Bianca Arztroman Band 54

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Niemals mehr die Liebe erleben? von Taylor, Jennifer
Als der Feuerwehrmann Ross Tanner mit einer Rauchvergiftung in die Notaufnahme eingeliefert wird, funkt es sofort zwischen ihm und der diensthabenden Ärztin Heather Cooper. Doch sie lässt ihn abblitzen. Nachdem ihr Verlobter bei einem Brand ums Leben gekommen ist, hatte sie geschworen, sich nie wieder zu verlieben ...

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  • Erscheinungstag 01.06.2011
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783864944291
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Jennifer Taylor

Niemals mehr die Liebe erleben?

1. KAPITEL

Der Notruf ging kurz vor Schichtende in der Feuerwehrzentrale ein. Bis dahin war es ungewöhnlich ruhig gewesen, obwohl normalerweise am Samstag die Sirenen pausenlos heulten. Gerade mal ein Alarm am Nachmittag, weil Jugendliche auf dem Parkplatz des Supermarktes einen zurückgelassenen, mit Müll gefüllten Container angezündet hatten.

Innerhalb von einer Stunde brachte die Mannschaft der Feuerwache von Hexton die Flammen unter Kontrolle und veranlasste die Entsorgung der verkohlten Überreste. Die Männer fuhren bereits zurück zur Wache, als sie der zweite Notruf erreichte. Allen wurde schlagartig klar, dass es sich bei diesem Alarm nicht um eine Lappalie handelte. Wenige Minuten später trafen sie am Einsatzort ein.

Das Feuer war im Keller eines heruntergekommenen, im viktorianischen Stil gebauten Haus ausgebrochen und hatte sich schnell über alle vier Stockwerke ausgebreitet. Der Löschmannschaft bot sich ein Bild des Schreckens. Rotgelbe Flammen schossen meterhoch in den Himmel, eine dicke Rauchwolke legte sich wie ein dunkler Mantel über die Umgebung.

Jede Sekunde zählte, und außer der Mannschaft von Hexton waren Feuerwehren von benachbarten Stadtteilen alarmiert worden. Routiniert stülpte Ross Tanner einen Helm mit Atemschutzmaske über den Kopf, während ein Kollege die Sauerstoffflasche prüfte. Ross nickte und hob beide Daumen – okay, er war einsatzbereit. Ungeduldig wartete er, dass die Ausrüstung seines Partners Terry Green gecheckt wurde. Sie durften keine Zeit verlieren, denn es bestand die Gefahr, dass das Feuer auf angrenzende Gebäude übergriff. Doch Ross Tanner beunruhigte noch etwas anderes. Angeblich war ein dreijähriges Kind in dem brennenden Haus eingeschlossen.

„Ich will nicht, dass einer von euch da drinnen irgendetwas riskiert. Die oberen Stockwerke können jeden Moment einstürzen, und wenn ihr dafür auch nur das kleinste Anzeichen entdeckt, müsst ihr euch so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“

Mike Rafferty, der verantwortliche Einsatzleiter, gab in letzter Minute noch einige Anweisungen. Ross hörte aufmerksam zu. Als Chef der Wache von Hexton kannte er seine Truppe und wusste, dass keiner der Männer fahrlässig sein Leben riskieren würde – mit einer Ausnahme: Sobald ein Kind in Gefahr war, dachte jeder an sich selbst zuletzt. Kein Feuerwehrmann würde sich zurückziehen, wenn es auch nur die geringste Chance gäbe, den kleinen Jungen, der noch in dem brennenden Haus sein sollte, zu retten.

Sekunden später stand Ross direkt vor dem lodernden Inferno. Links und rechts von ihm schoss Wasser aus dicken Schläuchen auf die Flammen. Seine Ausrüstung war zwar schwer und sperrig, und er hatte wenig Bewegungsfreiheit, aber die immer gleichen, stundenlangen Übungen in der Wache zahlten sich wieder einmal aus. Ross spürte weder die Sauerstoffflasche auf dem Rücken noch die enge Schutzmaske auf dem Gesicht. Je näher er kam, desto unerträglicher wurden die Hitze und der dichte Rauch. Vorsichtig arbeitete er sich vom Eingang zur hinteren Treppe vor.

Ross ahnte, was ihn erwartete, und wusste, was er zu tun hatte. Er war seit zehn Jahren bei der Feuerwehr und hatte schon unzählige Brandherde erfolgreich bekämpft. Doch hier ging es um mehr als reine Schadenbegrenzung. Er musste in dem Flammenmeer ein Kind finden und es in Sicherheit bringen … lebend.

„Bin ich froh, wenn diese Schicht vorbei ist. Sollte noch einer eingeliefert werden, der mit seinem Hobby Selbstzerstörung im fortgeschrittenen Stadium betreibt, schreie ich!“

Heather Cooper sah ihre lachende Kollegin Melanie Winters stirnrunzelnd an. „Was ist daran komisch? Sag bloß, du bist es nicht leid, Holzsplitter aus Augen zu waschen und Schnittwunden zu nähen?“

„Doch, doch.“ Melanie klang belustigt. „Ich bin nur überrascht, dass die ach so kühle Frau Dr. Cooper ihre Beherrschung verliert. Du bist sonst doch die Kontrolle in Person!“

„Hmm! Der Schein kann trügen.“

Heather zwang sich zu einem Lächeln, um den Schmerz zu verbergen, der sich allzu sichtbar in ihren sanften graublauen Augen spiegelte. Sie drehte sich zu einer Tafel, auf der stand, in welcher Kabine noch Patienten auf die Behandlung warteten.

Niemand in ihrem Team hatte eine Vorstellung, wie schwer ihr das Leben in den letzten drei Jahren gefallen war. Sie hatte sich keinem anvertraut, nicht einmal eine vage Andeutung gemacht. Als sie den Job der Oberärztin in der Not- und Unfallambulanz des St. Gertrude’s Hospital im Südosten Londons annahm, hatte sie sich geschworen, nie ein Wort über die Vergangenheit zu verlieren.

Heather wischte mit einem kleinen Schwamm den Namen des letzten Patienten von der Tafel. Sie spürte einen unbeschreiblichen, langsam wachsenden Druck. Die Erinnerung an jene düsteren Tage stellte sich ein wie lähmendes Gift. Damals, gleich nach Stewarts Tod, hatte sie das Gefühl gehabt, als sei sie mit ihm gestorben. Sie hatte nicht einen Funken Lebensmut mehr besessen, keine Energie, quälte sich jeden Morgen aus dem Bett. Nicht einmal die Tatsache, dass sie schwanger war, konnte sie aus der Lethargie reißen. Im Gegenteil, die Schwangerschaft machte alles noch unerträglicher und wirkte wie eine Fessel, denn sie hatte Stewart nicht mehr sagen können, dass sie ein Kind von ihm erwarte.

Erst die Geburt ihrer Tochter befreite sie aus der Depression. Grace war ihr Sonnenschein, und Heather tat alles, damit die Kleine glücklich und geborgen aufwuchs. Nie wieder wollte sie sich verlieben und damit riskieren, verwundbar zu sein.

„Du könntest eigentlich Pause machen. Es ist nicht mehr viel los“, schlug Heather vor. Um ihre wahren Gefühle zu überspielen, wandte sie sich betont munter an die junge Krankenschwester: „Geh nur in die Kantine! Ich esse später.“

„Meinst du wirklich …?“

Heather nickte zustimmend.

„Bin schon weg“, rief Melanie in Eile. „Ich habe nämlich gerade eben zufällig den charmanten Dr. Carlisle Richtung Aufzug schlendern sehen. Die Gelegenheit will ich nicht versäumen. Es wird Zeit, dass ich ihn unter vier Augen darüber aufkläre, was er bisher in seinem Leben verpasst hat, dazu zählt im Allgemeinen und Besonderen meine Wenigkeit!“ Mit einem koketten Winken wirbelte sie aus dem Zimmer.

Heather seufzte und genoss für einen Augenblick die Stille. Melanie war dreiundzwanzig, nur zehn Jahre jünger als sie. Aber gelegentlich fühlte sie sich, als sei sie die Mutter der jungen Krankenschwester. Hatte es irgendwann eine Zeit gegeben, in der sie so sorglos gewesen war wie Melanie? Wenn ja, würde sie es überhaupt jemals wieder sein können?

Mit der rechten Hand rieb sich Heather den verspannten Nacken. Seit Grace’ Geburt übte sie sich ständig in Selbstdisziplin, zügelte ihre Emotionen und erstickte aufkommende Gefühle im Keim. Kinder spürten intuitiv, wenn Eltern Probleme hatten, und Heather wollte ihre Tochter unter keinen Umständen belasten oder aufregen. Eher verleugnete sie sich selbst.

Sie schob den Vorhang einer Behandlungskabine beiseite und begrüßte die junge Frau, die auf einem Bett hockte. „Hallo, Sie sind Tanya Harvey?“

„Richtig.“ Die Patientin warf selbstbewusst ihr blond gesträhntes Haar in den Nacken und musterte Heather erbost. „Es ist unfassbar. Die Zeitungen haben geschrieben, dass sich die Gesundheitsversorgung verbessert habe. Aber wissen Sie, wie lange ich hier schon warte? Über zwei Stunden. Das nennt man wohl eine Verschlimmbesserung!“

„Leider sind wir auf dieser Station im Dauereinsatz“, entgegnete Heather und studierte das Aufnahmeprotokoll von Tanya Harvey. „Sie haben Halsschmerzen? Dann hätten Sie doch genauso gut zu Ihrem Hausarzt gehen können, meinen Sie nicht?“

„Die Praxis ist am Samstagnachmittag geschlossen, darum sitze ich hier. Ich hoffe, Sie weigern sich nicht, mich zu behandeln. Sie sind nämlich auf Grund Ihres ärztliches Eids verpflichtet …“

„Wie der Name sagt, werden in der Notfallambulanz Notfälle behandelt“, unterbrach Heather forsch Tanyas Besserwisserei. „Diese Station ist nicht die Alternative zur Praxis Ihres Hausarztes. Außerdem gibt es den Notärztlichen Dienst, wenn Sie außerhalb der üblichen Sprechstunden Hilfe brauchen.“

Sie zog eine schmale Stablampe aus der Brusttasche ihres Arztkittels. „Jetzt öffnen Sie bitte den Mund, aber nicht um zu reden, sondern damit ich mir die Sache anschauen kann!“

Routiniert leuchtete Heather den Rachen der Patientin aus und sah ihre Vermutung bestätigt. Die Zunge war ein wenig gerötet und geschwollen, doch es gab keine Symptome einer ernsten Erkrankung. Eine kleine Infektion, die mit Antibiotika kuriert werden konnte. Heather wusch sich die Hände, füllte ein Rezept aus und reichte es Tanya Harvey.

„Wenn Sie die Tabletten einnehmen, wird es Ihnen bald besser gehen“, erklärte die Oberärztin kühl. „Drei Mal täglich eine, mit Wasser, so lange, bis die Packung leer ist.“

„Und wo soll ich mir das Medikament besorgen?“ fragte Tanya trotzig. „Mittlerweile haben die Apotheken geschlossen. Können Sie mir die Dinger nicht mitgeben?“

„Es tut mir Leid, aber wir verteilen hier keine Antibiotika. Die Krankenhausapotheke im Foyer ist noch geöffnet. Da bekommen Sie die Tabletten.“

Heather merkte, dass die junge Frau noch etwas loswerden wollte – einen patzigen Widerspruch, zweifellos. Doch bevor es dazu kam, riss Rob Bryce, der Arzt im Praktikum, hektisch den Vorhang auf.

„Entschuldige die Störung, Heather, wir kriegen einen Notfall, Ankunft des Rettungswagens in fünf Minuten!“

„Kein Problem. Ich bin sowieso fertig.“ Wortlos, mit einem knappen Nicken, verabschiedete sich Heather von Tanya, wandte sich an Rob und folgte ihm auf den Krankenhausflur. „Was wissen wir bereits?“

„Ein dreijähriges Kind ist aus einem brennenden Haus gerettet worden.“ Rob überflog die Telefonnotiz in seiner Hand. Ihm entging, dass Heather tief Luft holte. „Laut Auskunft des Unfallarztes hat das Kind Brandverletzungen ersten Grades und starke Rauchvergiftungen, ebenso der Feuerwehrmann, der es geborgen hat. Er wird auch eingeliefert.“

„Verstehe.“ Heather ließ sich nichts anmerken, obwohl die wenigen Informationen, die Rob Bryce ihr gegeben hatte, in ihrem Kopf wie ein Echo hallten. Sie strich sich über das goldbraune Haar und steckte ein paar herunterhängende Strähnchen zurück in den Chignon, der, wie sie es nannte, ihre liebste Dienstfrisur war. Ihre Hand zitterte. Auch Stewart war in einem Meer von Flammen …

Abrupt zerriss sie das Band der Erinnerung.

„Informiere sofort die Station für Verbrennungen! Könnte sein, dass wir von dort Unterstützung brauchen. Und lass bitte Ben und Melanie in der Kantine ausrufen, sie müssen sofort hier auf die Station! Wir sind schon jetzt am Rande unserer Kapazität und benötigen für die zwei Patienten jeden, der im Haus ist.“

Um ihren aufreibenden Beruf als Ärztin durchzustehen, hatte Heather im Laufe der Jahre gelernt, sich mit einem kleinen psychologischen Trick selbst zu überlisten. Inständig hoffte sie, es würde ihr in wenigen Minuten wieder gelingen: Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die medizinischen Maßnahmen und versuchte, die emotionalen Aspekte ihrer Arbeit zu ignorieren. „Schwester Abby muss vorsichtshalber sämtliche Apparate überprüfen und sicherstellen, dass wir ausreichend Verbandsmaterial und Infusionen haben“, wies sie Rob an. „Bei der letzten Inventur waren die Bestände arg geschrumpft. Außerdem soll Abby den Krankenwagen anrufen und nachfragen, ob wir mit noch mehr Verletzten rechnen müssen … Ach nein, das tue ich selbst!“

„Wird gemacht.“ Rob eilte davon und wiederholte halblaut, was Doktor Cooper ihm eben gesagt hatte. Es war sein dritter Arbeitstag im Krankenhaus, und Heather konnte sich gut vorstellen, was das für ihn bedeutete. Ein Sprung ins kalte Wasser.

Normalerweise wurde man in der Not- und Unfallambulanz erst dann als Arzt im Praktikum zugelassen, wenn man bereits Erfahrung auf anderen Stationen gesammelt hatte. Aber in Ermangelung geeigneter Kandidaten war Rob nach dem Staatsexamen frisch von der Uni eingestellt worden. Zwar machte er seine Sache gut, aber Heather wollte ihn im Auge behalten. Die Behandlung von Brandverletzten hinterließ oft bleibende Narben. Nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den Ärzten.

Heather wollte nicht schon im Vorfeld über die Situation nachdenken, mit der sie in wenigen Minuten konfrontiert sein würde. Sie telefonierte mit den Sanitätern im Krankenwagen und registrierte erleichtert, dass es sich tatsächlich nur um zwei Personen handelte. Ein Kind und einen Feuerwehrmann.

In dem Moment, in dem Heather den Telefonhörer auflegte, hörte sie schon die Sirene direkt vor der Ambulanz. Sie atmete tief durch und zwang sich, ihre Ängste zu verdrängen. Da draußen wurden Menschen eingeliefert, die ihr, der Ärztin, ihr Leben anvertrauten. Sie durfte sie nicht enttäuschen.

„Ich lasse Sie jetzt direkt zum Reanimationsraum bringen, dort wird Ihr Kreislauf stabilisiert.“

Ross hörte eine weibliche Stimme und nestelte an der Atemmaske. Durch den Rauch, der trotz des Schutzes seine Schleimhäute angegriffen hatte, war seine Zunge rissig und geschwollen. „Kümmern Sie sich nicht um mich! Versorgen Sie das Kind.“

„Überlassen Sie uns die Reihenfolge, in der wir die Patienten behandeln! Jetzt sind Sie dran, und Sie benötigen Sauerstoff …“

Eine kühle Hand streifte sanft seine Stirn und rückte die Maske zurecht. Ross war perplex. Seine Blicke wanderten suchend umher, aber die Frau, deren Stimme er gehört, deren Hand ihn berührt hatte, verschwand durch eine Schwingtür. Ross sah nur noch flüchtig den Rücken eines schlanken, in einen frisch gestärkten weißen Mantel gehüllten Körpers. Es war ein kleiner Augenblick, kurz nur, aber doch lang genug, um ihn zu faszinieren. Wer war die Frau?

Er hätte die Frage gern laut gestellt, aber die klare Anweisung der Unbekannten wurde sofort von zwei Sanitätern befolgt. Noch bevor Ross wusste, wie ihm geschah, rollten sie ihn auf der Krankenliege durch dieselbe Tür, durch die auch die Frau verschwunden war.

Wie durch einen durchsichtigen Schleier nahm Ross den Reanimationsraum der Notfallambulanz wahr. Er spürte eine sonderbare Erregung, als er schemenhaft eine weiß gekleidete, vertraute Gestalt erkannte, die sich über ein Bett beugte. Wieder sah er nur ihren Rücken und wünschte sehnlich, sie würde sich jetzt, während die Sanitäter ihn von der Liege hoben, umdrehen und sich ihm zuwenden. Was ihn überhaupt so an ihr faszinierte, konnte er nicht sagen. Nur eines wusste er ganz sicher. Er wollte unbedingt herausfinden, wer sie war.

Seine Gedanken wurden abgelenkt, als eine Krankenschwester neben seinem Bett erschien. Sie pflasterte kleine runde Haftpolster mit Elektroden an seine nackte Brust, schloss dünne Drähte zusammen und klemmte eine Plastikklammer mit einem Kabel an den Zeigefinger seiner linken Hand. Geschickt stöpselte die Schwester die Kabelenden in ein EKG, schaltete die Monitore ein und zwinkerte Ross aufmunternd zu.

„Dr. Carlisle kommt gleich, um nach Ihnen zu sehen. Machen Sie sich keine Sorgen! Sie sind in guter Verfassung.“

Ross hätte gern ein Dankeschön gemurmelt. Doch die Atemmaske klebte auf seinem Mund und seiner Nase, und er fühlte sich bedrohlich eingeengt. Es war allerdings nicht ratsam, das verdammte Ding abzunehmen. Garantiert würde er sich einen zweiten Rüffel einhandeln …

Plötzlich wurde sein Puls schneller. Die feine grüne Linie auf dem Bildschirm schlug aus. Die Frau, die sich scheinbar eine halbe Ewigkeit über das Bett auf der gegenüberliegenden Zimmerseite gebeugt hatte, drehte sich zu ihm. Zum ersten Mal sah Ross ihr Gesicht. Er blinzelte. Ein Mal, zwei Mal. Seine Augen waren gereizt … Ross vermutete, dass es an dem Rauch lag, denn eine andere Erklärung hatte er nicht für das, was er gerade sah. Ein Gesicht, engelsgleich und nicht von dieser Welt. Überirdisch schön.

Er sog ihren Anblick in sich auf: die sinnlich geschwungenen Lippen, die wundervollen graublauen Augen mit dichten schwarzen Wimpern, die hübsche Nase, die hohe, glatte Stirn und die feinen Wangenknochen, die ein Bildhauer nicht formvollendeter hätte modellieren können.

Ihr goldbraunes Haar war zu einem Knoten gebunden, ein wenig streng vielleicht, doch Ross fand, dass dadurch ihre Schönheit noch stärker betont wurde. Er fühlte, wie ihn ein prickelndes Gefühl überkam, und in seiner Fantasie löste er den Chignon und die kleinen Spangen. Weich und verspielt fiel das Haar auf ihre Schultern …

Die Unbekannte drehte sich zu einer Krankenschwester um, die mit einem Infusionsbeutel ins Zimmer kam. So gut es ging, holte Ross tief Luft. Sein Rachen war rau wie ein Reibeisen, seine Lunge schien zu brennen, und in seinem Kopf schwirrten lauter Fragen. Was ging hier eigentlich vor? Warum ließ ihn die Frau nicht zur Ruhe kommen? Warum war alles so unwirklich?

Er konzentrierte sich darauf, Sauerstoff in seinen geplagten Körper zu pumpen. Die Wirkung, die diese Frau auf ihn hatte, machte ihn nervös. Ihr Gesicht hatte sich geradezu eingebrannt in sein Bewusstsein. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er nur eines … den wunderschönen Engel, seinen Engel.

„Nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte“, sagte Heather. „Aber ich möchte trotzdem, dass der Oberarzt der Station für Verbrennungen die Haut oberhalb seines linken Fußgelenks untersucht. Ansonsten ist alles in Ordnung, der Patient hat wirklich Glück gehabt.“

Heather war zufrieden mit sich und froh, dass es ihr gelang, die Situation nüchtern zu beschreiben. In Wahrheit versteckte sich hinter ihrer Professionalität die schiere Panik, die nur bedingt mit den hohen Anforderungen dieses besonderen Falls zusammenhing. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in den Augen des Feuerwehrmannes. Warum wurde sie durch die Art, wie er sie ansah, so verwirrt?

In der Hoffnung, keiner im Team würde ihre Unsicherheit bemerken, lächelte Heather den kleinen Jungen an. Ben Carlisle kümmerte sich mittlerweile um den anderen Verletzten. Sie war erleichtert, ihn im Moment nicht behandeln zu müssen, und versuchte zu ignorieren, dass er mit ihr im selben Raum war.

„Du bist wirklich sehr tapfer, Damien. Die Schwester gibt dir noch eine Spezialmedizin, damit dein Bein nicht mehr so wehtut, und dann kommt ein anderer Doktor.“

„Will meine Mummy“, jammerte der Junge. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Das weiß ich, kleiner Mann.“ Heather tätschelte Damiens Hand und blickte zu Melanie. „Wartet die Mutter draußen? Vielleicht ist es besser, wenn sie hier bei ihm ist. Wir sollten ihn nicht unnötig aufregen.“

„Seine Mutter war bei seiner Einlieferung nicht da“, flüsterte Melanie, damit der Junge sie nicht hörte. „Soviel ich mitbekommen habe, war sie nicht zu Hause, er war allein in der Wohnung. Ein Nachbar hat die Feuerwehr alarmiert und gesagt, dass nur der Kleine in dem brennenden Haus sei.“

„Aber er ist doch noch ein Baby!“ Heather war außer sich. „Wie kann eine Mutter ihr Kind unbeaufsichtigt lassen?“

„Keine Ahnung, aber es passiert wahrscheinlich öfter, als wir denken“, seufzte Melanie und deutete mit dem Kopf auf den Feuerwehrmann. „Der hatte einen Schutzengel. Er hätte sterben können. Sekunden, nachdem er das Kind gerettet hatte, ist das Haus eingestürzt.“

Heather bekam eine Gänsehaut. Plötzlich sah sie Szenen, die sie schon längst vergessen geglaubt hatte, Szenen des immergleichen Albtraums, der sie seit Stewarts Tod verfolgte. Alle, die damals bei dem Unglück dabei gewesen waren, hatten ihr später versichert, dass Stewart bis zum Schluss gekämpft habe. Einen Helden hatten sie ihn sogar genannt. Aber das war nur ein leeres Wort und für Heather kein Trost für das, was sie an dem Tag verloren hatte.

„Geht’s dir nicht gut?“

„Alles bestens. Ich frage mich nur, ob wir die Polizei bitten sollen, Damiens Mutter zu finden“, sagte Heather schnell, als sie den besorgten Klang in Melanies Stimme bemerkte. Sie zwang sich, die Erinnerung an Stewarts Tod zu unterdrücken. Sie musste jetzt dem Jungen helfen. „Die Polizei kann die Nachbarn befragen. Die wissen vielleicht, wo sie ist.“

„Draußen steht ein Polizist. Soll ich den mal fragen?“ bot Melanie an.

„Nein, ich mache das. Der Oberarzt der Station für Verbrennungen müsste schon längst hier sein …“ Heather brach mitten im Satz ab, weil die Tür aufschwang und Doktor Alan Fountain in den Reanimationsraum kam.

Zügig rekapitulierte Heather für den Kollegen die Diagnose und die bisherige Behandlung. Alan schloss sich der Auffassung an, dass das Kind sehr, sehr viel Glück gehabt habe, denn die Hautverbrennungen waren minimal. Bevor er hastig das Zimmer verließ, veranlasste der Oberarzt die Verlegung des Jungen auf seine Station.

„Wenn du Damien in die andere Abteilung bringst, dann rede ich mit dem Polizisten.“ Heather wandte sich wieder an Melanie, wollte noch etwas hinzufügen, wurde allerdings abermals unterbrochen, weil Ben Carlisle zögernd auf sie zukam.

„Könntest du dir zusammen mit mir mal den Mann da drüben anschauen, Heather? Sein Zustand ist zwar stabil, aber ich habe noch nie so einen Fall gehabt und möchte nichts falsch machen.“

Seit der gut aussehende Doktor Carlisle in der Notfallambulanz arbeitete, waren alle wie verwandelt, und die Krankenschwestern führten sich auf wie schwärmerische Teenies. Sie himmelten den Arzt an, doch die Begeisterung blieb einseitig. Bis jetzt hatte sich Ben noch mit keiner der Frauen verabredet. Zumindest wusste Heather nichts davon. „Bis vor kurzem war ich auf der Entbindungsstation“, sagte Ben mit einem Lächeln. „Dort sind Rauchvergiftungen nicht allzu häufig.“

„Das will ich hoffen“, antwortete Heather abwesend. Sie hatte sich noch nie davor gefürchtet, einen Patienten zu behandeln, denn ihr kleiner Trick, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die medizinischen Maßnahmen zu richten, hatte immer perfekt funktioniert. Doch bei dem Feuerwehrmann schien ihr der Selbstbetrug zu misslingen. Warum verstörte sie ausgerechnet dieser Patient?

„Ich bitte den Polizisten, die Mutter des Jungen zu finden“, sagte Melanie und strahlte dabei Ben an.

„Danke!“ Heather wollte lächeln, doch dies schien ihr nicht zu gelingen. Selbstverständlich musste sie Ben unterstützen. Keine Frage. Es wäre unverzeihlich, wenn sie das Leben des Verletzten gefährdete, weil der unerfahrene Arzt möglicherweise wichtige Symptome übersehen hatte.

Schweigend ging Heather hinüber und las sorgfältig das Patientenprofil, das Ben ihr gegeben hatte. Ihr Herz raste, und sie war froh um jede Zeile, die ein weiteres Zusammentreffen mit dem Patienten verzögerte. Schließlich reichte sie den Bericht zurück und wandte sich an den Mann, der auf dem Bett lag: „Mein Name ist Heather Cooper, und ich bin Oberärztin der Not- und Unfallambulanz.“

Sie hatte nicht gezählt, wie oft sie diese Begrüßungsformel gesagt hatte. Doch die eigenen Worte klangen jetzt seltsam neu, als kämen sie zum ersten Mal über ihre Lippen und hätten zum ersten Mal wirklich eine Bedeutung.

Erschrocken sah sie den Mann an. Sie wollte seinem Blick ausweichen, doch seine braunen Augen zogen sie in ihren Bann. Heather spürte einen sonderbaren Zauber, der sie beide erfasste. Sie wusste, dass dieser wunderbare Moment des Gleichklangs keine Einbildung war. Doch plötzlich ergriff sie eine panische Angst.

Sie hatte in ihrem Leben absolut keinen Platz für einen zweiten Helden!

2. KAPITEL

„Wenn Sie sich noch ein bisschen nach vorne lehnen könnten, Mr. Tanner … ja, so ist es gut. Danke!“

Seine angespannten Muskeln lockerten sich, als er ihre kühlen Hände nicht mehr auf seinem nackten Rücken spürte. Dr. Heather Cooper war bei ihrer Untersuchung äußerst gründlich gewesen, aber er wusste, dass es Unsinn war, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Obwohl er sie gar nicht kannte, fühlte Ross instinktiv, dass sie jeden Patienten mit der gleichen Sorgfalt behandelte. Ihre Arbeit musste ihr sehr am Herzen liegen.

Ein unglaublicher Schreck durchfuhr ihn, und im selben Moment begann die Monitoranzeige zu blinken, als sich sein Herzschlag erhöhte. Dr. Cooper blickte auf den Bildschirm, und Ross bemühte sich um Selbstbeherrschung. Sie durfte auf gar keinen Fall merken, wie sehr sie ihn durcheinander brachte. Es fiel ihm auch so schwer genug, mit diesen plötzlichen Veränderungen umzugehen.

Wie kam es, dass er diese Frau so genau zu kennen glaubte, obwohl sie einander doch gerade eben erst begegnet waren?

„Haben Sie von Zeit zu Zeit Schmerzen in der Brust?“

Ihre gelassene Stimme hätte eigentlich eine beruhigende Wirkung auf ihn ausüben sollen, aber dafür schien es zu spät zu sein. Der Monitor blinkte jedoch verdächtig, ganz so, als wolle er das Kopfschütteln, mit dem Ross auf die Frage antwortete, Lügen strafen.

„Sind Sie sich sicher?“

Wieder betastete sie ihn mit diesen kühlen Fingern und hielt ein noch kühleres Stethoskop an seine Brust. Er versuchte, ruhig und tief zu atmen, soweit seine brennenden Lungen dies zuließen. Schließlich konnte er Heather Cooper unmöglich erklären, dass die blinkende Anzeige des Überwachungsgerätes ganz allein auf ihre Berührung zurückzuführen sei.

„Entspannen Sie sich, Mr. Tanner! Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nur geringfügige Verletzungen in Kehle und Lunge davongetragen haben …“

Sie hielt inne, während sie ihn abhorchte und dabei seine Brust ganz leicht mit den Fingerspitzen berührte. Ross versuchte, sich auf den scheinbar unverfänglichen Anblick ihrer Nägel zu konzentrieren. Fingernägel waren ihm eigentlich nie besonders erregend erschienen, aber in diesem Fall …

Ross spürte, wie sein Herz einen weiteren Satz machte. Dr. Cooper schien seine Anspannung zu spüren, er hoffte nur, dass sie nicht bemerkte, dass noch andere Körperteile davon betroffen waren. Glücklicherweise hatte man ihm nur das T-Shirt ausgezogen, und seine Uniformhose würde ihn hoffentlich vor noch größeren Peinlichkeiten bewahren.

„Wir werden Sie über Nacht zur Beobachtung hier behalten.“

Heather Cooper rollte mit ruhiger Hand ihr Stethoskop zusammen, aber auf ihren Wangen war ein verräterisches Rot zu sehen. Schnell schaute Ross an sich herunter, aber die unförmige Hose verbarg, wie es um ihn stand. Ihre Reaktion konnte nichts mit ihm zu tun haben.

„Ich bin froh, dass ich dich um deine Meinung gebeten habe.“

Ross wandte seine Aufmerksamkeit dem jungen Mann neben Heather Cooper zu und verspürte eine leichte Verärgerung. Der Kerl starrte seine Kollegin wie ein liebeskranker Welpe an! Dabei war doch klar, dass eine kluge und erfahrene Frau wie Heather sich nicht von einem hübschen Gesicht blenden ließ. Sie brauchte einen Mann mit Erfahrung. Heather würde sich nie mit einem so jungen Burschen einlassen.

Oder doch?

Ihm wurde plötzlich klar, dass er Vermutungen anstellte, für die er überhaupt keine Grundlage hatte. Woher wollte er wissen, was Heather Cooper brauchte? Vielleicht war sie eben errötet, weil sie so eng mit ihrem attraktiven jungen Kollegen zusammenarbeitete? Vielleicht waren die beiden längst ein Paar?

Ross hatte während seiner Nachtschichten genügend Krankenhausserien im Fernsehen gesehen, um zu befürchten, dass die schöne Dr. Cooper und der gut aussehende Dr. Carlisle vielleicht ihr ganz persönliches Drehbuch geschrieben hatten – Liebe in der Notfallambulanz.

Eine schreckliche Vorstellung!

„Eine zweite Meinung kann niemals schaden, Ben.“

Heather lächelte ihren Kollegen an und hoffte, dass er ihre Verwirrung nicht bemerkte. Bildete sie es sich nur ein, oder war die Spannung im Raum wirklich fast mit den Händen greifbar?

Sie warf der Dienst habenden Schwester Abby McLeod einen Blick zu, aber diese lächelte sie freundlich an und schien nicht beunruhigt. Also war es wohl doch nur ihre Einbildungskraft. Aber je eher Ross Tanner von ihrer Station verschwände, desto schneller könnte sie wieder zu ihrem Alltag zurückkehren.

Hoffentlich …

Sie beschloss, sich ganz auf die medizinischen Aspekte dieses Falles zu konzentrieren. Ross Tanner war ein normaler Patient, und genau so würde sie ihn behandeln.

„Es gibt keinerlei Anzeichen, dass mit Ihrem Herzen etwas nicht in Ordnung sein könnte, aber, wie schon gesagt, ich würde Sie gerne über Nacht zur Beobachtung hier behalten.“

„Ich hatte erst letzte Woche eine Routineuntersuchung, bei der mein EKG und alles andere in Ordnung waren.“

Ross Tanner hatte die Sauerstoffmaske zur Seite geschoben, und Heather durchfuhr ein leichtes Zittern, als sie ihn zum ersten Mal sprechen hörte. Ob er wohl auch ohne die Schwellung in seiner Kehle eine so aufregend tiefe Stimme hatte? Schnell schob sie diesen Gedanken zur Seite. Sobald er die Station verließe, würde Ross Tanner auch aus ihrem Leben verschwunden sein.

„Das ist gut zu wissen. Ich weiß, wie sorgfältig die medizinischen Check-ups der Feuerwehr sind. Aber wir wollen kein Risiko eingehen.“

Ross Tanner grinste sie an, seine Zähne glänzten weiß in dem rußverschmierten Gesicht, und in den braunen Augen blitzte es amüsiert. „Na, bei diesem Argument muss ich mich geschlagen geben, Dr. Cooper. Wenn es etwas gibt, was man bei der Feuerwehr lernt, dann ist es, kein unnötiges Risiko einzugehen.“

„Ich hätte gedacht, dass das gerade in Ihrem Job unmöglich ist“, gab Heather bissig zurück. Sie hoffte inständig, dass er nicht merkte, wie sehr seine Worte – und sein Lächeln – sie verwirrten.

„Schließlich setzen Sie sich doch jedes Mal, wenn Sie zu einem Einsatz ausrücken, einem Risiko aus, oder nicht? Es kann immer etwas Unvorhergesehenes geschehen, und niemand kann das verhindern.“

Erst als sie die erschrockenen Gesichter der Umstehenden bemerkte, wurde Heather klar, wie laut sie gesprochen hatte. Sie atmete tief durch, aber es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sei nichts passiert.

„Es tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht verärgern.“

Ross Tanner berührte ihre Hand, aber auch dieser flüchtige Kontakt war im Moment zu viel für ihre aufgewühlte Seele. Sie wollte kein Mitleid, schon gar nicht von ihm. Heather zog ihre Hand fort und wandte sich um. Sie ignorierte Bens besorgten Blick, als sie an ihm vorbeiging.

„Sagen Sie bitte Bescheid, dass wir einen Patienten zur Aufnahme haben! Ich mache jetzt Pause. Piepen Sie mich an, falls ich gebraucht werde!“

Ohne Bens Antwort abzuwarten, eilte sie auf die Tür zu und fluchte leise auf, als ihr Kittel sich in einem hervorstehenden Holzsplitter verfing. Als sie sich automatisch umwandte, um sich zu befreien, fiel ihr Blick auf Ross Tanner. Das Mitgefühl in seinem Gesicht ließ ihr Herz schneller schlagen. Er schien zu wissen, dass ihre Bemerkung auf leidvolle Erfahrungen zurückzuführen war. Er hatte ihren Kummer gespürt und wollte ihr helfen.

Die Vorstellung machte Heather Angst. Das Letzte, was sie wollte, war, über Stewart zu sprechen. Sie konnte diesen Schmerz nicht noch einmal durchleben, sondern musste alles, was damit zusammenhing, tief in ihrem Herzen begraben. Ross Tanner Einblick in ihre Gefühle zu gewähren, kam überhaupt nicht infrage.

„He, ich dachte, die wären für mich?“

Ross schüttelte die Papiertüte aus und seufzte, als eine einzige kleine Traube auf sein Bett fiel. „Vielen Dank, Jungs! Sehr rührend, wie ihr euch um mich kümmert.“

„Das ist Jacks Schuld. Er meinte, du könntest die Trauben ohnehin nicht schlucken, und da wäre es besser, wenn er dir die Mühe abnähme.“ Terry Green grinste, als er den Stuhl neben das Bett schob und sich setzte, aber in seinen Augen stand ein besorgter Ausdruck.

Die Besuchszeit war längst vorbei, doch das Team der Feuerwache hatte die Schwester überredet, sie zu ihrem Kollegen zu lassen. Ross bemühte sich, Terry zuzuhören, der Schmerz in Heathers Blick ließ ihn jedoch nicht los. Er hatte keinen Zweifel, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen sei, und war fest entschlossen, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden. Warum er ein solches Interesse an dieser Frau hatte, wusste Ross jedoch selbst nicht.

„Ich habe nicht gemerkt, dass du umgekehrt bist. In der einen Sekunde standest du noch direkt hinter mir, und als ich mich dann wieder umsah, warst du bereits verschwunden.“ Terry schüttelte bekümmert den Kopf. Die Ereignisse des Tages machten ihm offenbar schwer zu schaffen.

„Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du einfach schlecht hörst“, mischte sich Jack Marsh in das Gespräch ein.

„Es war meine Schuld.“ Ross wollte eine Auseinandersetzung vermeiden. Wurde ein Mitglied des Teams verletzt, waren die Gemüter immer besonders erhitzt. „Ich ging hinter dir, Terry, als ich plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ich hätte dir Bescheid geben müssen, dass ich zurückbleibe.“

„Zum Glück bist du zurückgeblieben.“ Jack schob sich die letzte Traube in den Mund. „Der Junge hätte ohne dich bestimmt keine Chance mehr.“

Das Gespräch verstummte. Die meisten Männer der Feuerwache Hexton hatten selbst Kinder, und der Gedanke an den kleinen Jungen, der nur knapp dem Tod entronnen war, ging ihnen sehr nahe.

Auch mit sechsunddreißig Jahren hatte Ross bisher nicht die richtige Frau gefunden, um eine Familie zu gründen, aber er wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Er liebte Kinder und verbrachte viel Zeit mit den Zwillingen seiner Schwester. Ihm war jedoch klar, dass seine Arbeit und die damit verbundenen Gefahren besondere Anforderungen an eine Partnerschaft stellten. Im Laufe der Jahre hatte er oft genug miterlebt, wie die Ehen seiner Kollegen scheiterten. Wären Heather Cooper und er dieser Belastung gewachsen?

Diese Frage war ihm so überraschend eingefallen, dass Ross husten musste. Seine Lungen waren noch immer sehr mitgenommen, und Terry reichte ihm besorgt die Sauerstoffmaske, die Ross dankbar aufsetzte. Die Jungs würden sich sehr wundern, wenn sie wüssten, welche Gedanken er über eine Frau hegte, die er erst wenige Stunden kannte. Wahrscheinlich würden sie denken, der Rauch habe ihm den Verstand vernebelt. Heather Cooper hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht an ihm interessiert sei.

Es war einfach lächerlich! In seinem Adressbuch standen die Namen diverser Frauen, die ebenso attraktiv waren wie Dr. Heather Cooper, aber wie lange war es her, dass er eine von ihnen angerufen hatte? Sein letztes Date lag mindestens sechs Monate zurück, und er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wer die Frau gewesen war. Und nun hatte er nichts Besseres zu tun, als sich Heathers bezauberndes Gesicht in Erinnerung zu rufen und das kühle kleine Lächeln, das um ihre Lippen spielte.

Dieses Lächeln war auch beim Gespräch mit ihrem Kollegen nicht aufgetaut, aber vielleicht wollte sie einfach diskret sein. Als sie aus dem Reanimationsraum gestürmt war, hatte sie allerdings nicht den Eindruck einer glücklich verliebten Frau gemacht.

Erneut fragte sich Ross, welche Tragödie für den Schmerz in ihren Augen verantwortlich war und wie er ihr dabei helfen konnte.

Wie kam er eigentlich auf die Idee, dass Heather gerade seine Hilfe wollte?

Und der kleine Hund kuschelte sich in sein Körbchen und schlief sofort ein.

Heather klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch. Sie schob die Decke zurecht, unter der ihre Tochter lag, und fühlte, wie sie die Liebe zu ihrem schlafenden Kind überflutete.

Grace war gerade zwei Jahre alt geworden und sah ihrem Vater mit jedem Tag ähnlicher. Sie hatte die gleichen braunen Locken und die gleichen blauen Augen wie Stewart und sein herzliches Lächeln. Er wäre unendlich stolz gewesen auf seine Tochter, den lebenden Beweis für ihre Liebe.

Heather blinzelte, als sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Seit Grace’ Geburt hatte sie sich nicht mehr gestattet zu weinen, und sie würde diese Regel nicht gerade heute brechen. Damit ihre Tochter in einer unbeschwerten Umgebung aufwachsen konnte, war es wichtig, dass Heather ihre Gefühle beherrschte. Warum fiel ihr das nur ausgerechnet heute so schwer? Hatte es vielleicht mit ihrem neuen Patienten zu tun?

„Das Essen ist fertig.“

Ihre Mutter Sandra schaute in das Zimmer, und Heather schob alle Gedanken an Ross Tanner beiseite, als sie in die Küche ging. Sie setzte sich an den Tisch und nahm den gefüllten Teller entgegen, den Sandra ihr reichte.

„Vielen Dank, Mum! Ich bin so froh, dass ich mich nach der Arbeit nicht auch noch ums Essen kümmern muss. Du verwöhnst mich wirklich.“

„Wen sollte ich denn wohl sonst verwöhnen, wenn nicht meine Tochter?“ Sandra nahm gegenüber Platz.

„Oh, wie ich höre, verwöhnst du auch deine Enkelin! Grace hat mir erzählt, dass du mit ihr auf den Spielplatz gegangen bist.“

„Das macht mir doch Spaß. Außerdem trifft man dort immer einige nette Leute.“

Heather warf ihrer Mutter einen prüfenden Blick zu. Hatte sich auf Sandras Wangen nicht eine verräterische Röte ausgebreitet?

„Diese netten Leute – gibt es da jemand Bestimmten, von dem ich vielleicht wissen sollte?“

„Na ja“, Sandra blickte auf ihren Teller und schaute dann auf, „da ist ein sehr netter Mann, den ich schon einige Male getroffen habe. Er ist Witwer und kommt immer mit seinem kleinen Enkel. Er hat mich gefragt, ob ich vielleicht einmal mit ihm ausgehen würde.“

„So, so! Und was hast du geantwortet?“ Heather war überrascht, denn seit ihrem Umzug nach London hatte Sandra bisher keinerlei Interesse an neuen sozialen Kontakten gezeigt.

Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als Heather ein Teenager war. Ihr Vater hatte kurz darauf wieder geheiratet und war nach Kalifornien gezogen. Abgesehen von gelegentlichen Postkarten hatte sie kaum Kontakt mit ihm.

Ihre Mutter hatte nicht wieder geheiratet. Als sie nach London gezogen war, um sich um Tochter und Enkelin zu kümmern, hatte sie jedoch zu Hause in Manchester einen großen Freundeskreis zurückgelassen. Erst jetzt wurde Heather klar, wie sehr Sandra ihre gewohnte Umgebung und ihre Freunde vermissen musste.

„Ich hoffe, du hast Ja gesagt, Mum.“ Sie griff nach Sandras Hand und drückte sie. „Es wird Zeit, dass du ein bisschen an dich denkst.“

„Meinst du wirklich? Ich habe David – so heißt er, David Harper – gesagt, dass ich darüber nachdenken werde.“ Sandra richtete die Schultern auf und sah ihre Tochter an. „Ich glaube, du hast Recht. Ich werde mit ihm ausgehen. Aber was du eben gesagt hast, mein Schatz, das trifft auf dich genauso zu. Stewart würde sich wünschen, dass du dein Leben weiterlebst.“

„Aber das tue ich doch.“ Heather schob sich einen Bissen in den Mund, aber die Kartoffeln schmeckten plötzlich wie Sägemehl.

„Zum Leben gehört mehr als deine Arbeit und Grace“, sagte Sandra ruhig, bevor sie das Thema wechselte und von den weiteren Aktivitäten des Nachmittags sprach.

Heather beteiligte sich an dem Gespräch, aber die Worte ihrer Mutter ließen sie nicht los. Hatte Sandra Recht? War es wirklich Zeit, an etwas anderes zu denken als an ihre Arbeit und ihr Kind?

Bei dem bloßen Gedanken durchfuhr sie Panik. Heather wollte sich nicht noch einmal verlieben! Selbst wenn sie einen Mann fände, der Stewart ebenbürtig wäre – was sehr unwahrscheinlich war –, wollte sie nicht noch einmal diesen Schmerz riskieren. In Ross Tanners Welt lagen Leben und Tod zu nah beieinander. Die Frau, die sich in ihn verliebte, musste jeden Tag den Gedanken ertragen, dass ihr Mann heute vielleicht nicht nach Hause kommen würde. Dazu war Heather nicht in der Lage, also war es nur richtig, sich von Ross Tanner fern zu halten.

Aber sie würde ihn ohnehin nicht wiedersehen, ihre Wege hatten sich nur kurz gekreuzt, und das war schon das Ende ihrer Beziehung.

Ein Schauer der Vorahnung durchlief Heather. War es vielleicht nicht das Ende, sondern erst der Anfang gewesen?

„Danke, Jane! Sie haben sich wunderbar um mich gekümmert.“

Ross küsste die Stationsschwester auf die Wange. Es war Montagmorgen, und er hatte all seine Überredungskünste aufwenden müssen, um entlassen zu werden. Dafür hatte er aber versprechen müssen, sich sofort zu melden, sobald Beschwerden aufträten.

Ross ging zum Fahrstuhl. Natürlich hätte er einen seiner Kollegen bitten können, ihn abzuholen, aber er wollte noch etwas erledigen, bevor er das Krankenhaus verließ. Auch wenn es sich vielleicht als ein großer Fehler erwies.

Die Schilder wiesen ihm den Weg zur Unfallambulanz. Als er den voll besetzten Wartebereich sah, zögerte Ross. Offensichtlich kam er zu einer unpassenden Zeit.

In diesem Moment trat sie aus einer der Kabinen, und ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, eilte er hinter ihr her. „Heather!“

Ihr Vorname war ihm ganz spontan von den Lippen gekommen, aber Ross war nicht auf das Kribbeln vorbereitet, das ihn durchfuhr, als er in seinem Kopf nachklang. Heather. Auf eine sonderbare Art war ihm in diesem Moment klar, dass er ihn heute zum ersten, aber ganz sicher nicht zum letzten Mal ausgesprochen hatte.

Als er jedoch die Unruhe sah, die in Heathers Augen aufflackerte, als sie sich umdrehte und ihn erkannte, wusste Ross, dass diese Gefühle nicht gegenseitig waren. Heather Cooper war offensichtlich gewillt, ihn auf Abstand zu halten. Er musste einen Weg finden, ihren Widerstand zu überwinden. Er war überzeugt, dass davon ihrer beider Glück abhing.

„Ich bin sehr beschäftigt.“

Ihr knapper Tonfall ließ ihn zusammenzucken. Es würde nicht einfach werden, sie dazu zu bringen, ihm überhaupt zuzuhören. Ihrer Miene nach zu urteilen, erschien ihr eine Unterhaltung mit ihm in etwa so attraktiv wie die Vorstellung, in ein Schlangennest zu greifen!

„Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben. Ich wollte mich nur für alles bedanken, was Sie für mich und den Jungen getan haben. Wie ich höre, ist er auf dem Weg der Besserung.“

Ihre Züge entspannten sich und erlaubten Ross einen Blick hinter die kühle und geschäftsmäßige Fassade. Zum Glück war er nicht mehr an den EKG-Monitor angeschlossen, denn sein Herz schlug bereits wieder Purzelbäume. Ob sie weiß, wie schön sie ist? fragte er sich.

Er räusperte sich, aber seine Stimme klang immer noch seltsam rau. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sie in die Arme zu nehmen.

„Ich würde mich gerne richtig bei Ihnen bedanken. Vielleicht hätten Sie Lust, einmal mit mir essen zu gehen?“

Ross war fast ebenso schockiert über seine eigenen Worte wie Heather. Durch diese ungeplante und überfallartige Einladung hatte er sie wahrscheinlich noch mehr abgeschreckt.

„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Ich habe nur meine Arbeit getan. Und die wartet jetzt auch auf mich.“

Sie drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Ross versuchte gar nicht erst, sie aufzuhalten. Er hatte die erste und wahrscheinlich einzige Chance, Heather näher kennen zu lernen, ruiniert, und das war’s. Finito.

Vor dem Krankenhaus stieg er in ein Taxi und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Er fühlte sich so elend, dass er überlegte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, in der Klinik zu bleiben. Aber der dumpfe Schmerz in der Brust hatte weniger mit einer Herzschwäche als vielmehr mit der Enttäuschung darüber zu tun, Heather womöglich niemals wiederzusehen. Es sei denn, er würde einen anderen Weg finden …

Ein Lächeln spielte um seine Lippen, als er darüber nachdachte. Es würde nicht leicht werden, aber er musste sich etwas überlegen. Um einfach aufzugeben, stand viel zu viel auf dem Spiel!

3. KAPITEL

„Wir machen eine Röntgenaufnahme von Ihrem Handgelenk, Mrs. Montgomery. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es gebrochen ist.“

Heather warf der alten Dame ein aufmunterndes Lächeln zu. Alice Montgomery war auf der Straße über einen hervorstehenden Pflasterstein gestolpert, während sie mit ihrem Mann einkaufen war. Der Unfall hatte beide sehr verängstigt.

„Ein Pfleger wird Ihre Frau gleich zur Röntgenstation bringen. Sie können sie begleiten oder hier warten. Ich werde eine der Schwestern bitten, Ihnen eine Tasse Tee zu bringen.“ Heather wandte sich an den alten Mann, der fast grau im Gesicht war und sehr mitgenommen wirkte.

„Das ist nett von Ihnen. Ich möchte gerne bei Alice bleiben. Wir machen immer alles zusammen.“

Heather verließ die Kabine und ging in den Personalraum, wo Melanie gerade Tee kochte.

„Könntest du so nett sein und dem alten Herrn in Kabine sechs auch eine Tasse bringen? Ich würde es selbst machen, aber weil Ben krank ist, habe ich einfach zu viel zu tun.“

„Kein Problem“, antwortete Melanie und bereitete sofort einen zweiten Becher Tee vor. „Was ist denn mit Ben los?“

„Anscheinend leidet er an einer heftigen Diarrhö.“ Heather verzog das Gesicht. „Ich hoffe nur, dass sich niemand angesteckt hat. Noch mehr Ausfälle können wir uns im Moment nicht erlauben.“

„Da kannst du ganz unbesorgt sein, glaube ich.“ Melanies Stimme klang bedauernd. „Er lässt doch niemanden nah genug an sich heran.“

„Oh, oh, ich nehme an, das heißt, dass du bei ihm auf Granit gebissen hast!“

„Allerdings. Vielleicht kannst du mir ja ein paar Tipps geben?“

„Tipps?“ Heather starrte die junge Krankenschwester überrascht an. „Was meinst du denn damit?“

„Na ja, wenn ich auf den guten Dr. Carlisle dieselbe Wirkung hätte wie du auf unseren Feuerwehrmann, wäre ich sehr froh.“

Melanie nahm den Tee und ging zur Tür. Sie grinste Heather an. „Er ist schließlich nur deinetwegen noch mal vorbeigekommen, oder etwa nicht?“

Heather spürte, wie sie errötete. Es war ihr gelungen, den Besuch von Ross Tanner zu verdrängen, aber Melanies Bemerkung hatte sie wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatte seine Einladung abgelehnt, ohne lange nachzudenken. Nun fragte sie sich, warum er sie eingeladen hatte? War es nur aus Dankbarkeit, wie er behauptete, oder fühlte er sich tatsächlich von ihr angezogen?

Melanie drehte sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu. „Insgeheim wünscht sich doch jede Frau einen richtigen Helden.“

Heather holte tief Luft und machte sich dann auf die Suche nach einem Pfleger für Mrs. Montgomery. Sie gehörte ganz sicher nicht zu den Frauen, die sich nach einem Helden sehnten. Sollte sie sich überhaupt auf eine neue Beziehung einlassen, dann nur mit einem Mann, der sein Arbeitsleben sicher hinter einem Schreibtisch verbrachte.

Wie seltsam, dass sie noch vor wenigen Tagen niemals auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, über diese Frage nachzudenken. Es ließ sich nicht leugnen, dass die Begegnung mit Ross Tanner ihre Spuren hinterlassen hatte. Umso besser, dass sie seine Einladung ausgeschlagen hatte.

Erst am Freitag kam Ross ein Einfall, wie er ein Wiedersehen mit Heather arrangieren könnte. In dieser Woche war viel zu tun gewesen, und er freute sich auf ein freies Wochenende, an dem er Zeit mit seiner Schwester Kate und seinen Neffen verbringen würde.

Die Idee für ein Treffen mit Heather war ihm gekommen, als er sich mit dem nie enden wollenden Papierkram beschäftigen musste. Ein Rundschreiben der Zentrale ermahnte die Feuerwachen, auf die Einhaltung der Brandschutzbestimmungen in öffentlichen Gebäuden zu achten. Ein schneller Blick in die Unterlagen verriet ihm, dass das St. Gertrude’s Hospital noch diesen Monat für eine Inspektion vorgesehen war.

Mit einem zufriedenen Lächeln schloss er den Aktenschrank. Heather konnte die Zusammenarbeit mit ihm kaum verweigern. Der Besuch war die perfekte Gelegenheit für ein weiteres Gespräch, und er würde versuchen, ihre abwehrende Haltung zu überwinden.

Aber das war leichter gesagt als getan.

Der Samstag begann kühl und stürmisch. Ein frischer Maiwind blies dicke Wolken über den Himmel. Obwohl sie das ganze Wochenende frei hatte, stand Heather schon vor sieben Uhr auf. Als Grace aufwachte, war sie bereits frisch geduscht und trug Jeans und ein langärmeliges dunkelblaues T-Shirt.

Sie setzte ihre Tochter in den Kinderstuhl und stellte ihr Müsli bereit. Da sie so selten die Gelegenheit dafür hatte, war ein gemeinsames Frühstück immer ein besonderes Ereignis. Manchmal machte sie sich Sorgen, dass sie zu wenig Zeit mit ihrer Tochter verbrachte, aber Grace schien glücklich und zufrieden zu sein, und schließlich blieb Heather auch keine andere Wahl, denn sie musste nun einmal ihren Lebensunterhalt verdienen.

Sandra kam in die Küche, als Grace gerade ihr Müsli aufgegessen hatte. Sie küsste den Lockenkopf ihrer Enkelin und lächelte Heather an. „Ihr beide seid aber früh auf. Wie sehen denn deine Pläne für heute aus?“

„Ich dachte, wenn es trocken bleibt, gehe ich mit Grace in den Park.“ Heather hob ihre Tochter aus dem Stuhl und lächelte. „Hast du Lust, zum Spielplatz zu gehen, Schätzchen?“

„Ja!“ Grace klatschte begeistert in die Hände.

„Also, mein Vormittag ist verplant. Was ist denn mit dir, Mum?“

„Oh, ich wollte in die Stadt fahren, wenn du mich nicht brauchst!“ Sandra zuckte verlegen mit den Schultern. „Heute Abend gehe ich mit David aus, und ich dachte, vielleicht könnte ich mir etwas Neues zum Anziehen kaufen.“

Heather strahlte ihre Mutter an. „Ich finde, das ist eine gute Idee. Ihr werdet bestimmt viel Spaß haben. Und jetzt muss ich diese junge Dame hier anziehen.“

Sie verließ die Küche. Wie gut, dass Sandra die Einladung von David Harper angenommen hatte. Es war wirklich Zeit, dass ihre Mutter anfing, ihr Leben zu genießen. Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihr der Gedanke an Ross Tanner, aber Heather schob ihn schnell beiseite. Für diese Art von Komplikationen war in ihrem Leben wirklich kein Platz.

Ross kam um elf bei seiner Schwester an, und schon zehn Minuten später war er mit seinen beiden Neffen auf dem Weg zum Park. Die Zwillinge hatten Kates Erzählung nach bereits seit dem Frühstück ungeduldig auf ihn gewartet.

Seine Schwester war im siebten Monat schwanger und litt unter Bluthochdruck. Ihr Hausarzt hatte ihr Ruhe verordnet, aber mit zwei lebhaften Fünfjährigen im Haus und einem Ehemann, der in den Arabischen Emiraten für eine Ölfirma arbeitete, war das nicht ganz einfach. Mike würde zwar zur Geburt des Kindes nach Hause kommen, aber bis dahin war Kate auf die Hilfe ihres Bruders und ihrer Freunde angewiesen.

Als sie den Park erreichten, stürzten sich Josh und Luke sofort auf die Schaukeln. Da es Wochenende war, liefen schon viele Kinder auf dem Spielplatz umher. Ross gab Luke Anschwung, als er ein kleines Mädchen bemerkte, das auf die Schaukeln zulief, ohne sich der möglichen Gefahr bewusst zu sein.

Ross hörte eine Frau rufen, während er auf das Kind zueilte und es schnell aus der Reichweite der Schaukeln hob. Das Herz klopfte ihm vor Schreck bis zum Hals, als er sich zu der Kleinen, deren Unterlippe bebte, herunterbeugte.

„Alles in Ordnung, Schätzchen.“ Ross’ beruhigende Worte wurden durch die Stimme einer Frau unterbrochen, die das Kind in ihre Arme zog. Sein Herz klopfte noch ein paar Takte schneller, als er in der Frau niemand anders erkannte als Heather Cooper.

„Grace! Hast du dir wehgetan?“ rief sie aufgeregt.

Heathers Gesicht war von Panik erfüllt, und Ross versicherte ihr schnell: „Die Schaukel hat sie nicht getroffen. Ich habe sie erschreckt, als ich sie weggerissen habe, aber verletzt ist sie nicht.“

Er legte Heather die Hand auf die Schulter und spürte, dass sie unter der dicken roten Fleecejacke zitterte. In ihrer Stimme schwang ein hysterischer Ton mit. „Das ist nur meine Schuld. Ich hätte sie nicht loslassen dürfen. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre …“

„Aber es ist nichts passiert.“ Es war verständlich, dass der Vorfall Heather erschreckt hatte, aber ihre Reaktion schien ihm über das normale Maß hinauszugehen.

Luke und Josh riefen, dass sie jetzt zur Rutsche wollten, und Ross drehte sich um. Heather in diesem Zustand allein zu lassen widerstrebte ihm jedoch, und so traf er schnell eine Entscheidung.

„Grace ist nicht die Einzige, die einen Schreck bekommen hat. Sie sehen auch aus, als ob Ihnen eine Tasse Tee gut tun würde. Ich wollte mit meinen Neffen sowieso in das Café im Park gehen. Warum kommen Sie nicht einfach mit?“

„Oh nein, ich glaube nicht …!“ Heather begann zu protestieren, aber Ross schob seine Hand unter ihren Arm. „Oh doch! Sie sind ganz blass und werden Ihrer Tochter nicht helfen, wenn Sie jetzt in Ohnmacht fallen.“

„Vielleicht haben Sie Recht.“ Heathers Miene spiegelte ihre Unsicherheit wider, und der Kontrast zu ihrem kontrollierten und souveränen Auftreten in der Klinik war nur allzu deutlich.

„Ich wette, Sie haben schon Dutzenden von Patienten gesagt, dass eine Tasse Tee jetzt genau das Richtige sei. Nun können Sie dieses Rezept selbst einmal ausprobieren. Ich hole nur eben die Jungs, dann gehen wir.“

„Einverstanden“, sagte Heather mit einem leichten Lächeln.

Als Ross den Zwillingen erklärte, dass sie erst ins Café und dann zur Rutsche gehen würden, konnte er eine unbändige Freude nicht unterdrücken. Er hatte Heather ein Lächeln entlockt! In den Augen der meisten Menschen war dies vermutlich kein besonderes Ereignis, aber ihm erschien es wie ein großer Fortschritt.

Plötzlich sank sein Mut, als ihm klar wurde, dass er einen entscheidenden Aspekt übersehen hatte: Wenn Heather Cooper ein Kind hatte, dann gehörte sicherlich auch ein Ehemann dazu. Warum hatte er nicht früher an diese Möglichkeit gedacht?

Als sie in dem überfüllten Café schließlich einen freien Tisch gefunden hatten, bereute Heather bereits, auf Ross’ Vorschlag eingegangen zu sein. Durch den Schreck über den Beinahe-Unfall hatte sie kurzzeitig ihre Selbstbeherrschung verloren und deswegen zugestimmt, nun aber wollte sie am liebsten mit Grace allein sein.

„Möchten Sie Tee?“

Ross’ Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und ihr Herz schlug schneller, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck sah. Mitleid konnte sie jetzt, da ihre Gefühle so in Aufruhr waren, nicht ertragen.

„Ja, bitte!“ antwortete sie daher so kühl wie möglich.

„Und für die junge Dame hier? Saft oder Milch?“ Ross strich leicht mit der Hand über Grace’ Lockenkopf.

„Milch wäre am besten.“ Heather war erstaunt, zu sehen, dass Grace Ross ein sonniges Lächeln schenkte. In der Regel war ihre Tochter fremden Menschen gegenüber sehr zurückhaltend, in diesem Fall schien sie jedoch eine Ausnahme zu machen.

Sein Verhalten gegenüber den beiden Jungs zeigte deutlich, wie sehr Ross an seinen Neffen hing. Er verbrachte offensichtlich viel Zeit mit ihnen, und vielleicht spürte Grace einfach, dass er mit Kindern gut umgehen konnte.

„Ich hoffe, ich habe an alles gedacht.“ Ross erschien mit einem Tablett voller Papierservietten und Getränke, die er verteilte. Bevor er Heather ihre Tasse Tee reichte, schüttete er ein Päckchen Zucker hinein und rührte um.

„Süßer, heißer Tee. Wie es der Arzt verschrieben hat.“ Er lächelte sie an.

„Danke!“ Heather nahm sich einen Teelöffel und rührte den Tee unnötigerweise ein weiteres Mal um. Sein liebevolles Lächeln hatte ihr Gleichgewicht wieder erschüttert. Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema.

„Wozu die vielen Servietten?“

„Die Erfahrung hat mich gelehrt, immer auf kleinere Missgeschicke vorbereitet zu sein.“ Sein Lächeln wurde noch breiter, und Heather spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Sein Blick verriet deutlich, dass Ross sich von ihr angezogen fühlte.

„Das klingt, als würden Sie viel Zeit mit Ihren Neffen verbringen.“

„So viel wie möglich, besonders jetzt.“ Er lehnte sich etwas zurück und seufzte. „Meine Schwester erwartet noch ein Kind, und sie hat Probleme mit dem Kreislauf. Eigentlich muss sie sich ausruhen, aber mit zwei Fünfjährigen im Haus und einem Ehemann, der im Ausland arbeitet, geht das nicht immer. Ich helfe, wo ich kann.“

„Sie kann froh sein, dass sie einen solchen Bruder hat.“ Heather trank noch einen Schluck Tee. Warum nur hatte sie ihre Gefühle heute so wenig im Griff? Es musste daran liegen, dass der Anblick von Grace, die auf die Schaukeln zurannte, sie so sehr erschreckt hatte.

„Für Sie ist es bestimmt auch nicht ganz einfach, bei Ihrem Job Zeit für Grace zu finden.“ Er blickte sie aufmerksam an. „Steht Ihnen Ihr Mann denn zur Seite?“

Vorsichtig stellte Heather die Tasse auf den Tisch. Keinesfalls durfte Ross bemerken, dass ihre Hand zitterte. Er wollte mehr über sie erfahren, aber wie viel durfte sie ihm erzählen?

„Ich bin nicht verheiratet.“ Sie räusperte sich. Im Grunde war sie diesem Mann keine Rechenschaft schuldig, schließlich kannte sie ihn kaum!

„Ich war mit Grace’ Vater verlobt, aber er starb noch vor ihrer Geburt.“

Sie hatte festgestellt, dass die meisten Menschen nicht nachfragten, wenn sie die bloßen Tatsachen in dieser Weise wiedergab.

„Wie schrecklich!“ Ross legte seine Hand auf ihre. „Das muss eine sehr schwere Zeit für Sie gewesen sein.“

Sein aufrichtiges Mitgefühl trieb ihr fast die Tränen in die Augen. „Es war grauenvoll“, sagte sie mit erstickter Stimme.

„Wollen Sie mir erzählen, was geschehen ist?“

Zärtlich streichelte er ihren Handrücken, aber diese beruhigende Geste hatte auf Heather den gegenteiligen Effekt. Bei seiner Berührung lief ihr ein heißer Schauer über den Rücken, und sie riss sofort ihre Hand weg. Das durfte nicht geschehen!

Er meinte es sicherlich gut, aber sie war nicht bereit, die furchtbaren Monate nach Stewarts Tod noch einmal zu durchleben. Unvermittelt stand sie auf und sagte, ohne Ross anzuschauen: „Es tut mir Leid, ich muss jetzt gehen. Ich hatte nicht bemerkt, wie spät es ist.“

Schnell hob sie Grace aus dem Stuhl und schob ihre Hand zur Seite, als das Mädchen nach dem Milchbecher greifen wollte. „Nein, Schätzchen, wir gehen jetzt. Granny wartet doch auf uns. Zu Hause kannst du Milch trinken.“

Grace war mit diesem Plan offensichtlich nicht einverstanden, sie brach in lautes Schluchzen aus. Heather nahm sie in den Arm und wünschte inständig, dass sie es nie so weit hätte kommen lassen. Nicht genug damit, dass sie selbst mit den Nerven am Ende war, nun hatte sie auch noch ihre Tochter erneut zum Weinen gebracht.

„Es tut mir Leid, Heather.“

Sie wandte sich um und sah Ross an, der ebenfalls aufgestanden war. Er war um einiges größer als sie, und Heather fühlte sich seinem Blick schutzlos ausgeliefert. Er legte seine Hand auf ihren Arm.

„Falls Sie einmal jemanden zum Reden brauchen …“, setzte er an, aber Heather ließ ihn nicht ausreden. Selbst durch die dicke Fleecejacke spürte sie die Hitze seiner Hand, und ihr war klar, dass ein weiteres Wort von Ross sie völlig aus der Fassung bringen würde.

„Vielen Dank für den Tee, wir müssen jetzt wirklich gehen!“

Schnell eilte sie aus dem Café und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Grace schluchzte noch immer leise, aber nach kurzer Zeit war sie an der Schulter ihrer Mutter eingeschlafen.

Heather verlangsamte ihren Schritt, sie wusste, dass Ross ihr nicht folgen würde. Was war nur in sie gefahren, dass sie derart überreagiert hatte? Wenn sie in Gegenwart von Ross Tanner solche Schwierigkeiten hatte, ihre Gefühle im Griff zu behalten, war die einfachste Lösung, ihn nicht wiederzusehen …

Intuitiv spürte Heather, dass Ross kein Mann war, der so schnell aufgab. Er wollte sie ganz offensichtlich besser kennen lernen. Mel hatte völlig Recht gehabt – Ross war an ihr interessiert. Und auch wenn Heather sich das ungern eingestand, verursachte diese Vorstellung ein nicht unangenehmes Kribbeln in ihrem Magen.

Ross brachte die Zwillinge nach Hause, nachdem sie sich auf dem Spielplatz ausgetobt hatten. Ihm war klar, dass er das Gespräch mit Heather völlig falsch angepackt hatte. Er hätte sie niemals so bedrängen dürfen. Dass er diese sonderbare Verbindung zu ihr spürte, bedeutete nicht, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.

Kate merkte sofort, dass mit ihrem Bruder etwas nicht in Ordnung war. Sie schickte die Kinder in ihr Zimmer zum Spielen und setzte sich dann zu Ross aufs Sofa.

„Also, warum dieser niedergeschlagene Blick, Bruderherz? Und versuch nicht, mir einzureden, dass alles bestens sei! Du hast nicht zufällig Liebeskummer?“

„Wie kommst du denn darauf? Ich könnte doch auch Probleme bei der Arbeit haben, Ärger mit meiner Wohnung oder sonst etwas.“ Er versuchte, Zeit zu gewinnen.

Seine Schwester grinste ihn an. „Vergiss bitte nicht, dass ich dich viel zu gut kenne! Du würdest dich von solchen Kleinigkeiten nicht derart beeinflussen lassen. In deinem Job bist du mit so vielen schwierigen Situationen konfrontiert, dass du mit kleinen Alltagsproblemen ohne weiteres klarkommst.“

„Hmm, vielleicht hast du Recht! Schön zu sehen, dass die vier Jahre an der Uni doch nicht ganz umsonst waren.“ Ross wich schnell dem Kissen aus, das Kate ihm an den Kopf werfen wollte.

„Glaub nicht, dass du mich mit Beleidigungen vom Thema ablenken kannst! Raus damit, wer ist sie, und wo liegt das Problem?“

„Sie heißt Heather Cooper, Dr. Cooper, um genau zu sein. Sie ist Oberärztin in der Notfallambulanz im St. Gertrude’s.“ Ross wusste, dass es keinen Sinn hatte, Kate etwas vorzumachen. Vielleicht wäre es ja sogar hilfreich, mit ihr über sein Verhältnis zu Heather zu sprechen.

„Aha! Ich nehme an, sie hat dich während deines Aufenthaltes dort versorgt. Ihr habt euch über der Bettpfanne tief in die Augen gesehen und – bingo – Liebe auf den ersten Blick.“ Kate schien sich köstlich zu amüsieren.

„Nicht ganz“, antwortete Ross, obwohl Heathers erster Anblick ihn tatsächlich nicht mehr losgelassen hatte. Der Gedanke, dass es um mehr als nur körperliche Anziehung ging, beunruhigte ihn jedoch. Die Vorstellung von Liebe auf den ersten Blick war ihm immer lächerlich erschienen.

„Heather ist eine äußerst anziehende Frau, und ich gebe zu, dass ich an ihr interessiert bin. Leider beruht das aber nicht auf Gegenseitigkeit.“

„Oh, das hat dein Ego bestimmt hart getroffen! Ich bin zwar deine Schwester, aber ich weiß, dass es nicht viele Frauen gibt, die dir einen Korb geben würden.“

Ross runzelte die Stirn. Vielleicht war es ja gerade Heathers Zurückhaltung, die ihn so anzog?

„Hast du sie gefragt, ob sie mit dir ausgeht?“ Kate würde keine Ruhe geben, bis sie nicht die ganze Geschichte gehört hätte, also erzählte Ross ihr alles, was er über Heather wusste.

„Sie ist nicht in der Lage, darüber zu sprechen, was mit ihrem Verlobten geschehen ist.“

„Vielleicht kennt sie dich einfach noch nicht gut genug“, sagte Kate nachdenklich.

In diesem Moment wurde ihr Gespräch von den Zwillingen unterbrochen, die ins Wohnzimmer kamen, weil sie hungrig waren. Ross erhob sich. „Okay, Jungs, ich mache euch etwas zu essen! Dann kann eure Mum sich noch ein bisschen ausruhen.“

„Vielen Dank!“ rief Kate ihm nach, als er auf dem Weg in die Küche war. „Du kannst dich ja schon mal auf deine Vaterrolle vorbereiten. Irgendwann wird es so weit sein …“

„Dazu gehört erst einmal die richtige Frau“, entgegnete Ross.

„Vielleicht hast du die ja schon gefunden.“

Ross ging nicht auf die Bemerkung seiner Schwester ein, aber vor seinem inneren Auge erschien Heather in einem weißen Kleid, mit Blumen im Haar und einem strahlenden Lächeln im Gesicht.

Energisch schüttelte er den Kopf, um die Vorstellung zu verscheuchen. Er konnte sein Leben nicht mit Gedanken an Heather Cooper verbringen, sondern musste seine Gefühle unbedingt in den Griff bekommen. Vielleicht war sie nicht an ihm interessiert, aber es gab ja noch andere Frauen. Zu Hause würde er ein bisschen herumtelefonieren und sein Privatleben wieder in Schwung bringen.

Während Ross das Mittagessen für die Kinder vorbereitete, fiel ihm die Inspektion im Krankenhaus wieder ein. Ob er wollte oder nicht, er würde Heather noch einmal wiedersehen, und zwar schon bald. Und es war fraglich, ob es ihm gelingen würde, sich ganz auf den beruflichen Zweck seines Besuchs zu konzentrieren …

4. KAPITEL

„Todeszeit vier Uhr zweiunddreißig. Vielen Dank, Kollegen! Wir haben getan, was wir konnten.“

Heather zog die Gummihandschuhe und den mit Blut bespritzten Kittel aus und warf sie in den Müllbeutel. Der Patient, ein fünfundvierzigjähriger Mann namens Dennis Watson, war bei der Reparatur eines defekten Schornsteins ausgerutscht und durch ein Glasdach gestürzt. Obwohl das Team der Notfallambulanz alles Menschenmögliche getan hatte, war er verblutet, noch bevor er in den OP gebracht werden konnte.

Der Reanimationsraum war mit Blut bespritzt und sah aus wie die Szenerie eines Horrorfilms. Einen Augenblick lang fragte sich Heather, warum sie gerade diesen Beruf gewählt hatte, bevor ihr Blick auf Rob Bryce fiel, den neuen Arzt im Praktikum. Dieser wirkte so erschüttert von dem Vorfall, dass sie ihre eigenen Sorgen vergaß und sich dem jungen Kollegen zuwandte.

„Alles in Ordnung?“ fragte sie und machte Mel ein Zeichen, dass sie mit Rob kurz in den Personalraum gehen würde. Die Krankenschwester signalisierte ihr Einverständnis, sie erinnerte sich ebenso wie die anderen Mitglieder des Teams noch gut an ihre eigenen ersten Wochen in der Notfallambulanz.

„Komm, wir trinken einen Tee!“ Heather ging zum Aufenthaltsraum des Personals, und Rob folgte ihr. Im Empfangsbereich warteten nur wenige Patienten, und Ben würde sicher für eine Weile die Stellung halten können. Er hatte sich gestern gesund zurückgemeldet, wirkte aber noch sehr erschöpft. Heather nahm sich vor, ihn später darauf anzusprechen, aber jetzt musste sie sich zunächst auf Rob konzentrieren. Warum nur fiel es ihr seit dem Wochenende so schwer, ihre Gedanken beieinander zu halten?

Sie schob diese Frage beiseite und setzte Wasser für den Tee auf. Sie waren allein im Aufenthaltsraum, und Heather schloss die Tür. Rob schaute sie besorgt an, als erwarte er einen Tadel seiner Chefin.

„Das war heute ein sehr schwieriger Fall“, sagte sie. „Dabei zuzusehen, wie jemand verblutet, ohne dass man ihn retten kann, ist eine traumatische Erfahrung.“

„Es geht dir auch so nahe? Ich dachte …“ Rob brach mitten im Satz ab aus Sorge, etwas Falsches zu sagen.

„Nur weil ich schon länger dabei bin?“ Heather seufzte auf. „So funktioniert das nicht. Es berührt einen immer noch, aber man lernt, damit umzugehen. Das muss man auch, um dem nächsten Patienten helfen zu können.“

„Ich weiß, aber all das Blut …“ Rob schluckte und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Heather goss den Tee ein und gab einen Löffel Zucker in den Becher, den sie Rob reichte. Das Gleiche hatte Ross am Samstag für sie getan, als er versuchte, sie zu beruhigen. Sie spürte ein leichtes Flattern im Magen, als sie sich seinen besorgten Blick in Erinnerung rief. Es war nicht das einzige Mal in den vergangenen Tagen, dass ihr ein Bild von Ross durch den Kopf ging, der so groß und gut aussehend war und sich so liebevoll um seinen Neffen und Grace gekümmert hatte …

„Ich habe nicht gewusst, wie viel fünf Liter Blut wirklich sind. Es war einfach überall … Das lernt man auf der Uni nicht.“

Heather richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Rob. Sie musste einfach aufhören, ständig an Ross zu denken.

„Das war heute wirklich für dich ein Sprung ins kalte Wasser, aber ich hoffe, dass dieses Erlebnis dich nicht von der Arbeit in der Notfallambulanz abschrecken wird.“

„Oh nein“, antwortete Rob, „auf keinen Fall! Ich habe doch gerade erst angefangen.“

„Das ist gut.“ Heather nickte ihm aufmunternd zu. „Erwarte nur nicht sofort zu viel von dir! Ich glaube, aus dir wird einmal ein hervorragender Arzt werden.“

Rob lächelte sie an und wirkte so erleichtert, dass sie froh war, ihm diese Gelegenheit zu einem Gespräch gegeben zu haben. Ein ungutes Gefühl überkam sie, als ihr klar wurde, dass sie selbst diese Gelegenheit versäumt hatte. Nicht einmal ihrer Mutter gegenüber hatte sie sich geöffnet. Vielleicht wäre es gut, wenn sie Ross’ Angebot annehmen und mit ihm über Stewart sprechen würde.

Als sie gemeinsam mit Rob den Aufenthaltsraum verließ und den Korridor entlangging, kam ihnen Norma Pierce, die Sekretärin des Verwaltungschefs der Klinik, entgegen.

„Oh, Dr. Cooper, ich fürchte, es hat ein kleines Durcheinander gegeben!“ erklärte die elegante grauhaarige Dame und überreichte Heather ein Formular. „Sie hätten eigentlich schon früher informiert werden sollen, aber die Benachrichtigung über die Inspektion ist irgendwie verloren gegangen.“

„Danke!“ Abwesend überflog Heather die Mitteilung, die besagte, dass am folgenden Tag im Krankenhaus die routinemäßige Brandschutzinspektion durchgeführt werden würde. Als sie den Namen des Officers las, der das Inspektionsteam leitete, stockte ihr jedoch der Atem, und die Schrift vor ihren Augen verschwamm: Ross Tanner würde morgen früh um zehn im Krankenhaus auftauchen, und sie hatte keine Möglichkeit, ihm aus dem Weg zu gehen.

Ross stellte seinen Wagen auf einem der Besucherparkplätze ab. Er hatte bereits Dutzende von Inspektionen durchgeführt, aber heute kam er sich vor wie ein Anfänger. Er spürte so etwas wie Schmetterlinge in seinem Bauch, und seine Handflächen waren feucht vor Aufregung. In diesem Moment bereute er den Plan, ein Wiedersehen mit Heather zu arrangieren. Aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Arbeit zu machen, und zwar so gut wie möglich.

Ross wartete auf dem Parkplatz auf seine Kollegen Terry und Jack und erklärte ihnen dann den Ablauf der Inspektion. „Also, hier habe ich Kopien der Gebäudepläne. Ich schlage vor, dass wir im Erdgeschoss anfangen und uns dann hocharbeiten.“

Autor

Carol Marinelli
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