Baccara Weihnachten Band 4

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SCHLITTENFAHRT INS PARADIES von DONNA ALWARD
Weiße Schneeflocken überall! Blake weiß, was das heißt. Seine Ranch ist von der Außenwelt abgeschnitten. Er und die schöne Fotografin Hope, die nur kurz bleiben wollte, sind ganz allein. Bald ist Weihnachten, und es gibt einen Mistelzweig, unter dem man sich küsst …

SÜßE STUNDEN DER ERFÜLLUNG von CHRISTY LOCKHART
In einer heißen Nacht mit Rancher Nick hat Lilly Erfüllung gefunden wie nie zuvor. Panikartig flüchtet sie – vor ihrer Sinnlichkeit und vor Nick. Denn sie hat die Nase voll von Männern. Nur dem Dorfklatsch kann sie nicht entfliehen. So erfährt auch Nick von ihrer Schwangerschaft …

SANTA CLAUS UND DIE LIEBE ... von KAREN TEMPLETON
Diese stillen Winternächte auf der Ranch! Deanna wird klar, sie hat in der Stadt den Zauber ihrer Heimat vermisst. Und Josh, der sie liebevoll empfängt. Doch seinen zärtlichen Küssen zu verfallen hieße auch, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Ist sie dazu wirklich bereit?


  • Erscheinungstag 30.09.2023
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516655
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Donna Alward, Christy Lockhart, Karen Templeton

BACCARA WEIHNACHTEN BAND 4

1. KAPITEL

Eisige Luft drang beißend durch Hope McKinnons modische Jacke, als sie aus dem Mietwagen stieg und die weitläufige Anlage der Bighorn-Ranch betrachtete. Es war Dezember in Kanada, genauer gesagt in der Provinz Alberta, doch Hope kam sich vor wie am Nordpol. Nach der sonnigen Hitze von Sydney, die sie vor einigen Stunden nur widerwillig verlassen hatte, traf sie die Kälte jetzt wie ein Schock.

Bibbernd zerrte sie ihren Koffer über den schneebedeckten Weg zur breiten Veranda. Von der Auffahrt aus hatte das Blockhaus wie ein romantisches Chalet gewirkt. Lichterketten glitzerten in den immergrünen Rankgewächsen, die den Eingang umrahmten. Sie verliehen dem mächtigen Gebäude im schwindenden Licht des frühen Nachmittags ein geradezu märchenhaftes Flair.

Doch als sie das dachte, hatte Hope noch mit voll aufgedrehter Heizung im Wagen gesessen. Nun zitterte sie vor Kälte. Das Wintermärchen verlor rasch seinen Reiz, als sie ihren schweren Koffer Stufe für Stufe auf die Veranda schleppte. Mit dem romantischen Zauber verschwand auch ihre gute Laune.

Missmutig drückte sie auf den Klingelknopf. Die Arme eng um den Körper geschlungen, wartete sie darauf, dass jemand öffnen würde. Ihre Beine in den Designerjeans fühlten sich schon ganz ausgekühlt an, und ihre Füße in den schicken Lederstiefeln begannen, taub zu werden.

Wäre sie doch nur nicht dem Wunsch ihrer Großmutter gefolgt, hier Fotos für einen Kerl namens Blake Nelson zu machen! Sie konnte sich Hunderte anderer Orte vorstellen, an denen sie jetzt lieber wäre als in der eisigen Kälte von Alberta.

Aber nun war sie hier, und sie fror, und als sich nach dem dritten Klingeln immer noch nichts im Haus rührte, ließ sie ihren Koffer an der Tür stehen und machte sich auf den Weg über den Hof zur großen Scheune. Licht schimmerte einladend aus einem Fenster. Vielleicht würde es drinnen sogar warm sein? Hope beschleunigte ihre Schritte.

Doch die Vorfreude auf ein wenig Schutz vor der Kälte verpuffte schlagartig, als sie auf einer unter dem Schnee versteckten Eisplatte ausrutschte und krachend auf ihrer Kehrseite landete.

„Au!“ Hope schrie auf, als ihr Steiß auf den gefrorenen Boden knallte. Vor Schmerz hielt sie den Atem an und schloss kurz die Augen.

Als sie wieder aufsah, starrte sie direkt auf ein Paar abgetragene Cowboystiefel, in denen zwei sehr lange, in derbe Jeans gekleidete Beine steckten. Verlegene Röte schoss ihr ins Gesicht. Fast hätte sie vor Peinlichkeit den Schmerz vergessen. Was für eine Art, einen ersten Eindruck zu machen!

„Sie müssen Hope sein“, wurde sie von einer warmen, tiefen Stimme begrüßt. „Lassen Sie mich Ihnen aufhelfen.“

Der angenehme Klang der dunklen Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Dieser Blake – wenn er es denn war – sah umwerfend aus. Groß und breitschultrig wirkte er wie das Idealbild eines Cowboys, komplett mit Schaffelljacke und dunkelbraunem Cowboyhut. Sein Atem erzeugte weiße Wölkchen in der Winterluft.

Mir ihren Fotografenaugen sah sie ihn bereits wie durch die Kameralinse – inszeniert als die personifizierte Ikone des Westens.

„Haben Sie sich den Kopf gestoßen?“ Er hielt ihr immer noch die Hand entgegen, und erst jetzt begriff Hope, dass sie ihn die ganze Zeit angestarrt hatte wie das achte Weltwunder.

„Oh, Entschuldigung“, stieß sie verlegen hervor. Dann griff sie nach seiner Hand und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. Ihre Verlegenheit versuchte sie zu überspielen, indem sie sich umständlich den Schnee von Hose und Jacke klopfte.

„Hier und da versteckt sich etwas Eis unter dem Schnee“, warnte er sie. „Ihre Stiefel sehen nicht so aus, als hätten Sie damit einen festen Stand. Ich hoffe, Sie haben noch anderes Schuhwerk mitgebracht.“

Bei seinem tadelnden Tonfall kam sich Hope vor wie eine Fünfjährige. Sie hob den Kopf und blickte zu ihm auf, während er missbilligend die hohen Absätze ihrer Stiefel musterte.

Sie war es nicht gewöhnt, zu anderen Menschen aufsehen zu müssen. Einschließlich ihrer Absätze war sie knapp eins achtzig groß, doch Blake Nelson überragte sie fast um Haupteslänge. In anderer Gesellschaft kam sie sich manchmal wie eine Riesin vor. Vor ihm fühlte sie sich angenehm weiblich. Jedenfalls solange sie nicht an den Schmerz in ihrer Kehrseite dachte, der sie wieder an ihren großartigen Auftritt erinnerte.

Der Cowboy wandte den Kopf, sodass er sie jetzt direkt ansah. Dadurch konnte Hope auch den Teil seines Gesichts erkennen, der bis dahin im Schatten der Hutkrempe verborgen gewesen war. Ihr Herz drohte zu stocken, und unwillkürlich schrie sie leise auf.

Mehrere Herzschläge lang sah sie sich wieder im Krankenhaus. Etwas ähnlich Entsetzliches hatte sie gesehen, als die Verbände vom Gesicht ihrer besten Freundin entfernt worden waren. Damals hatte sie sich ein Lächeln abgerungen, obwohl ihr zum Heulen zumute gewesen war. Sie hatte Julie versichert, dass alles gut werden würde, während ihr gleichzeitig vom Anblick des entstellten Gesichts fast übel geworden war. Das gleiche schreckliche Gefühl überkam sie jetzt. Dieser Cowboy war doch nicht so perfekt. Eine lange Narbe zog sich von seiner rechten Schläfe bis fast hinab zu seinem Kinn.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind so blass geworden.“ Die Worte klangen höflich, doch die Stimme war kalt. Er schien genau zu wissen, was in ihr vorging. Bestimmt erlebte er eine solche Reaktion nicht zum ersten Mal. Er konnte nicht ahnen, wie sehr sie die Erinnerung an Julie mitnahm, und im Moment fühlte sie sich nicht imstande, ihm ihre Reaktion zu erklären.

Es verging nicht ein Tag, an dem sie nicht Julies lächelndes Gesicht vor sich sah und die Lücke spürte, die ihr Tod hinterlassen hatte. Sechs Monate waren seit ihrer Beerdigung vergangen, doch noch immer konnte Hope den Anblick von Julies zerstörtem Körper nicht vergessen. Das Leben war so ungerecht! Julie war der einzige Mensch gewesen, dem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte. Julie hatte verstanden, wie sehr Hope unter ihrer Familie litt, und wie vergeblich sie dennoch hoffte, dass eines Tages alles wieder gut werden würde.

Doch dann hatte Julie sie verlassen, wie alle anderen es zuvor auch getan hatten.

Hope rang um Fassung und bemühte sich, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. „Ich bin Hope“, verkündete sie und versuchte, so normal wie möglich zu klingen. Es durfte keine Rolle spielen, dass dieser Mann verletzt und entstellt war. Wenn er doch nur nicht die Erinnerung an alles geweckt hätte, das sie so dringend vergessen wollte.

„Blake“, stellte er sich mit unverändert kühler Stimme vor. „Ich nehme an, dass Sie hier draußen ganz schön frieren. Gehen wir doch lieber ins Haus.“

Auf dem Rückweg zum Haus war sich Hope ständig seiner stützenden Hand an ihrem Ellbogen bewusst. Angesichts ihres etwas unglücklichen Starts war es eine überraschend ritterliche Geste. Als er die Tür zum Haus aufstieß, musste Hope feststellen, dass sie gar nicht verschlossen gewesen war. Jetzt kam sie sich erst recht dumm vor.

Erleichtert atmete sie auf, als die Wärme des Hauses sie umfing. Sie konnte später darüber nachdenken, ob es eine gute Idee war, in seinem Haus zu übernachten. Im Augenblick war ihr nur wichtig, sich aufzuwärmen.

Blake führte sie mit ihrem Koffer in der Hand ins obere Stockwerk. „Ihr Zimmer ist bereits hergerichtet. Ich habe Sie auf der Westseite des Hauses untergebracht. Dort haben Sie einen schönen Blick auf die Berge, und die Morgensonne wird Sie nicht stören. Allerdings geht sie um diese Jahreszeit ohnehin nicht besonders früh auf.“

Er war schrecklich höflich und zuvorkommend, sodass Hope sich wegen ihrer Reaktion auf sein entstelltes Gesicht inzwischen doppelt schuldig fühlte. Einerseits war sie versucht, ihm alles zu erklären, andererseits war es vielleicht besser, nicht mehr daran zu denken.

„Vielen Dank“, erwiderte sie und bemühte sich, besonders freundlich zu klingen. „Ich bin im Moment einfach nur sehr müde von der langen Reise.“

Blake öffnete ihr eine der Türen. Seine Miene blieb verschlossen. Er schien noch nicht besänftigt zu sein. „Dann legen Sie sich einen Moment hin“, schlug er vor. „Ich habe noch genug in der Scheune zu erledigen.“

Die Vorstellung, sich kurz schlafen zu legen, war verführerisch. Aber wahrscheinlich wäre es klüger, noch ein wenig durchzuhalten. „Ich glaube, ich warte damit besser noch und versuche, mich an den Zeitunterschied zu gewöhnen.“

Ihr Entschluss geriet ins Wanken, als sie den Raum betrat. Das rustikale Äußere des Hauses setzte sich in diesem Zimmer fort. Die Wände bestanden aus roh behauenen Bohlen. An der Außenwand stand ein riesiges Bett, das aussah, als sei es mit der Axt aus Stämmen geschlagen worden. Darauf lag ein dickes Federbett mit einem prachtvollen Quilt darüber. Die Einrichtung entsprach nicht Hopes persönlichem Geschmack, aber alles zusammen wirkte stimmig und erstaunlich einladend.

Sie konnte es kaum erwarten, sich unter die wärmende Decke zu kuscheln. Dem Bett gegenüber entdeckte sie einen gasbetriebenen Kamin. Sie sah das flackernde Feuer schon vor sich, das im Nu den Raum erwärmen würde.

Blake stellte ihren Koffer ab, während sie ans Fenster trat und hinaussah. Meile um Meile erstreckten sich vor ihren Augen schneebedeckte Hügel, hinter denen die mächtigen Gipfel der Rocky Mountains aufragten. Trotz ihrer vielen Reisen als Fotografin hatte sie es noch nie hierher geschafft. Sie konnte sich vorstellen, wie eindrucksvoll der Blick an einem klaren, sonnigen Tag sein musste.

Sie wandte sich um und rieb sich die kalten Hände. „Vielen Dank, Mr. Nelson …“

„Einfach Blake“, korrigierte er sie. „Wir haben es hier draußen nicht so mit Förmlichkeiten.“

„Blake also“, lenkte sie ein. Sie war sich nicht sicher, wie es ihr gefallen würde, wenn er sie während ihres Aufenthaltes Hope nannte statt Miss McKinnon. Gewöhnlich hielt sie die Menschen lieber auf Distanz. „Ist es nicht ein eigenartiges Gefühl für Sie, eine Fremde in Ihrem Haus zu haben?“

Ihre Frage schien ihn zu erstaunen. „Ach, ihr Stadtmenschen“, sagte er. „Wir sehen das nicht so eng. Betrachten Sie es als die Gastfreundschaft des Westens.“

Die Worte mochten freundlich gemeint sein, doch in Hopes Ohren klangen sie wie höfliche Phrasen. Na toll! Er fühlte sich also in ihrer Anwesenheit genauso unwohl wie sie sich in seiner. Sie hätte sich dem Wunsch ihrer Großmutter widersetzen sollen. Aber das hatte sie noch nie geschafft.

Ob sie ihm erklären sollte, dass sie nicht immer schon ein Stadtmensch gewesen war? Als Kind hatte sie viel Zeit auf Bäumen verbracht, war in Seen und Flüssen geschwommen und hatte sich bei Fahrradstürzen aufgeschrammte Knie geholt. Das alles in einer kleinen Stadt, in der man an jedermanns Tür klopfen und ein Glas Wasser erbitten konnte. Oder ein Pflaster für die Schrammen. Die Erinnerungen versetzten ihr einen kleinen Stich. Es war keine ideale Kindheit gewesen, doch an vieles dachte sie gern. Vor allem an die Zeit in Beckett’s Run mit ihrer Großmutter – mit Gram. Beckett’s Rum war alles andere als eine Großstadt.

Doch statt ihm davon zu erzählen, lächelte sie ihn nur höflich an und schwieg.

Blake zuckte mit den Schultern. „Nach dem, was mir Ihre Großmutter am Telefon erzählt hat, habe ich mit Ihrem Besuch kein Problem. Wirklich nicht.“

Hope runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Der einzige Grund für ihre Anwesenheit war, dass sie professionelle Fotos machen sollte. Sie rief sich ihr letztes Gespräch mit Gram in Erinnerung. Fotos und …

Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihr breit. „Fotos und Entspannung“, hatte Gram gesagt. Eine Auszeit von ihrer Arbeit. Unter einem Dach mit einem ledigen Mann …

Versuchte Gram sich etwa als Kupplerin? Hope verwarf den Gedanken sofort wieder. Lächerlich! Sie war so übermüdet, dass sie Gespenster sah. „Ich weiß nicht, was sie Ihnen erzählt hat. Warum klären Sie mich nicht einfach auf?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete sie mit einem Blick, unter dem sie sich vorkam wie unter einem Vergrößerungsglas. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie sehen aus, als würden Sie vor Müdigkeit gleich umfallen. Über alles Weitere können wir später sprechen. Ruhen Sie sich erst einmal aus. Ich habe draußen in der Scheune zu tun, aber ich setze Ihnen in der Küche einen Kaffee auf, bevor ich gehe.“

Er ließ seinen Blick langsam hinunter zu ihren Stiefeln wandern. Hope kam sich vor, als stünde sie einem strengen Lehrer gegenüber.

„An Ihrer Stelle würde ich Hose und Schuhe wechseln. Der Schnee hat zu schmelzen begonnen, und Sie werden sich gleich sehr unbehaglich fühlen.“

Sie sah an sich herab und entdeckte eine kleine Wasserlache unter ihren Stiefeln. Sie hätte sie gleich nach dem Betreten des Hauses ausziehen sollen. Wahrscheinlich war jetzt wirklich kein guter Moment, um den Zweck und die Hintergründe ihres Aufenthalts zu besprechen. Das musste warten.

„Kaffee wäre prima, vielen Dank“, nahm sie deshalb sein Angebot an, ohne weiter nachzufragen, wie sie ihre Arbeit hier angehen sollte.

Blake wandte sich zum Gehen, doch dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. Seine rechte Wange war ihr zugewandt, sodass sie seine große Narbe in ihrer ganzen Hässlichkeit sehen konnte. Es kostete sie Mühe, seinem Blick standzuhalten.

„Anna hat ein Roastbeef angesetzt. Wir können nachher gemeinsam essen.“

Anna? Hope atmete erleichtert auf. Vielleicht würden sie doch nicht allein im Haus bleiben. Vielleicht hatte sich Gram geirrt, und Blake war verheiratet oder hatte eine Freundin.

Das war eine sehr willkommene Nachricht, denn obwohl Hope natürlich im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte, verspürte sie ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken, ganz allein mit Blake Nelson unter einem Dach zu sein.

„Ist Anna Ihre Frau?“

Blake schmunzelte. „Das wird sie zum Lachen bringen“, stellte er fest. „Anna arbeitet halbtags als Haushälterin für mich. Sie werden sie morgen kennenlernen.“ Er trat zurück und tippte mit den Fingern an die breite Krempe seines Hutes. Die galante Geste überraschte Hope. „Fühlen Sie sich wie zu Hause. In ein paar Stunden bin ich zurück.“ Das Lächeln verschwand aus seiner Miene, und sofort schien sein Gesicht nur noch aus Kanten zu bestehen. Er schloss die Tür hinter sich, gleich darauf hörte sie seine schweren Schritte auf der Treppe, dann das Knallen der Eingangstür.

Aufatmend setzte sich Hope auf die Bettkante und zog die Stiefel aus. Er hatte recht. Es wurde Zeit, dass sie sich ein wenig ausruhte. Die nächsten Tage konnten anstrengend werden.

2. KAPITEL

Blake öffnete das Tor und holte die Pferde von der Koppel. Eines nach dem anderen trotteten sie in ihre Boxen, wo Wasser und frisches Heu auf sie warteten. Draußen braute sich ein Sturm zusammen. Blake hatte sein ganzes Leben hier am Fuß der Rockies verbracht und im Laufe der Jahre ein Gefühl für die Wetterumschwünge entwickelt. Die dunklen Wolken, die den Tag verdüsterten, brachten Schnee mit sich. So nah an den Bergen konnte es ungemütlich werden. Nur gut, dass Hope McKinnon rechtzeitig angekommen war.

Der Gedanke an den Gast in seinem Haus ließ ihn die Stirn runzeln. Seine Großmutter hatte das Ganze eingefädelt, und zu allem Überfluss hatte ihn dann auch noch Hopes Großmutter persönlich angerufen. Er hatte dem Besuch aus einem einzigen Grund zugestimmt: Mary hatte versprochen, dass Hope professionelle Fotos für seine Website und für Flyer machen würde.

Er wusste das Angebot zu schätzen, denn das Geld war immer knapp, und er versuchte, jeden eingenommenen Cent wieder in die Anlage zu investieren. Die Bighorn-Ranch für therapeutisches Reiten musste professioneller präsentiert werden, und das ließ sich nicht mit ein paar Schnappschüssen erreichen oder mit einer Website, die er selbst nach einer Vorlage zusammengebastelt hatte. Er kannte seine Stärken. Die Arbeit am Computer gehörte nicht dazu.

Zu guter Letzt hatte ihre Großmutter angedeutet, dass Hope dringend eine Auszeit brauche und dass seine Ranch mit dem therapeutischen Anspruch genau der richtige Ort dafür sei.

Diesen Teil des Gesprächs hätte er lieber überhört. Er arbeitete nicht mit Erwachsenen. Es war schon lästig genug, eine Fremde im Haus zu haben. Er hätte sie natürlich abweisen und in ein Hotel in der nächsten Stadt schicken können, doch dann hätte er sich von seiner Mutter einen Vortrag über Gastfreundschaft anhören dürfen. Also hatte er sich damit abgefunden und Anna gebeten, das Gästezimmer herzurichten.

Allerdings hatte Blake nicht mit einer großen, eleganten Blondine gerechnet. Sie war genau der Typ, der ihn während seiner Schulzeit höllisch eingeschüchtert hatte. Diese Mädchen trugen stets die besten Klamotten, gingen mit den coolen Typen aus und blickten hochnäsig auf Kerle wie ihn herunter. So hatte er sie auf den ersten Blick eingeordnet, als er sie auf ihren hochhackigen Stiefelchen durch den Schnee rutschen sah.

Dann hatte sie ihm ins Gesicht gesehen.

Er kannte diesen Blick. Entsetzen. Abscheu. Mit den Jahren hatte er gelernt, nachsichtig mit seinen Mitmenschen zu sein. Er wusste, wie sehr seine Narbe ihn entstellte. Die Reaktionen waren nur das … Reaktionen. Die Menschen wünschten ein ebenmäßiges Gesicht zu sehen, und seines war alles andere als das. Er trug niemandem die schockierte Reaktion eines Augenblicks nach. Warum machte ihn dann diese Hope McKinnon so zornig?

Vielleicht, weil sie so heftig reagiert hatte. Das war mehr gewesen als nur das übliche Abwenden. Sie war bleich geworden, hatte plötzlich fast unsicher auf den Beinen gewirkt. Damit hatte sie seinen Stolz verletzt. In Gedanken hörte er gleich wieder die Spottgesänge aus seiner Schulzeit. Der Film The Beauty and the Beast war einige Zeit vor seinem Unfall in den Kinos gelaufen, und alle Mädchen in der Schule kannten noch die Texte der Songs. Sie verspotteten ihn damit, wenn die Lehrer gerade nicht hinhörten.

Inzwischen war genügend Zeit verstrichen, um die Erinnerung an diese schrecklichen Momente in seinem Leben verblassen zu lassen. Gewöhnlich dachte er nicht einmal mehr daran.

Doch heute war es anders. Diese Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Sie war mit ihrer hochnäsigen Art in sein Leben getreten und ließ ihn spüren, dass sie viel lieber woanders wäre. Nur die ihm anerzogene Gastfreundschaft und das Versprechen an seine Großmutter hatten ihn davon abgehalten, ihr mit den Worten zu antworten, die ihm schon auf der Zunge gelegen hatten.

Blake schloss den Riegel der letzten Pferdebox, der mit einem lauten Knirschen einrastete. Bevor er den Stall verließ, machte er noch einen Abstecher in den Lagerraum. Kürzlich hatte er einen alten, aber noch intakten Schlitten von einem Rancher aus der Nähe von Nanton erworben. Die alte Farbe hatte er bereits abgeschliffen und die Kufen erneuert, und jetzt wartete das Ding darauf, frisch lackiert zu werden.

Blake hatte lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Wenn er fertig war, wollte er den Kindern aus seinem Projekt mit dem Schlitten zu Erinnerungen verhelfen, wie er sie aus seiner eigenen Kindheit kannte. Die Art Erinnerungen, die mit heißem Kakao, süßen Keksen und einem Besuch des Weihnachtsmanns verbunden waren.

Wie gewöhnlich half ihm die Arbeit im Stall dabei, seine Gedanken zu sortieren. Es war zu früh, sich ein Urteil über die elegante Frau aus der Stadt zu erlauben. Er bemühte sich auf seiner Ranch zwar um Kinder mit sichtbaren Behinderungen, aber ihm war sehr bewusst, dass nicht alle Probleme mit bloßem Auge zu erkennen waren. Er wollte die Menschen lehren, hinter die Narben anderer zu schauen. Es verging kein Tag, an dem er nicht an Brad dachte und die gemeinsamen Pläne, die nun nicht mehr zu verwirklichen waren. Diese Gedanken waren die treibende Kraft hinter seinem therapeutischen Reitstall.

Vielleicht schuldete er Hope den gleichen Respekt. Sonst wäre er genauso engstirnig wie die Leute, die sich im Laufe der Jahre von ihm abgewandt hatten. Also, dachte er, während er das Licht im Stall löschte und die Tür hinter sich schloss, werde ich meinen ersten Eindruck von Hope McKinnon beiseiteschieben und ihr eine zweite Chance geben.

Im Haus war es still. Vermutlich war Hope doch eingeschlafen. Sie hatte todmüde gewirkt, als er sie in ihrem Zimmer allein gelassen hatte. Aus der Küche drang der verführerische Duft von Braten mit Knoblauch und Kräutern, der seinen Magen zum Knurren brachte. Sollte er seinen Gast zum Essen wecken oder ihr eine Portion beiseitestellen?

Doch als Blake die Küche betrat, fand er Hope bereits am Tisch sitzend vor. Ihr Laptop stand geöffnet vor ihr, und sie blickte angestrengt auf den Bildschirm. Auf ihrer Nasenspitze saß eine modische Lesebrille, die mehr ein Accessoire zu sein schien als ein Hilfsmittel zum Lesen.

„Doch nicht eingeschlafen?“, fragte er.

Beim Klang seiner Stimme schrak sie auf. „Ach du liebe Güte!“

„Haben Sie mich nicht hereinkommen hören?“

„Bei der Arbeit blende ich gewöhnlich alles andere aus“, erklärte sie und schob sich eine verirrte Haarlocke hinter das Ohr. „Tut mir leid.“

„Arbeit?“

„Natürlich. In jedem Bild gibt es kleine Fehler, die ich nachbearbeiten muss. Hier, sehen Sie“, sagte sie und drehte den Laptop ein wenig herum, sodass er den Bildschirm besser sehen konnte.

Er trat näher und blickte ihr über die Schulter. Das Bild zeigte ein weibliches Model in einem weißen Mantel. Die Frau hielt einen roten Schirm in der Hand; das Haar wehte ihr kunstvoll arrangiert ums Gesicht.

„Sieht gut aus“, sagte er. Eigentlich fand er es ein bisschen steril und leblos. Zu viel Weiß für seinen Geschmack, und das Mädchen sah aus, als würde die erste Brise sie mitsamt ihrem Schirm davonwehen. Sie schien in einer Art Würfel zu stehen … Doch wozu brauchte sie dann einen Schirm?

„Hier sehen Sie das Original.“ Sie brachte ein anderes Foto auf den Bildschirm und stellte beide nebeneinander. „Sehen Sie?“ Sie strahlte ihn erwartungsvoll an.

Blake verglich angestrengt die beiden Fotografien. Ehrlich gesagt konnte er keinen Unterschied entdecken. „Sie scheinen wahrhaftig ein Profi zu sein“, kommentierte er und trat zurück.

Sie runzelte die Stirn. „Sehen sie denn nicht? Hier.“ Sie deutete auf das Kinn des Mädchens. „Diese Linie ist jetzt völlig anders. Und dieser Fleck?“

Er musste wieder nähertreten, um zu sehen, was sie ihm zeigen wollte.

„In diesem Bild ist er verschwunden. Ich habe alles ein wenig aufgehellt, weil die Belichtung nicht ganz stimmte. Jetzt sieht es schon ganz gut aus. Es ist nahezu perfekt.“

„Und Perfektion ist wichtig?“

Sie sah ihn an, als sei ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. „Natürlich“, rief sie aus. „Ich versuche immer, die perfekte Aufnahme zu machen. Das ist meine Aufgabe als Fotografin. Die wahre Perfektion habe ich noch nicht gefunden, aber das werde ich eines Tages.“ Ihre Miene verriet Entschlossenheit. „Das geht heutzutage mit der digitalen Fotografie viel besser als früher.“

Perfektion. Seine Laune verdüsterte sich. Wenn sie nach Perfektion suchte, war sie hier am falschen Platz. „Na ja, ich habe eigentlich immer nur Schnappschüsse gemacht.“ Er trat an den Herd und nahm den Deckel vom Topf. Der Duft, der daraus hochstieg, war wie eine Offenbarung. Das war Perfektion! Niemand kochte so fantastisch wie Anna.

„Wir können bald essen. Ich muss nur noch die Soße machen“, erklärte er und nahm eine große Porzellanplatte aus dem Schrank.

Gekonnt legte er das Fleisch in die Mitte und drapierte Kartoffeln und Gemüse aus dem Topf darum herum. Dann deckte er das Ganze mit Alufolie ab und machte sich daran, aus dem Bratenfond eine kräftige Soße zuzubereiten.

Hope hatte sich erstaunlich verändert, stellte er dabei im Stillen fest. Sie hatte nicht nur ihre nassen Kleider gegen trockene eingetauscht. Auch die Müdigkeit war aus ihrem Blick verschwunden, und sie wirkte voll neuer Energie. Es kam Blake vor, als steckten zwei verschiedene Menschen in ihr. Welcher mochte wohl die wirkliche Hope McKinnon sein?

„Mr. Nelson?“

Er hielt inne. „Wir hatten uns auf Blake geeinigt, erinnern Sie sich?“

„Ich wollte …“ Sie zögerte. „Ich wollte mich für vorhin entschuldigen. Ich fürchte, wir haben unsere Bekanntschaft auf dem falschen Fuß begonnen. Ich war schrecklich müde, wissen Sie …“

Sie sah ihn hoffnungsvoll an. Es überraschte ihn, und zugleich war er froh darüber. Er wusste, dass sie nicht genug geschlafen hatte, und so deutete er ihre Worte als Versuch, die verkrampfte Stimmung zu entspannen. Es war wohl besser, die Entschuldigung jetzt anzunehmen, wenn er bedachte, dass sie die nächsten Tage miteinander verbringen mussten.

„Warum sind Sie wieder aufgestanden?“, fragte er deshalb freundlich. „Als ich Sie vorhin verließ, sahen Sie aus, als könnten Sie jeden Moment umkippen.“ Er drehte sich zu ihr um und sah sie in Erwartung einer Antwort an.

Sie lächelte. „Ihr Kaffee. Der ist richtig gut.“

„Die Sorte heißt Kicking Horse und kommt aus einem Ort ein paar Stunden in dieser Richtung.“ Er deutete vage nach Westen.

„Oh. Er ist wirklich köstlich. Außerdem war ich so frei, mich in der Küche umzusehen und habe dabei ein paar Zimtkekse gefunden. Koffein und Zucker haben mich wieder aufgemöbelt.“

„Gut zu wissen.“ Blake wandte sich erneut dem Herd zu.

„Kann ich helfen?“

„Sie können den Tisch decken, wenn Sie mögen.“ Er rührte im Soßentopf und versuchte nicht daran zu denken, wie nett ihre Stimme klang. „Teller finden Sie rechts neben der Spüle. Gläser im Hängeschrank darüber.“

Während Hope den Tisch deckte, rührte er Stärke in die kochende Soße, bis sie dick und sämig war. „Was sind das für Aufnahmen, an denen Sie gerade arbeiten?“

„Ach, nur ein paar Fotos, die ich letzte Woche für ein Modemagazin gemacht habe. Ich wollte lieber nicht so früh schlafen, damit ich mich besser dem hiesigen Tagesrhythmus anpassen kann. Die Arbeit hält mich wach.“

„Sie haben Arbeit in Ihren Urlaub mitgebracht?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist eigentlich kein Urlaub. Ich bin hier, um Aufnahmen für Ihr Marketing zu machen, oder?“

„Und um ein wenig zu entspannen. Ihre Großmutter sagte, dass Sie das dringend nötig hätten.“

Hope verharrte mit Messer und Gabel in der Hand. „Was genau hat Gram eigentlich gesagt? Sie erwähnen jetzt schon zum zweiten Mal, dass mein Aufenthalt hier gut für mich sein soll.“

Blake war nun zufrieden mit dem Zustand der Soße. Er goss sie in einen gläsernen Messbecher, der als Sauciere dienen musste. Aha, da habe ich einen Nerv getroffen, dachte er. Die Schärfe in Hopes Stimme war ihm nicht entgangen. „Ihre Großmutter sagte nur, dass ein Ort wie dieser Ihnen guttun würde“, erklärte er.

„Ein Ort wie dieser?“, wiederholte sie langsam. „Ihre Ranch ist eine Rehabilitationseinrichtung für Kinder mit Behinderungen, nicht wahr?“

„Ja, so ist es. Aber Sie sind bestimmt kein Kind mehr, und Sie haben auch keine Behinderung, soweit ich sehen kann.“

Ihre Blicke trafen sich, und ihm war, als würde ein Funke überspringen. Hope war attraktiver als jede andere Frau, der er je begegnet war. Sie trug jetzt Jeans und einen weichen Pullover, und so konnte er ihre langen Beine und die sanfte Rundung ihrer Brüste bewundern. Ihre Lippen waren voll, ohne aufdringlich zu wirken, und ihre Augen hatten die Farbe von Kornblumen in einem Weizenfeld. Ihr seidiges Haar umrahmte ein makelloses Gesicht. Ja … sie war wunderschön, und er reagierte auf ihren Anblick wie jeder gesunde Mann.

Umgekehrt würde er bei Hope eher keine Bewunderung ernten. Er war wahrlich nicht ansehenswert. Damit hatte er sich längst abgefunden. In gewisser Weise betrachtete er seine Entstellung als gerechten Ausgleich dafür, dass er es war, der den Unfall überlebt hatte.

Seine Narben waren nun ein Teil von ihm. Man konnte ihn so nehmen, wie er war, oder es lassen. Ein Blick in den Spiegel erinnerte ihn jeden Morgen daran, warum diese Ranch so wichtig war. Die Tragödie seiner Familie sollte wenigstens zu etwas Gutem führen, und es war an ihm, dieses Programm am Leben zu erhalten.

Er sah, wie Hope sich aufrichtete und die Lippen zusammenpresste. „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor“, entgegnete sie scharf. „Ich habe keine Ahnung, warum meine Großmutter so etwas gesagt haben sollte. Aber ich kann Ihnen versichern, Mr. Nelson, dass es mir ausgezeichnet geht und dass ich nur hier bin, weil sie mich darum gebeten hat.“

Er war also immer noch Mr. Nelson für sie, und sie hatte unmissverständlich klargestellt, dass sie nicht ihm einen Gefallen tat.

Bei ihrem abweisenden Tonfall zuckte Blake innerlich zusammen, doch er ließ sich nichts anmerken. Er war sich sicher, dass hinter ihrer Ablehnung noch etwas anderes steckte und dass es nicht nur mit seinem entstellten Gesicht zu tun hatte.

„Ich mache die versprochenen Aufnahmen für Sie, aber ich brauche bestimmt keine Rehabilitation. Wie Sie sehen, bin ich absolut fit.“

Oh ja, und wie! Ein Blick auf die schlanke Gestalt mit der schmalen Taille und den ansprechenden Rundungen unter dem weichen Pullover machte das überdeutlich.

„Ihre Großmutter hat nicht von körperlicher Fitness gesprochen“, sagte Blake. „Es klang mehr wie …“ Er sprach doch fast täglich über solche Dinge. Warum fiel es ihm ihr gegenüber auf einmal so schwer? „Mehr nach etwas Emotionalem“, fuhr er fort. „Nach einer anderen Art von Schmerz.“

In Hopes Augen blitzte etwas auf. Angst, Verletzlichkeit und – tatsächlich – Schmerz. Es war sofort wieder verschwunden, aber er hatte es gesehen. Hatte ihre Großmutter also recht? Hope verbarg es geschickt, aber in ihrem Innersten schien sie zu leiden.

„Dann hat meine Großmutter sich geirrt. Sie hat mich ja seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen“, entgegnete Hope kühl. „Tut mir leid, an mir gibt es nichts zu reparieren.“

Er zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Zweck, jetzt weiter zu drängen. „Ist schon gut. Mir geht es vor allem um die Fotos für meine PR-Aktion. Und wer weiß, manchmal wirken ein paar Tage auf Bighorn wahre Wunder. Wir müssen nichts Kompliziertes daraus machen. Ich bin nur ein Rancher, Hope. Ich bin nicht daran interessiert, in Ihrem Privatleben herumzuschnüffeln.“

Seine gut gemeinten Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung. Hopes Blick wurde womöglich noch eisiger. „Wenn das so ist, versuche ich vielleicht lieber, irgendwo anders in der Nähe unterzukommen.“

Sie klang so herablassend! Was fiel dieser Hope McKinnon eigentlich ein, ihn so von oben herab zu behandeln? Was hatte er ihr getan?

„Nur zu“, erwiderte er genauso kühl. Babysitter für eine Frau zu spielen, die lieber woanders wäre, gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Ihm genügte es, wenn sie brauchbare Fotos machte.

Außerdem musste er sich um wichtigere Dinge kümmern. Um Weihnachten zum Beispiel. Die Kinder sollten die Feier auf der Ranch in besonders guter Erinnerung behalten. Auch der Schlitten musste noch lackiert werden. Das alles würde ihn hinreichend von Hope fernhalten.

Er nahm die Fleischplatte und stellte sie mitten auf den Tisch. Die Frau ging ihm zwar auf die Nerven, aber er würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er hatte jahrelange Erfahrung darin, seine wahren Gefühle zu verbergen.

Hope setzte sich an den Tisch und breitete eine Papierserviette über ihrem Schoß aus. Mit dieser Geste wirkte sie wie eine Prinzessin.

Blake griff mit grimmiger Miene nach dem Tranchiermesser. Nichts würde ihn aus der Fassung bringen! Schon gar nicht diese Frau!

Wohlig rekelte sich Hope unter der warmen Decke. Durch das Fenster drang eigenartig helles Licht. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte prüfend auf ihre Uhr. Halb acht. Sie hatte zehn Stunden geschlafen! Nach dem Essen hatte sie gearbeitet, bis sie die Augen kaum noch offen halten konnte. Genau das war ihr Plan: Arbeiten. Schlafen. Keine Zeit zum Nachdenken haben. Keine Zeit, etwas zu fühlen. Auf diese Weise würde sie sehr produktiv sein.

Sie schlüpfte aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen ans Fenster. Ah! Der Grund für das eigenartige Licht war frisch gefallener Schnee. Es türmte sich auf dem Dach der Scheune, und auf den Zaunpfählen saßen weiße Kappen. Die Äste der Bäume bogen sich unter der schweren Last. Es sah aus wie in einem Winterwunderland.

Einen Moment lang dachte sie an das Haus ihrer Großmutter in Beckett’s Run. Bestimmt war Gram jetzt dabei, Weihnachtsplätzchen zu backen und den Baumschmuck zusammenzusuchen. Hope verspürte plötzlich so etwas wie Heimweh.

In New England hatten sie jedes Jahr auf weiße Weihnachten gehofft. Dann hatten sie und ihre Schwestern sich warm angezogen, Schneemänner gebaut und Schneeballschlachten gemacht. Grace hatte Hope vorgeworfen, immer alles bestimmen zu wollen, bis sogar Faith nicht mehr hatte vermitteln können.

Die Erinnerung ließ Hope lächeln. Arme Faith! Sie und Grace hatten es ihrer mittleren Schwester nicht leicht gemacht. Inzwischen sprach Faith gar nicht mehr mit ihr, und auch Grace war ihr böse, weil sie eine lange geplante Reise abgesagt hatte. Ihre jüngste Schwester hatte nicht verstehen können, dass für Hope die Gelegenheit zu einer Fotoserie für das Stylesetter Magazin zu verlockend gewesen war.

Manchmal schien es, als lebten sie und ihre beiden Schwestern auf unterschiedlichen Planeten.

Eine Bewegung draußen erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war Blake, dick eingepackt in eine schwere Jacke, mit Fellmütze und riesigen Handschuhen, der den Schnee vom Fußweg zwischen Haus und Scheune schaufelte. Fast mühelos ließ er den Schnee in dicken Haufen von links nach rechts fliegen. Hope nahm sich die Zeit, ihn etwas eingehender zu betrachten. Sie bedauerte, dass sie am Abend so heftig reagiert hatte. Er sei kein Therapeut, hatte er gesagt, nur ein Rancher. Doch ihr war klar, dass er kein gewöhnlicher Rancher war. Wer sich so hingebungsvoll einem Projekt widmete, musste persönliche Gründe dafür haben. Sie war sich sicher, dass es mit seiner Narbe zusammenhing.

Nach der angespannten Atmosphäre des vergangenen Abends wollte sie sich lieber eine andere Unterkunft suchen. Sie verspürte keine Lust, sich in das persönliche Drama eines anderen verwickeln zu lassen. Davon hatte sie selbst wahrlich genug. Wenn sie nur mit einem Fingerschnipsen das Weihnachtsfest herbeizaubern könnte. Sie würde ein paar Tage mit Gram verbringen und dann nach Sydney zurückkehren, wo sie hingehörte.

Hope duschte und wusch sich ihr Haar. Dann zog sie sich an, legte sparsames Make-up auf und versuchte, ihr lockiges Haar in eine Frisur zu zwingen. Als sie schließlich in die Küche kam, saß Blake bereits am Tisch, die Hände um einen dampfenden Kaffeebecher gelegt.

„Guten Morgen.“

Er wandte sich zu ihr um und lächelte, als hätte es die Spannungen des vergangenen Abends nie gegeben. „Guten Morgen.“

„Haben Sie davon noch mehr?“

Er deutete mit dem Kopf auf die Kaffeemaschine. „Bedienen Sie sich. Haben Sie gut geschlafen?“

Sie griff nach einem Becher. „Besser als erwartet. Vielleicht ist es die Bergluft. Ich habe durchgeschlafen, ohne einmal wach zu werden.“

„Dann haben Sie den Schneesturm verschlafen. Wir sind heute Nacht ziemlich zugeschüttet worden.“

Hope schenkte sich Kaffee ein und trank den ersten Schluck. Ah! Dieser erste Schuss Koffein ließ ihr das Leben auf einmal viel leichter erscheinen. „Wie viel Schnee ist denn gefallen?“

„Sicherlich ein halber Meter, und es hat gerade wieder angefangen.“

Der Morgen kam ihr auf einmal nicht mehr so hell vor, und der Kaffee schmeckte nur noch halb so gut. „Ein halber Meter?“, rief sie erstaunt aus.

„Ja. Ich fürchte, die Straßen von hier zum Highway sind nur noch mit Allradantrieb befahrbar. Und auch dann kann man oft nicht erkennen, wo die Straße aufhört und der Acker beginnt. Mit Ihrem Auto würde jeder Versuch unweigerlich im Graben enden. Kein vernünftiger Mensch fährt heute auch nur einen Meter.“

Das war es also! Ihr schöner Plan, sich auf der Ranch um freundliches Miteinander zu bemühen, sich für die Nächte aber ein Hotelzimmer in der nahen Kleinstadt Banff zu suchen, lag unter einem halben Meter Schnee begraben. „Wie lange wird es dauern?“, fragte sie besorgt.

„Oh, bestimmt noch den ganzen Tag. Wenn es aufklart, könnten die Straßen morgen im Laufe des Tages freigeräumt sein. Aber wenigstens werden wir in diesem Jahr weiße Weihnachten haben.“

Er strahlte plötzlich. Anscheinend hatte dieser derbe Rancher ein Herz für Weihnachten. Schön für ihn, dachte Hope missmutig. Heute war anscheinend nichts an ihrer unerfreulichen Situation zu ändern. Sie würde eine weitere Nacht in diesem Haus ertragen müssen. Immerhin konnte sie telefonieren und ein Zimmer für die folgenden Tage buchen. Sie atmete tief aus.

Blake sah sie prüfend an. „Sie sollten etwas frühstücken. Ich habe sehr früh gegessen, aber Anna kann Ihnen noch etwas zurechtmachen.“ Er wandte sich von Hope ab und rief laut in die andere Richtung: „Anna?“

„Sie haben mich gerufen?“ Eine raue Stimme erklang aus dem Flur, und gleich darauf erschien eine Frau. Sie war untersetzt mit nachtschwarzen Augen und goldbrauner Haut.

„Hope, darf ich Ihnen Anna Bearspaw vorstellen?“

Jetzt verstand Hope, warum Blake bei der Frage, ob Anna seine Frau oder Freundin sei, gelacht hatte. Anna war sicherlich schon fünfzig. Das ergrauende Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Hope.“ Mit fröhlich wirkenden Falten um die Augenwinkel lächelte die Frau sie an. „Blake sagt, mein Elch hat Ihnen gestern gut geschmeckt.“

„Elch?“ Hope bemühte sich, ihr Erstaunen zu verbergen. Sie hatte das wohlschmeckende Fleisch am Abend zuvor für Rind gehalten. Rühmte sich Alberta nicht seiner Steaks?

„Der Braten“, erklärte Blake. „Niemand bereitet Elch so lecker zu wie Anna.“

Der Gedanke, dass sie Fleisch von einem wilden Tier gegessen hatte, ließ Hope schlucken. Sie war keine Vegetarierin, aber wenn sie Fleisch aß, dann kam es aus verschweißten Packungen im Supermarkt. Bei dem Gedanken daran, dass ein wildes Tier auf den Tisch gekommen war, drohte ihr Magen zu revoltieren.

„Es war … äh … köstlich“, brachte sie mühsam hervor.

„Mein Sohn hat ihn selbst erlegt“, erklärte Anna stolz. „Ein bisschen haben wir für uns selbst behalten, und mit dem Rest haben wir uns bei Blake revanchiert.“

„Revanchiert?“, sagte Hope und sah Blake fragend an.

„Ach, das hat nichts zu bedeuten“, wehrte Blake ab und stellte seinen Kaffeebecher in die Spüle.

„Oh, es hat nichts zu bedeuten“, machte Anna ihn nach. Sie blickte Hope an. „Blake hat mir Arbeit gegeben, und er kümmert sich um John und mich. Er ist ein guter Mann.“

Unwillkürlich war Hopes Neugier geweckt. „Er kümmert sich?“

Blake schien sichtlich verlegen zu sein, als er Annas Lobrede hörte. „Wir kümmern uns hier draußen alle umeinander“, sagte er.

Doch genau das versuchte Hope zu vermeiden. Sie hasste es, wenn andere sich um sie kümmern wollten. Sie verließ sich lieber auf ihre eigenen Fähigkeiten und führte ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen. Wenn man sich von anderen Menschen abhängig machte, nahmen die sich das Recht, sich in persönliche Angelegenheiten einzumischen. Sie zog ihre Ungestörtheit vor.

So war es allerdings nicht immer gewesen. Früher einmal hatten sie und ihre beiden Schwestern wie Pech und Schwefel zusammengehalten. Nachdem ihre Eltern endgültig auseinandergegangen waren, hatten die Mädchen nur noch einander gehabt … und ihre Großmutter.

Gram war es gewesen, die Hope immer wieder gewarnt hatte, sie solle sich nicht so verzweifelt bemühen, die Schwestern zusammenzuhalten. Gram hatte auch ihren vollständigen Zusammenbruch miterlebt. Hope war gerade achtzehn geworden, hatte ihre Prüfungen geschmissen und ihr Stipendium verloren. Gram war es gewesen, die sie aufgefangen und ihr wieder auf die Füße geholfen hatte. Nur sie beide wussten, wie viel es ihre Großmutter gekostet hatte. Aber Hope hatte jeden Penny zurückgezahlt. Das war ihr wichtig gewesen.

Dennoch fühlte sie sich immer noch in ihrer Schuld, und nur deshalb hatte sie sich überhaupt auf diesen verrückten Trip eingelassen.

Sie schob die trüben Gedanken an die Vergangenheit beiseite und zwang sich, Anna anzulächeln. „Wie sind Sie denn heute hierhergekommen? Die Straßen sehen völlig verschneit aus.“ Sie war gespannt auf die Antwort. Wenn sie aus dem Fenster schaute, würde sie womöglich einen Hundeschlitten vor der Tür sehen.

„Mit meinem Schneemobil“, erklärte Anna beiläufig. Sie schien das für ganz normal zu halten.

„Ach ja, natürlich.“ Jetzt war sich Hope endgültig sicher, in einer fremden Welt gelandet zu sein.

„Wir werden heute keine Kundschaft haben“, mischte sich Blake ein. „Aber sobald es aufhört zu schneien, will ich einen passenden Weihnachtsbaum suchen. Sie können gern mitkommen, Hope. Dann sehen Sie etwas mehr von der Ranch. Außerdem können Sie bestimmt ein bisschen frische Luft gebrauchen.“

Hope sah ihn unbehaglich an. Er stand völlig entspannt an den Küchentresen gelehnt da.

„Ich dachte, ich sollte hier Aufnahmen machen“, erwiderte sie auf der Suche nach einer Ausrede. Auf gar keinen Fall würde sie sich mit ihm auf ein Schneemobil setzen und womöglich zum Festhalten die Arme um ihn legen.

„Bringen Sie Ihre Kamera mit. Wir fahren hinauf zu der Hügelkette. Der Blick von dort ist phänomenal. Berge, soweit das Auge reicht. Mit dem Neuschnee wird es fantastisch aussehen.“

„Landschaften mache ich nicht“, wehrte Hope ab. Sie und Blake allein in der Wildnis? Im nächsten Moment kam sie sich albern vor. Wie oft hatte sie schon in der Gesellschaft völlig fremder Menschen gearbeitet? Aber diesmal war es irgendwie anders. Es fühlte sich nicht rein … geschäftsmäßig an. Doch was sonst sollte es sein? Sie und Blake konnten sich nicht einmal leiden.

„Ein Foto ist ein Foto, oder?“

Blake schien unbeeindruckt von ihrer Zurückweisung zu sein. Hope wurde jedoch immer nervöser. Für einen Amateur mochte ein Bild nur ein Bild sein. Sie machte aber darum keine Naturaufnahmen, weil sie gern alles unter Kontrolle hatte. Ihre Fotos waren sorgfältig inszeniert, die Lichtverhältnisse im Voraus geprüft, die Models instruiert. Wenn es Variablen gab, dann wollte sie sie beherrschen.

Aber wie sollte sie Blake das erklären? Nicht viele Menschen verstanden ihre Suche nach Perfektion. Sie wusste selbst nicht, ob ihr das perfekte Foto je gelingen würde, aber sie probierte es immer wieder. An manchen Tagen war es diese Herausforderung, die sie morgens auf die Beine brachte.

„Ich fürchte, ich habe nicht die passende Kleidung für einen Ausflug dabei“, versuchte sie einen letzten Ausweg zu finden. Viel lieber würde sie hier im Warmen sitzen und sich telefonisch um ein Hotelzimmer in der Stadt bemühen.

„Ich denke, ich habe ein paar Sachen, die Ihnen passen müssten“, entgegnete Blake ungerührt. „Haben Sie noch mehr Ausreden?“ Er sah sie herausfordernd an. „Sie haben doch nicht etwa Angst vor einem Schneemobil?“

Jetzt fiel ihr wirklich nichts mehr ein. Der Gedanke daran, hinter ihm auf das Gefährt zu klettern und die Arme um ihn zu schlingen, ließ sie erschauern. Sie war nicht wirklich schüchtern. Es war nur …

Sein eindringlicher Blick ließ ihr Herz plötzlich schneller schlagen. In der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft hatte sie Dinge gespürt, die sie nicht spüren wollte. Die schaurige Narbe in seinem Gesicht machte ihn auf eine gefährliche Weise anziehend. Allein schon seine Größe ließ ihn sehr männlich wirken, und Hope war keinesfalls immun dagegen.

Blake Nelson war ein aufregender Mann. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte, und die Erkenntnis brachte sie völlig durcheinander. Nun hatte er sie herausgefordert.

Stell dich nicht so an, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Was war schon dabei? Außerdem würde ihr ein bisschen frischer Fahrtwind im Gesicht wirklich guttun.

„Na gut, ich fahre mit“, gab sie schließlich nach.

„Ich muss noch ein paar Dinge in der Scheune erledigen. In ungefähr einer Stunde können wir los. Anna weiß, wo die Wintersachen sind. Sie wird Ihnen helfen.“

„Ja, natürlich“, machte sich die Frau hinter ihr bemerkbar.

Hope lächelte schwach. Immerhin würde sie auf der Fahrt Gelegenheit haben, mit ihm über den Wechsel ihrer Unterkunft zu reden. Davon würde sie sich keinesfalls abbringen lassen.

3. KAPITEL

Blake reichte Hope den Helm. Ob sie sich wohl Sorgen um ihre perfekte Frisur machte? „Klappen Sie das Visier herunter, bevor wir starten“, riet er ihr. „Das hält den Wind ab, und Sie bekommen keinen Schnee ins Gesicht.“ Dann bestieg er den gepolsterten Sitz des Schneemobils.

Anna hatte Hope mit Winterstiefeln, wattierten Hosen, einer Daunenjacke und dicken Handschuhen ausstaffiert. Blake gefiel sie so besser als am gestrigen Abend mit der Brille auf der Nase vor ihrem Laptop. Er hatte das Gefühl gehabt, dass sie ihre Arbeit wie ein Schutzschild benutzte.

„Kommen Sie“, forderte er sie nun auf. Er startete den Motor und ließ ihn ein wenig im Leerlauf brummen. Hope rutschte hinter ihm dicht an ihn heran, sodass er ihre Schenkel an seinen spüren konnte. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel, ob ein Ausflug zu zweit wirklich eine gute Idee gewesen war.

Dann schlang sie die Arme um ihn. Trotz des dicken Materials ihrer Jacken durchfuhr ihn die Berührung wie ein Blitz. Sei kein Dummkopf, schalt er sich selbst. Eine Frau wie Hope würde sich niemals für einen Mann wie ihn interessieren. Er und Hope kamen aus völlig verschiedenen Welten. Er lebte ein einfaches Leben auf dem Land. Sie war durch und durch eine Städterin. Dagegen war nichts einzuwenden, aber es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, wenn diese beiden Welten kollidierten.

Er gab Gas. „Festhalten!“, rief er. Dann jagte er das Schneemobil über eine Schneewehe und lenkte es auf die Ebene hinter der Ranch.

Er konnte den Reißverschluss ihrer Jacke in seinem Rücken spüren, so eng presste sich Hope an ihn. Mühsam versuchte er, das Gefühl zu ignorieren.

Es hatte aufgehört zu schneien. Nur ab und zu segelte noch eine Schneeflocke herab und setzte sich sanft auf die weiße Decke, die die vor ihnen liegende Ebene bedeckte. Im Sommer pflegte er über diese Felder zu reiten, doch im Winter benutzte er eines der Schneemobile, die beim Haus von Anna und John unterstanden.

Neben einer markanten Felsformation hielt er an. Dies war sein Lieblingsplatz auf der ganzen Ranch. Hier konnte er nach getaner Arbeit entspannen und zur Ruhe kommen.

Hierher war er auch oft mit Brad gekommen. Als Zwillinge hatten sie alles gemeinsam unternommen. Hier hatten sie ihre ersten Lagerfeuer gemacht und sich im Schatten der Felsen eine kleine Hütte gebaut. Darin hatten sie ihre Schlafsäcke ausgerollt und die Nächte in freier Natur verbracht. Sie hatten unter dem Sternenhimmel über Gott und die Welt gesprochen, über Eishockey und natürlich darüber, dass sie eines Tages in der NHL, der Eishockey-Profiliga von Nordamerika, spielen wollten. Als sie älter wurden, ging es vor allem um Mädchen.

Jetzt kam Blake gewöhnlich allein hierher. Manchmal, um Erinnerungen nachzuhängen, manchmal, um den wundervollen Blick zu genießen. Angesichts der Weite des Landes wurde ihm jedes Mal bewusst, dass er nur ein kleines Teil in der großen Welt da draußen war. Vor allem nach einem schlechten Tag tat es gut, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.

„Das sieht nett aus“, erklärte Hope, nachdem sie vom Schneemobil gestiegen war und den Helm abgenommen hatte.

„Nett?“, wiederholte er. Ihre nichtssagende Reaktion auf das spektakuläre Panorama machte ihn sprachlos. Er atmete tief aus und sah zu, wie sich die kleine Nebelwolke vor seinen Lippen langsam auflöste. „Ist es nicht wie ein Wunder, dass es Orte wie diesen gibt?“

„Das ist es wohl“, erwiderte sie und machte ein paar zögernde Schritte durch den Schnee. „Es ist jedenfalls ein schöner Anblick.“

Er betrachtete sie ungläubig. „Die besten Adjektive, die Ihnen dazu einfallen, sind nett und schön?“

Nun lächelte sie. „Meine Untertreibungen haben Sie nicht überzeugt?“ Sie atmete tief ein. „Also gut, Sie haben gewonnen. Ich gestehe, es ist atemberaubend.“

„Das ist besser.“ Er trat an einen der Felsen und wischte mit dem Ärmel den Schnee von der Oberfläche. „Belieben Hoheit zu sitzen?“

Er bot ihr seine Hand, aber sie ignorierte die Geste. Mühelos kletterte sie auf den Felsen und blickte hinaus auf die Landschaft. „Wo sind wir hier?“

„Am äußersten Rand der Ranch. Früher gehörte uns noch mehr, aber vor ein paar Jahren habe ich einiges verkauft.“

„Warum?“

Die Frage überraschte ihn. Seit ihrer Ankunft hatte sie noch kein besonderes Interesse an der Ranch gezeigt. „Als ich das Vieh verkauft hatte, brauchte ich nicht mehr so viel Weideland. Was ich jetzt noch besitze, genügt für die Pferde.“

„Sie haben Rinder gehalten?“

„Meine Familie züchtet sie seit Generationen.“

„Warum haben Sie sie verkauft?“ Sie sah ihn fragend an. „War die Ranch in Schwierigkeiten?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Aber als sich mein Vater nach einer Herzattacke zurückzog, war es an mir, eine Entscheidung zu treffen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Einnahmen für die Reittherapie decken die laufenden Kosten, und die eingestellten Pferde bringen genügend ein, um davon zu leben.“

Es war keine leichte Entscheidung gewesen. Sein Vater hatte ihn für verrückt erklärt, als er das erste Mal den Gedanken äußerte, einen großen Teil der Ranch für ein Rehabilitationsprogramm zu opfern. Ihm war klar gewesen, dass das Land für immer verloren war, wenn er es erst einmal verkauft hatte. Doch nach dem Unfall hatte er das dringende Bedürfnis verspürt, etwas Sinnvolles zu tun. Das hatten schließlich auch seine Eltern akzeptiert. Jetzt halfen sie im Frühjahr und im Sommer aus. In gewisser Weise war dieses Programm ein lebendes Denkmal für Brad.

„Wo leben Ihre Eltern jetzt?“

„In Phoenix. Sie sind Zugvögel. Sie fliehen vor den kalten kanadischen Wintern in die Wärme nach Arizona. Für die Weihnachtstage kommen sie allerdings zurück. Mom sagt immer, Weihnachten ohne Schnee geht nicht.“

Während er sprach, studierte Blake Hopes Profil. Sie war sonnengebräunt vom Leben in Sydney, helle Strähnchen leuchteten in ihrem blonden Haar. Als sie jetzt den Kopf wandte und ihn ansah, bemerkte er, wie sehr diese Kombination die Farbe ihrer Augen betonte. Gerade jetzt hatten sie genau die Farbe des Mountain Bluebird, einer Singvogelart, deren Männchen ein wunderbar leuchtend blaues Gefieder trugen.

„Und Sie?“, fragte er weiter. „Was werden Sie zu Weihnachten machen?“ Er bemerkte, wie für einen kurzen Moment ein Schatten über das Strahlen ihrer Augen zog.

„Ich werde nach Boston fliegen und die Feiertage bei meiner Großmutter in Beckett’s Run verbringen. Wahrscheinlich werden auch noch andere Mitglieder der Familie dazukommen.“

„Ihre Familie ist also in alle Richtungen verstreut?“

Sie rieb sich die Hände, als wäre ihr kalt. „Was hat Sie denn vom Viehzüchter zum Reittherapeuten gebracht?“

Ihr abrupter Themenwechsel verriet, dass die Familie für sie ein Schwachpunkt war. Verbarg sich hier das Problem, das ihre Großmutter erwähnt hatte? Doch sie hatte den Spieß umgedreht und ihm eine Gegenfrage gestellt. Er deutete auf seine Narbe. „Das hier“, antwortete er.

Sie wandte den Blick ab.

„Ich weiß, dass es schlimm aussieht“, sagte er trocken. „Ich sehe mich jeden Morgen im Spiegel.“

„Nein, das ist es nicht“, erwiderte sie, doch ihre plötzlich steife Körperhaltung verriet, dass ihr das Thema unangenehm war. „Ich habe schon Schlimmeres gesehen.“

Diese Worte konnten vieles erklären – oder auch gar nichts. „Sie fühlen sich unwohl bei meinem Anblick?“

Nun sah sie ihn an. „Ich nehme an, das macht mich zu einem schlechten Menschen?“

Blake atmete langsam aus, ehe er antwortete. „Das kommt darauf an, warum es so ist, nicht wahr? Sie arbeiten ständig mit den schönsten Models. Sie sind es wahrscheinlich nicht gewöhnt …“

Er verstummte. Er wollte sich nicht selbst als hässlich bezeichnen. Sich aus dem tiefen Loch der Trauer herauszuarbeiten, war mühsam genug gewesen. Nun gestattete er sich keine negativen Gedanken mehr.

„Wer zieht nun voreilige Schlüsse?“ Diesmal sah sie ihm geradewegs ins Gesicht. „Wenn ich mich unbehaglich fühle, dann nicht aus dem Grund, den Sie annehmen. Es wird nur eine Erinnerung wachgerufen, das ist alles.“

„Und die Erinnerung schmerzt?“

Sie wandte den Blick wieder ab. „Ja, so ist es. Ich versuche, möglichst nicht daran zu denken. Das macht es einfacher.“

Niemand konnte das besser verstehen als er. Statt einer Antwort ließ er die Stille des Wintertages auf sich wirken und setzte sich neben sie auf den Felsen – mit genügend Abstand, sodass sie sich nicht berührten. Kein Laut war zu hören. Jedes Geräusch wurde von der dichten Schneedecke geschluckt.

„Wie ist es passiert?“, fragte sie schließlich.

Er hatte die Geschichte schon viele Male erzählt, und jedes Mal wieder schnürte es ihm fast die Kehle zu. Die Erinnerung hatte auch nach all den Jahren nichts von ihrem Schrecken verloren. „Wir hatten einen Unfall auf dem Heimweg von einem Hockeyturnier in British Columbia.“

„Sie haben Eishockey gespielt?“

Blake bemühte sich zu lächeln. „Das mache ich immer noch … auf dem zugefrorenen Teich. Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft kommen rüber, und wir spielen ein bisschen. Morgen ist es wieder so weit. Ich muss noch die Fläche vom Schnee befreien.“

„Sie scheinen Kinder wirklich gern zu mögen.“

„So ist es wohl.“ Er sah sie von der Seite an. „Kinder sind großartig. Voller Energie und Neugier.“

„Laut, wild, unberechenbar.“ Auch Hope lächelte jetzt. Es stand ihr verdammt gut!

„Na ja, manchmal schon. Aber sie nehmen Menschen vorbehaltlos so an, wie sie sind. Jedenfalls die jüngeren Kinder.“ Die Älteren konnten grausam sein. Seine Erfahrungen in der Schule bewiesen das zur Genüge. Doch die Teenager hier in der Gegend kannten ihn lange genug, sodass sein entstelltes Gesicht keine Rolle mehr spielte. Er sah Hope fragend von der Seite an. „Sie haben nicht so viel für Kinder übrig?“

„Ehrlich gesagt, habe ich noch nie viel darüber nachgedacht.“

„Sie waren zu sehr damit beschäftigt, nach dem perfekten Bild zu suchen?“ Er hatte so eine Ahnung, dass Hope McKinnon eine Meisterin darin war, sich hinter ihrer Arbeit zu verstecken. Das hatten sie offenbar gemeinsam.

Ihre Mundwinkel zuckten. „So ähnlich. Auf jeden Fall würde ich Kinder nicht allein haben wollen. Aber ich bin ja auch erst dreißig und habe noch genügend Zeit, um an Heirat und Kinder zu denken.“

Die Art, wie sie seinen Blick vermied, machte ihm klar, dass sie nicht ganz bei der Wahrheit blieb. „Erst einmal kommt die Karriere?“, forschte er deshalb nach.

Ihre Miene hellte sich wieder auf. „Natürlich. Ich liebe meine Arbeit. Allerdings lassen die vielen Reisen nicht viel Zeit für eine Familie.“

„Ich weiß nicht.“ Nachdenklich sah er sie an. „Wie viel Zeit haben wir überhaupt im Leben?“

„Das ist aber eine sehr philosophische Frage, Blake.“

„Ich grüble wohl manchmal zu viel.“

Hope schlug die Hand in gespielter Überraschung vor den Mund. „Eine Schwäche? Ich habe schon geglaubt, Sie hätten überhaupt keine.“

„Wie wollen Sie das in weniger als vierundzwanzig Stunden beurteilen?“

„Das bringt mein Beruf mit sich. Ich durchschaue Menschen sehr schnell, und Sie sind leicht zu lesen.“

Erstaunt musste Blake feststellen, dass sie sich kabbelten. Flirtete sie etwa mit ihm? Kaum vorstellbar. „Ziehen Sie mich auf?“

„Ja“, sagte sie und lachte auf. „Sie sind so schrecklich ernst.“

„Genau dasselbe habe ich von Ihnen gedacht.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin nur fokussiert. Das ist ein großer Unterschied. Ich weiß wirklich, was es heißt, Spaß im Leben zu haben. Ich mag meine Arbeit, meine Wohnung und meine Freunde.“

Wieder schwiegen sie ein paar Minuten, aber dann musste Blake die Frage stellen, die ihn schon lange bewegte. „Wenn das stimmt, warum kommt es mir dann so vor, als würden Sie das Gewicht der ganzen Welt auf Ihren Schultern tragen?“

Da war er wieder: der Schatten auf ihrer Miene, der Moment der Verletzlichkeit. Hope mochte die starke, kontrollierte Frau spielen, aber das Gesicht, das sie der Welt zeigte, war bestimmt nicht das der wahren Hope McKinnon.

Sie ging nicht auf seine Frage ein. „Mir wird kalt“, sagte sie stattdessen. „Ich gehe ein wenig herum und mache ein paar Aufnahmen.“ Damit sprang sie vom Felsen herunter.

Blake ließ sie wortlos gehen und verzichtete auf die spitzfindige Bemerkung, dass sie Landschaftsaufnahmen doch eigentlich nicht machte. Er sah zu, wie sie die Kamera unter ihrer Jacke hervorholte und Blickwinkel und Lichteinfall prüfte. Es gefiel ihm, sie in Aktion zu sehen. Sie sah so entschlossen, so konzentriert aus, wenngleich sie häufig unzufrieden die Stirn runzelte. War der Grund ihre Suche nach Perfektion?

Er wandte sich um und blickte auf die Berge hinter sich. Der Anblick verfehlte nie seine Wirkung auf ihn. Was hatte sie nur daran auszusetzen? War diese Schöpfung nicht perfekt genug?

Auch er begann jetzt, die Kälte zu spüren. Er rutschte vom Felsen und folgte Hope durch den tiefen Schnee. „Was ist los?“, rief er, als er sie kopfschüttelnd einen bestimmten Gipfel anschauen sah.

„Etwas stimmt nicht. Das Licht ist falsch. Unter der Wolke wird die linke Flanke des Berges zu sehr im Schatten liegen.“

Das können Sie wohl nicht kontrollieren?“

„Genau. Deshalb mache ich keine Landschafts- oder Naturaufnahmen. Es gibt zu viele Variablen. Ich arrangiere lieber alles selbst, damit die Bedingungen stimmen.“

„Und trotz allen Planens haben Sie noch immer nicht die perfekte Aufnahme gemacht?“

Sie warf ihm einen entnervten Blick zu. „Nein. Noch nicht.“

„Ich glaube, ich weiß, wo Ihr Problem liegt“, stellte er lächelnd fest. „Sie haben kein Gespür für Magie.“

Hope verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Haben Sie gerade Magie gesagt?“, fragte sie herablassend. „So etwas gibt es nicht.“

„Oh, Sie Ungläubige! Sie können Perfektion nicht organisieren oder planen. Sie geschieht einfach. Und wenn es passiert, dann ist es Magie.“

„Sie reden Unsinn“, wehrte sie ab. Dann schaltete sie die Kamera aus, verstaute sie wieder in ihrer Jacke und zog den Reißverschluss hoch bis zum Hals.

Diese Geste sagte mehr als ihre Worte. Hatte sie vorhin noch verletzlich gewirkt, war sie nun verschlossen. Vermutlich geschah es ihm recht. Er hätte sie nicht so herausfordern sollen. „Ich wette, Sie bekommen Ihr perfektes Foto, bevor Sie abreisen“, sagte er. „Und es wird nichts mit Planung zu tun haben.“

Sie lachte laut auf. „Die Wette werde ich leicht gewinnen.“

„Und wenn ich gewinne? Was bekomme ich dann?“

Sie ging mit hastigen Schritten zum Schneemobil zurück. „Darum geht es gar nicht, Blake. Ich mache Werbefotos für die Ranch und Ihr Therapieprogramm. Aber ich denke, ich sollte besser woanders wohnen. Die Ranch ist Ihr privater Bereich. Ich gehöre nicht dorthin. Ich werde mir ein Hotelzimmer in Banff suchen.“

Blake sah sie erstaunt an. Er musste wirklich einen Nerv getroffen haben, wenn sie nicht einmal ein paar Tage mit ihm im selben Haus leben wollte. Obwohl ihm das ganze Arrangement von Anfang an nicht gepasst hatte, war er nun doch ein wenig gekränkt, dass sie es so eilig hatte, von seiner Ranch zu verschwinden.

Allerdings würde sie so kurz vor Weihnachten unmöglich ein freies Zimmer finden. Sie saß hier fest, sie wusste es nur noch nicht. Und er würde es ihr nicht verraten. Miss McKinnon sollte es ruhig selbst herausfinden.

„Können wir nun zurückfahren? Mit wird kalt.“

„Natürlich“, antwortete er.

Auf dem Rückweg dachte Blake über alles nach, was sie gesagt hatte. Und darüber, was sie nicht gesagt hatte. Er hatte den Eindruck, dass sich hinter ihrem forschen Auftreten eine tiefe Einsamkeit verbarg. Hope McKinnon brauchte dringend ein wenig Aufmunterung, aber er war der Letzte, der ihr die geben konnte.

Enttäuscht beendete Hope das Gespräch und warf ihrem Handy einen bösen Blick zu. Das war nun schon das fünfte Hotel gewesen, und nirgendwo hatte man ein Zimmer für sie. Beim Banff Springs, dem legendären Luxushotel, brauchte sie es gar nicht erst zu versuchen. Sie war nicht gerade arm, aber Hunderte von Dollars für eine Übernachtung auszugeben, überstieg ihr Budget.

Sie hätte es sich denken können: So kurz vor den Feiertagen war Banff ein von Touristen begehrter Urlaubsort. Sie saß auf der Bighorn-Ranch fest.

Bei dem Gedanken verspürte sie einen Knoten im Magen....

Autor

Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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