern. „Wenn das hier vorbei und Sophie wieder sicher zu Hause ist, solltest du dein Leben überdenken. Du bist bald vierzig, Jackson. Langsam musst du erwachsen werden und die Dinge in die Hand nehmen. Du hast in den letzten Monaten genug schlechte Entscheidungen getroffen. Das Unternehmen hat darunter gelitten. Du trinkst zu viel, und du gibst deiner Frau so viel Geld, dass du bald bankrott bist. Ich frage mich langsam, ob ich Rae alles hätte überlassen sollen.“

„Es überrascht mich, dass du es nicht getan hast. Sie war doch sowieso immer dein Liebling.“ Er klang so bitter, dass Rae zusammenfuhr.

„Deine Schwester arbeitet hart. Sie hat sich Respekt und Anerkennung verdient. Wenn ich sie vorziehe, dann ist es nur, weil sie mich an eure Mutter erinnert. Aber du bist mein einziger Sohn, und ich habe mir immer viel von dir erhofft. Vielleicht habe ich dich damit zu sehr unter Druck gesetzt. Aber du solltest dir keine Sorgen um deine Schwester machen, sondern darum, wie du deine Tochter wiederfindest.“

„Wie ich meine Tochter wiederfinde? Weißt du eigentlich, wie gefühllos du dich anhörst? Sie ist nicht nur meine Tochter, sondern auch deine Enkelin. Bedeutet sie dir nichts?“

„Natürlich bedeutet sie mir etwas. Warum, glaubst du, habe ich Rae angerufen?“

„Wo ist sie eigentlich? Sollte sie nicht schon hier sein?“

„Sie kommt, sobald sie kann“, sagte ihr Vater. „Jetzt setz dich hin und beruhig dich.“

„Ich brauche einen Drink“, sagte Jackson leise.

„Es ist noch nicht einmal zehn Uhr morgens.“

„Meine Tochter ist verschwunden! Wenn ich einen Whiskey will, dann mache ich mir verdammt noch mal einen.“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

Rae holte tief Luft und wollte gerade auf die Tür zugehen, als sie ein Auto hörte. Sie ging um das Haus herum und sah, wie Lauren Cavanaugh aus ihrem Luxus-Sedan ausstieg und die Haustür aufschloss. Sie ging durch die Hintertür ins Haus und beobachtete, wie Lauren in das Arbeitszimmer ging. Das Letzte, was Rae gerade brauchte, war eine Auseinandersetzung mit ihrer Schwägerin. Sie war mit dieser Frau nie warm geworden.

Rae sprach kurz mit der Haushälterin, dann ging sie zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Lauren saß mit überschlagenen Beinen auf einem der Ledersofas. Sie trug ein weißes Kleid, das an der Hüfte mit einem Gürtel zusammengehalten wurde, und um das Handgelenk ein goldenes Armband mit Diamanten.

Lauren Cavanaugh war hochgewachsen, hatte helle Haut und blonde Haare. Sie sah abfällig an Raes T-Shirt und Jeans herunter, als Jackson ihr ein Glas Wasser reichte. Er fläzte sich neben ihr auf das Sofa und wirkte gleichzeitig defensiv und verängstigt. Selbst unter diesen Umständen gaben sie ein beeindruckendes Bild ab. Rae hatte vonseiten ihrer Mutter das hellbraune Haar und die Sommersprossen geerbt, während Jackson wie ihr Vater hochgewachsen war und dunkle Haare hatte.

Rae ging zu ihrem Vater hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wie immer roch er nach frisch gemähtem Gras. Sie ließ die bekannte Umgebung auf sich wirken: die Ledermöbel, die Gemälde an der Wand, die geliebten Bücher in den Regalen …

Sie wünschte sich, sie könnte in die Zeit zurückreisen, als Sophie sicher und gesund war. Vielleicht sogar noch weiter zurück, damit sie Riley ein letztes Mal treffen könnte.

„Schön, dich zu sehen, Rae.“ Ihr Vater klopfte ihr auf die Schulter.

Rae richtete sich auf und sah zu ihrem Bruder. Die Anspannung im Raum war deutlich spürbar. „Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Was ist passiert? Wisst ihr etwas Neues von Sophie?“

„Ja, wissen wir.“ West Cavanaugh nahm ihre Hand. „Du musst jetzt stark sein, meine Liebe. Sie wollen ein Lösegeld.“

Tom fuhr direkt zur Station. Der Morgen war heiß und sonnig, aber über Belle Pointe lag ein unheimlicher Schatten. Sophie Cavanaughs Verschwinden hatte viele schlechte Erinnerungen, Angst und Argwohn in der Stadt geweckt.

Tom kämpfte gegen das Gefühl eines Déjà-vus an, seitdem Sophie vermisst gemeldet worden war. Er wollte nicht glauben, dass ihr Verschwinden etwas mit der Vergangenheit zu tun hatte, aber die drei Mädchen waren auch in einer Blutmondnacht verschwunden. Nach so vielen Jahren war es bestimmt nicht der Prediger, aber vielleicht jemand, der die Geschichten von früher kannte.

Am liebsten wollte er mit seinen Deputys die Gegend durchforsten, denn hinter dem Schreibtisch fühlte er sich machtlos.

In einer kleinen Pause lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und sah nach draußen. Für einen Wochentag war nur wenig auf der Straße los. Er wunderte sich nicht. Viele Eltern würden jetzt zu Hause bleiben und ein Auge auf ihre Kinder haben.

Im Park auf der anderen Seite der Straße sah Tom eine einsame Person unter einem Pekannuss-Baum sitzen. Dylan Moody hätte eigentlich in der Schule sein sollen. Tom fragte sich, ob Dylan dasaß, weil er noch nicht mutig genug war, aber zur Station kommen wollte, oder ob er nur Zeit für sich brauchte. Tom spielte kurz mit dem Gedanken herüberzugehen, verwarf ihn aber wieder. Er wollte den Jungen in Ruhe lassen.

„Sheriff?“

Toms Assistentin stand in der Tür. „Ja, Angie?“

„Jemand möchte dich sehen. Er sagt, sein Name ist Blaine Fenton.“

Tom sah durch die gläserne Trennwand zu dem dunkelhaarigen Mann, der nervös auf und ab ging. Er hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben.

„Hat er gesagt, was er will?“

Angie sah ihn besorgt an. „Er meinte, er will mit dir über das Cavanaugh-Mädchen sprechen.“

„Dann schick ihn bitte rein.“ Tom drehte sich zurück zum Fenster. Dylan Moody saß immer noch da. Er war vornübergebeugt, als hätte er Bauchschmerzen. Was versteckst du?

Als wenn er Toms Blick gespürt hätte, sah Dylan zur Station. Tom hätte schwören können, dass Dylan kurz direkt in das Büro sah. Einen Moment später saß Dylan immer noch da, dann stand er auf und ging.

Tom wandte sich vom Fenster ab, als jemand sein Büro betrat.

Der Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen und fuhr über die Krempe seines Stetson.

Er ist nervös, dachte Tom. „Blaine Fenton?“

Der Mann räusperte sich. „Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Sheriff.“

„Wie kann ich weiterhelfen?“

„Ich hatte eher gehofft, Ihnen zu helfen.“

Tom sah an ihm herunter. „Sie wissen etwas über das Verschwinden von Sophie Cavanaugh?“

„Nicht direkt. Aber ich weiß etwas.“

„Das ist sehr vage.“ Tom setzte sich und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“

Der Mann nahm Platz und legte seinen Hut neben sich ab. Er war in den späten Dreißigern, groß und breit gebaut, und sah aus wie jemand, der schwere Arbeit gewöhnt war.

„Wie Sie vielleicht wissen, waren unsere Väter befreundet“, begann er. „Pa hat immer gut vom Sheriff gesprochen. Er meinte, Porter Brannon wäre einer der besten Männer gewesen, die er je gekannt hat.“

„Das höre ich immer gerne. Wie ist der Name Ihres Vaters?“

„Bill Fenton. Ihm gehört eine kleine Ranch nördlich der Stadt. Sein Grundstück grenzt an das der Cavanaughs. Wir sind im Vergleich zu ihnen zwar nur Kleinverdiener, aber immer gut mit ihnen ausgekommen. Jackson und ich haben früher Baseball zusammengespielt, und ich bin mit Rae ausgeritten. Manchmal mit Riley im Schlepptau. So ein süßes Kind. Es ist so schade, was ihr passiert ist.“

„Ja, das ist es.“

Blaine Fenton schien kurz in Gedanken, dann sammelte er sich wieder. „Nachdem ich beim Militär war, habe ich eine kurze Zeit für die Cavanaughs gearbeitet.“

Autor

Janie Crouch
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Rita Herron
Schon im Alter von 12 schrieb Rita Herron ihre ersten Krimis. Doch sie wuchs in einer Kleinstadt auf – noch dazu in bescheidenen Verhältnissen – und konnte sich eigentlich nicht vorstellen, das „echte“ und einfache Leute wie sie Autoren werden könnten. So dauerte es viele Jahre, bis sie den Weg...
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