Bei dir werd ich schwach

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Als Tess erfährt, dass ihre Schwester ein Kind erwartet und der Vater nicht dazu steht, fährt sie nach Sweet Hope. Tess will Rhune Sherman dazu bringen, dass er sich seiner Verantwortung stellt. Doch als sie den engagierten Arzt kennenlernt und sich heiß in ihn verliebt, verschweigt Tess, warum sie gekommen ist …


  • Erscheinungstag 14.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755553
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rhune Sherman blickte fassungslos auf das Chaos vor seinem Wohnwagen und beobachtete, wie sich ein Waschbär mit seinem Lieblingshawaiihemd davonmachte.

Kein viel versprechender Anfang seines neuen Lebens als Arzt in Sweet Hope, Georgia.

Er stellte sein Angelgerät ab und rieb sich den Nacken. Die heiße und feuchte Juniluft machte ihm zu schaffen. Was, verdammt noch mal, hatten die Tiere gegen ihn? Zuerst hatten die Eichhörnchen die Verkabelung seines neuen Zuhauses verwüstet. Dann hatten Spechte Löcher in die Seitenwände aus Aluminium gehämmert. Und jetzt … Er sah sich um. Überall zeugten verschleppte Teile von dem Amoklauf der Waschbärenfamilie. Fetzen seines zweitliebsten Hawaiihemdes hingen in den Ästen eines Baumes. Ein makabres Schlinggewächs. Gespensterhaft in der zunehmenden Dunkelheit.

Mit ungläubigem Kopfschütteln griff er sich die Angelrute und machte sich auf den Weg zur Straße. Besser, er rief jemanden zu Hilfe. Wildhüter vielleicht. Es war nicht anzunehmen, dass irgendjemand etwas gesehen oder gehört hatte. Der zerstörte Wohnwagen stand genau in der Mitte von sechzig unbewohnten Quadratkilometern Waldfläche im Nordwesten von Georgia.

Glücklicherweise waren die einzigen Besitztümer, die ihm wirklich etwas bedeuteten, nicht zerstört worden. Die Angel hielt er in der Hand. Sein Segelboot lag auf dem See. Und seine Harley stand in der Werkstatt.

Er sah die Lichter eines Wagens auf sich zukommen. Rhune erkannte den Klang des Trucks sofort. Es war Boone O’Malley. Das abrupte Abbremsen sagte ihm, dass Boone den Schutt um den Wohnwagen herum gesichtet hatte.

„Was ist denn hier passiert?“ Boone sprang aus seinem Truck. „Hast du mit deinem Chemiekasten gespielt, Doc?“

Rhune schüttelte den Kopf.

Boone verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Oder war es der erste Versuch, auf dem neuen Gasherd zu kochen?“

„Sehr witzig.“ Rhune kniff die Augen zusammen. „Waschbären“, fluchte er. „Kann ich dein Handy benutzen, um die Wildhüter anzurufen?“

„Natürlich. Sag ihnen, es handelt sich um Code Zwölf, dann schicken sie sofort jemanden.“

„Code Zwölf?“

„Ja.“ Boone kicherte. „Unser Code für: Es ist gerade etwas passiert, über das beim Bäcker gelacht und getratscht werden kann.“

„Als ob Sweet Hope noch mehr Gesprächsstoff braucht, was mich betrifft.“

Boone schlug Rhune auf den Rücken. „Das ist der Preis, den man bezahlen muss, wenn man in einer Kleinstadt akzeptiert werden möchte.“

Rhune kletterte in die Kabine des Trucks und nahm das Handy. „Wie ist die Nummer?“

„Wähl die neun-eins-eins. Plündernde Waschbären gelten hier als Notfall. Aber sag ihnen gleich, dass du nicht hier bist, wenn sie kommen.“

„Warum nicht?“

„Du hast einen Patienten in deiner Praxis. Scheint dringend zu sein.“

Ein Patient? Seine Praxis wurde offiziell erst in der nächsten Woche eröffnet. Nach dem Unabhängigkeitstag, dem Vierten Juli.

„Jemand, der auf der Durchreise ist“, erläuterte Boone. „Ist im ‚Hole-in-the-Wall‘ Café umgekippt.“

Rhune beendete das Telefongespräch. „Hat er Esthers Chili gegessen?“, wandte er sich an Boone.

„Nein.“ Boone grinste, schwang sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. „Sie hatte noch nicht einmal bestellt.“

„Sie?“

„Ja. Irgendeine Geschäftsfrau. Teure Aktentasche. Elegantes Kostüm. Großer BMW mit auswärtigem Nummernschild. Gut aussehend.“

„Der BMW?“

„Nein, Doc, die Frau. Pass bloß auf. Und schließ jetzt deine Tür.“ Boone wendete vorsichtig, dann fuhr er den staubigen Weg entlang.

„Entschuldige.“ Rhune deutete über die Schulter zu dem Wohnwagen. „Ich bin etwas durcheinander. Es passiert nicht jeden Tag, dass mein Zuhause von Tieren zerstört wird.“

„Dein Stellplatz ist aber auch nicht gerade geschickt gewählt. Wilde Tiere können die Pest sein. Warte nur, bis die Rotwildsaison beginnt.“ Boone bog in die Hauptstraße ein und fuhr in Richtung Stadt. „Du hast sechzigtausend Quadratmeter Land. Warum hast du mich nicht ein Haus für dich bauen lassen, wo das alte Patterson Gehöft stand?“

„Nein …“ Rhune schloss die Augen. Der große Wohnwagen war das größte Eingeständnis an Beständigkeit, das er zu machen bereit war. „Ich kann in das Apartment über meiner Praxis ziehen. Vorübergehend. Bis die Wildhüter und ich eine Art Lösung erarbeitet haben.“

„Hör zu, Doc, ich weiß, dass es mich nichts angeht – außer, dass du mein Schwager bist –, aber du hast dich auf eine Arztpraxis hier in Sweet Hope festgelegt. Dann könntest du dich auch auf einen Wohnsitz festlegen.“

Boone sprach aus, woran Rhune dachte. Er hatte sechzigtausend Quadratmeter Land gekauft. Er könnte dort ein Haus bauen. Doch der Nomade in ihm erschauerte. Unvermittelt fragte er: „Du hast nicht zufällig ein Hemd dabei, oder?“ Egal, ob seine Praxis offiziell eröffnet war oder nicht, es schien ihm nicht angebracht, vor der ersten Patientin in schmutziger Anglerkleidung zu erscheinen.

„Nein, tut mir leid.“

„Könnten wir schnell bei dir vorbeifahren und etwas holen?“

„Keine Zeit. Die Frau sah wirklich sehr mitgenommen aus.“ Boone warf Rhune einen abschätzenden Blick zu. „Ich würde mich an deiner Stelle ordentlich schrubben und einen Laborkittel anziehen. Patsy ist bei ihr. Es ist also zumindest ein professionell aussehender Repräsentant aus Sweet Hope im Untersuchungszimmer.“

„Patsy?“ Patsy Sinclair war Rhunes Sprechstundenhilfe.

„Sie war zufällig im ‚Hole-in-the-Wall‘, als die Frau ohnmächtig wurde. Da sie die Praxisschlüssel dabeihatte, sah sie keinen Grund, warum sie nicht aufschließen sollte.“

Rhune schüttelte den Kopf und lächelte resigniert. „Weißt du, eigentlich dachte ich, in einer Kleinstadtpraxis läuft alles ein wenig anders. Aber es scheint genauso zu sein wie in Washington – man wird selbst in seiner kargen Freizeit aufgestöbert, um sich um einen Notfall zu kümmern.“

„Hattest du eher an eine Art vornehmer Landarzt gedacht?“ Boone kicherte. „Wenn das so ist, dann denke ich, dass die Waschbären deiner Praxis einen Gefallen getan haben.“

„Oh, danke. Was meinst du damit?“

Boones Grinsen wurde noch breiter, als er in die Main Street einbog. „Kein erfolgreicher, respektabler Landarzt trägt wild gemusterte Hemden.“

Noch bevor Boone den Wagen vor der Praxis zum Stehen gebracht hatte, öffnete Rhune die Wagentür und sprang hinaus. Über die Schulter rief er: „Okay, okay, ich werde sehen, ob ich einen Laborkittel finde.“

Er eilte durch das Wartezimmer, in dem einige besorgt aussehende Bürger von Sweet Hope saßen. Wahrscheinlich das Notfallgefolge. „Patsy, wo sind Sie?“

„Untersuchungszimmer eins.“

„Ich bin sofort bei Ihnen. Muss mich nur waschen.“ Rhune verschwand rasch in dem nächsten Untersuchungszimmer, schrubbte sich hastig und zog einen sauberen Laborkittel an. Er warf einen Blick in den Spiegel und zog eine Grimasse, als er seine Bartstoppeln und die zerzausten Haare sah. Gegen die Bartstoppeln konnte er in der Eile nichts unternehmen, aber er glättete mit einer Hand ein wenig seine Haare, während er mit der anderen den Laborkittel über dem letzten ihm verbliebenen Hawaiihemd glatt strich. Dann nahm er das Stethoskop vom Schreibtisch und lenkte seine Schritte in Richtung Untersuchungszimmer eins.

Er stieß die Tür auf und blieb abrupt stehen, als er die Patientin auf der Liege sah. Die Augen hatte sie geschlossen, ihre Hand lag in Patsys Hand. Er hatte schon viele faszinierende Frauen gesehen, so war es nicht die Schönheit der Fremden, die ihn innehalten ließ. Es war das merkwürdige Gefühl, dass sie nicht hierher gehörte. Weder auf die Untersuchungsliege noch nach Sweet Hope. Diese wunderschöne, exotische Kreatur musste vom Himmel gefallen sein. Sie war nicht von dieser Welt.

Gekleidet in ein teures schwarzes Kostüm, lag sie ungewöhnlich ruhig da. Ihr Gesicht und ihre Hände, alabasterweiß, boten einen aufregenden Kontrast zu der dunklen Kleidung und den schwarzen Haaren. Langes, glattes, glänzendes Haar, das sich fächerartig auf der Liege ausbreitete. Ihre Augenbrauen und die Wimpern waren ebenfalls schwarz wie die Nacht. Rhune war vollkommen in den Bann ihrer kühlen, unwiderstehlichen Schönheit gezogen.

„Haben Sie schon den Blutdruck gemessen?“, fragte er seine Mitarbeiterin.

„Ich habe noch gar nichts unternommen“, flüsterte Patsy. „Ich wollte auf Sie warten.“

Rhune lächelte sie an. „In Ordnung.“ Als er nach dem Messgerät griff, sah er, dass die Patientin langsam die Augen aufschlug.

Er drehte sich zu ihr und blickte in ein Paar unglaubliche, fast violette Augen.

Tess McQueen starrte den Mann an, der vor ihr stand. Er konnte unmöglich der Mann sein, dessentwegen sie die vielen Meilen gefahren war, um Rache zu üben.

Ihre Schwester hatte Dr. Rhune Sherman als einen arroganten Playboy beschrieben. Als einen skrupellosen Kerl, der arglose Frauen aufs Kreuz legte. Glatt. Unglaublich charmant und absolut herzlos.

Dieser Mann … dieser Mann jedoch, der in diesem Moment die Manschette des Blutdruckmessgerätes um ihren Arm legte, war … war … offen gesagt nicht das, was Tess unter skrupellos verstand. Auch nicht glatt. Dieser Mann war eckig und kantig und … nun … irgendwie anders. Ein Surfer, der sich als Doktor verkleidet hatte. Unrasiert, gebräuntes Gesicht. Unter dem sauberen Laborkittel ein wild gemustertes Hemd. Und dunkle Augen, die überhaupt nicht herzlos wirkten. Sie konnte nur Sorge in den Augen des Mannes feststellen.

Die Begegnung ging ihr so durch und durch, dass Tess das erste Mal in ihrem Leben sprachlos war.

„Ich bin Rhune Sherman, Sweet Hopes neuer und einziger praktischer Arzt“, sagte der Mann lächelnd und nahm das Messgerät von ihrem Arm. „Und wie heißen Sie?“

„T-Tess“, stotterte sie. „Tess McQueen, aus Washington, D.C.“ Sie kam sich dumm vor. Hilflos, wie sie so dalag.

„Nun, Miss McQueen, Ihr Blutdruck ist erhöht.“ Er steckte ihr ein Thermometer in den Mund und untersuchte dann gründlich die Haut an ihren Händen und ihrem Gesicht. „Sie sind dehydriert. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas getrunken?“

Sie schob das Thermometer mit der Zunge in den Mundwinkel und murmelte: „Den Kaffee habe ich …“

„Nicht Kaffee. Wasser. Saft oder etwas in der Art.“

Tess verzog die Nase. „Ich trinke nur Kaffee.“ Es half gegen die Hektik. Sie versuchte, sich aufzusetzen.

Mit finsterem Gesicht drückte der Arzt sie zurück auf die Liege, bevor er ihr in die Augen leuchtete. „Wie viele Tassen pro Tag?“

Sie zog das störende Thermometer aus dem Mund. „Um zehn Uhr morgens höre ich auf zu zählen.“

„Was haben Sie heute gegessen, Miss McQueen?“

„Ich wollte gerade etwas in dem Café zu mir nehmen, aber da wurde mir plötzlich schwindelig.“

„Was haben Sie bis dahin gegessen?“

Der kühle Professionalismus, mit dem er seine Fragen stellte, ging ihr allmählich auf die Nerven. „Unterwegs habe ich mir eine Tüte Tortilla Chips gekauft.“

„Aha“, sagte er und half ihr, sich aufzusetzen. „Koffein und Salz. Die beiden Grundnahrungsmittel.“

„Ich bin eine sehr beschäftigte Frau, Dr. Sherman. Häufig habe ich keine Zeit, richtig zu essen. Aber ich bin jung und eigentlich kerngesund.“ Sie streckte trotzig ihr Kinn vor. „Es ist das erste Mal, dass mir so etwas passiert.“

Der Doktor lächelte unerwartet und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. Flüchtig sah Tess den Mann und nicht den Arzt. Erkannte den rauen männlichen Charme. Die Anziehungskraft. Die Fähigkeit zu verführen. Sie erbebte.

„Der Zusammenbruch sollte Ihnen eine Warnung sein“, sagte er. Sein Lächeln verschwand, und die professionelle Sachlichkeit kehrte zurück. „Sie müssen etwas dafür tun, dass es nicht wieder passiert.“ Er wandte sich an die Frau, die Tess Gesellschaft geleistet hatte. „Patsy, würden Sie Miss McQueen bitte ein großes Glas Wasser holen?“

„Was verschreiben Sie mir?“ Tess machte sich schon auf eine Reihe Medikamente gefasst, die sie einnehmen sollte.

Dr. Sherman drehte sich zu ihr um und sah sie durchdringend an. „Haben Sie einen sehr anstrengenden Job?“, fragte er.

„Einen herausfordernden“, korrigierte Tess. „Ich bin Rationalisierungsexpertin.“

Er sah sie an, als wäre ihr Beruf etwas völlig Exotisches. „Rationalisierungsexpertin“, wiederholte er. „Wie lange können Sie in Sweet Hope bleiben?“

Seine unerwartete Frage verwirrte sie. „Nun, eigentlich … habe ich diese Woche geschäftlich in Sweet Hope zu tun.“

Dr. Sherman zog die Augenbrauen hoch und entgegnete: „Eine Woche sollte genügen.“

„Für was genügen?“ Eine Woche war sicherlich ausreichend für ihr Vorhaben, aber was meinte er?

„Miss McQueen, ich habe vor, morgen als Erstes Kontakt mit Ihrem Hausarzt in Washington aufzunehmen. Ich bin sicher, er wird meiner Verordnung zustimmen.“

„Ich habe mich regelmäßig durchchecken lassen, und ich reagiere nicht allergisch auf irgendwelche Medikamente, falls Sie sich deshalb Sorgen machen.“ Tess nahm das Glas Wasser, das Patsy ihr reichte. Durstig leerte sie das Glas in einem Zug, dann gab sie es der Assistentin zurück.

„Ich werde Ihnen keine Medikamente verschreiben.“ Dr. Sherman kniff die Augen zusammen. „Sondern eine Woche in Sweet Hope. Gutes Essen, ausreichend Flüssigkeit, leichte körperliche Betätigung und Erholung. Es gibt keinen Grund, warum eine Frau in Ihrem Alter ihren Blutdruck nicht auf natürliche Weise senken sollte.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie ernst an.

Er konnte es nicht ernst meinen.

„Ich meine es ernst“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Sie zupfte die Manschetten ihres eleganten Blazers zurecht und bedachte ihn mit einem kühlen, abschätzenden Blick. „Dr. Sherman …“ Von wegen Doktor. Sie bezweifelte, dass dieser verwegen aussehende Mann wirklich Arzt war. „Meine Zeit ist wertvoll, und ich habe nicht die Absicht, eine Woche Urlaub in Sweet Hope zu machen. Ich bin geschäftlich hier.“ Ich bin hier, um mit Ihnen abzurechnen, fügte sie in Gedanken hinzu. „Können Sie mir nicht irgendwelche Pillen verschreiben?“

„Wollen Sie Tabletten, oder wollen Sie gesund werden?“

„Ich will die wirksamste Behandlung.“

Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie zuckte bei der Berührung zusammen. „Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe“, sagte er mit tiefer und überraschend beruhigender Stimme. „Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass Sie etwas zu essen bekommen. Patsy, würden Sie Miss McQueen bitte auf der anderen Seite stützen? Ich denke, mit unserer Hilfe wird sie es bis zu Mel und Ida schaffen.“

„Ich bin sicher, dass ich es auch allein schaffe.“ Tess stellte die Füße auf den Boden, und sofort gaben ihre Knie nach. Verärgert stellte sie fest, dass sie tatsächlich Hilfe benötigte.

Dr. Sherman fing sie auf. „Sie sind zu schwach. Zu lange unterwegs gewesen. Zu wenig gegessen und getrunken. Wir bringen Sie in die Pension von Mel und Ida. Die beiden Damen werden Sie verwöhnen. Genau das, was ich Ihnen als Arzt verordne. Und wenn Sie in einigen Tagen nicht völlig fit sind, dann machen wir ein paar Tests.“

Es war einfach lächerlich. Kein Arzt, der ganz richtig im Kopf war, verschrieb eine Woche Nichtstun in einer Pension in einem Ort, der so klein war, dass er nicht einmal auf der Landkarte vermerkt war. So etwas geschah vielleicht in komischen Filmen, aber nicht im wirklichen Leben.

Andererseits war Tess im Moment überhaupt nicht zum Lachen zu Mute.

„Dr. Sherman, bitte“, protestierte sie. „Ich glaube nicht, dass das die richtige Verordnung für mich ist.“

Als Patsy die Tür öffnete, verstärkte Dr. Sherman seinen Griff. „Ist es Ihnen lieber, wenn ich die Ambulanz rufe und Sie ins Krankenhaus bringen lasse?“

„Nein!“ Tess schüttelte den Kopf. Der Mann war eine einzige Provokation. „Gibt es keine vernünftige Lösung dazwischen?“

„Was ist vernünftiger, als Ihnen ein ordentliches Essen zu verschaffen, Sie ins Bett zu bringen und morgen wieder nach Ihnen zu sehen?“

„Okay“, stimmte sie schließlich zu. „Aber dann sprechen wir noch einmal darüber.“

„Natürlich“, erwiderte er ungeduldig. Er half ihr aus dem Untersuchungszimmer und hinunter in das Wartezimmer, wo sie von den Menschen erwartet wurden, die im ‚Hole-in-the-Wall‘ gewesen waren und geholfen hatten, Tess in die Praxis zu bringen. Als sie Dr. Sherman und Tess erblickten, applaudierten sie. Erstaunt und fragend sah Tess den Arzt an. Hatten diese Leute extra gewartet, um zu erfahren, wie es ihr ging? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Einwohner von Washington so um einen Fremden kümmern würden.

Dr. Sherman grinste und sagte laut: „Gewöhnen Sie sich daran. Sweet Hope ist ein Dorf. Jeder kümmert sich um jeden.“

„Brauchen Sie Hilfe, Doc?“, rief jemand.

„Lassen Sie uns nur durch. Wir bringen Miss McQueen zu Mel und Ida.“

„Ich laufe schon vor und sorge dafür, dass ein Zimmer fertig gemacht wird“, bot ein anderer an.

„Wirklich, Dr. Sherman …“ Das Theater um ihre Person war Tess unangenehm. „Das ist nicht nötig.“

Er hielt sie fest und vermittelte ihr dabei das Gefühl von grenzenloser Stärke und Geduld. Und noch etwas anderes … Wärme und Energie.

Reiß dich zusammen, Tess, schalt sie sich. Sobald du wieder in Topform bist – und wenn dieser Mann wirklich Dr. Rhune Sherman ist –, hast du eine Aufgabe zu erledigen. Für deine Schwester.

„Würden Sie mich bitte entscheiden lassen, was notwendig ist, Miss McQueen?“ Rhune hielt sie fest an seiner Seite. Sie war bei weitem nicht die Eisprinzessin, die er zuerst in ihr gesehen hatte. Nein, diese Frau war voller Temperament und sprühte vor Leben. Das Problem war, dass sie ihre Energie darauf verwendete, seinen Empfehlungen zu widersprechen.

Mit ihren großen, blauviolett schimmernden Augen bestaunte sie die Aktivitäten im Wartezimmer. „Das ist wirklich zu viel“, flüsterte sie wie zu sich selbst.

Rhune lachte. Genau das hatte er auch gedacht, als er das erste Mal nach Sweet Hope kam. „Man gewöhnt sich daran. Aber zuerst kann es erdrückend sein.“ Als er spürte, dass sie sich ein wenig an ihn lehnte, verstärkte er seinen Griff. „Kommen Sie. Wir wollen sehen, dass wir Sie endlich in die Pension bekommen.“

Er führte die vor Erschöpfung bebende Tess McQueen über die Straße und die Stufen des großen viktorianischen Hauses hinauf. Mel und Ida Drake, zwei unverheiratete Schwestern, hatten ihr Elternhaus zu einer Pension umgewandelt, die selbst die anspruchsvollsten Städter immer wieder für ein Wochenende zum Entspannen und Abschalten anlockte. Rhune war sich sicher, dass das Haus genau der richtige Ort zur Erholung wäre, wenn die gestresste Miss McQueen nur ein wenig lockerer würde. Er sah sich in dem reich verzierten Foyer um und dachte, dass dies auch der perfekte Platz für eine … nun … romantische Affäre sein könnte – wenn er nicht Affären abgeschworen hätte.

Er hatte keine Zeit, weiter darüber zu spekulieren, da Ida Drake, die gewichtigere der beiden Schwestern, wie eine Dampflokomotive auf ihn zugestürmt kam. „Dr. Sherman! Wir haben gerade gehört, dass Sie uns brauchen!“

Tess McQueen löste sich aus seinem Griff und blieb, würdevoll und offensichtlich angestrengt, aus eigener Kraft stehen und streckte die Hand aus. „Ich bin Tess McQueen“, sagte sie, „und ich brauche vorübergehend ein Zimmer.“

Ida schüttelte ihr die Hand und erwiderte: „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Miss McQueen. Sie sind zusammengebrochen?“

Rhune wollte für sie antworten, doch Tess schnitt ihm das Wort ab. „Ich habe mich ein wenig überanstrengt. Zu viel Arbeit, zu wenig Erholung. Ein gutes Essen …“

„Ich bringe Ihnen etwas aufs Zimmer.“ Ida legte ihren Arm um Tess und führte sie langsam zur Treppe. „Meine Liebe, hören Sie auf Dr. Sherman, und Sie werden in ein paar Tagen wieder fit sein. Als er das erste Mal nach Sweet Hope kam, hat er mir ein ganz wundervolles Naturheilmittel für meine trockene Haut …“

„Einen Augenblick!“ Tess drehte sich zu Rhune um. „Ich habe meine Reisetasche nicht hier, und mein Wagen steht vor dem Café.“

Rhune streckte die Hand aus. „Geben Sie mir den Schlüssel. Während Ida und Mel sich um Sie kümmern, hole ich Ihre Sachen.“

„Aber das ist nicht nötig“, protestierte Tess.

Rhune grinste und hielt die Hand weiterhin ausgestreckt. „Rationalisierungsexperten scheinen die Worte nötig und unnötig häufig zu benutzen.“ Er schnippte mit den Fingern. „Geben Sie mir den Schlüssel, Miss McQueen. Ob notwendig oder nicht, Sie werden feststellen, dass Sweet Hope den vollen Service bietet.“

Tess McQueen stieß einen frustrierten Seufzer aus, reichte Rhune aber schließlich das Bund.

Draußen vor dem Haus wartete Patsy auf Rhune. „Wie geht es ihr, Doc?“

Er lächelte. „Ganz gut. In einer Woche ist sie wieder voll auf den Beinen.“

„Sie hat gesagt, sie habe hier beruflich zu tun. Als Rationalisierungsexpertin.“ Patsy sah ihn an. „Ich frage mich, wer in Sweet Hope eine Rationalisierungsexpertin braucht.“

„Das wüsste ich auch gern.“ Rhune schüttelte den Kopf. Sweet Hope war so charmant unrationell. Langsam. Angenehm. Liebenswert schrullig. Er hoffte von Herzen, dass niemand daran etwas zu verändern versuchte.

Er verabschiedete sich von Patsy und ging durch den Stadtpark zum ‚Hole-in-the-Wall‘ Café, wo Tess McQueens Wagen stand. Das teure europäische Modell war nicht zu übersehen. Es unterschied sich beträchtlich von den praktischen Autos, die in Sweet Hope gefahren wurden. Rhune schloss auf und setzte sich hinter das Lenkrad. Der Geruch von Leder umgab ihn. Er ließ den Blick über Telefon, Faxgerät, elektronisches Notizbuch und einen Laptop gleiten. Aus der offenen Aktentasche quollen Papiere heraus. Miss McQueen war offensichtlich eine viel beschäftigte Frau.

Doch mehr noch als die luxuriöse Ausstattung erregte ein verführerischer Duft seine Aufmerksamkeit. Tess McQueens Parfum. Ein schwacher, aber absolut sinnlicher Duft. Bisher hatte er in der Dame mehr die Geschäftsfrau gesehen. Ausgesprochen gut aussehend, ja. Cool. Fähig. Lebhaft auf fast herrische Art. Ja. Aber hinter diesem verführerischen Parfum verbarg sich eine andere Seite der eleganten Miss McQueen. Eine Seite, die gefährlich war.

Und diese Seite interessierte ihn besonders.

„Bleib auf dem Boden, Doc“, murmelte er und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Als der starke Motor ansprang, tadelte Rhune Sherman sich selbst dafür, dass er seine Gedanken in eine bestimmte Richtung wandern ließ.

Er war nach Sweet Hope gezogen, um sein Leben grundlegend zu ändern. Er wollte als Arzt in einer Umgebung arbeiten, in der er positive Erfahrungen machen konnte. Und er wollte sein Privatleben ändern. Der wilde Typ, der er in Washington, D.C., geworden war, war ihm selbst fremd. Der Stress in seinem Beruf war keine Entschuldigung dafür. Er musste seinen Ruhepol finden. Das Angeln in seinem See sollte im Moment die aufregendste Sache in seinem Leben sein.

Er wollte sich nicht in den Bann einer schönen Fremden mit blauvioletten Augen und einem exotischen Parfum ziehen lassen. Mit dieser Warnung im Kopf legte er die kurze Entfernung zwischen dem Café und der Pension zurück.

Wenn ihm das alles so klar war, warum beschleunigte sich dann sein Pulsschlag, als er vor dem viktorianischen Haus parkte und die Treppen hinaufstieg, um nach seiner Patientin zu sehen?

Mel Drake stand auf der obersten Treppenstufe. Anscheinend wartete sie schon auf ihn. Wortlos bat sie ihn hinein und führte ihn durch das weitläufige Haus, bis sie schließlich vor einer verschlossenen Tür standen. Sie klopfte.

„Herein“, hörten sie Idas Stimme von innen.

Rhune öffnete die Tür und betrat das geräumige Zimmer, das von antiken Lampen sanft erleuchtet wurde. Ida entfernte gerade ein Tablett von dem mit einem Baldachin überdachten Bett, in dem Tess McQueen, im Rücken von schneeweißen Kissen gestützt, saß. Königlich. Ruhig. Und außergewöhnlich schön. Ihre pechschwarzen Haare ergossen sich über ihre Schultern. Ihre schmalen, feingliedrigen Hände lagen gefaltet auf der Decke. Gebieterisch sah sie ihn aus ihren blauvioletten Augen an. Er hielt den Atem an.

Eigentlich war er gekommen, um nach einer Patientin zu sehen. Warum hatte er dann das Gefühl, als handle es sich um eine Audienz bei Ihrer Hoheit?

Ida Drake eilte geschäftig an seine Seite. „Haben Sie das Gepäck mitgebracht?“

„Es ist noch im Wagen“, antwortete Rhune. „Ich hole es gleich.“

„Lassen Sie nur, ich kümmere mich darum“, erklärte Ida.

„Nicht nötig“, riefen Rhune und Tess gleichzeitig aus. Offensichtlich wollte Miss McQueen genauso wenig mit ihm allein sein wie er mit ihr.

„Keine Widerrede. In der Zwischenzeit können Sie, Dr. Sherman, Ihre Patientin in Ruhe untersuchen.“ Ida nickte Tess zu. „Klingeln Sie einfach, Liebes, wenn Sie irgendetwas brauchen. Egal was.“ Sie verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.

Rhune holte tief Luft. Hatte er eine Vorlesung verpasst mit dem Thema: „Wie verhalte ich mich bei einer verführerischen und königlich anmutenden Patientin während eines Hausbesuchs?“

Er trat ans Bett und nahm Tess’ Handgelenk, um den Puls zu prüfen. Ihm fiel auf, dass ihr Teint nach dem Essen eine gesündere Farbe angenommen hatte. Irgendwie erinnerte er ihn an Rosen und Alabaster. Edle Rosen und kalter Alabaster.

Autor

Amy Frazier
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