Baccara Spezial Band 7

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3 Romane von Janie Crouch

MEIN EX, DER AGENT

Kein Treibholz - sondern eine verletzte junge Frau! Einen schrecklichen Fund macht Vanessa am Strand. Sie hilft der Fremden, aber das bringt sie auf die Abschussliste von Menschenhändlern. Und treibt sie zurück in die Arme ihres Ex-Verlobten, FBI-Agent Liam Goetz …

ICH SPÜRE DEINE FURCHT

Ihre besondere Gabe - instinktiv zu merken, was andere fühlen - hat die verschlossene Andrea zur Top-Agentin gemacht. Jetzt soll sie gemeinsam mit Brandon Han einen Serienkiller aufspüren. Doch der smarte Profiler bringt ihre eigenen Gefühle gefährlich durcheinander …

UNSCHULDIG UNTER VERDACHT

Als zwei seiner Ex-Freundinnen ermordet werden, gerät Agent Joe Matarazzo unter Verdacht. Beunruhigt kontaktiert er Laura Birchwood, eine weitere Ex-Freundin. Sie ist Anwältin, sie muss ihm helfen! Aber da hat der Täter schon sein nächstes Opfer gewählt - Laura …


  • Erscheinungstag 28.08.2020
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729288
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janie Crouch

BACCARA SPEZIAL BAND 7

JANIE CROUCH

Mein Ex, der Agent

„Ich brauche deine Hilfe.“ Ungläubig hört Special Agent Liam seinen AB ab. Vanessa kontaktiert verzweifelt ihn – nach acht Jahren Funkstille! Heiraten wollte er sie damals, aber sie hat sich gegen ihn entschieden. Egal! Wenn Vanessa in Not ist, spielt die Vergangenheit für Liam keine Rolle. Er fährt zu dem Motel, wo sie sich vor einem Syndikat versteckt …

Ich spüre deine Furcht

Er und Andrea Gordon – ein Team? Der brillante Profiler Brandon Han ist not amused. Andrea ist ausgesprochen distanziert, allerdings auch eine hochbegabte Gedankenleserin der Elitetruppe Omega Sector. Ihr Auftrag: Sie sollen einen Serienkiller in Andreas Heimatort zur Strecke bringen. Doch je näher sie dem Täter kommen, desto näher kommen sie auch einander …

Unschuldig unter Verdacht

Laura ist sicher: Bis sie den psychopathischen Stalker finden, der Joes Ex-Freundinnen umbringt, wird Joe sie beschützen. Denn auch sie ist in Gefahr, weil sie mal mit dem sexy Agenten liiert war. Und mit jeder Nacht in seiner Nähe lodert ihr Verlangen nach ihm heißer! Doch der Stalker plant für sie beide bestimmt kein Happy End …

1. KAPITEL

Ein gemütlicher abendlicher Strandspaziergang ist für viele Menschen eine gute Gelegenheit, über das Leben nachzudenken. Nicht für Vanessa Epperson. Sie hatte kaum noch Zeit, am Strand spazieren zu gehen, geschweige denn die Gedanken schweifen zu lassen.

Sie war viel zu beschäftigt, um nachzudenken. Ach, aber wie schön war es doch, den Sand zwischen den Zehen zu spüren.

Eigentlich sollte sie so viel Zeit für Strandspaziergänge haben wie andere Menschen auch: In ihrem Beruf als Sozialarbeiterin in einer privaten Hilfsorganisation – The Bridgespan Team – hatte sie theoretisch eine normale Arbeitswoche mit geregelten Zeiten. Aber in der Praxis sah es meist anders aus. Wenn eine Frau anrief, die dringend eine Unterkunft brauchte, weil sie endlich den Mut aufgebracht hatte, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen, geschah das selten während der Geschäftszeiten. Genau wie der Anruf von dem Mann, der das erste richtige Vorstellungsgespräch seit Wochen hatte und um 7 Uhr morgens eine Mitfahrgelegenheit brauchte, weil er mit dem Auto liegengeblieben war.

Beide Szenarien hatte Vanessa in den letzten 48 Stunden erlebt.

Ihre Kollegen meinten, sie sei zu stark involviert und müsse mehr Abstand zwischen sich und ihre Kunden bringen. Doch Vanessa hörte nicht auf ihre Kollegen. Manchmal brauchten Menschen eben Hilfe, die sich nicht im Rahmen üblicher Arbeitszeiten bewerkstelligen ließ. Wenn Vanessa helfen konnte, dann tat sie das auch. Es kam schließlich oft genug vor, dass sie überhaupt nichts ausrichten konnte.

Wenn sie Bescheid wüssten, würden ihr die meisten Leute wohl sagen, sie solle sich an den fünf Millionen Dollar bedienen, die ihre Eltern ihr zur Verfügung gestellt hatten. Aber das konnte Vanessa nicht tun – das würde sie nicht tun. Sie hatte nicht vor, dieses Geld jemals anzurühren.

Sie drängte jeden Gedanken an ihre Familie beiseite, als sie am Strand des Roanoke Sound in den Outer Banks von North Carolina entlanglief. Sie wollte nicht zulassen, dass sie in ihre wenigen Momente der Stille und Einsamkeit drangen.

Der Sand zwischen ihren Zehen – dieser ganz bestimmte Sand – gab ihr neue Energie. Er erinnerte sie daran, dass alles gut werden würde. Er half ihr, den Kopf frei zu bekommen und die Probleme, die sie nicht lösen konnte, eine Weile ruhen zu lassen.

Es war Anfang Oktober. Die Sonne war vor ein paar Minuten untergegangen, und der Strand, jetzt menschenleer, war in ein violettes Licht getaucht. Der Sommer war vorüber, und die Touristen hatten die Outer Banks schon lange wieder verlassen – sie wären ohnehin auf der Meerseite gewesen und nicht auf der etwas langweiligeren Sundseite. Auch die Einheimischen waren bereits zu Hause oder wo auch immer sie ihre Abende verbrachten.

Auch für Vanessa wurde es langsam Zeit, nach Hause zu gehen. Um halb sechs würde ihr Wecker klingeln, und sie brauchte ihren Schlaf, um für einen weiteren anstrengenden Tag gewappnet zu sein.

Aber der Strand war so ruhig, der Sand so angenehm und kühl zwischen den Zehen, die Brise so sanft im dunkler werdenden Himmel, dass sie beschloss, noch ein Stück weiter zu gehen, nur bis zu dem angeschwemmten Baumstamm, der ein paar Hundert Meter entfernt lag, dann würde sie umkehren und zurück zum Auto laufen.

Sie weigerte sich, daran zu denken, mit wem sie einmal hier am Strand entlanggelaufen war. Der Gedanke daran machte sie immer nur traurig. Und Vanessa wollte nicht immerzu traurig sein. Dazu war das Leben zu kurz.

Ehe sie sichs versah, war sie schon bei dem Stamm angekommen und wollte gerade kehrt machen, als das Holz plötzlich stöhnte und sich bewegte.

Vanessa stieß einen Schrei aus und machte einen Satz zurück. Da lag ein Mensch.

Sie sah sich um – in ihrem Job hatte sie über die Jahre gelernt, dass Gefahr auch an völlig harmlos wirkenden Orten lauern konnte – und holte den Pfefferspray aus ihrer Tasche. Eine Pistole wäre besser gewesen – in North Carolina hatte sie das Recht, eine versteckte Waffe zu tragen –, aber ihre lag im Auto.

Der Stamm stöhnte wieder auf.

Vanessa näherte sich langsam, vorsichtig, und ging die möglichen Szenarien im Kopf durch. Es konnte ein Betrunkener sein, der am Strand das Bewusstsein verloren hatte. Das passierte hier normalerweise nicht, aber war durchaus möglich. Oder jemand, der einfach eingeschlafen war.

Oder jemand, der vorhatte sie anzugreifen, obwohl ein Raubüberfall am Strand im Oktober zu dieser Tageszeit nicht sehr wahrscheinlich war. Nichtsdestotrotz hielt Vanessa ihren Pfefferspray bereit.

„Entschuldigung, geht es Ihnen gut?“ Als keine Antwort kam, trat sie einen Schritt näher. „Hallo?“

Vielleicht war die Person verletzt. Vanessa blieb wachsam, trat aber noch ein paar Schritte näher. Jetzt erkannte sie die Umrisse der Person genauer.

Wenn dieser Jemand Vanessa etwas antun wollte, musste er oder sie eine Waffe bei sich haben. Jetzt fiel ihr auf, wie klein die Person war. Sie konnte nicht viel größer sein als Vanessa mit ihren 1,58 Meter.

„Geht es Ihnen gut? Hallo?“

Vanessa ging die letzten paar Schritte auf die Gestalt zu. Es war eine Frau. Sie lag reglos auf dem Bauch, das lange braune Haar klebte ihr am Rücken, nass und voller Sand und Seetang.

Vanessa beugte sich zu der Frau hinunter und berührte sanft ihre Schulter. Ihre Haut war eisig kalt.

Wer auch immer diese Frau war, sie brauchte Hilfe.

„Hallo? Sind Sie bei Bewusstsein?“

Sie hatte womöglich eine Kopf- oder Rückenverletzung. Vanessa wollte sie nicht bewegen. Sie verfluchte den Umstand, dass sie ihr Handy im Auto gelassen hatte, aber selbst wenn sie es mitgenommen hätte, hätte sie hier vermutlich keinen Empfang.

Vanessa rieb der Frau über den Arm. „Hallo? Können Sie mich hören?“

Sie sprang auf, als die Frau plötzlich vor ihrer Berührung wegzuckte, ihr Brustkorb hob und senkte sich, ihr Atem kam schwer. Sie hielt abwehrend einen Arm seitlich hoch.

Keine Frau. Ein Mädchen. Ein Teenager. Vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.

Vanessa versetzte es einen Stich. Sie wusste, was dieser ausgestreckte Arm bedeutete: Misshandlung.

Zumindest schien ihre Wirbelsäule nicht verletzt zu sein.

„Hi, ich bin Vanessa.“ Sie sprach sehr langsam, mit sanfter Stimme. „Geht es dir gut? Kann ich dir helfen?“

Vanessa bewegte sich nicht näher auf sie zu, um sie nicht noch mehr zu ängstigen.

Das Mädchen schüttelte nur stumm den Kopf.

Vanessa fiel auf, dass das Mädchen nur ein dunkles T-Shirt anhatte, das zerrissen war und ihr fast vom Körper fiel. Darunter trug sie scheinbar nichts. Vanessa knöpfte die dünne Jacke auf, die sie trug.

„Ich ziehe mir nur die Jacke aus. Vielleicht geht es dir besser, wenn du etwas mehr anhast.“

Sie streckte den Arm aus und ließ die Jacke fallen. Sie landete gerade in Reichweite für das Mädchen, aber nicht so nah, dass sie sie ungewollt berührte.

„Kann ich jemanden für dich anrufen? Deine Eltern? Eine Freundin? Deinen Freund?“

Vanessa war erleichtert, als das Mädchen nach der Jacke griff, aber sie gab keine Antwort.

„Kannst du mir wenigstens deinen Namen sagen?“

Das Mädchen sah zu ihr auf, die großen braunen Augen schienen ihr ganzes Gesicht einzunehmen.

„Ka-Karine“, flüsterte sie schließlich. „Mein Name ist Karine.“

Ihr Englisch war gebrochen, mit starkem Akzent – sie klang osteuropäisch. Deshalb hatte sie wahrscheinlich Vanessas andere Fragen nicht beantwortet. Ihr Englisch war nicht so gut, dass sie Vanessa verstehen konnte.

Und wenn sie nicht gerade bei jemandem zu Besuch hier war, war sie weit weg von zu Hause.

„Hi, Karine“, sagte Vanessa sanft. Sie sprach jetzt langsamer, vielleicht konnte das Mädchen sie dann besser verstehen. „Kannst du mir sagen, wie du hierhergekommen bist?“

„Boot“, flüsterte Karine.

„Du warst auf einem Boot unterwegs? Mit deiner Familie? Gab es einen Unfall?“

Karine fing an zu weinen. „Nein. Männer uns genommen. Uns viele Tage auf Boot gelassen.“

„Du wurdest entführt? Hier in den Outer Banks?“

Vanessa sah, dass Karine ihr nicht mehr folgen konnte.

„Woher kommst du?“ Wieder langsam sprechen. „Wo bist du zu Hause?“

„Estland.“

Vanessa pfiff leise durch die Zähne. Hatte sie das richtig verstanden?

„Die Männer haben dich aus Estland geholt und mit auf ein Boot genommen?“

Karine nickte. „Erst ein Boot und dann kleineres Boot mit Männern, die nur Englisch sprechen.“

Vanessa sah, wie das Mädchen bei dem Gedanken daran erschauderte.

„Und da waren noch andere Mädchen?“

Karine nickte wieder. „Ja. Noch sieben Mädchen.“

Vanessa spürte, wie eine Welle der Übelkeit sie überkam. Karine und die anderen Mädchen waren offenbar einem Menschenhändlerring zum Opfer gefallen – hier in den Outer Banks.

„Wie bist du hierhergekommen, Karine?“, fragte Vanessa. „Wie bist du von den Männern weggekommen?“

Sie hielt eine Hand hoch – ihr Handgelenk war voller blauer Flecke, offensichtlich von Handschellen oder Ähnlichem.

„Männer uns festgebunden, wenn keiner mit uns in Boot war. Aber ich losgekommen bin. Gesprungen in Wasser. Lieber ich sterbe durch Haie als wieder angefasst werden von Männern.“ Karine schloss die Augen und ließ ihre Hand sinken.

Im Roanoke Sound gab es keine Haie, das wusste Vanessa, aber um diese Jahreszeit konnte es schmerzhafte Quallen geben. Es war jedenfalls eine große Leistung gewesen für die schmächtige Jugendliche. Der Sund war an manchen Stellen über acht Kilometer breit. Sie hatte auf keinen Fall wissen können, wie lange sie würde schwimmen müssen, als sie ins Wasser gesprungen war.

Was auch immer sie auf diesem Boot erwartet hatte, muss so schrecklich gewesen sein, dass Karine bereit gewesen war, ihr Leben zu riskieren, um dem zu entkommen.

Vanessa musste sie in ein Krankenhaus bringen und den Vorfall melden. Die Polizei, die National Guard oder die Marines oder alle drei darauf ansetzen, nach den anderen Mädchen zu suchen.

„Karine, du warst so tapfer“, flüsterte sie. „Ich weiß, es ist nicht leicht. Aber meinst du, du kannst mit mir kommen? Ich kann dich in ein Krankenhaus bringen. Dort kann man dir helfen.“

„Ich versprochen habe, anderen Mädchen zu helfen, wenn ich überlebe“, flüsterte Karine.

„Ja.“ Vanessa nickte. „Das machen wir auf jeden Fall. Wir gehen zur Polizei, damit sie helfen können, die anderen Mädchen zu finden.“

Vanessa dachte erst, Karine würde ihre Hilfe ablehnen, aber dann nickte sie und stand auf, Vanessas Jacke um die Schultern gezogen.

„Okay, ich komme mit.“

Karine schien keine allzu schweren Verletzungen zu haben. Sie schaffte es ohne Hilfe vom Strand bis zu Vanessas Auto. Sie war offensichtlich dehydriert – die Flasche Wasser, die Vanessa ihr anbot, hatte sie in wenigen Sekunden leer getrunken – und hungrig. Eine Packung Cracker verputzte sie im Handumdrehen. Vanessa wünschte, sie könnte ihr mehr anbieten. Die Yogahose, die sie Karine zum Überziehen gab, war ihr zwar zu groß, aber immerhin besser als nichts.

Vanessa fuhr ohne Umwege zum Nags Head Regional Hospital. In den letzten Jahren war sie mit so vielen Kunden dagewesen, dass man sie dort bereits gut kannte. Sie führte Karine durch den Eingang zur Notaufnahme und war erleichtert, ihre Freundin Judy am Empfang zu sehen.

„Hey, Judy.“ Vanessa sprach nur so laut, dass Judy sie hören konnte. Das Letzte, was Karine jetzt brauchte, war der Medienrummel, der entstehen würde, wenn irgendjemand erfuhr, dass sie möglicherweise in der Gewalt eines Menschenhändlerrings hier in der Gegend gewesen war. „Ich habe hier ein Opfer eines Überfalls. Sie spricht kaum Englisch. Wahrscheinlich stark dehydriert. Sie ist sehr lange geschwommen, um der Person oder den Personen zu entkommen, die sie festgehalten haben.“

Judy schüttelte den Kopf und schenkte Karine ein warmes Lächeln. „Das tut mir leid, Liebes. Wir werden dir helfen.“ Sie wandte sich Vanessa zu. „Hier ist heute Abend der Teufel los. Können wir sie im Übergangsraum unterbringen? Nur, bis etwas anderes frei wird. Wir werden dort keine Untersuchungen machen.“

Der Übergangsraum lag ganz am Anfang der Unfallabteilung. Opfer von Überfallen wurden selten dort untergebracht, weil dort so viel los war und der Raum nur durch Vorhänge abgetrennt war. Judy würde sie sicher nicht dort hinlegen lassen, wenn es eine andere Wahl gab.

„In Ordnung. Ich bringe Karine hin.“

Sie führte das Mädchen in den Raum und half ihr, sich zu setzen. Karines Blick war wie gebannt auf die Lücke im Vorhang gerichtet.

Sollte Vanessa ihr etwas zu essen bringen? Sie wollte Karine nicht alleinlassen, aber wer wusste, wann sie zuletzt etwas Richtiges gegessen hatte? Vielleicht konnte Judy ihnen etwas besorgen.

Kurz darauf sprang Karine von ihrem Stuhl auf und verzog sich in die hinterste Ecke des Raums. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen weit aufgerissen.

„Weg. Weg.“ Die junge Frau zitterte so heftig, dass sie nicht mehr herausbrachte.

Vanessa verstand nicht, was los war. Warum war Karine plötzlich so panisch, wo sie doch seit ihrer Ankunft im Krankenhaus so ruhig gewesen war? Vanessa warf einen Blick durch die Lücke im Vorhang, um zu sehen, was Karine gesehen hatte.

Ein uniformierter Polizist stand am Tresen und unterhielt sich mit Judy.

Hatte Vanessa die ganze Situation falsch verstanden? War Karine auf der Flucht vor den Gesetzeshütern?

Sie drehte sich zu der jungen Frau um und sah, wie sie gerade unter dem Vorhang hindurchschlüpfte. Vanessa eilte zu ihr hinüber und hielt sie sanft zurück.

„Karine. Der Polizist da vorne … ist der auf der Suche nach dir?“

Karine klammerte sich an Vanessa. „Mann. Mann auf Boot.“

„Der Mann war auf dem Boot?“ Ein Hilfssheriff?

„Nein.“ Karine schüttelte den Kopf. „Kleidung.“

Also nicht dieser Mann, sondern jemand mit derselben Uniform. Meine Güte. Wollte Karine ihr damit sagen, dass jemand von der Polizeiwache einem Menschenhändlerring angehörte?

Vanessa sah sie eine Weile durchdringend an. Sie wusste nicht genau, was hier vor sich ging, aber sie beschloss, Karine zu vertrauen. Wenn sie sich in ihr täuschte, würde sie eben nachher die Konsequenzen tragen müssen.

„Okay. Machen wir, dass wir hier wegkommen.“

Sie schlüpften unter dem Vorhang durch und hatten das Krankenhaus Minuten später verlassen. Karine zitterte noch immer und sah sich nervös um, offenbar aus Angst, dass sie verfolgt wurden. Vanessa legte sacht einen Arm um sie und führte sie über den Parkplatz zu ihrem Auto. Karine verkrampfte kurz, entspannte sich dann aber und lehnte sich an sie.

Vanessa ließ den Motor an und fuhr vor bis zur Parkplatzausfahrt. Sie war nicht sicher, in welche Richtung sie fahren sollte. Wenn wirklich jemand von der Polizeiwache mit da drin steckte, würden sie nicht lange brauchen, um herauszufinden, dass Karine bei ihr war. Sie konnte Karine nicht mit zu sich nach Hause nehmen. Sie musste sie aus dieser Gegend wegbringen.

„Karine.“ Vanessa dreht sich zu dem Mädchen um, das tief in den Sitz gerutscht war, um nicht gesehen zu werden. „Ich fahre mit dir nach Norfolk, okay? Das ist eine Stadt, etwa anderthalb Stunden von hier entfernt. Die Polizei dort, das FBI, kann uns helfen.“

„Nein!“ Karine setzte sich in ihrem Sitz auf. „Ich kann nicht weg. Muss hier bleiben, anderen Mädchen helfen. Muss sie finden.“

„Ja, wir holen Hilfe und kommen dann wieder.“

„Nein!“, rief Karine wieder, die Hand auf dem Türgriff. „Ich hierbleibe.“

„Nein, warte. Steig nicht aus“, sagte Vanessa.

Karine war erschöpft, traumatisiert und verletzt. Vanessa betete, dass sie sich bei der Uniform getäuscht hatte. Viele der Männer von der Polizeiwache kannte Vanessa fast schon ihr ganzes Leben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit der Viktimisierung von jungen Frauen zu tun hatten.

Aber sie würde Karine jetzt nicht allein lassen, wie unwahrscheinlich dieses Szenario auch sein mochte.

„In Ordnung. Wir bleiben hier in Nags Head“, sagte Vanessa und konnte zusehen, wie Karines Anspannung wich. „Wir gehen in ein Hotel.“

Karine nickte und ließ sich wieder in ihren Sitz sinken.

Wenn Karine sich weigerte, die Gegend zu verlassen, würde Vanessa dafür sorgen müssen, dass jemand herkam, um ihnen zu helfen. Die örtliche Polizei einzuschalten stand außer Frage. Sie brauchte jemanden außerhalb dieses Kreises, jemanden von der Bundespolizei.

Liam Goetz.

Er arbeitete bei der Drogenvollzugsbehörde DEA, wo er vielleicht nicht direkt mit Menschenhandel zu tun hatte, aber zumindest wusste sie, dass er nicht bei der örtlichen Polizei war. Er würde wissen, was zu tun war und an wen sie sich wenden konnte.

Natürlich hatte sie seit acht Jahren nicht mehr mit Liam gesprochen und wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt mit ihr reden würde. Aber er war jetzt ihre einzige Chance. Sie musste es versuchen.

Vanessa fuhr zu ihrer Wohnung, um seine Telefonnummer zu besorgen, die auf der Rückseite eines Fotos von ihnen beiden geschrieben stand. Sie hätte es schon vor Jahren wegwerfen sollen, hatte sich aber nicht dazu durchringen können. Jetzt war sie froh darum.

Sie packte schnell ein paar Anziehsachen aus ihrem Zimmer zusammen – nicht zu viel, damit es nicht danach aussah, als wäre sie nicht zu Hause – und rannte zurück zum Auto. Sie war sich sicher, dass ihre Wohnung einer der ersten Orte wäre, an denen die Polizei nach Karine suchen würde.

Sie fuhr los und wählte über die Freisprechanlage die Nummer an, die hinten auf dem Bild stand. Sie zwang sich, nicht ihr jüngeres, viel unschuldigeres Ich auf dem Foto anzusehen. Diese Frau gab es nicht mehr.

Es klingelte zweimal, bevor jemand abnahm.

„DEA Callcenter.“

„Ähm, ja, ich würde gern mit einem Agenten sprechen. Zumindest war er mal Agent.“ Vanessa war nicht sicher, was sie sagen sollte. Vielleicht arbeitete Liam gar nicht mehr für die DEA. „Er hat mir diese Nummer gegeben.“

„Bitte geben Sie mir den Namen der Person, mit der Sie sprechen möchten. Ich werde Sie durchstellen.“ Der Telefonist klang sehr energisch.

„Liam Goetz.“ Vanessa wusste nicht, in welcher Abteilung er arbeitete oder auch nur in welcher Stadt.

„Bitte bleiben Sie dran.“

Vanessa steuerte einige ältere Hotels in der Nähe von Nags Head an. Es waren eher einfache Unterkünfte, mehr konnte Vanessa Karine auch nicht bieten. Außerdem würde die Polizei hier nicht so schnell nach ihr suchen.

Je länger Vanessa in der Warteschleife hing, desto sicherer war sie, dass dieser Anruf zu nichts führte.

„Hallo? Sie möchten mit Liam Goetz sprechen?“ Diesmal eine energische Frauenstimme.

„Ja. Aber ich weiß nicht, in welcher Division er arbeitet …“

„Ich verbinde Sie mit seiner Voicemail. Bitte hinterlassen Sie ihm eine ausführliche Nachricht. Wir werden dafür sorgen, dass er sie bekommt.“

Okay, er arbeitete also immer noch für die DEA. Sehr gut.

„Okay.“

„Bitte bleiben Sie dran. Hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piepton.“

Vanessa war überrascht, als sie einen Moment später den Piepton hörte. Es hatte keine Ansage gegeben.

„Ähm, hi Liam, Vanessa hier. Vanessa Epperson.“

Wie viel sollte sie ihm erzählen?

„Ich wohne immer noch auf den Outer Banks, bin aber gerade in einem Hotel.“ Sie gab ihm den Namen und die Adresse des Hotels, bei dem sie gerade angehalten hatte. „Ich brauche deine Hilfe. Ich habe hier einen brenzligen Fall und glaube, dass die örtliche Polizei involviert ist. Daher brauche ich die Hilfe der Bundespolizei. Ich wäre dir sehr dankbar für Hinweise. Ich weiß nicht, wem ich sonst vertrauen kann. Also melde dich, wenn du kannst.“

Genug geplappert. Sie gab ihm noch ihre Nummer und legte dann auf. Mehr konnte sie nicht tun. Aber sie sollte sich einen Plan B zurechtlegen, falls Liam sich nicht zurückmeldete. Immerhin war das Letzte, was er vor acht Jahren über sie gesagt hatte, dass sie eine egoistische, verwöhnte Göre war, der andere Menschen egal waren.

Ja, einen Plan B brauchte sie auf jeden Fall.

2. KAPITEL

Liam hörte sich die Voicemail-Nachricht zum hundertsten Mal an.

Vanessa Epperson.

Er hatte ehrlicherweise nicht damit gerechnet, je wieder ihre Stimme zu hören. Sie hatte es schließlich auch nicht für nötig gehalten, ihm eine Voicemail-Nachricht zu hinterlassen, als sie vor acht Jahren entschieden hatte, dass er nicht gut genug zum Heiraten war.

Oder einen Brief. Oder eine E-Mail. Oder ein klärendes Gespräch.

Aber offensichtlich hatte sie ihre Abneigung gegen das Telefonieren überwunden. Schön für sie.

Liam spielte die Nachricht noch einmal ab.

Sie brauchte Hilfe und nahm Kontakt zu ihm auf, weil sie annahm, dass er noch immer für die DEA arbeitete. Bei der DEA war er schon seit über fünf Jahren nicht mehr, seit die Kriseninterventionsabteilung von Omega Sector ihn für die Leitung des Geiselrettungsteams rekrutiert hatte.

Vanessa hatte Glück, denn Omega Sector bestand aus Agenten vieler verschiedener Strafverfolgungsbehörden – FBI, Interpol, DEA … –, und ihre Nachricht war aufgezeichnet und ihm sofort übermittelt worden.

Was genau ihr Problem war, verriet sie nicht, aber Liam sollte alles stehen und liegen lassen, um ihr zu helfen. Auch früher schon hatte sie immer erwartet, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten. Einige Dinge änderten sich eben nie.

Er hörte sich die Nachricht noch einmal an.

Idealerweise würde er einen seiner vielen Freunde im DEA-Büro Atlanta anrufen und jemanden nach Nags Head schicken lassen. Vielleicht gab es sogar jemanden in der FBI-Außenstelle in Norfolk, den er kontaktieren konnte.

Das wäre die naheliegendste und wohl auch die professionellste Lösung. In drei oder vier Stunden wäre jemand vor Ort, um Vanessa zu helfen.

Aber Liam konnte sich nichts vormachen. Er würde niemanden anrufen. Er war schon auf dem Weg durch den Flur der Zentrale der Kriseninterventionsabteilung zum Büro seines Chefs.

Er klopfte an Steve Dracketts Bürotür – an die Hintertür, die direkt zu Steve führte, statt durch den Haupteingang zu gehen, der von Steves vier Assistentinnen bewacht wurde. Vier jungen, attraktiven, sehr kompetenten und intelligenten Assistentinnen.

Liam kannte sie alle, flirtete schamlos mit ihnen allen. Er hatte im Büro so viel Zeit mit diesen Frauen verbracht, dass Steve ihm schon mehrfach mit Kündigung gedroht hatte.

Privat traf sich Liam mit keiner dieser Frauen – er war nicht so dumm, jemanden zu daten, der die Verantwortung für sein Leben trug – aber er lehnte sich an ihre Schreibtische, unterhielt sich mit ihnen und hielt sie von der Arbeit ab.

Liam lächelte. Steves Assistenzbüro war einer seiner liebsten Plätze auf der ganzen Welt.

Aber nicht heute. Nicht jetzt. Er konnte nicht da reingehen und mit all den schönen Frauen flirten, wenn Vanessas Stimme noch in seinem Kopf herumschwirrte.

Steves Bürotür ging auf.

„Hey, Liam. Komm rein“, sagte Steve, der, in eine Akte vertieft, gerade wieder an seinen Schreibtisch trat. „Ich wusste gar nicht, dass dir diese Tür bekannt ist.“

Derek Waterman und Joe Matarazzo – beides Kollegen und gute Freunde von Liam – saßen mit ähnlichen Akten zur anderen Seite von Steves Schreibtisch.

„Hey Goetz“, murmelte Derek. Joe maulte irgendetwas Unverständliches, ohne von der Akte in seiner Hand aufzusehen.

„Ich wollte nicht stören, Steve“, sagte Liam.

„Kein Problem. Was gibt’s?“

„Ich muss ein paar Tage freinehmen.“

Jetzt sahen die Jungs von ihren Akten auf. Liam war sicher, dass er noch nie freigenommen hatte, ohne dass ein lange geplanter Urlaub anstand.

„Ist alles in Ordnung?“ Auch Steve klang besorgt.

„Ja.“ Liam zuckte die Schultern. „Alles in Ordnung. Eine Freundin von den Outer Banks hat angerufen und mich um Hilfe gebeten. Sie meinte, es könnte etwas schwierig werden mit der örtlichen Polizei, daher hätte sie gern Hilfe von außen.“

„Da bist du aufgewachsen, oder? Du warst schon lange nicht mehr zu Hause.“

„Ja, nicht mehr, seit meine Großmutter gestorben ist. Es gibt nichts, was mich noch dort hält.“

Steve nickte. „Wie ernst ist das Problem deiner Freundin? Sollen wir ein Team rausschicken?“

„Nein, sie kommt schon klar.“

„Worum geht es denn?“

Liam seufzte. „Ehrlich gesagt weiß ich das nicht genau. Sie hat mich auf meiner alten DEA-Nummer angerufen. Die Nachricht wurde weitergeleitet.“

Derek grinste. „Das ist also nur irgendeine Freundin, ja?“

Liam kannte seinen Ruf – er hatte schließlich hart an seinem Frauenhelden-Image gearbeitet. Ein Mädchen in jedem Hafen. Der schamlose Verführer.

Manchmal glaubte er fast schon an seine eigene Legende. Denn es war so viel einfacher, zu glauben, dass er eine Art moderner Casanova war, als dass er immer noch einer Frau hinterhertrauerte, die ihn vor acht Jahren eiskalt verlassen hatte.

„Und dann auch noch ein Mädchen aus seinem Heimatort“, warf Joe ein. „Von der haben wir ja noch nie was gehört.“

„Sehr interessant.“ Derek wackelte mit den Augenbrauen.

„Das reicht, ihr zwei“, fuhr Steve dazwischen. Er wandte sich Liam zu. „Gibt es irgendwas, was wir über deine Freundin oder ihre Lage wissen sollten?“

„Soweit ich weiß, nicht“, sagte Liam. „Sie hat mir kaum Informationen gegeben. Aber wenn ich absehen kann, dass ich Verstärkung brauche, melde ich mich.“

„Willst du sie nicht erst anrufen und mehr herausfinden?“

„Nein. Ich werde direkt hinfahren.“

Glücklicherweise wies keiner der drei Männer darauf hin, was Liam sehr wohl bewusst war: Wegen einem vagen Anruf von jemandem, mit dem er seit knapp zehn Jahren nicht gesprochen hatte, alles stehen und liegen zu lassen und die weite Reise von der Omega-Zentrale in Colorado Springs zu den Outer Banks von North Carolina auf sich zu nehmen, war ziemlich verrückt.

Aber von dem Moment an, da er Vanessas Stimme gehört und realisiert hatte, dass sie ihn um Hilfe bat, war Liam klar gewesen, dass er genau das tun würde.

„Okay. In ein paar Stunden geht ein Omega-Jet nach D.C. Da könntest du mitfliegen“, gab Steve zurück. „Pass auf dich auf und sag Bescheid, wann du zurückkommst.“

Joe und Derek sagten nichts, sondern starrten Liam nur mit offenen Mündern an. Er ignorierte sie.

„Okay. Danke, Steve.“

Liam ging ohne ein weiteres Wort. Er wollte sich vor seinen Freunden nicht rechtfertigen müssen, zumal er sich selbst kaum verstand. Er wusste nur, dass er Vanessa sehen musste.

Es wunderte ihn nicht, dass sie noch immer auf den Outer Banks lebte. Der 300 Kilometer lange Düneninselstreifen an der Nordostküste von North Carolina verfügte über eine Reihe erstklassiger Immobilien, und ein guter Teil davon gehörte den Eppersons.

Und Vanessa war die Prinzessin inmitten von alldem. Schon ihr ganzes Leben lang.

Liam hatte auf die harte Tour gelernt, dass ihre Liebe zu diesem verwöhnten Lebensstil schwerer wog als jedes Versprechen, das sie einem armen Tor gab, der so dumm gewesen war, sich in sie zu verlieben; der so dumm gewesen war, ihr abzunehmen, dass sie seine Liebe erwiderte.

Ob sie an ihn dachte, wenn sie den Sand des Roanoke Sound unter den Füßen oder unter ihrem Rücken spürte? Ob sie an die vielen Stunden zurückdachte, die sie dort zusammen verbracht hatten?

Dachte sie jemals daran, wie er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm durchbrennen und ihn heiraten wollte, direkt an diesem Strand? Wie sie Ja gesagt hatte?

Und wie sie dann nicht bei ihrem vereinbarten Treffpunkt erschienen war? Ihm das Gespräch verweigert hatte, als er sie sehen und hatte erfahren wollen, warum sie es sich anders überlegt hatte?

Vermutlich nicht.

Die Adresse, die sie ihm in der Nachricht durchgegeben hatte, war nicht die der Familienvilla in Duck, etwas nördlich von Nags Head, sondern von irgendeinem Hotel bei Meile 13, ziemlich im Nirgendwo.

Liam fuhr zu seiner Wohnung, um seine Sachen zu packen. Er würde versuchen, den Jet nach D.C. mit dem Omega-Team zu erwischen, wie Steve vorgeschlagen hatte. Andernfalls würde er nach Fort Carson fahren, der Militärbasis von Colorado Springs. Omega arbeitete wenn nötig eng mit dem Militär zusammen, und Liam hatte aus seiner Zeit bei den Special Forces noch viele Kontakte dort.

Die Offiziere mochten ihre Töchter wegsperren, wenn Liam in Sicht war, aber wenn er eine Mitfluggelegenheit brauchte, boten sie ihm gern einen Platz an Bord an.

Bei dem Gedanken musste Liam schmunzeln. Sein Playboy-Ruf in Colorado war wohlverdient.

Aber in den letzten Jahren schien er die Lust auf kurze, unverbindliche Affären verloren zu haben. Er flirtete zwar immer noch gern mit Jung und Alt und küsste jede Frau, die ihm über den Weg kam. Aber darüber hinaus reichte sein Interesse nicht.

Vielleicht lag es daran, dass er in den letzten Monaten miterlebt hatte, wie zwei seiner besten Freunde – und ebenfalls Omega-Agenten – sich in schöne, starke Frauen verliebt hatten. Jon Hattons und Derek Watermans Liebe zu den Frauen in ihrem Leben war förmlich greifbar. Liam wollte so etwas Echtes auch für sich.

Und plötzlich verstand er: Deswegen wollte er nach Nags Head. Denn solange er nicht abschließen konnte mit dem, was dort geschehen war, würde er nie eine echte Beziehung zu einer Frau aufbauen können.

Jetzt war die Zeit gekommen. Er würde sich ein für alle Mal von der Erinnerung an Vanessa Epperson frei machen. Ihr Anruf hatte ihm endlich einen Vorwand gegeben.

Liam würde nicht zurückrufen.

Vanessa hatte dieser Tatsache ins Auge gesehen, als sie heute Morgen in dem schäbigen Hotel aufgewacht war, im Bett neben ihr zusammengekauert eine traumatisierte Jugendliche. Er hätte den ganzen Abend über, die ganze Nacht lang und am frühen Morgen Zeit gehabt, sich zu melden.

Vielleicht hatte er ihre Nachricht nicht bekommen. Oder er war auf einer wichtigen Mission mit der DEA.

Vielleicht hasste er sie noch immer.

Es spielte aber eigentlich keine Rolle, warum er sich nicht meldete. Es änderte nichts an der Tatsache, dass Vanessa mit der Aufgabe, Karine zu helfen, auf sich gestellt war.

Das war schon in Ordnung. Vanessa hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie mit den meisten Schwierigkeiten auch alleine klarkam.

Aber dass Liam sich nicht zurückmeldete, versetzte ihr doch einen kleinen Stich.

Sie stand leise auf, um Karine nicht zu wecken. Das Mädchen hatte die ganze Nacht gewimmert und geschrien und konnte nicht sehr viel Schlaf bekommen haben.

Karine brauchte Hilfe – wahrscheinlich ärztliche und ganz sicher psychologische Betreuung, und zwar mehr als Vanessa leisten konnte. Wenn das Krankenhaus und die Polizei vor Ort nicht sicher waren, würde Vanessa sie eben überreden müssen, die Outer Banks zu verlassen, zumindest für einen Tag.

Vanessa ging ins Bad, um den Wasserbehälter der billigen Kaffeemaschine aufzufüllen. Wenn sie erst einmal ihren Kaffee hatte, egal wie schlecht der war, würde sie sich einen Plan überlegen können.

Während sie wartete, schaltete sie die lokalen Nachrichten ein. Sie ging zwar nicht davon aus, wollte aber dennoch sehen, ob irgendetwas über Karine gebracht wurde.

Zuerst wurden nur das Wetter und die Gezeiten durchgesagt – durchaus wichtige Informationen, wenn man auf einer Inselkette lebte. Aber dann die Sondermeldung …

Die Polizei hatte an den Brücken zu beiden Seiten von Nags Head Straßensperrungen errichtet. Sie war auf der Suche nach einem entflohenen Häftling – vermutlich bewaffnet und gefährlich – und alle Autos, die von der Insel fuhren, wurden angehalten und durchsucht. Danach wurde nur noch über das Verkehrschaos berichtet, das durch die Kontrollen entstand.

Vanessa stellte den Fernseher stumm und starrte nur noch auf den Bildschirm.

Ein gefährlicher entflohener Häftling? Na klar. Vanessa war zu hundert Prozent sicher, dass der „gefährliche Häftling“ zusammengekauert in diesem Bett lag und alle paar Minuten im Schlaf wimmerte. Aber das bedeutete, dass sie auf keinen Fall mit Karine von der Insel kommen würde, zumindest nicht heute.

Vor allem aber bestätigte es, dass jemand von der Polizeibehörde – und zwar mindestens eine Person von ziemlich hohem Rang – in die Geschichte mit Karine und den anderen Mädchen verwickelt war.

Beim Gedanken daran drehte sich Vanessa der Magen um.

Sie nahm sich ihren Kaffee und sah sich um. Sie konnten nicht den ganzen Tag hierbleiben. Vanessa musste sich einen Plan überlegen, und zwar schnell.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken. Sie eilte hinüber und hielt ein Ohr an die Tür. Wer auch immer es war – vielleicht der Zimmerservice? –, würde vielleicht einfach wieder gehen. Sie hatte das Bitte-nicht-stören-Schild an den Türknauf gehängt.

„Vanessa, ich bin’s, Liam. Mach die Tür auf.“

3. KAPITEL

Liam klopfte noch einmal leise an. Er war fast sicher, dass er hier falsch war. Das war zwar die Adresse des Hotels, die Vanessa ihm gegeben hatte, aber es konnte einfach nicht stimmen.

War es vielleicht eine Falle? Liam zog seine Waffe aus dem Gürtelholster, das er an seiner Jeans trug. Hatte einer seiner Feinde – er hatte sich viele Feinde gemacht im Laufe der Jahre – etwas von seiner Verbindung zu Vanessa herausgefunden und benutzte sie, um an ihn heranzukommen?

Aber die Geschichte mit Vanessa war lange her und tief in seiner Erinnerung vergraben. Noch nicht einmal seinen engsten Freunden hatte er anvertraut, was zwischen ihnen passiert war. Dass irgendjemand einen teuflischen Plan ausgeheckt und sie etwa gezwungen hatte, Liam anzurufen, war daher kaum vorstellbar.

Eigentlich konnte man das hier noch nicht einmal als Hotel bezeichnen. Es war eher ein heruntergekommenes Motel, alle Zimmer führten direkt auf den Parkplatz, der dringend neu gepflastert werden musste. Es gab keinen Zimmerservice, kein Spa, keinen Portier.

Ergo – offensichtlich hatte er zu viel Zeit mit nerdigen Profilern verbracht, wenn er Worte wie ergo benutzte – keine Vanessa.

Er ließ die Waffe wieder in das Holster gleiten und drehte sich zum Gehen um, als sich die Tür einen winzigen Spalt breit öffnete.

„Liam?“

Sie war es. Er konnte sie zwar durch den Türspalt nicht sehen, aber ihre Stimme würde er immer und überall erkennen.

„Ja. Alles in Ordnung? Kann ich reinkommen?“ Er zückte wieder seine Waffe.

Einen Moment lang dachte er, sie würde ihn nicht reinlassen, aber dann trat sie zurück und hielt ihm die Tür auf.

„Was machst du denn hier?“, flüsterte sie. Im Zimmer war es dunkel, die Jalousien waren heruntergelassen, und er konnte sie kaum erkennen.

Liam sah sich um, konnte aber nirgendwo jemanden sehen, der Vanessa in dem abgedunkelten Raum bedrohte. Er steckte die Waffe wieder ins Holster. „Wie, was machst du hier? Du hast mich angerufen und gesagt, dass du Hilfe brauchst. Das mache ich hier.“

„Oh.“ Sie flüsterte wieder. „Ich dachte, du rufst mich einfach zurück und gibst mir die Nummer von jemandem von der DEA oder so. Warst du gerade in der Gegend?“

„Kann man so sagen.“ Oder auch nicht. „Warum flüstern wir?“

Vanessa drehte sich halb um und deutete über ihre Schulter. „Wegen ihr.“

Auf dem Bett lag zusammengekauert eine kleine Gestalt.

Okay. Das war definitiv nicht, was er erwartet hatte. Das plumpe Hotel. Das Versteckspiel. Das schlafende Kind. „Vanessa, worum zum Teufel geht es hier eigentlich?“

Sie hielt einen Finger an die Lippen, zog ihn ins Badezimmer und schloss die Tür.

Jetzt konnte er sie erkennen.

Er wollte nicht zulassen, dass ihr Anblick ihm den Atem raubte, nur weil er sie zum ersten Mal seit acht Jahren wiedersah. Aber er konnte verdammt noch mal den Blick nicht von ihr abwenden.

Ihre Haare waren kürzer. Sie reichten ihr gerade über die Schultern, nicht wie früher fast bis zur Taille. Aber sie hatten immer noch denselben tiefen Rotbraunton, der ihn an Herbstblätter oder rostrote Chrysanthemen erinnerte. Ihre Augen hatten noch dasselbe sanfte Braun – obwohl sie als Teenager oft farbige Kontaktlinsen getragen hatte, um dramatischer zu wirken. Das hatte Liam nie verstanden. Ihre Augen waren atemberaubend, so wie sie waren.

Sie war noch immer so zierlich. Er hatte vergessen, wie klein sie war. Ihre Persönlichkeit war so einnehmend, dass die Leute oft vergaßen, dass sie kaum 1,60 Meter groß war und keine 50 Kilo wog. Jetzt, da er neben ihr stand, fiel auf, wie viel größer er war. Und wie immer ließ Vanessa sich dadurch nicht aus der Fassung bringen.

Aber irgendetwas an ihr war anders. Sie war natürlich älter geworden, ihre Erscheinung und sogar die Art, wie sie sich bewegte, wirkten reifer. Aber da war noch etwas anderes. Etwas an ihrem Blick war anders – da war eine Tiefe, die vorher nicht dagewesen war.

Eine Tiefe, die man nur bei Menschen sah, die Leid erfahren hatten. Echtes Leid.

Er kannte diesen Blick, hatte ihn oft genug gesehen, als er in Afghanistan an der Seite von anderen Männern gekämpft hatte, die schwere Verluste erlebt hatten. Es war ein Leid, das nie mehr ganz ausgelöscht werden konnte.

Es gelang Liam nicht, diesen Blick mit Vanessa in Zusammenhang zu bringen. Es war schlicht unmöglich. Er kannte sie, seit sie fünfzehn Jahre alt war und hatte selbst erlebt, wie egoistisch und egozentrisch sie war.

„Es geht um dieses Mädchen“, sagte sie.

Liam war so vertieft in seine Gedanken gewesen, dass er seine Frage ganz vergessen hatte.

„Wer ist sie?“

„Sie heißt Karine. Ich habe sie gestern Abend gefunden, als ich am Sund spazieren war.“ Bei den Worten wich sie seinem Blick aus. „Sie war bewusstlos und hatte nur ein T-Shirt an. Ein Teenager.“

„Ist sie von zu Hause weggelaufen?“

Vanessa öffnete kurz die Tür, um nach dem Mädchen zu sehen. „Nein. Liam, ich glaube, dass sie einem Menschenhändlerring zum Opfer gefallen ist. Sie kommt aus Osteuropa – Estland, glaube ich – und wurde auf einem Boot festgehalten. Sie meinte, es waren noch sieben andere Mädchen an Bord.“

Liam fluchte leise. Menschenhandel war schon seit Jahren ein riesiges Problem an der gesamten Ostküste. Dass jetzt etwas an den Outer Banks passiert war, überraschte ihn nicht. Die Inselkette war der ideale Ort, um ein Boot unbemerkt an Land zu bringen.

„Und warum willst du nicht zur Polizei?“

Vanessa zuckte die Schultern. „Vielleicht liege ich falsch. Aber ich war gestern Abend mit Karine im Krankenhaus, um sie untersuchen zu lassen. Sie war einigermaßen ruhig, bis sie einen Hilfssheriff gesehen hat. Da ist sie richtig durchgedreht, Liam.“ Sie berührte seinen Arm, zog die Hand aber sofort wieder weg, als hätte sie sich verbrannt. „Tut mir leid.“

Liam wusste nicht, was er zu der Berührung sagen sollte, und ignorierte sie. „Hast du sie darauf angesprochen?“

„Ja. Sie war sicher, dass es jemand mit so einer Uniform war.“

„Es gibt ziemlich viele Arten von braunen Uniformen“, sagte Liam.

„Ich weiß. Aber sie war sich so sicher. Und ich wollte lieber falsch-liegen und mich später entschuldigen müssen als recht zu haben und dafür verantwortlich zu sein, wenn sie wieder in die Gewalt ihrer Entführer kommt. Also haben wir uns aus dem Staub gemacht.“

Dagegen konnte Liam nichts einwenden. Er hätte in der Situation vermutlich das Gleiche getan.

„Der letzte Beweis für mich war, als ich heute Morgen die Warnung vor dem ‚entflohenen Häftling‘ und von den Polizeikontrollen vor Nags Head gehört habe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte eigentlich gestern Abend mit Karine nach Norfolk fahren, aber sie hat sich geweigert. Sie will hierbleiben und den anderen Mädchen helfen.“

„Klingt ganz schön mutig“, sagte Liam. „Und stark.“

„Ja, aber sie braucht Hilfe. Ich kann sie nicht ewig in diesem Hotelzimmer verstecken.“

„Apropos, was hat es mit dieser Absteige auf sich? Wenn du einen Ort gesucht hast, an dem niemand nach Prinzessin Vanessa sucht, war es jedenfalls eine gute Wahl.“

Sie sah ihn wütend an. Prinzessin Vanessa traf anscheinend immer noch einen wunden Punkt.

Ihre Stimme klang angespannt. „Ich konnte sie nicht mit zu mir nehmen. Und ja, ich wollte nicht gefunden werden.“

Liam war nie davor zurückgeschreckt, sie zu provozieren. „Dein Dad wäre wahrscheinlich nicht begeistert, wenn du einen verlorenen Teenie in der Epperson-Villa einquartierst.“

Sie kehrte ihm den Rücken zu und gab vor, noch einmal nach Karine zu sehen, aber er merkte, dass ihr das Thema unangenehm war.

„Ich wohne nicht mehr bei meinen Eltern in Duck, also würde ich sie sowieso nicht mit dorthin nehmen. Aber stimmt schon, mein Dad wäre sicher nicht begeistert.“

„Und wo wohnst du jetzt?“

„In Kitty Hawk.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Am Strand?“

„Nein.“

„Dann also am Sund?“ Sie musste einfach am Wasser wohnen. Vanessa Epperson hatte immer am Wasser gewohnt.

„Es ist doch jetzt egal, wo ich wohne. Ich konnte es einfach nicht riskieren, sie mit zu mir zu nehmen. Die Polizei ist hinter ihr her, und bestimmt hat jemand vom Krankenhaus angegeben, dass sie mit mir da war.“

Er musste zugeben, dass Vanessas Verdächtigung der Polizei nicht ganz unbegründet war.

„Vielleicht sollte ich heute mal bei der Wache vorbeischauen.“

Sie sah ihn zweifelnd an. „Glaubst du, die würden überhaupt mit dir reden? Du hattest doch deinen Ruf weg bei der Outer-Banks-Polizei.“

Da hatte sie recht. Liam war in seiner Jugend ein echter Rowdy gewesen. Seine Großmutter hatte alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um das wilde Kind zu zügeln, das im Alter von zehn Jahren nach dem plötzlichen Tod beider Eltern in ihrer Obhut gelandet war. Aber trotz ihrer liebevoll-strengen Führung war er als Teenager regelmäßig in Schwierigkeiten geraten. Nichts allzu Ernstes – hier und da eine Schlägerei, Vandalismus oder nächtliche Ruhestörung, wenn er mal wieder irgendeinen Touristen dazu gebracht hatte, ihm Alkohol zu kaufen.

Eigentlich war er dankbar für seine verkorkste Jugend. Denn als er einmal wieder an einen Stuhl auf der Wache gefesselt gewesen war, hatte er die Bekanntschaft mit Quint Davis gemacht, dem DEA-Agenten, der sich die Mühe gemacht hatte, durch Liams ziemlich raue Schale hindurchzuschauen und sich mit dem Jungen darunter, der nicht mehr Kind und noch nicht ganz Mann war, zu unterhalten.

Quint hatte Liam dazu gebracht, zum Militär zu gehen und ihn sofort nach seiner Entlassung als DEA-Agent rekrutiert, worüber er schließlich seine Stelle bei Omega bekommen hatte. Liam verdankte diesem Mann sein Leben.

Aber natürlich würde sich jeder, der länger als zehn Jahre bei der Outer-Banks-Polizei war, an ihn erinnern.

„Na ja, diesmal bin ich nicht irgendeine Rotznase, die sie betrunken am Strand aufgegabelt haben.“

Ihre Blicke trafen sich. In genau so einer Situation hatte er Vanessa kennengelernt. Sie hatte ihn von oben herab angesehen und ihm geraten, sich eine Bank zu suchen und erst mal seinen Rausch auszuschlafen.

Er hatte sich auf der Stelle in sie verliebt.

„Ich könnte ja sagen, dass ich aus kollegialem Interesse da bin“, fuhr Liam fort und ignorierte die gemeinsame Erinnerung. „Ich hätte von dem geflohenen Häftling gehört und wollte meine Hilfe anbieten.“

Vanessa nickte und wollte gerade antworten, als sie einen Schrei aus dem Schlafzimmer hörten.

„Miss Vanessa?“ Die Stimme klang verloren, voller Angst und Sorge.

Vanessa rannte zu dem Mädchen, aber Liam hielt sich im Hintergrund. Sie würde jetzt sicher keine Männer um sich haben wollen.

„Ich bin ja da, Karine. Ich war nur im Bad.“

Karine sprang Vanessa förmlich in die Arme.

Vanessa setzte sich aufs Bett und strich dem Mädchen übers Haar.

„Wer ist dieser Mann?“, fragte Karine.

„Ein Freund. Er heißt Liam. Er wird uns helfen, dich und die anderen Mädchen in Sicherheit zu bringen.“

Karine schaltete die Nachttischlampe an. Liam stand nur da, während sie ihn mit großen Augen ansah – Augen, die zu viel gesehen hatten.

Endlich nickte sie. „Okay“, sagte sie zu Vanessa.

Sie brauchten einen Plan. Aber erst mal, das wusste Liam, brauchten sie alle etwas zu essen. „Ich gehe eben los und besorge uns …“

Ein lautes Klopfen unterbrach ihn.

„Outer Banks Polizei. Machen Sie die Tür auf.“

4. KAPITEL

Vanessa stand auf. Die Polizei hatte sie gefunden? Aber wie? Ihre Kreditkarte hatte sie nicht benutzt.

Das war das Problem am Leben in der Kleinstadt. Es gab keine Geheimnisse: Die Polizei musste nur die Hotels abtelefonieren; wahrscheinlich hatte sich der Rezeptionist an sie erinnert. Es war ziemlich ungewöhnlich, Vanessa in einem solchen Hotel zu sehen – die meisten Leute kannten sie und ihren Ruf als „Outer-Banks-Prinzessin“, wussten aber sonst nichts über sie. Sie nahmen an, wie auch Liam vorhin, dass Vanessa immer noch vom Geld ihrer Eltern lebte.

Aber das stimmte nicht. Sie stand schon seit acht Jahren auf eigenen Beinen.

Es war aber auch egal, wie der Polizist sie gefunden hatte. Sie musste überlegen, was nun zu tun war.

Durchs Fenster zu steigen war keine Option, denn das einzige Fenster war direkt neben der Tür.

Es klopfte noch einmal. „Ich muss mit Vanessa Epperson sprechen.“

Vanessa sah sich verzweifelt im Zimmer um, bis ihr Blick an Liam hängenblieb.

Warum zog er sich denn jetzt das T-Shirt aus?

„Versteck sie im Badezimmer, dann kommst du zurück.“ Er sah Karine an. „Du musst jetzt ganz leise sein. Wir regeln das schon.“

Das Mädchen nickte und rannte ins Bad. Sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, zog er Schuhe und Socken aus, knöpfte die Jeans auf und zog sie, samt Unterhose, komplett herunter.

Liam war nackt.

Vanessa zog die Badezimmertür hinter sich zu und versuchte, ihn nicht anzustarren, was ihr nicht gelang.

Liam war nackt.

Er zerzauste sein Haar, sodass es in alle Richtungen abstand. Dann ging er zur Tür und öffnete sie ein paar Zentimeter.

„Mann, was’n los? Wissen Sie nicht, wie viel Uhr es ist?“ Liam sah hinab auf einen Arm, an dem keine Uhr zu sehen war. „Ich auch nicht. Aber verdammt noch mal zu früh.“

„Ähm, Entschuldigen Sie die Störung, Sir.“

Vanessa konnte den Polizisten nicht sehen, aber sein Unbehagen war deutlich zu hören.

„Wir wurden informiert, dass sich Vanessa Epperson in diesem Zimmer aufhält.“

„So isses.“ Liam gähnte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Aber sie ist gerade ein bisschen ausgepowert. Wenn Sie wissen, was ich meine.“

Liam öffnete die Tür ein Stückchen weiter, doch angesichts Liams Nacktheit machte der Polizist einen Schritt zurück, statt sich vorzuwagen und einen Blick ins Zimmer zu werfen.

„Ähm, könnten Sie sich bitte anziehen, Sir? Ich möchte mit Vanessa Epperson sprechen.“

Trotz Liams vollem Einsatz ließ sich der Polizist nicht beirren. Vanessa wusste nicht, ob er ein Hotelzimmer ohne Durchsuchungsbefehl betreten durfte, wollte das aber nicht unbedingt herausfinden.

Sie zog ihren Pyjama aus, sodass auch sie nackt war, zerrte das Laken vom Bett und wickelte es sich um.

„Hey, Baby.“ Sie stellte sich hinter Liam und umarmte ihn, ließ die Hände über seine Muskeln gleiten und spürte, wie sie sich unter ihrer Berührung anspannten. „Was ist denn los?“

Das ist alles nur gespielt. Das ist alles nur gespielt. Das ist alles nur gespielt.

Liam legte einen Arm um sie und zog sie vor sich, sodass das Laken sie beide vor dem Polizisten verdeckte.

Aber ihr sehr nackter Rücken war jetzt an seine sehr nackte Vorderseite gedrückt. Seine gesamte nackte Vorderseite. Vanessa konnte den Schauer nicht unterdrücken, der ihr durch den ganzen Körper rieselte, als er sich vorbeugte und die empfindliche Stelle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter küsste.

Das ist alles nur gespielt.

„Dieser Officer hat dich gesucht“, sagte Liam in ironisch-freundlichem Ton, den nur er ohne respektlos zu wirken beherrschte. „Warst du etwa ein böses Mädchen?“

Vanessa bemerkte, dass der junge Beamte immer unsicherer wurde, je intimer sie und Liam miteinander umgingen. Sie drehte sich, immer noch in Liams Armen, ein stückweit zu ihm um. „Schon möglich.“

Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie, dann biss er ihr sanft in die Lippe und zog daran, bevor er sie losließ. „Wenn das so ist, muss ich mir wohl was für dich einfallen lassen.“ Er knabberte wieder an ihrer Lippe. „Zuerst müsste ich …“

Der Polizist räusperte sich übertrieben laut, um die von Liam beschriebene Szene zu unterbrechen.

Das ist alles nur gespielt. Alles nur …

„Wenn ich bitten darf, Sir … Ma’am. Ich bin Officer Atwood. Ich muss Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Dann können Sie wieder Ihrer … Beschäftigung nachgehen.“

Vanessa hielt das Laken eng an ihre Brust, damit es nicht zu weit nach unten rutschte. Aber sie spürte Liams Hände an ihrer Taille, wo er mit den Fingern kleine Kreise zeichnete; dann hinab zu ihrer Hüfte fuhr und wieder hoch. Es war ein unglaubliches Gefühl. Sie wollte seine Hände wegdrücken, aber das war unmöglich, wenn sie dem Beamten keine Peepshow spendieren wollte.

Liam zog sie eng an sich. Vanessa konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht aufzustöhnen.

Das ist alles nur gespielt.

„Ja, Officer Atwood. Was wollten Sie mich fragen?“

Das Spielchen funktionierte offenbar, denn der arme Beamte wusste gar nicht, wo er hinsehen sollte, und schien Schwierigkeiten zu haben, seine Frage zu formulieren.

„Ähm, gestern Abend, war da ein junges Mädchen bei Ihnen?“

Liam hörte sofort auf mit den kreisenden Bewegungen und packte sie warnend an der Hüfte. Natürlich konnte sie nicht leugnen, dass sie mit Karine unterwegs gewesen war. Die Polizei wusste offenbar bereits Bescheid, wahrscheinlich hatte Judy die Auskunft im Krankenhaus gegeben.

„Ja, die kleine Ausreißerin? Armes Ding. Sie sah gar nicht gut aus. Ich habe sie am Highway 158 aufgesammelt. Ich war mit ihr bei 7-Eleven, um ihr was zu essen zu kaufen – wenn man denen Geld gibt, geben sie es ja oft gleich wieder für Drogen aus –, und dann war ich mit ihr im Krankenhaus, weil sie wohl auch verletzt war.“

Liams Finger fingen wieder an zu kreisen.

„Hat sie Ihnen gesagt, wie sie heißt, wo sie herkommt?“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Katy, glaube ich. Sie hat nicht viel geredet. Ich denke mal, sie hatte irgendwas genommen. Warum? Hat sie was angestellt, nachdem ich sie im Krankenhaus gelassen habe?“

„Sie haben eine Minderjährige allein im Krankenhaus gelassen? Arbeiten Sie nicht im Sozialdienst, Miss Epperson?“

Oh, oh. Da hatte er recht. Sie spürte wieder den Druck von Liams Fingern.

„Ja, aber doch nicht rund um die Uhr.“ Sie lächelte den Beamten an. „Es war schon nach acht. Und ich hatte eine Verabredung, zu der ich ganz sicher keine Minderjährige mitnehmen konnte.“ Vanessa ließ sich wieder in Liams Umarmung sinken. Er nahm die Hand von ihrer Taille, um ihren Kopf an seine Schulter zu drehen, und küsste sie.

Sie war sofort in die alten Zeiten zurückversetzt. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war immer schon fast greifbar gewesen. Sie hatten sich zwar angeschrien, gestritten, manchmal den Tod an den Hals gewünscht, aber wann immer sie sich so nahe gewesen waren, war eine nicht zu leugnende Leidenschaft zwischen ihnen entbrannt.

Vanessa konnte nicht anders, sie drehte und wand sich, um ihm näher zu kommen.

Bis sie hörte, wie sich der Beamte abermals räusperte.

Verdammt. Das ist alles nur gespielt. Vergiss das nicht.

Liam löste seine Lippen von ihren. „Ich war ihre Verabredung“, sagte er mit einem Zwinkern an den Polizisten gewandt, um sich dumm zu stellen und den Mann weiter abzulenken.

Es funktionierte. Atwood verdrehte die Augen. „Ja, das dachte ich mir. Danke.“ Er sah Vanessa an. „Sie haben also das Mädchen im Krankenhaus gelassen?“

„Ich habe eine der Schwestern gebeten, sich um sie zu kümmern und das Sozialamt anzurufen – also jemanden, der im Dienst ist – und bin gegangen. Denn ich war ja verabredet, wie gesagt.“

„Und sie war danach nicht mehr bei Ihnen?“

Liam schlang einen Arm um sie und zog sie enger an sich heran. „Wenn wir letzte Nacht ein Kind mit im Zimmer gehabt hätten, müssten Sie uns gleich verhaften … bei dem, was wir so angestellt haben.“ Er zwinkerte noch einmal.

„Hey!“ Vanessa stieß ihm in gespielter Entrüstung den Ellbogen in den Bauch. Und traf auf steinharte Bauchmuskeln.

„Tut mir leid, Süße“, flüsterte er. „Aber es stimmt doch.“

„Hat das Mädchen Probleme gemacht?“, fragte sie Atwood.

„Es gab eine Reihe von Hauseinbrüchen hier in der Gegend, sie wird als Verdächtige gesucht.“

„Verdammt. Ich hatte gehofft, dass sie nur von zu Hause abgehauen ist und vielleicht zu ihren Eltern zurück kann. Manche dieser Ausreißer merken schnell, dass es zu Hause doch nicht so schlecht war, wenn sie das Leben auf der Straße erst mal kennenlernen.“

Officer Atwood schüttelte den Kopf. „Sie wird von der Polizei gesucht.“

„Alles klar, wenn ich sie noch mal irgendwo sehe, melde ich mich.“

Liam fing an, die Finger über ihre nackte Schulter kreisen zu lassen, als wollte er den Polizisten nun endlich loswerden.

„Gut. Danke für Ihre Zeit. Nochmals Entschuldigung, dass ich Sie … geweckt habe.“

„Hey, kein Ding. Vielleicht spielen wir jetzt auch noch mal guter Bulle, böser Bulle.“

Vanessa kicherte, als Liam sie wegzog und die Tür schloss.

„Glaubst du, er hat uns das abge…“

Ihre Worte wurden unterbrochen, als er seinen Mund auf ihren presste und gierig in ihr versank.

Diesmal war es nicht nur gespielt.

Vanessa gab sich dem Kuss, der Leidenschaft ganz hin. Wie immer hatte sie keine andere Wahl. Die Lust verzehrte sie. Mit nichts als dem dünnen Laken zwischen ihnen hob er sie hoch und drückte sie gegen die Tür, die sie eben geschlossen hatten.

Sie konnte ihr Stöhnen nicht unterdrücken, versuchte es auch gar nicht. Sie ließ die Finger durch sein braunes Haar gleiten, das so dick und seidig war, wie sie es in Erinnerung hatte, und zog ihn an sich.

Es war, als wären all die Jahre der Trennung ausgelöscht, als wäre all das Leid, das sie sich gegenseitig angetan hatten, nie geschehen.

Aber es war geschehen. Das schien beiden im gleichen Moment wieder einzufallen.

Das, und dass ein verängstigter Teenager im Badezimmer wartete.

Liam löste sich langsam von ihr, und Vanessa rutschte an der Tür herab, bis sie mit den Füßen wieder auf dem Boden war. Sie löste die Hand aus seinem Haar und hielt wieder das Laken fest, das nun, da sie nicht mehr aneinandergedrückt waren, anfing zu rutschen.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Ob alles in Ordnung war? Nein. Nichts, aber auch gar nichts war in Ordnung. „Ja, alles gut.“

Er nickte, dann wandte er sich ab und zog sich wieder an. Sie tat es ihm nach und kehrte ihm dabei den Rücken zu.

„Ich sehe dann mal nach Karine“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Vanessa wusste nicht, ob sie Liam je wieder in die Augen sehen konnte.

Das war allerdings eine Schande, denn er sah immer noch genauso umwerfend gut aus wie vor acht Jahren. Braune Haare, grüne Augen. Um diese strahlend grünen Augen hatte sie ihn immer beneidet.

Sie klopfte an die Badezimmertür und öffnete sie einen Spaltbreit.

„Karine? Du kannst jetzt rauskommen.“

Da sie nichts hörte, öffnete sie die Tür noch ein Stück weiter. „Karine?“

Sie war nicht in der Badewanne und auch nicht hinter der Tür.

„Miss Vanessa?“ Die Stimme kam aus dem kleinen Schrank unter dem Waschtisch.

Vanessa hockte sich hin und öffnete ihn. Meine Güte, das Mädchen hatte sich dort hineingezwängt, um sich zu verstecken.

„Du kannst jetzt rauskommen. Es ist alles gut.“ Sie half Karine, sich aus dem kleinen Versteck zu befreien.

„Ich sicher sein wollte, dass niemand mich findet.“

„Das hast du gut gemacht, Karine.“ Vanessa schloss sie in eine Umarmung. Trotz ihrer jungen Jahre war sie etwa so groß wie Vanessa. „Das war das perfekte Versteck, aber du bist jetzt in Sicherheit.“

Liam sah vom Fenster her zu ihnen herüber. „Wir können nicht hierbleiben.“

„Glaubst du, dieser Polizist kommt noch mal wieder?“, fragte Vanessa.

„Dieser nicht. Wir haben ihn wahrscheinlich genug traumatisiert. Aber sobald er meldet, dass er dich gefunden, aber das Zimmer nicht durchsucht hat, wird jemand anderes kommen – jemand, der sich nicht von zwei nackten Leuten abschrecken lässt. Wir müssen sofort hier weg.“

Vanessa ließ Karine los. „Ich hole dir deine Sachen, damit du dich umziehen kannst, okay?“ Sie brachte Karine die Sachen von gestern ins Bad, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Liam stand nur einen Meter weiter direkt vor ihr. Er verschränkte die Arme, und sie kam nicht umhin, die Wölbung seines Bizeps zu bemerken. Liam war schon damals immer gut in Form gewesen.

Jetzt war sein Körper – sein ganzer Körper – hart wie Stahl. Das kleine Schauspiel heute Morgen hatte das bewiesen.

Es war ziemlich unfair, dass er angezogen genauso gut aussah wie nackt. Und dass er immer noch eine so starke Wirkung auf sie hatte.

„Ich glaube, du schuldest mir eine Erklärung.“ Die Intensität seiner Stimme brachte etwas tief in ihrem Inneren in Wallung.

„Wozu? Ich habe dir alles über Karine erzählt.“

„Nicht über Karine. Über dich.“

Vanessa hob ratlos die Schultern. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ich habe zum Beispiel eben ein Wort gehört, das ich nie mit dir in Verbindung gebracht hätte. Sozialarbeiterin.“

5. KAPITEL

Liam fühlte sich, als wäre er aus seinem Körper herausgetreten.

Er hatte sich schnell etwas überlegen müssen, um den jungen Polizisten abzuschütteln. Eine schmutzige Affäre – das war das Erste, was ihm bei diesem Hotel eingefallen war.

Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass Vanessa ihm so bereitwillig bei der List helfen würde, als Atwood ihm die Geschichte zuerst nicht ganz abnahm. Dank ihr waren sie doch noch aus der Sache rausgekommen.

Der Beamte hätte natürlich nicht einfach ins Zimmer platzen können – rechtlich gesehen war ein Hotel ein vorübergehendes Zuhause –, aber wenn sie ihm ohne triftigen Grund den Zutritt verweigert hätten, wäre Atwood misstrauisch geworden. Er hätte die Sache gemeldet, und die Polizei hätte sie belagert.

Vanessas Einsatz hatte ihnen also wertvolle Zeit verschafft – nicht viel, aber genug.

Er dachte an Vanessas nackten Körper, eng an seinen gepresst. Den feurigen Kuss, bei dem er fast in Flammen aufgegangen war.

Ja, definitiv eine außerkörperliche Erfahrung.

Aber all das war nichts im Vergleich dazu, das Wort Sozialarbeit in Verbindung mit Vanessas Tätigkeit zu hören. Es war schlicht unmöglich, dass die verwöhnte, egoistische, aber lebenslustige Frau, die er vor acht Jahren gekannt hatte, jetzt Sozialarbeiterin war. Jemand, der sich um andere Menschen kümmerte.

Aber er konnte nicht leugnen, dass ihr Umgang mit Karine seit seiner Ankunft tatsächlich sehr fürsorglich gewesen war.

Jetzt sah sie ihn an, als wüsste sie nicht recht, wo sie anfangen sollte.

„Weißt du was?“ Er unterbrach sie, als Karine aus dem Badezimmer kam. „Später. Wir müssen los.“

Vanessa nickte.

Liam zwinkerte Karine zu und lächelte. Sie sollte sich nicht durch die Spannungen zwischen Vanessa und ihm verunsichert fühlen. Sie lächelte zurück, wenn auch zaghaft.

„Ich mache jetzt eine kleine Runde mit dem Auto, damit ich weiß, ob jemand das Zimmer beobachtet.“

Er holte sein Handy hervor und schickte Vanessa eine SMS, damit sie seine Nummer hatte.

„Das bin ich.“ Er nickte in Richtung ihres Handys, als es kurz klingelte. „Macht euch schon mal abfahrbereit, falls es gleich schnell gehen muss.“

„Sei vorsichtig“, sagte Vanessa.

Liam ging pfeifend und mit dem Autoschlüssel jonglierend hinaus. Wenn jemand das Zimmer observierte, sollte es so aussehen, als wäre er einfach nur ein selbstzufriedener Typ, der sich in aller Ruhe einen Kaffee holen wollte.

Er würde ein paar Minuten durch die Gegend fahren, um zu sehen, ob er verfolgt wurde. Jetzt, da auch er überzeugt war, dass jemand von der örtlichen Polizei in den Menschenhändlerring involviert war, musste er sich außerdem eine Strategie überlegen.

Er brauchte ein sicheres Versteck für Vanessa und Karine. Er hatte auch schon eine Idee, war sich aber nicht sicher, was Vanessa dazu sagen würde.

Nachdem er zweimal um den Block gefahren und einmal kehrtgemacht und in die andere Richtung weitergefahren war, war Liam sicher, dass ihm niemand folgte. Er hielt bei einem Donut-Laden an, um Kaffee und Donuts zu besorgen – als allerletzte Vorsichtsmaßnahme und weil sie sowieso etwas zu essen brauchten.

Und weil Vanessa ohne Kaffee nicht überleben konnte.

Der Gedanke hatte sich ungebeten in seinen Kopf geschlichen. Aber Liam konnte noch nicht einmal sagen, ob das noch stimmte. Er war nicht sicher, ob er überhaupt noch irgendetwas über Vanessa wusste. Er holte ihr trotzdem einen Kaffee.

Bevor er den Laden verließ, schrieb er ihr eine Nachricht.

Bin in fünf Minuten da. Halte durch den Spion nach mir Ausschau und komm dann sofort raus. K.s Kopf muss verdeckt sein.

Liam fuhr gemächlich zurück zum Hotel. Immer noch keine Spur von einem Verfolger. Sobald er beim Hotel ankam, ging die Zimmertür auf, und Vanessa kam herausgeeilt, mit dem Arm um Karine, die sich Vanessas Jacke über den Kopf gelegt hatte. Sie öffnete die Hintertür seines SUV, und die beiden sprangen auf den Rücksitz.

Vanessa hatte die Tür noch nicht zugeschlagen, als Liam schon losfuhr.

Vanessa und Karine kauerten sich auf der Rückbank zusammen, damit es so aussah, als sei Liam allein unterwegs.

„Glaubst du, dass uns jemand gefolgt ist?“, fragte Vanessa nach ein paar Minuten.

„Nein, ich glaube, wir sind schnell genug weggekommen.“ Wenn sie verfolgt wurden, hätte er das schon gemerkt. Auf der kurvenreichen Strecke, die er jetzt seit zwei Kilometern fuhr, wäre das aufgefallen.

„Okay. Was machen wir denn jetzt? Wahrscheinlich werden immer noch alle Autos durchsucht. Dann kommen wir nicht von den Inseln runter.“

„Nicht weg, Miss Vanessa“, sagte Karine. „Muss anderen Mädchen helfen. Muss helfen.“

„Wir fahren nicht weg, Karine.“ Liam sah sie beide im Rückspiegel an. „Wir wollen den Mädchen auch helfen.“

„Kannst du nicht deine DEA-Leute einschalten, Liam?“, fragte Vanessa. „Oder das FBI?“

„Ich arbeite eigentlich nicht mehr bei der DEA. Schon seit fünf Jahren nicht mehr.“

„Aber ich habe dir doch eine Nachricht bei der DEA hinterlassen. Warum hast du die bekommen, wenn du nicht mehr dort arbeitest?“

„Ich arbeite jetzt bei einer behördenübergreifenden Spezialeinheit namens Omega Sector, in der Kriseninterventionsabteilung. Ich leite das Geiselrettungsteam.“

Er sah, wie ihre Augen größer wurden und ihr der Unterkiefer runterklappte.

„Klingt, als wärst du genau der Richtige für den Job. Kannst du Verstärkung rufen? Leute mit großen Pistolen, die die Schweine erschießen?“

Liam verdrehte die Augen. „Normalerweise werden die bösen Jungs erst mal verhaftet, solange sie nicht auf uns schießen. Aber ja, ich kann ein Team hierherbeordern.“

„Und warum hast du das noch nicht gemacht? Diese Mädchen sind da draußen irgendwo gefangen. Verzweifelt und verletzt.“

Er warf noch einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie die Farbe aus Karines Gesicht verschwand. Er fand Vanessas Blick und nickte zu Karine hinüber. Vanessa sah zu dem Mädchen hin und legte sofort den Arm um sie.

„Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.“

„Ist okay“, flüsterte Karine. „Sie brauchen Hilfe.“

„Wir werden ihnen helfen. Wir werden Liams Freunde herholen und die anderen Mädchen befreien.“

Liam sah Vanessa an. „Die Details besprechen wir später.“

Sie nickte und zog Karine enger an sich.

„Wohin fahren wir jetzt?“, fragte Vanessa.

„An einen Ort, den niemand mit dir in Verbindung bringen kann.“

„Ein anderes Hotel?“

„Nein, da haben wir immer Zeugen. Es ist ein Haus.“

Sie schüttelte den Kopf. „Zu Freunden? Bist du sicher, dass du ihnen trauen kannst?“

„Nein. Zum Haus meiner Großmutter. Es gehört immer noch mir.“

Darauf sagte sie nichts mehr.

Er ließ einmal im Monat einen Reinigungsservice kommen, um das Haus sauber und alles in Schuss zu halten. Er hatte es nicht über sich gebracht, es nach dem Tod seiner Großmutter zu verkaufen. Als Grund hatte er immer genannt, dass sie seine letzte lebende Verwandte gewesen war, und das Haus das einzige richtige Zuhause, das er je gehabt hatte. Aber da war noch ein anderer Grund, den er nun nicht mehr leugnen konnte: Er hatte das Haus behalten, weil er und Vanessa dort das erste Mal miteinander geschlafen hatten.

6. KAPITEL

Eine Stunde später hatten sie ihr Versteck erreicht und sich im Haus eingerichtet.

Sie waren noch kurz beim Supermarkt gewesen, und Liam war alleine reingegangen, während Vanessa und Karine sich auf der Rückbank versteckten. Sie waren sich einig gewesen, dass es besser war, alles Nötige jetzt zu besorgen, damit sie so lange wie möglich versorgt waren.

Im Haus der Erinnerungen.

Die Fahrt zum Haus seiner Großmutter – zu seinem Haus – dauerte etwa zwanzig Minuten. Sie waren zu einem Supermarkt am anderen Ende von Nags Head gefahren, für den Fall, dass sich jemand noch an ihn oder sein Auto erinnerte.

Aber jetzt waren sie im Haus, der Wagen war dahinter geparkt, Karine hatte gut gegessen und sich in einem der Schlafzimmer hingelegt.

„Sie braucht immer noch professionelle Hilfe“, sagte Vanessa. Für eine Befundsicherung war es jetzt wohl zu spät, aber es war dennoch wichtig, dass alles dokumentiert wurde.

„Ja, ihre Handgelenke sehen ziemlich schlimm aus. Und … wahrscheinlich wurde sie auch vergewaltigt?“

Vanessa fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Sie hat mir keine Einzelheiten erzählt, aber ja, ich vermute es.“

Liam zog sie neben sich auf die Sitzbank am Tisch.

„Sie ist stark“, sagte er. „Eine Kämpferin.“

Sie nickte. „Warum hast du noch keine Eingreiftruppe hierher beordert?“

„Wenn wir jetzt einfach die Polizeiwache stürmen, ohne zu wissen, wer genau in welchem Ausmaß in die Sache verwickelt ist, ist das Erste, was die Entführer tun werden, die anderen Mädchen zu beseitigen.“

Vanessa spürte, wie sich Übelkeit in ihr ausbreitete. „Daran hatte ich nicht gedacht. Aber du hast recht.“

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

„Das heißt nicht, dass wir sie nicht aufhalten werden, Nessa. Es heißt nur, dass wir nicht mit Pauken und Trompeten auf sie losgehen.“

Er hatte sie Nessa genannt. Er war der Einzige, der das jemals gewagt hatte. Sie hatte diesen Namen seit acht Jahren nicht mehr gehört.

„Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass da noch mehr Mädchen gefangen gehalten werden.“

Liam nahm ihre Hand. „Ich weiß. Mir geht es genauso. Aber es ist wichtig, dass wir den Täter so lange wie möglich im Dunkeln tappen lassen. Nur dann haben wir eine Chance, diese Mädchen zu retten – wenn du die Polizei davon überzeugst, dass du nichts über Karine weißt, und erst recht nicht, wo sie sich aufhält.“

Vanessa nickte. Er hatte recht.

„Dann muss ich im Büro anrufen und Bescheid sagen, dass ich heute nicht komme. Sonst machen sich alle Sorgen.“

Vanessa stand auf und rief ihre Vorgesetzte bei Bridgespan an. Es war ein kurzes Gespräch. Vanessa sagte ihr, dass sie krank war und hoffentlich morgen wieder zur Arbeit kommen könnte, und ihre Chefin zeigte Verständnis.

„Kurz und schmerzlos“, sagte Liam, als sie aufgelegt hatte. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die langen Beine ausgestreckt, die Arme vor der Brust verschränkt.

Es wirkte entspannt, fast gelangweilt, wie er da saß – darin war Liam gut. Aber Vanessa ließ sich nicht täuschen. Er würde genau wissen wollen, was es mit ihrem neuen Lebensstil auf sich hatte.

„Du willst Antworten.“

„Ich will einfach nur wissen, was hier vor sich geht.“

„Da gibt es nicht viel zu erklären. Ich bin erwachsen geworden. Ich wollte nicht mein Leben lang vom Geld meiner Eltern leben.“

„Und dann bist du Sozialarbeiterin geworden. Mit einem richtigen Abschluss?“

Er bemühte sich offenbar sehr, nicht allzu skeptisch zu klingen, was ihm auch fast gelang.

Es versetzte ihr einen kleinen Stich. Aber so dachten die meisten Leute, die sie noch von früher kannten. Warum sollte Liam die Ausnahme sein?

„Nachdem du gegangen bist … nachdem …“ Sie verstummte. Sie wollte nicht darüber reden. Darüber, wie er gegangen war oder was danach passiert war. „Ich beschloss, aufs College zu gehen. Ich wollte nicht mehr hier rumsitzen. Die Psychologie- und Soziologiekurse haben mir Spaß gemacht, also habe ich das weiter verfolgt und einen Abschluss in Sozialwesen gemacht.“

„Wow.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie gedacht …“

„… dass ich je etwas anderes sein könnte als eine egoistische, verwöhnte Göre, der andere Menschen egal sind?“

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. In ziemlich genau diesen Worten hatte er vor seinen Freunden über sie gesprochen, bevor er gegangen war. Nachdem er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm kommen und ihn heiraten würde, sie Ja gesagt hatte und dann doch nicht gekommen war.

Aus Gründen, die er nicht verstand. Und die sie, seit sie herausgefunden hatte, wie er wirklich über sie dachte, ihm niemals erzählen wollte.

„Du hast mir ein Versprechen gegeben und es gebrochen.“ Liam fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich war so wütend. Verletzt. Außerdem stimmte es doch.“ Er setzte sich in seinem Stuhl auf. „Woher weißt du, dass ich das gesagt habe?“

„Ich bin noch einmal vorbeigekommen, um dich zu sehen. Deine Freunde waren so nett, mir die Nachricht zu übermitteln.“ Sie hatten sie nie gemocht.

„Wann war das?“

„Etwa eine Woche nachdem du weg warst.“

„Warum erst dann?“

Weil sie vorher keine Gelegenheit gehabt hatte. Aber auch das sollte er nicht erfahren. „Ich wollte wissen, ob du vielleicht doch noch geblieben bist.“

Jetzt lächelte er dieses aufgesetzt ironische, einnehmende Lächeln, das ihr immer unter die Haut gegangen war. „Warum? Dachtest du, ich würde doch nicht gehen? Obwohl du noch nicht mal den Mut hattest, mir persönlich zu sagen, dass du mich doch nicht heiraten willst? Ich musste schon zu dir kommen und es von deinem Vater hören, ja?“

Er stand auf und ging ein paar Schritte von ihr weg. „Nein. Ich bin gegangen und habe nie zurückgeblickt.“

Genau diese Auseinandersetzung hatte sie vermeiden wollen. Die Situation lag schon viele Jahre zurück, zu viel Wasser war seitdem den Fluss heruntergeflossen.

Vanessa trat ans Fenster. Dieser Ort hier war bittersüß für sie. Wann immer Liams Großmutter das Haus verlassen hatte – um einzukaufen, Bridge zu spielen oder übers Wochenende ihre Cousine in Norfolk zu besuchen –, waren Vanessa und Liam in sein großes Bett gesprungen. Sie hatten nie genug voneinander kriegen können.

Ja, sie war egoistisch und verwöhnt gewesen, aber sie hatte Liam Goetz von ganzem Herzen geliebt. Zu hören, dass er sie als ichbezogen und unsozial bezeichnete, hatte sie tief getroffen. Dass er dann einfach so weggegangen war, war für sie nur der Beweis gewesen, dass er sie nicht so sehr geliebt hatte wie sie ihn.

Daraufhin hatte sie etwas getan, was sie in ihrem ganzen verwöhnten Leben nie zuvor getan hatte: Sie hatte aufgegeben.

Autor

Janie Crouch
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