Bianca Arztroman Band 65

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  • Erscheinungstag 01.06.2011
  • Bandnummer 65
  • ISBN / Artikelnummer 9783864944352
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

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Carol Marinelli

Ein neuer Mann für Schwester Rachael

1. KAPITEL

Nach dem heutigen Tag würde alles leichter werden.

Rachael sagte sich das zum wiederholten Mal, während sie sich zu einem Lächeln zwang, tief Luft holte und die Tür zum Büro öffnete.

„Sag bloß, du bist die R. Holroyd, die heute Nachmittag ihren Dienst bei uns antritt?“ Das strahlende Gesicht von Helen Wells war ihr nur allzu vertraut.

„Doch, genau die.“ Rachael räusperte sich. „Hat dich die Verwaltung nicht informiert, dass ich heute wieder anfange?“

„Wann hat uns die Verwaltung jemals etwas mitgeteilt?“ seufzte Helen. „Bei mir hat es wegen der Namensänderung überhaupt nicht Klick gemacht. Hätte mir jemand verraten, dass eine gewisse Rachael Carlton wieder bei uns anfängt, hätten wir vermutlich eine kleine Willkommensparty vorbereitet!“ Schnell lief Helen um den Schreibtisch herum und umarmte Rachael herzlich. „Es tut gut, dich wiederzusehen, Rachael.“

„Mir gehts genauso“, antwortete Rachael aufrichtig. Helen Wells war nicht nur eine tüchtige Oberschwester, die ihre Abteilung absolut im Griff hatte. Sie war auch eine herzliche Frau, die sich sehr um ihr Team kümmerte und eine gute Freundin sein konnte.

Und es für sie gewesen wäre, wenn Rachael es zugelassen hätte.

„Arbeitest du auch in der Spätschicht?“

Helen nickte. „Ich fahre heute eine Doppelschicht. Wir sind wie immer knapp dran mit dem Personal, daher freue ich mich besonders, dass wir dich als Verstärkung bekommen. Aber nicht nur deswegen“, korrigierte sie sich schnell. „Wir haben dich alle sehr vermisst. Wie geht es dir?“

Rachael ließ den Blick durch den Raum wandern und lächelte den Kolleginnen zu, die etwas hilflos wirkten. Einige Krankenschwestern erwiderten ihr Lächeln, bevor sie sich schnell auf ihre Notizen konzentrierten, andere musterten sie unverhohlen neugierig. „Gut“, erwiderte sie fast ein wenig zu laut und zu betont fröhlich. „Obwohl sich das bis zur Übergabe der Frühschicht durchaus geändert haben könnte. Sieht ganz so aus, als gehe es hier noch immer so wild zu wie früher.“

„Da muss ich dir leider Recht geben. Und wenn Hugh endlich aufhören würde, auf meinem Computer herumzuklimpern, könnte ich vielleicht an meinen Schreibtisch, damit wir die Übergabe über die Bühne bringen.“

Erst jetzt nahm Rachael den Arzt wahr, der am Schreibtisch saß. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, diese erste Begegnung möglichst unbeschadet zu überstehen, um ihn zu bemerken. Dennoch war er kein Mann, der für gewöhnlich unbeachtet blieb, es sei denn in Schweden. Da gab es sicher mehrere Männer, die fast einen Meter neunzig groß waren, ebenso blondes Haar, grüne Augen und eine helle Haut besaßen. Aber hier in einem Krankenhaus mitten in Melbourne, Australien, war das sicher die Ausnahme.

Nicht, dass Rachael Interesse an einem so gut aussehenden Mann gehabt hätte – es war nur eine Feststellung.

Sonst nichts.

„Warten die Damen auf mich? Das habe ich nicht bemerkt.“

„Du bist wohl daran gewöhnt, die Damen warten zu lassen, was?“ meinte Helen scherzhaft.

„Ich behandele meine Damen stets vorbildlich“, erwiderte er mit einem verschmitzten Lächeln und mit einer erstaunlich tiefen, wohlklingenden Stimme, die keinerlei schwedischen Akzent aufwies. „Zumindest habe ich bisher noch keine Klagen gehört.“

„Wer würde das auch wagen?“ erwiderte Helen. „Mit dem Lächeln wird einem alles vergeben.“ Sie wandte sich an Rachael. „Darf ich vorstellen, Hugh Connell, Chefarzt für Plastische Chirurgie und Schwarm aller Schwestern und Patientinnen“, frotzelte sie.

Rachael fühlte sich unter seinem intensiven Blick unwohl. Vermutlich überlegt er, ob ich nicht eine neue Nase brauche, sagte sich Rachael verstimmt, während er ihr die Hand entgegenstreckte.

„Und das ist Rachael Holroyd, ehemals Carlton, eine unserer Krankenschwestern“, beendete Helen ihre Vorstellung. „Sie kommt nach einem Jahr Pause zu uns zurück.“

„Freut mich, Sie kennen zu lernen.” Rachael lächelte und ergriff seine ausgestreckte Hand.

„Frisch verheiratet?“ Er lächelte sie an. Vermutlich hatte er einiges über sie mitbekommen. Plötzlich wurde es ganz still im Raum. Nur einige Krankenschwestern räusperten sich nervös. Rachael wünschte sich, die Erde würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen.

„Nein, frisch geschieden.“ Es sollte beiläufig klingen, misslang aber gründlich. Irgendwie klangen ihre Worte zu gewollt witzig, und sie bemerkte Hughs verlegene Miene. „Und ich genieße jeden Augenblick meiner neuen Freiheit“, fügte sie hinzu, doch ihre gespielte Fröhlichkeit schien die Situation nur noch zu verschlimmern.

„Freut mich, das zu hören.“ Hugh räusperte sich hörbar, ohne dass das Lächeln auf seinem Mund seine Augen erreichte. Nach einem kurzen Nicken in die Runde ergriff er sein Stethoskop und seinen Piepser, während Rachael Platz nahm und sich auf die Papiere vor sich konzentrierte. Schon wieder hatte sie eine Närrin aus sich gemacht. Wie so oft in letzter Zeit.

Das wird geradezu zur Gewohnheit, gestand sie sich insgeheim ein. Irgendwie schien sie nicht mehr unbefangen mit anderen Menschen umgehen zu können. Zum x-ten Mal überlegte Rachael, ob es richtig gewesen war, wieder in ihrem alten Krankenhaus anzufangen. Wenn sie schon mit ihren früheren Kolleginnen Probleme hatte, wie sollte sie dann erst mit ihren Patienten zurechtkommen?

Aber grübelnd zu Hause herumzusitzen war auch keine Lösung gewesen, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Und irgendwie mussten die Rechnungen ja auch bezahlt werden. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als wieder in den Job zurückzugehen. Und diesem neunmalklugen Hugh Connell würde sie glücklicherweise nicht allzu häufig über den Weg laufen. Die allgemeine Chirurgie-Abteilung hatte selten Patienten aus der Plastischen Chirurgie.

„Die schlechte Nachricht ist, dass alle Betten voll sind“, begann Helen. „Aber sehen wir es positiv – so müssen wir zumindest keine weiteren Patienten mehr aufnehmen. Oh, Rachael, wahrscheinlich weißt du noch gar nicht, dass wir nicht länger eine rein allgemeine chirurgische Abteilung sind. Ab jetzt versorgen wir auch zwölf Betten der Plastischen Chirurgie.“

„Oh nein“, seufzte Rachael entnervt, während sie einen ersten Blick auf ihre Patientenliste warf. Sie würde Hugh also nicht aus dem Weg gehen können.

„Oh doch!“ Helen schien Rachaels Ausruf richtig zu deuten. „Mir ging es genauso.“

„Seit wann denn?“

„Seit vorigem Monat. Die Renovierung des Privattrakts des Krankenhauses, wo sie normalerweise untergebracht sind, dauert länger als erwartet. Und statt diese Patienten an andere Krankenhäuser zu verlieren, hat man beschlossen, sie auf die Allgemeinmedizin aufzuteilen. Das war die Idee der Verwaltung, nicht meine. Eigentlich sollten wir chirurgischen Abteilungen nur je acht Patienten bei uns aufnehmen, aber weil wir am Besten ausgestattet sind, haben wir mehr als unseren Anteil bekommen.“

„Es sind also alles Privatpatienten?“

Helen rollte mit den Augen. „Ich weiß, Privatpatienten auf einer allgemeinen Station, das ist nicht einfach. Ständig klingeln sie nach den Schwestern, wollen den Wasserkrug um zwei Zentimeter verrückt haben. Aber ist das ein Wunder, wenn sie einen Arzt wie Hugh haben?“

„Was meinst du damit?“

„Er behandelt sie wie kostbares Porzellan. Nichts, rein gar nichts ist ihm zu viel.“

„Er wird ja dafür bezahlt, nett zu sein“, murrte Rachael, aber Helen schüttelte den Kopf.

„Nein, er ist wirklich nett, Punktum. Und er ist auch ein sehr guter Arzt. Es ist nicht leicht, ihm klar zu machen, wie schwierig die Situation manchmal für uns werden kann. Er würde den Krug verstellen, bildlich gesprochen, und zwar so lange, bis seine Patienten glücklich sind. Lass dir das nur als Warnung gesagt sein. Es ist egal, ob es Mitternacht ist oder Neujahrsabend, falls es einem seiner Patienten oder einer Patientin nicht gut geht, will er informiert werden. Andere Ärzte werden nicht gern wegen jeder Kleinigkeit gestört. Hugh dagegen will immer auf dem Laufenden sein.“

Die anderen Krankenschwestern kicherten. Helen warf einen Blick auf die Uhr. „Los, meine Damen, Schichtwechsel! Lasst es uns schnell hinter uns bringen.“

Rachael wusste, dass Helens Neugierde noch nicht befriedigt war und sie ihr nach der Übergabe noch einiges über ihre Auszeit vom Krankenhaus würde erzählen müssen. Deshalb wunderte sie sich nicht, als Helen sie nach der Besprechung zurückhielt.

„Hier ist dein Piepser.“ Sie händigte Rachael einen kleinen orangefarbenen Apparat aus.

„Wofür ist der?“

„Du arbeitest in der Orange Bay. Wir haben die Station nach Farben in Gruppen eingeteilt.“ Sie lachte, als sie Rachaels verwirrtes Gesicht sah. „Das neue System ist endlich installiert. Wenn ein Patient die Klingel drückt, wird die zuständige Schwester direkt über den Piepser informiert.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“ Rachael spielte mit dem Gerät in ihrer Hand.

„Oh doch. Von jetzt an stehst du unter permanenter Kontrolle. Nicht einmal auf der Toilette bist du ungestört.“ Sie klopfte mit der Hand auf ihren Computer. „Und dieses Teil überwacht, wie lange es dauert, bis du auf den Piepser reagierst. Fast ein wenig wie bei Big Brother, nicht wahr? Aber du gewöhnst dich schnell daran.“

„Und ich habe geglaubt, es sei einfach, wieder da anzufangen, wo ich aufgehört habe. Ein Jahr ist heute eine lange Zeit im Pflegeberuf.“

„Wir haben dich alle sehr vermisst“, erwiderte Helen mit sanfter Stimme.

„Ich weiß.“

„Du siehst gut aus.“

Rachael lachte kurz auf. „Du meinst, ich bin etwas dünner geworden?“

„Nicht nur das, du siehst blendend aus.“

„Erstaunlich, was ein Jahr voller Stress bewirken kann“, antwortete Rachael trocken. „Ich bin sicher, Richard würde auch jetzt noch etwas an mir auszusetzen haben.“ Sie deutete auf eine Stelle an ihrer Wange.

„Schau nur, ich habe noch immer ein Grübchen.“

Helen rollte mit den Augen. „So etwas haben selbst Top-Models. Aber dein Exmann würde selbst an denen etwas zum Aussetzen finden.“

„Helen, es tut mir Leid, dass ich mich nie bei dir gemeldet und auch deine Briefe nicht beantwortet habe …“

„Du hattest genug mir dir zu tun“, wehrte Helen ab. „Du solltest nur wissen, dass es jemanden gibt, der an dich denkt. Wie geht es dir inzwischen?“

„Es geht schon.“ Rachael zuckte abwehrend mit den Schultern. „Helen, ich weiß, du meinst es gut, und ich will auch nicht unhöflich erscheinen, es ist nur …“

„Es geht mich nichts an?“

„Nein, nein“, antwortete Rachael schnell. „Ich kann nur nicht darüber sprechen. Ich weiß zwar, dass es angeblich hilft, sein Herz auszuschütten, aber ich kann das einfach nicht. Vor allem heute nicht. Es fiel mir schwer genug zurückzukommen, ohne dass alles wieder in mir aufbricht.“

„In Ordnung. Aber du weißt, dass ich immer für dich da bin, ja?“

Rachael nickte und wandte sich zum Gehen, doch Helen hielt sie zurück. „Ich hoffe, dass wir uns gelegentlich abends mal auf ein Glas Wein treffen. Oder uns einen Film ansehen?“

„Ja, wenn du nicht insgeheim erwartest, dass ich dir bei dieser Gelegenheit mein Herz ausschütte.“

Helen nickte. „Ich habe dich und unsere Gespräche vermisst.“

Helen war zwanzig Jahre älter. Sie war eine kräftig gebaute Frau, glücklich verheiratet, und sie managte den Job prächtig, ohne ihre vier Söhne zu vernachlässigen. Ihr Leben war so ganz anders als das von Rachael, die nach den Erlebnissen des vergangenen Jahres noch immer seelisch labil war und manchmal Probleme hatte, am Morgen aufzustehen.

„Ich bringe die Videos, du kannst für den Wein sorgen. Du hast hoffentlich von deiner Scheidung profitiert?“

Rachael lächelte verschmitzt. „Ein paar Flaschen habe ich schon.“

„Darauf freue ich mich schon.“ Helen schaute auf ihre Unterlagen und war wieder ganz professionell. „Ich habe dir heute die Betten eins bis vier gegeben. Alles einfache Fälle. Zwei von der allgemeinen Station und zwei von Hughs Patientinnen. Außer Sheila Cosgrove haben sie ihre OPs bereits hinter sich. Ich hoffe, du gewöhnst dich langsam wieder ein.“

Als Rachaels Pieper ging, musste Helen lachen. „Wenn man vom Teufel spricht! Hailey Watkins kann dich ganz schön auf Trab bringen.“

Aber es war nicht Hailey, sondern Sheila Cosgrove, die geläutet hatte – eine achtzigjährige Dame, die wegen eines Darmtumors operiert werden sollte. Weil ihr Allgemeinzustand schlecht war und sie außerdem Herzprobleme hatte, war die Operation verschoben worden. Und die Spezialisten versuchten, sie soweit stabil zu bekommen, damit der Eingriff kein allzu großes Risiko darstellen würde.

„Guten Tag, Mrs. Cosgrove. Ich bin Rachael Holroyd; ich kümmere mich heute um Sie. Was gibt es für ein Problem?“

„Ich habe Schmerzen.“

Rachael schloss den Vorhang zwischen den Betten, um für ein wenig Privatsphäre zu sorgen. „Mit dem Magen?“ Rachael trat näher und zog die Bettdecke weg.

„Nein, hier.“ Sheila griff sich an die Brust, während Rachael sich das Krankenblatt anschaute.

„Sie haben eine Angina, nicht wahr?“ Sheila nickte, während Rachael die Medikamentenliste überprüfte. „Ich hole Ihnen ein Spray, Sheila. Und dann werde ich einige Tests machen.“

Als Rachael den Raum verlassen wollte, hielt die Patientin in Bett drei sie zurück. „Schwester?“

„Ja, Mrs. Watkins?“

„Hailey, bitte. Sie sind Rachael, nicht wahr? Ich erinnere mich noch an Sie vom letzten Jahr, als ich auf der Station war. Man hat mir den Blinddarm entfernt.“

„Ja.“ Rachael lächelte. „Mir kam Ihr Name auch gleich bekannt vor.“

„Ich sagte Ihnen damals, dass ich mir vor meinem vierzigsten Geburtstag meine Brüste vergrößern lassen würde. Erinnern Sie sich?“

Rachael wusste das zwar nicht mehr, lächelte aber freundlich, als Hailey weiterredete. „Dr. Connell hat gesagt, dass ich mehr trinken soll. Können Sie meinen Wasserkrug nachfüllen?“

Sheilas Brustschmerzen gingen zwar vor, aber Rachael lächelte ihre Patientin an. „Ich bin gerade noch beschäftigt, werde das aber anschließend gleich erledigen.“

„Vielen Dank.“ Hailey schaute wieder in ihre Zeitschrift und blickte dann noch einmal kurz hoch. „Ach, was ich noch fragen wollte, was haben Sie bekommen?“

Bei dieser Frage erstarrte Rachael förmlich.

„Sie sind doch in Mutterschaftsurlaub gegangen, als ich hier war.“

„Das stimmt.“ Rachael zupfte an der Bettdecke herum, obwohl das völlig unnötig war, aber es fiel ihr schwer, über ihr Privatleben zu sprechen.

„Und – ist es ein Mädchen oder ein Junge?“

„Ein Mädchen“, antwortete Rachael mit einem gezwungenen Lächeln, während sie Haileys Nachttisch zurechtrückte und die Zeitschriften ordnete. „Ich muss jetzt gehen“, verabschiedete sie sich hastig. „Bis später.“

Sheilas Atem ging schwer, und ihre Hände zitterten, so dass sie das kleine Pumpspray nicht selbst bedienen konnte. Obwohl Rachael Sheilas Brustschmerzen ernst nahm, machte die Ängstlichkeit ihrer Patientin die Symptome nur noch schlimmer. Rachael half ihr mit dem Spray und redete beruhigend auf sie ein. Ihre tröstenden Worte schienen bald Wirkung zu zeigen, denn Sheilas Atem ging wieder regelmäßiger.

„Ich mag keine Krankenhäuser“, schimpfte Sheila und ließ sich in ihr Kissen fallen.

„Da geht es Ihnen wie vielen Menschen. Fühlen Sie sich denn besser?“

Sheila nickte. „Ein bisschen.“ Sie schaute Rachael ängstlich an. „Können Sie noch ein wenig hier bleiben?“

„Natürlich. Wir probieren es gleich noch einmal mit dem Spray, und wenn es nicht besser wird, lassen wir einen Arzt kommen.“ Als der Piepser erneut ging, brauchte Rachael einige Sekunden, um ihn abzustellen; schließlich hatte sie noch keine Erfahrung mit dem Gerät. Sie las die Nachricht und schob den Vorhang zum Nachbarbett weg. Die Kontrollleuchte über Haileys Bett brannte tatsächlich. „Ist alles in Ordnung, Hailey?“

„Ich hatte um mehr Wasser gebeten. Ich dachte, Sie hätten das vielleicht vergessen.“

Rachael bemühte sich um eine diplomatische Antwort. „Ganz und gar nicht. Ich bin nur gerade sehr beschäftigt. Ich kümmere mich so bald wie möglich darum.“

Noch während Rachael ihren Unmut unterdrückte, hörte sie Sheila schon wieder heftig nach Luft schnappen. Sie strich der alten Dame, die ihr schon richtig ans Herz gewachsen war, tröstend über die Hand. Besorgt stellte sie fest, dass sie sich kalt anfühlte. Sie drückte dreimal auf die Klingel und schloss das Sauerstoffgerät an.

„Ist alles in Ordnung?“ Helen steckte den Kopf durch die Tür.

„Sie hat Brustschmerzen“, erklärte Rachael, die sich am Durchflussmesser zu schaffen machte. „Vielleicht sollte ich doch besser ein EKG machen. Kannst du ihren Arzt rufen?“

„Hier …“ Helen reichte ihr ein schnurloses Telefon. „Wir sind schon ganz modern geworden, nicht wahr? Bleib du bei deiner Patientin und ruf den Arzt, ich hole das EKG-Gerät.“

Glücklicherweise kam der Arzt in dem Moment, als Rachael mit dem EKG fertig war. Obwohl es keine akuten Veränderungen gab, waren die Symptome und die Krankengeschichte der Patientin Grund genug, einen kompletten Herzcheck durchzuführen und ihr präventiv Aspirin zu verabreichen, sollte sie tatsächlich einen Herzinfarkt erleiden. Die ganze Zeit über hielt die alte Frau Rachaels Hand fest umklammert, während der Arzt die Brust abhörte und ihr Blut abnahm. Es dauerte fast fünfundvierzig Minuten, bis sie hinreichend versorgt war und Rachael wieder Zeit für ihre anderen Patienten hatte. Eine ziemlich missgelaunte Hailey erwartete sie.

„Es tut mir Leid, Hailey, dass ich Sie warten lassen musste. Aber jetzt hole ich Ihnen sofort Wasser.“

„Nicht nötig.“ Rachael glaubte einen etwas spitzen Unterton in Hughs Stimme herauszuhören, während er einen Krug Wasser auf Haileys Beistelltisch abstellte. Er hatte sogar Eiswürfel hineingegeben.

„Ich wollte mich gerade darum kümmern“, erklärte Rachael schnell. „Ich wurde leider aufgehalten …“

„Das ist keine große Sache. Hailey wollte etwas Wasser, ich habe das für sie erledigt.“ Lächelnd wandte er sich seiner Patientin zu. „Wie geht es Ihnen denn heute?“

„Ich habe ziemliche Schmerzen.“

Stirnrunzelnd kontrollierte Hugh ihren Medikamentenplan. „Sie haben ja schon ewig kein Schmerzmittel bekommen. Warum um alles in der Welt haben Sie nicht einer Schwester Bescheid gesagt?“

„Sie waren alle so beschäftigt. Ich wollte kein Theater machen.“

„Sie machen kein Theater. Wenn Sie Schmerzen haben, müssen Sie das dem Pflegepersonal sagen. Die Schwester wird Ihnen sofort etwas bringen. Haben Sie Ihre Atemübungen schon gemacht?“

„Das tut so weh“, stöhnte Hailey.

„Aber es ist absolut wichtig. Ich habe es Ihnen schon vor der Operation erklärt. Und Sie haben eine Infektion bekommen, weil Sie Ihre Übungen vernachlässigt haben.“

Er warf noch einen Blick auf die Liste und sah Rachael vorwurfsvoll an. „Die Antibiotika hätte sie um ein Uhr bekommen sollen, das ist hier nicht abgezeichnet.“

„Ich habe sie ihr noch nicht gegeben. Ich war gerade …“

„… dabei, das zu tun“, beendete Hugh den Satz für Rachael. „Würden Sie sich bitte umgehend darum kümmern?“

„Sicher.“ Leider war das schneller gesagt als getan. Den alten Medikamentenschrank gab es nach der Umgestaltung der Abteilung nicht mehr, sondern einen Medikamentenraum, den man jedoch nur mit einem Identitätspass, ähnlich einer EC-Karte, betreten konnte. Man hatte das geändert, weil man glaubte, dass weniger Fehler passierten, wenn man sich in dem Raum ganz auf eine Sache konzentrierte. Das einzige Problem dabei war, dass man zu zweit sein musste. Und genau jetzt, acht Minuten nach eins, war keine Krankenschwester frei.

Hugh nahm die Nachricht gelassen auf, zumindest schien es so. Er bot sogar an, die Medikamente gemeinsam mit ihr holen zu gehen, wenn seine Patientin schnellstmöglich versorgt werden konnte. Aber sein tiefer Seufzer und sein offensichtlicher Unmut ließen keinen Zweifel daran, dass er Rachael für ziemlich unorganisiert hielt. Das war unfair, denn Rachael wusste, dass sie eine zuverlässige und äußerst genaue Krankenschwester war. Nur fing sie praktisch wieder bei null an.

Während die Tür zum Medikamentenraum sich hinter ihr und Hugh schloss, stellte Rachael fest, dass die Nähe zu dem großen blonden Arzt nicht gerade dazu angetan war, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sein Eau de Toilette war ein wenig aufdringlich, und außerdem musste Rachael sich in dem Raum mit den vielen Schubladen und Fächern erst einmal orientieren.

„Es tut mir Leid“, murmelte sie, „ich kenne mich noch nicht aus.“

Glücklicherweise waren alle Antibiotika alphabetisch einsortiert, und die Namen der Produkte hatten sich auch nicht geändert. Aber Rachaels Nervosität wurde nicht gerade geringer, als er mit seinen makellos gepflegten Fingernägeln auf den Tisch trommelte.

Sie zeigte dem Arzt die Ampulle mit dem Antibiotikum. Hugh überprüfte den Namen und das Ablaufdatum und nickte kurz. Rachael tat das Gleiche mit den Kochsalz-Ampullen. Sie zog die Schublade für die Medikamente auf, die unter Verschluss gehalten werden mussten. Dort entdeckte sie das Medikamentenbuch, bevor sie die Schachtel mit Pethidin öffnete.

„Sieben“, zählte sie und hielt Hugh die Packung hin.

„In Ordnung. Wo muss ich unterschreiben?“

„Bitte überzeugen Sie sich, dass noch sieben Ampullen übrig sind. Das verlangt das Gesetz.“

„Das habe ich“, erwiderte er etwas schroff. „Ich brauche nicht mehr meine Finger zum Zählen wie ein zweijähriges Kind. Also, wo unterschreibe ich?“

Rachael fiel es noch schwerer, seine sarkastische Bemerkung zu ertragen, als sie feststellte, dass sie keinen Stift in der Tasche hatte. Sie hatte ihren Kugelschreiber wohl an Sheilas Bett liegen lassen.

„Hier, Sie können meinen haben“, bot er ihr aufreizend ruhig an.

„Danke.“

„Haben Sie ein Problem mit Patienten der kosmetischen Chirurgie, Rachael?“ Auf diese Frage war Rachael nicht vorbereitet. Seine Unterstellung verletzte sie – nur weil sie Haileys Wunsch nicht umgehend hatte erfüllen können?

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie knapp und füllte die entsprechenden Zeilen im Medikamentenbuch aus.

„Sie wären nicht die erste Krankenschwester auf Ihrer Station.“

„Dann ist es ja gut, dass es auf mich nicht zutrifft.“

„Aber Sie verstehen schon, warum ich Sie frage, nicht wahr? Hailey musste Sie dreimal bitten, ihr Wasser zu bringen. Sie hat ihre Antibiotika nicht rechtzeitig bekommen, und sie hat ganz offensichtlich Schmerzen.“

„Meine andere Patientin hatte akute Brustschmerzen. Sie erwarten doch nicht, dass ich mich beim Verdacht auf einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt stattdessen um das Wasser für Ihre Patientin kümmere, oder? Und Hailey hat mir nichts von Schmerzen erzählt. Ich hatte den Eindruck, dass sie außer Wasser nichts brauchte.“ Sie setzte eilig ihre Unterschrift unter die Liste. „Wenn Sie mir noch einen Augenblick Zeit geben, um ihr das Antibiotikum zu geben, dann bekommt sie die fällige Menge mit …“ Rachael schaute schnell auf ihre Armbanduhr und sah dann kämpferisch zu ihm auf. „… nur fünfzehnminütiger Verspätung. Das sollte wohl im Bereich des Normalen liegen.“ Man merkte ihr an, wie sehr sie sein Vorwurf getroffen hatte.

„Hören Sie, vielleicht war ich ein wenig zu heftig. Natürlich geht eine Patientin mit Brustschmerzen vor. Ich bin vielleicht ein bisschen empfindlich, weil es in den vergangenen Wochen zu einigen Problemen mit meinen Patienten kam. Einige der Krankenschwestern auf der Allgemeinstation scheinen zu denken, dass die Patientinnen der kosmetischen Chirurgie ruhig ein wenig leiden können, weil sie es sich selbst eingebrockt haben, sich verschönern zu lassen. Ich weiß, dass manche auch ziemlich schwierig und fordernd sein können, aber viele haben sich das Geld für den Eingriff hart erarbeitet oder lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Und natürlich haben sie wie alle anderen Patienten Angst.“

Er seufzte. „Hailey hat nicht nach einem Schmerzmittel gefragt, weil sie glaubt, dass sie schneller entlassen wird, wenn sie es ohne Medikamente durchsteht. Unglücklicherweise hat es sich in ihrem Fall gegen sie verkehrt. Sie hatte zu große Schmerzen, um ihre Übungen zu machen, und jetzt muss sie noch eine Woche länger hier bleiben und Antibiotika nehmen.“

Mit seinen Bemerkungen hat er wohl nicht ganz Unrecht, musste Rachael sich ehrlicherweise eingestehen. Sie hatte gesehen, wie einige Schwestern die Augen verdreht hatten, als man auf die Patientinnen der kosmetischen Chirurgie zu sprechen gekommen war. „Ich versichere Ihnen, dass ich Ihre Patientinnen genauso behandle wie die anderen.“ Sie spürte seinen Blick auf sich, schaute ihn aber nicht an.

„In diesem Fall möchte ich mich entschuldigen.“

Rachael hätte die Entschuldigung einfach mit einer kurzen Bemerkung annehmen können, aber sie war nicht sicher, ob sie ihre Stimme unter Kontrolle hatte. Daher schwieg sie. Er schien jedoch auf eine Reaktion zu warten.

„Gut“, fauchte er sie schließlich an, drehte sich abrupt auf dem Absatz um und marschierte hinaus. Rachael folgte ihm und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Insgeheim verfluchte sie den Tag, an dem sie sich entschlossen hatte, ins Krankenhaus zurückzukehren. Sie war gerade seit einer Stunde auf der Station und hatte sich bereits einen Feind gemacht.

Welches Recht hatte dieser Hugh Connell, sie ohne handfesten Beweis zu beschuldigen? Wenn er glaubte, ihr nur deswegen Vorwürfe machen zu können, weil seine Patientin ihre Medikamente ein wenig später bekam – was nun wirklich keinen Einfluss auf ihr Wohlbefinden hatte –, dann war das einfach ungerecht.

Sollte er doch mal durch die Hölle gehen, durch die sie gegangen war.

2. KAPITEL

„Tut mir leid, Hailey, dass es so lange gedauert hat. Es war leider so viel zu tun.“ Obwohl es in ihr brodelte, schaffte es Rachael, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern und möglichst unbefangen mit ihrer Patientin zu sprechen. „Wenn Sie mir kurz Ihren Arm herstrecken, kann ich Ihr Namensband überprüfen.“

Jeder wusste, dass die Patientin Hailey war, aber Krankenhausvorschriften erforderten, dass zwei unabhängige Personen bei der Verabreichung von Arzneimitteln die Identität der Patientin mit der Medikamentenliste überprüften. Alles war in bester Ordnung, und Rachael hätte eigentlich erwartet, dass Hugh sich dann zurückziehen würde, aber er blieb neben dem Bett stehen.

„Ich muss noch nach der Naht schauen“, erklärte er, während Rachael den Verschluss der Ampulle aufbrach.

„Es dauert fünf Minuten“, erklärte Rachael. Sie wollte Hugh damit die Möglichkeit geben, einen Kaffee trinken zu gehen oder einen Telefonanruf zu erledigen, wie das die meisten Ärzte in solchen Fällen taten. Aber Hugh, so lernte Rachael schnell, war nicht wie die anderen Ärzte, die sie bisher kennen gelernt hatte.

„Ich warte gern“, erwiderte er lässig. Das war an sich schon erstaunlich, aber als er sich gemütlich auf das Bett zu seiner Patientin setzte, kurz eine Zeitschrift durchblätterte und Small Talk mit Hailey machte, zeigte sich sein wahrer Charakter. Die meisten Chefärzte pflegten derlei lockeren Gesprächen mit ihren Patienten aus dem Weg zu gehen. Nicht aber Hugh. Er schien sich über den kleinen Plausch zu freuen.

„Ich habe Rachael gerade erzählt, dass ich mich an sie noch von meinem letzten Krankenhausaufenthalt erinnere“, erzählte Hailey.

„Als Sie sich den Blinddarm herausnehmen ließen?“

„Ja. Rachael war da kurz vor ihrem Mutterschaftsurlaub.“

Rachael fühlte seinen Blick auf sich ruhen, während sie sich auf das Aufziehen der Spritze konzentrierte und versuchte, die Unterhaltung einfach zu ignorieren.

„Wie haben Sie sie genannt?“ fragte Hailey.

„Das war die Erste.“ Rachael schaute nicht auf, während sie die Spritzen austauschte. „Ich gebe Ihnen dann gleich noch die zweite Ampulle.“

„Ich meine, wie haben Sie Ihre Tochter genannt?“ hakte Hailey noch einmal nach.

Rachael schaute kurz hoch und sah die Blicke der beiden neugierig auf sich gerichtet. So einfach kam sie wohl nicht davon. „Amy“, antwortete sie knapp und versuchte, sich erneut ihrer Arbeit zuzuwenden, auch wenn Hugh und Hailey wohl erwarteten, dass sie mehr preisgab.

„Was für ein hübscher Name.“ Hailey legte den Kopf in die Kissen zurück. „Sie ist bestimmt ein süßes Kind?“

„Sehr süß“, erwiderte Rachael sanft.

„Seit wann arbeiten Sie wieder?“

Rachael schaute nicht hoch. „Heute ist mein erster Tag.“

Hailey lachte kehlig auf. „Und da lassen wir Sie die ganze Zeit herumrennen. Sie haben sicher tausend Dinge zu erledigen, machen sich Sorgen, ob das mit der Krippe klappt und ob Sie einen Babysitter bekommen für die Spätschicht. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass Sie sich nicht überarbeiten. Wie alt ist Amy jetzt? Fast ein Jahr, oder?“

Endlich war Rachael fertig und tätschelte kurz die Hand ihrer Patientin. „So, jetzt dürfen Sie sich entspannen. Das Schmerzmittel sollte bald wirken. Wenn Sie etwas brauchen, können Sie nach mir läuten.“

Zielstrebig eilte sie in den Behandlungsraum und warf die leeren Ampullen und Spritzen in den Abfallbehälter. Die energischen Fußschritte hinter ihr klangen fast schon vertraut. Sie spürte Hughs unterdrückte Feindseligkeit, während er einen Verbandswagen belud.

„Ich kann den Verband für Sie anlegen“, bot sie an.

„Er ist noch okay. Ich wollte ihn nur etwas verstärken.“ Er schaute sie einen Augenblick lang intensiv an. „Sie waren nicht gerade freundlich zu meiner Patientin.“

„Finden Sie?“ wehrte Rachael ab. Sie wusste, wo die Unterhaltung hinführen würde. „Ich rede nicht gern über mein Privatleben, das ist alles.“

„Sie wollte doch nur nett sein.“

„Sehen Sie, Herr Doktor, vielleicht macht es Ihnen Spaß, sich gemütlich mit Ihren Patienten darüber auszutauschen, was Sie zum Frühstück gegessen haben. Ich bin da anders. Ich bewahre gern eine gewisse professionelle Distanz.“

„Das habe ich schon gemerkt.“ Er fuhr sich mit der Hand heftig durch das dichte Haar und wollte schon gehen, dann schien er es sich anders zu überlegen.

„Sie sind wie ein frischer Luftzug, Rachael, wissen Sie das? Es ist äußerst charmant, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“ Das hatte er bestimmt nicht als Kompliment gemeint.

„Ich muss mein Herz nicht jedem ausschütten, um eine gute Krankenschwester zu sein“, erwiderte Rachael.

„Vielleicht nicht“, meinte Hugh scharf und wandte sich zum Gehen. „Aber ein paar freundliche Worte könnten nicht schaden.“

Der Tag ist zwar nicht gerade ein überwältigender Erfolg gewesen, aber auch keine völlige Katastrophe, überlegte Rachael, als sie gegen Schichtende im Schwesternzimmer saß und die Patientendaten eintrug. Es tat ihr richtig gut, wieder zu arbeiten. Ihr Verhältnis zu Hugh Connell war zwar etwas angespannt, aber ansonsten hatte alles bestens geklappt.

Sheila war vom Kardiologen untersucht worden, und obwohl ihre Blutwerte und das EKG unverändert gewesen waren, hatte der kleine Zwischenfall eine erneute Verschiebung ihres Operationstermins zur Folge. Hailey hatte auf Grund des Schmerzmittels fast den ganzen Nachmittag geschlafen und am Abend Besuch bekommen. Rachaels andere beiden Patienten waren unkompliziert gewesen. Sie musste nur ihre Verbände kontrollieren und ihnen die verschriebenen Medikamente verabreichen. Alles, was Rachael während ihrer Schicht getan hatte, musste noch genau niedergeschrieben werden. Sie genoss es, dass sich einmal nicht der ganze Tag um ihre traurigen Erinnerungen gedreht hatte und sie sich voll auf andere Menschen hatte konzentrieren können.

Sie hatte ihren ersten Tag überlebt.

„Die Ablösung erwartet dich schon.“ Helen lächelte Rachael aufmunternd zu, als sie ihr im Flur begegnete. Rachael öffnete die Tür zum Schwesternzimmer und fühlte sich viel souveräner als noch vor einigen Stunden, als sie mit flatternden Nerven ins Krankenhaus gekommen war.

„Macht es mir nicht so schwer, Mädels.“ Sie lächelte in die Runde. „Ich habe das schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gemacht.“

Das zustimmende Pfeifen von mehreren Mitarbeitern bewies Rachael, dass es immer noch locker zuging im Krankenhaus. Und mit dem einen oder anderen aufmunterndem Nicken brachte sie die Übergabe ihrer Patienten ohne Probleme über die Bühne.

„Sie haben dich nicht lebend verspeist, oder?“ Helen kam hereingeschlendert, als Rachael ihre Haarschleife löste und ihre Jacke überzog.

„Sie waren ganz in Ordnung. Überhaupt ist jeder nett.“

„Wir sehen dich also morgen wieder hier?“

Rachael nickte. „Vielen Dank, Helen.“ Als sie sich anschickte zu gehen, hielt ihre Kollegin sie noch einmal zurück.

„Bring diese Unterlagen doch bitte noch im Ärztezimmer vorbei, ja? Hugh hat mich deswegen gerade angepiepst.“

Sie konnte diese kleine Gefälligkeit schlecht ablehnen. Zögernd blieb Rachael nun vor der Tür zum Ärztezimmer stehen, bevor sie anklopfte. Hugh saß vor dem Computer und tippte etwas in die Tasten. Schnell legte sie die Papiere auf den Schreibtisch. „Das soll ich Ihnen von Helen bringen. Sie sagte, Sie benötigen das.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte sie gehen, doch er hielt sie zurück.

„Rachael, wegen heute Nachmittag …“

„Ist schon in Ordnung.“ Sie wollte den Tag nicht mit einem Streit beenden. Sie sehnte sich jetzt nur noch danach, endlich nach Hause zu kommen, ihre Uniform auszuziehen und ein schönes Bad zu nehmen. Auf eine Auseinandersetzung hatte sie überhaupt keine Lust. Aber da sie in Zukunft ständig miteinander zu tun haben würden und es zum Nachteil der Patienten wäre, wenn es Spannungen zwischen dem Arzt und der Krankenschwester gab, blieb sie stehen.

„Ich entschuldige mich, sollte ich Sie mit meinem heutigen Verhalten verletzt haben. Ich glaube, wir haben einfach einen schlechten Start erwischt“, ergriff sie die Initiative und verdrängte ihren Stolz. „Vielleicht können wir ja morgen noch einmal von vorn anfangen?“

„Das fände ich schön.“ Hugh drehte sich zu ihr um. „Es tut mir ebenso Leid. Einige meiner Kommentare waren etwas übertrieben. Das beruht sicher auf einem Missverständnis. Helen hat Sie in den höchsten Tönen gelobt, und sie täuscht sich eigentlich nie.“

„Von Ihnen hat sie auch in Superlativen gesprochen.“

Hugh lachte. „So, wir sind also beide Perfektionisten. Ist es da ein Wunder, dass wir aneinander geraten sind? Auf jeden Fall habe ich Sie jetzt schon lange genug aufgehalten. Sie möchten sicher so schnell wie möglich zurück nach Hause zu Ihrem Baby.“

Sie hatte die Hand schon fast auf dem Türgriff, beschloss aber, die Situation ein für allemal zu klären. Irgendwann würde er sowieso die Wahrheit erfahren. Und da sie länger zusammenarbeiten würden, war es besser, er wusste alles von Anfang an.

„Hugh …“

Er hörte auf, in die Tastatur zu hämmern, und schaute sie fragend an.

„Sehen Sie, ich will eigentlich keine negativen Stimmungen zwischen uns …“ Er kniff die Augenbrauen zusammen.

„Was ist los? Ich dachte, wir hätten vereinbart, alles zu vergessen, was heute passiert ist?“ fragte er.

Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. Sie brauchte einen Augenblick, ehe sie weiterreden konnte. „Ich habe Hailey nichts gesagt, weil sie ja nur ein paar Tage hier ist und ich sie nicht damit behelligen wollte. Aber Sie und ich werden ja wohl länger zusammenarbeiten …“

„Rachael, ich verstehe nicht ganz …“

„Ich weiß.“ Es entstand eine unangenehme Stille. „Ich hatte ein kleines Mädchen“, begann sie. „Sie hieß Amy.“ Betroffenheit machte sich auf seiner Miene breit, als ihm klar wurde, dass sie in der Vergangenheit sprach. „Und wie ich Hailey sagte, war sie wunderhübsch.“

„War?“ Hughs Stimme war ein bloßes Krächzen. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als sie nickte.

„Es war eine Totgeburt.“

Starke Hände umfassten sie und führten sie sanft zu einem Stuhl.

„Es tut mir Leid“, seufzte Rachael leise.

„Ihnen muss das doch nicht Leid tun. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Seine Stimme zitterte leicht. „Ich sollte mich entschuldigen.“

„Woher sollten Sie es wissen? Keiner hat es mitbekommen. Man geht auf Mutterschaftsurlaub, und jeder erwartet natürlich, dass man ein wunderschönes, gesundes Baby hat, sich die Nächte um die Ohren schlagen und ständig Windeln wechseln muss.“

„Aber warum haben Sie nichts gesagt? Ich meine, als Hailey über Babysitter und solche Sachen sprach.“ Bei der Erinnerung zuckte er zusammen. „Ihre Worte müssen Ihnen richtig wehgetan haben.“

„Das stimmt.“ Rachael lachte kurz auf, doch es war kein fröhliches Lachen. „Aber wie hätte sie sich dann gefühlt?“

„Wieso?“

„Wie fühlen Sie sich denn jetzt?“

„Schrecklich“, gab er zu. Er nahm ihre Hand in seine und drückte sie fest. „Ich fühle wirklich mit Ihnen.“

„Sehen Sie. Hailey wäre es nicht anders gegangen. Sie hätte sich Vorwürfe gemacht. Dabei hatte sie es nur gut gemeint.“

„Aber Sie können doch nicht alles für sich behalten, nur weil Sie anderen Menschen nicht wehtun möchten. Was ist mit Ihrem Schmerz?“

Rachael zuckte abwehrend mit den Schultern. Er hielt ihre Hand noch immer in seiner, und die Berührung war sogar richtig tröstlich. „Hoffentlich bin ich beim nächsten Mal etwas gefasster, wenn mich ein Patient darauf anspricht.“

Ihre Lippen bebten, als sie weitersprach. „Ich bin noch nicht so weit, das Ganze zu akzeptieren.“ Er blickte sie unverwandt an, während sie zögernd weitersprach. „Es gibt ganz offensichtlich fünf Stufen beim Bewältigen von Schmerz. Und Akzeptanz ist die letzte Stufe.“

„Und wo bist du jetzt?“ Unwillkürlich duzte er sie.

„Nun, ich habe wohl die Phase hinter mir, wo ich es nicht wahrhaben will. Vermutlich bin ich im Stadium, wo meine Stimmung in Wut umschlägt“, erwiderte Rachael mit unsicherer Stimme. „Vielleicht stimmt es ja wirklich, was in den Ratgebern steht. Ich empfinde eine so große Wut, dass ich es manchmal kaum noch aushalten kann. Bin wütend für mich und wütend für Amy. Wütend über all das, was sie nicht erleben durfte, und wütend, dass es Dinge gibt, die ich nie mit ihr erleben kann.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Das ist eine verdammt lange Zeit, um wütend zu sein.“ Aus Augen, die keine Tränen mehr kannten, schaute sie ihn an. „Ich habe das Gefühl, mich im Kreis zu drehen.“

„Es ist sicher nicht leicht, mit einem so tragischen Ereignis fertig zu werden.“

Ein leichtes Nicken war die einzige Antwort. Rachael musste sich extrem anstrengen, um nicht die Fassung zu verlieren. „Ich sollte besser gehen.“ Sie stand auf und hob ihre Handtasche vom Boden auf.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

„Es geht schon.“ Sie zwang ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Sie fühlte sich ein wenig verlegen, weil sie ihm so viel über sich verraten hatte.

„Es tut mir wirklich schrecklich Leid.“

Rachael zuckte abwehrend mit den Schultern. „Du konntest es ja nicht wissen.“ Auch sie duzte ihn jetzt.

Als sie gehen wollte, hielt er sie kurz zurück. „Ich spreche nicht von diesem Nachmittag. Ich habe größtes Mitgefühl für dich, weil du Amy verloren hast.“

Gedankenverloren lief Rachael über den langen Flur zum Ausgang. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Autoschlüssel.

Es war merkwürdig, es hatte nicht wehgetan, Hugh Amys Namen aussprechen zu hören. Es hatte ihr sogar geholfen, dass sie ihr Baby als wirklich empfand. Es bedeutete, dass es dieses Kind tatsächlich gegeben hatte.

3. KAPITEL

Den ganzen Vormittag über war Hailey eine vorbildliche Patientin gewesen. Nicht ein einziges Mal wanderte ihr Finger zur Klingel, und gleichgültig, wie oft Rachael bei ihr vorbeischaute oder ein Gespräch anzufangen versuchte, stets lächelte Hailey höflich und versicherte Rachael, dass alles in Ordnung sei. Rachael war für einige Tage der Violet Bay zugeteilt gewesen und war jetzt wieder zurück in der Orange Bay. Während sie vorsichtig die feine Narben um Haileys Brüste reinigte, kam sie auf den vermutlichen Grund für das Schweigen ihrer Patientin zu sprechen.

„Hugh hat es Ihnen gesagt, nicht wahr?“

„Mir was gesagt?“

„Dr. Connell hätte nicht mit Ihnen über mein Privatleben reden dürfen“, stellte Rachael mit bebender Stimme klar.

„Ich bin mir sicher, dass er es nicht vorhatte. Aber ich erwähnte, wie schön es sei, wieder von derselben Schwester wie im Vorjahr betreut zu werden. Und dass es Ihnen sicher schwer gefallen sei, Ihr Kind Fremden zu überlassen.“ Sie hielt kurz inne. „Ich vermute, Dr. Connell kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mich immer für andere Menschen interessiert habe.“

„Sie mögen also ein wenig Klatsch und Tratsch?“ Auf einmal war der Ton zwischen ihnen viel lockerer, während Rachael den Verband anlegte.

„Tun wir das nicht alle? Na ja, auf jeden Fall hat mir Dr. Connell bei seiner nächsten Visite gesagt, dass ich Sie ein wenig schonen sollte. Das ist alles. Er hat mir nichts Vertrauliches zugetragen. Ich habe einfach eins und eins zusammengezählt. Natürlich fühle ich mich schrecklich.“

„Dafür gibt es gar keinen Grund“, erwiderte Rachael mit fester Stimme. „So eine Frage ist völlig normal. Es war ja nett, dass Sie sich noch an mich erinnert haben. Mir tut es nur Leid, wenn Sie sich deswegen Vorwürfe machen.“

„Sie hätten es mir sagen sollen, Rachael. Man darf sich in so einem Fall keine Gedanken um die Gefühle anderer Menschen machen. Sie sind diejenige, die mit diesem Schicksal fertig werden muss. Es wird leichter mit der Zeit, wissen Sie.“ Haileys Stimme enthielt einen wissenden Ton, und die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Zwischen ihnen herrschte das Einvernehmen zweier Menschen, die das Gleiche durchgemacht hatten – mit dem einen Unterschied, dass eine den einsamen Weg schon ein Stück länger gegangen war. „Man muss das tun, was einem hilft, ohne Rücksicht auf andere.“

Ein Lächeln huschte über Haileys Gesicht. „Und diese Brüste sind doch einfach fabelhaft, oder? Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen.“

Beide lachten laut und bemerkten nicht, dass Hugh hinter ihnen auftauchte.

„Verzeihung, wenn ich die kleine Party störe. Hailey, ich wollte Sie mir nur noch mal ansehen, bevor Sie entlassen werden. Ich bin nämlich später im OP.“ Er lächelte beide neugierig an. „Worüber haben Sie sich denn so amüsiert? Lassen Sie mich doch mitlachen; ich könnte heute Vormittag etwas Aufheiterung gebrauchen.“

Glücklicherweise war Hailey schlagfertig. „Wir haben Ihre Handarbeit bewundert, Dr. Connell.“

Überraschenderweise machten Hugh diese Worte sehr verlegen, was Rachel wunderte. Es beschäftigte sie den ganzen Vormittag. Er sah doch ständig die Brüste aller möglichen Frauen. Es war irgendwie nett, dass er nicht ganz so unnahbar war, wie er wirkte. Aber sie ärgerte sich immer noch darüber, dass er mit Hailey über sie gesprochen hatte.

„Bleib sitzen.“ Helen betrat das Schwesternzimmer, in dem Rachael die Krankenakten auf den aktuellen Stand brachte, und wedelte mit einem Anmeldeformular durch die Luft. „Wir haben einen neuen Patienten. Ich werde ihn im Seitenflügel der Orange Bay unterbringen. Vielleicht bekommst du ihn auf deiner heutigen Schicht nicht mehr zu Gesicht, es wird ein schwieriger Fall. Sie bringen ihn direkt von Warragul.“

„Was hat er?“ Rachael ergriff das Aufnahmeformular und las den ärztlichen Befund mit einem kritischen Stirnrunzeln. „Wie kann man eine Unterlippe amputieren?“

„Es war ein Arbeitsunfall. Klingt furchtbar, nicht wahr? Offensichtlich fehlt der mittlere Teil der Unterlippe komplett.“

„Und haben sie die fehlenden Gewebeteile gefunden?“ fragte Rachael. „Kann man das wieder annähen?“

Helen schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Die Ärzte von Warragul glauben allerdings, dass Hugh vielleicht noch was machen kann. Hugh klang auch ganz zuversichtlich. Er will den jungen Mann vielleicht sogar ohne Vollnarkose operieren.“

„Da kann man nur hoffen, dass er seinem Ruf gerecht wird. Der arme Junge ist gerade mal neunzehn Jahre alt.“

„Oh, Hugh ist wirklich brillant“, versicherte Helen. „Ich arbeite seit mehr als einem Monat mit ihm zusammen, und einiges von dem, was er gemacht hat, grenzt fast an ein Wunder.“ Sie ließ ihren fülligen Körper in einen Stuhl neben Rachael sinken und seufzte tief auf. „Was war zwischen dir und Hugh?“ Als Rachael nicht sofort antwortete, fuhr Helen fort. „Ich habe euch beide ziemlich aufgebracht aus dem Medikamentenraum stürmen sehen. Es sah nicht gerade nach einem angenehmen Arbeitsklima aus. Ich werde dich deswegen vorübergehend in die Purple Bay versetzen, damit sich die Situation zwischen euch wieder etwas entspannt. Aber heute Morgen ging das leider noch nicht.“

„Das ist nicht nötig“, erklärte Rachael gereizt. „Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, das ist alles. Er dachte, ich sei inkompetent, ich ließ das nicht auf mir sitzen“, tat Rachael die Geschichte ab, aber Helen konnte man nicht so schnell hinters Licht führen. Forschend betrachtete sie ihre Kollegin.

„An meinem ersten Tag ist so ziemlich alles schief gelaufen. Erst diese Witze über meine Scheidung, dann war ich zehn Minuten zu spät dran mit der Medikamentenausgabe …“, erklärte Rachael.

„Das war mein Fehler. Ich hätte nach der Übergabe nicht so lange mit dir reden sollen.“

„Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, aber Mrs. Cosgrove hatte Schmerzen in der Brust. Du hast es ja mitbekommen. Jeder andere Arzt hätte über diese kleine Verzögerung kein Wort verloren.“

„Hugh ist eben ein Perfektionist.“ Helen nickte wissend.

„Und wie wir beide wissen, habe ich wohl extreme Probleme mit Perfektionisten im Allgemeinen.“

„Komm schon, Rachael, du kannst Hugh kaum mit Richard vergleichen“, meinte Helen. „Richard ging es nur um Äußerlichkeiten, er wollte aus dir eine Modepuppe machen. Außerdem war er ein extremer Egoist und Karrierist. Hugh dagegen interessiert sich wirklich für das Wohlergehen seiner Patienten.“

„Meinst du?“ Rachael leerte ihre Tasse und erhob sich. „Hugh macht doch Karriere wegen Leuten wie Richard. Wenn ich auf meinen Ex-Mann gehört hätte, hätte ich sicherlich eine Menge Geld für eine Schönheitsoperation ausgegeben und Leuten wie Hugh ihren Sportwagen finanziert. Ich finde, sie sind sich sehr ähnlich.“

Helen lachte über Rachaels Zynismus. „Woher weißt du überhaupt, dass Hugh ein Cabrio hat?“

„Ich habe einfach geraten. Bestimmt chauffiert er darin eine gertenschlanke Blondine herum. Er ist genau wie Richard.“

„Ich glaube, du gehst ein wenig zu hart mit ihm ins Gericht.“ Helen grinste vergnügt. „Auf jeden Fall sieht Hugh besser aus.“

„Aber Schwamm drüber. Jeder von uns beiden hat sich beim anderen entschuldigt, also ist alles in Ordnung.“

Bis zur nächsten Begegnung, dachte Rachael und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, während sie in ihre Abteilung eilte, um sich von Hailey zu verabschieden, die in ihrem Kostüm umwerfend gut aussah.

„Alles Gute“, wünschte Rachael ihr mit einem Lächeln. „Das neue Outfit steht Ihnen blendend.“

„Ich habe das Gefühl, als würde ich gleich nach vorne kippen“, scherzte Hailey. „Sie fühlen sich so groß an.“ Rachael hatte sich die Vorher-Nachher-Fotos angesehen und konnte verstehen, warum ihre Patientin sich für eine Brustvergrößerung entschieden hatte. Hugh hatte nicht übertrieben. Haileys Figur wirkte wirklich verführerisch, und ihr Lächeln deutete auf ein neues Selbstvertrauen hin. „Für Sie und Ihre Kollegen.“ Hailey reichte ihr eine große Packung Pralinen. „Ein kleines Dankeschön.“

„Das hätten Sie doch nicht tun müssen“, schimpfte Rachael, während sie die Schachtel in Empfang nahm. „Denken Sie immer schön an Ihre Tiefenatmung, und vergessen Sie die Antibiotika nicht.“

„Wie könnte ich das vergessen! Dr. Connell hat mir ganz klare Instruktionen gegeben. Ich werde meine Medikamente pünktlich nehmen, einen Stütz-BH tragen und schweres Heben in den nächsten vier Wochen vermeiden.“ Sie sah Rachael schuldbewusst an. „Es tut mir Leid, falls ich Sie verletzt habe.“

„Das haben Sie nicht. Schließlich konnten Sie das ja nicht wissen.“

„Es wird einfacher im Laufe der Zeit, wissen Sie.“

Rachael holte tief Luft. „Meinen Sie?“

„Ja. Sind Sie in einer Selbsthilfegruppe?“

„Hey, wer ist hier die Krankenschwester?“ versuchte Rachael, die Stimmung nicht zu emotional werden zu lassen.

Doch Hailey gab nicht so schnell auf. „Nehmen Sie sich all die Hilfe, die Sie bekommen können.“ Sie fischte aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte heraus und reichte sie Rachael.

Der Name der Selbsthilfegruppe kam Rachael bekannt vor. Eine Frau aus der Gruppe hatte sie im Krankenhaus besucht, als sie nach der Totgeburt auf der Entbindungsstation gelegen hatte. Sie hatte sich die Ohren zugehalten, um das lebensbejahende Schreien der Neugeborenen nicht hören zu müssen. Sue hatte die Frau geheißen, die tröstend an ihrem Bett gesessen hatte. Aber sie hatte nicht geweint, sondern nur unentwegt und blind vor Verzweiflung an die Wände gestarrt.

„Wir werden sehen.“ Doch Rachael beschloss, die Karte gleich wieder wegzuwerfen, wenn Hailey gegangen war. Sie wünschte sich das Ende der Unterhaltung herbei. Es kostete sie alle Kraft, die Fassung zu bewahren. Hailey hätte sicher noch etwas gesagt, wäre nicht dankenswerterweise Hugh aufgetaucht, um nach einem anderen Patienten zu sehen. Rachael machte sich auf den Weg, um ihre Patientin aus dem Stationsbuch auszutragen. Sie schaute noch einmal in die Krankenakte. Und da stand es: drei Schwangerschaften, zwei Lebendgeburten. Die Worte verrieten nichts von dem Schmerz, der hinter diesem Schicksal stand, das zu viele Frauen erleiden mussten.

Mit einem Seufzer erhob sich Rachael. Sie hätte jetzt ein paar Augenblicke für sich allein gebraucht, aber auf der Station war das kaum möglich. Als sie Hugh am Lift stehen sah, beschloss sie, ihn anzusprechen.

„Hugh“, begann sie zögernd.

„Hallo, Rachael.“ Er lächelte, als sie auf ihn zukam, wandte sich aber wieder dem Lift zu. Er schien nicht begriffen zu haben, dass sie etwas von ihm wollte.

„Kann ich dich kurz sprechen?“

„Was habe ich denn jetzt schon wieder angestellt?” Er zog den Mund schief. „Oder was habe ich vielleicht nicht getan?“

„Es geht nicht um einen Patienten.“ Rachael schluckte, als er sie fragend ansah. „Oder nur indirekt.“

„Oh?“ Sie hörte die Überraschung in seiner Stimme. „Um was geht es denn?“

„Ich würde nicht gern hier vor allen Leuten darüber sprechen.“ Sie sah in sein gut aussehendes Gesicht und bemerkte das fragende Stirnrunzeln. Auf einmal verließ sie der Mut, und die Wut, die sie noch Minuten zuvor erfüllt hatte, schien sich in Luft aufzulösen. „Es ist nicht so wichtig. Du bist vermutlich auf dem Weg in den OP. Ich sehe dich dann später.“ Rachael drehte sich um und marschierte davon, sichtlich unzufrieden mit sich selbst, weil sie ihr Anliegen nicht geäußert hatte.

„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht.“ Rachael fuhr zusammen, als er sie von hinten ansprach.

„Ich dachte, du hättest es eilig“, wandte sie sich ihm zu.

„Einen Augenblick lang können die ruhig warten“, erwiderte er arrogant, lächelte aber gleichzeitig. „Ohne mich können sie ja wohl schlecht anfangen. Also, was ist los?“

„Wer hat dir das Recht gegeben, Patienten persönliche Dinge über mich zu erzählen? Nicht nur, dass du die Situation für mich damit unerträglich gemacht hast, auch Hailey fühlte sich unwohl. Sie ist mir die letzten drei Tage praktisch aus dem Weg gegangen.“

„Das beruhte ja wohl auf Gegenseitigkeit.“

„Was willst du damit sagen?“

„Du bist eine großartige Krankenschwester, Rachael. Du bist tüchtig, weißt eine Menge, bist in der Regel auch sehr freundlich. Und du weißt, dass es auf einer Station wenig Abwechslung für die Patienten gibt. Also beobachten sie die Schwestern. Und Hailey hatte sich gewundert, warum du ihr aus dem Weg gehst.“

„Das sehe ich anders. Ich mag nur keine Vertraulichkeiten“, zischte Rachael mit zusammengekniffenem Mund.

„Nun, du verhältst dich sehr distanziert, auch gegenüber deinen Kolleginnen und Kollegen.“

„Wie kannst du das behaupten? Du kennst mich kaum …“

Hugh unterbrach sie. „Ich habe dich beim Lunch allein in der Kantine sitzen sehen. Du gehst auch jedem Schwatz im Schwesternzimmer aus dem Weg. Das ist eine objektive Beobachtung.“

„Da täuschst du dich.“ Rachael blitzte ihn wütend an.

„Dann geh mit mir essen.“ Er lächelte triumphierend, als Rachael zurückzuckte. „Ich habe nur noch zwei kurze Operationen, ich sollte also bis Mittag fertig sein. Ich kann dich anpiepsen, wenn ich mit den OPs fertig bin. Dann können wir gemeinsam einen Eintopf in der Kantine essen.“

„Ich hasse Eintopf.“ Das war eine alberne Antwort, aber Rachael fiel kein besserer Grund ein, um abzusagen. Hughs Einladung kam für sie völlig unvermittelt.

„Gut, ich lasse mich auch zu einem Salat mit Schinken überreden.“

„Ich kann nicht. Ich habe in meiner Mittagspause etwas zu erledigen“, wehrte sie ab. „Wirklich“, betonte sie, als er kritisch die Augenbrauen hob. „Mein Auto ist in der Reparatur, und ich muss die Werkstatt anrufen.“

„Ist schon okay, Rachael, ich habe verstanden.“ Sein Piepser ging. Man wartete im OP auf ihn, aber er blieb noch, um ihre Antwort zu hören.

„Das hoffe ich. Ich brauche deine Hilfe nicht. Und vor allem will ich nicht, dass du Persönliches an Patienten weitergibst. Es ist schon so schwer genug für mich, ohne dass es die anderen wissen. Und im Übrigen muss man mich nicht mit Samthandschuhen anfassen.“

„Warum sollte man keine Rücksicht auf dich nehmen? Du hast eine Menge durchgemacht.“

„Das möchte ich nicht. Ich will, dass man mich ganz normal behandelt. Aber es stört mich, wenn man Fremde über mein Privatleben informiert. Ich mag es nicht, wenn auf einmal alle die Stimme senken, wenn ich auftauche.“ Rachael räusperte sich und versuchte, möglichst kühl zu wirken.

„Menschen nehmen Anteil, Rachael. Und deine Kolleginnen versuchen nur, nett zu sein.“

„Vielleicht.“ Rachael zuckte abweisend mit den Schultern. „Ich möchte aber keine Sonderbehandlung.“

„Jeder Mensch muss etwas essen“, wagte sich Hugh erneut mit seiner Einladung vor.

„Du gibst wohl nie auf, oder?“ Ein kleines Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.

„Nur, wenn es absolut keine Aussicht auf Erfolg gibt.“ Sein Piepser ging erneut und hörte nicht mehr auf. Hugh schaltete ab und schaute auf die Nachricht. „Ich habe mich geirrt. Sie wollen tatsächlich ohne mich anfangen.“

„Dann solltest du besser gehen.“ Er sah sie intensiv mit seinen grünen Augen an, nicht herablassend, sondern fast liebevoll, so dass sogar ein Eintopf verführerisch wirkte.

Rachael konnte ihren Blick kaum von seinem Gesicht lösen. Es fiel ihr schwer, sein Angebot nicht anzunehmen. „Bitte, geh“, bat sie erneut und schaute verlegen beiseite. Sie wollte auf keinen Fall schwach werden. Und das fiel ihr nicht leicht.

4. KAPITEL

Kelvin war sehr jung, stand unter Schock und hatte wohl auch extreme Angst. Das war ihm anzumerken, als die Sanitäter ihn auf die Station brachten. Wegen seiner Verletzung konnte er kaum sprechen. Deshalb behalf er sich mit Stift und Block.

„Er möchte einen Spiegel“, erklärte Bill, einer der Sanitäter, als Kelvin hastig etwas auf den Block kritzelte und ihn Rachael mit zitternder Hand hinhielt.

„Hast du deine Verletzung schon gesehen, Kelvin?“

Er nickte und schrieb wieder etwas auf den Block.

„Kurz in der Fabrik. Es ist schlimm, nicht wahr?“

Rachael las die Notiz laut vor, um sich zu vergewissern, dass sie seine Frage richtig verstanden hatte. „Kelvin, das kann ich nicht entscheiden. Ich habe die Verletzung noch nicht gesehen und möchte den Verband nicht abnehmen, bevor Dr. Connell da ist. Ich werde alles vorbereiten und schon einige Untersuchungen machen.“ Die Sanitäter standen abwartend herum. Rachael bat sie kurz nach draußen.

„Ich hoffe nur, Ihr Dr. Connell ist gut.“ Bill kratzte sich am Kopf. „Ich habe die Verletzung kurz in Warragul gesehen, es sah katastrophal aus. Der arme Junge.“

„Es ist nicht mein Dr. Connell.“ Rachael lächelte kurz. „Aber soviel ich gehört habe, ist er extrem gut.“

„Das ist in dem Fall auch nötig.“

Aber so gut auch Hughs Ruf sein mochte, er steckte noch im OP, von wo aus er wenig ausrichten konnte. Wenigstens bekam sie ihn kurz ans Telefon und konnte ihm den Fall schildern. „Er ist ziemlich durcheinander“, beendete Rachael ihre Schilderung des Falls.

„Das kann ich mir vorstellen. Sie haben ihn bereits mit Antibiotika vollgepumpt, denke ich, aber was meinst du, willst du ihm nicht eine Valiumspritze geben? Zehn Milligramm sollten ausreichen. Ich stelle das Rezept aus, wenn ich auf die Station komme.“

„Sicher, solange du diese Anordnung gegenüber Helen mündlich wiederholst.“

„Klar. Das sollte ihn so ruhigstellen, dass ich ihn sofort im Behandlungsraum auf der Station verarzten kann. Alle Operationssäle sind nämlich ausgebucht. Und wegen einer Lippenkorrektur machen die mir keinen Platz frei.“

Rachael runzelte die Stirn. „Ich habe die Verletzung nicht gesehen, aber es soll ziemlich schlimm sein.“

„Um so schneller sollten wir uns darum kümmern. Ich möchte nicht, dass er die ganze Nacht über wach liegt und sich das Schlimmste ausmalt. Die Reparatur seiner Lippe wird wohl eine Weile dauern. Dennoch möchte ich ihm eine Vollnarkose ersparen. Mehr weiß ich erst, wenn ich ihn gesehen habe. Sag ihm, dass ich in circa einer Stunde da sein werde. Trink vorher noch einen Kaffee, es wird ein anstrengender Job.“

„Ich habe ab vier Uhr frei“, stellte Rachael schnell klar. „Mein Auto ist in der Werkstatt, und ich muss es vor fünf Uhr abholen. Jemand von der Spätschicht wird dir assistieren.“ Sie runzelte die Stirn, denn sie hatte das Gefühl, dass Hugh die Schwere von Kelvins Verletzung unterschätzte. „Ich gebe dich wegen des Valiums an Helen weiter.“

„Du magst ihn wirklich nicht, oder?“ erkundigte sich Helen kurze Zeit später.

„Ich muss ihn nicht mögen“, stellte Rachael klar. „Ich muss nur gut mit ihm zusammenarbeiten.“

„Oder du fühlst dich zu ihm hingezogen und willst dir das nicht eingestehen.“ Helen zog die Valiumspritze auf und tat so, als konzentriere sie sich ganz auf diese Aufgabe. „Vielleicht ist das ja dein Problem.“

„Woher nimmst du denn diese Weisheit?“ Rachael lachte ungläubig auf. „Hugh Connell wäre der letzte Mensch auf der Welt, zu dem ich mich hingezogen fühlen könnte.“

„Er ist doch wirklich ein Bild von einem Mann! Alle Frauen würden sich darum reißen, mit ihm zusammen zu sein.“

„Mir geht er eher auf die Nerven.“

„Warum?“ wunderte Helen sich. „Er ist doch klasse.“

„Er ist eingebildet, arrogant, und er hält sich für ein Genie.“

Helen warf ein paar Alkoholtupfer und die leere Spritze in die Nierenschale und schnaubte laut. „Wenn du meinst. Ich kann dich wohl nicht umstimmen. Ich finde ihn jedenfalls charmant. Und du weißt, dass ich privat bestens versorgt und natürlich viel zu alt für ihn bin. Aber er ist ein absoluter Schatz.“

„Helen …“ Rachael hielt ihre Freundin am Arm zurück. „Hör bitte mit deinen Kuppeleiversuchen auf. Vielleicht ist Hugh wirklich ein Schatz, wie du sagst, aber ich bin nicht im Geringsten interessiert. Männer stehen mir sowieso bis hier.“ Sie hob eine Hand an den Hals. „Und selbst wenn ich mich eines Tages aus meiner selbst gewählten Isolation herauswagen sollte, werden gut aussehende plastische Chirurgen nicht gerade das Ziel meiner Begierde sein. Mit dem Typ Mann habe ich ein für alle Male abgeschlossen.“

„Du hast also nicht vor, mit Männern auszugehen?“

„Nicht im Geringsten.“

„Gut.“ Helen grinste vergnügt. „Dann kann ich dich ja an einem Samstagabend für die Nachtschicht einteilen. Da kriege ich nämlich niemanden.“

Rachael verdrehte die Augen. „Du meinst niemanden mit einem normalen Privatleben.“

Als Hugh die Gaze von der Wunde hob, musste sich Rachael zusammennehmen, um nicht die Fassung zu verlieren. Der ganze mittlere Teil der Lippe fehlte. Hugh hingegen schien völlig entspannt und lächelte seinen Patienten an.

„Keine Angst, Kelvin, das wird schon wieder. Maurice wird ein paar Fotos von dir machen, damit du nachher den Vergleich hast. Und ich kann die für mein Vorher-Nachher-Buch benutzen. Ist das okay für dich?“

Kelvin nickte und kritzelte wieder etwas auf seinen Block. „Wie gut?“ entzifferte Rachael für Hugh.

„Das ist eine wichtige Frage.“ Hugh lächelte. „Du wirst danach ein wenig anders aussehen als bisher. Aber nur, weil du dein altes Gesicht so gut kennst. Andere werden außer einer kleinen Narbe nichts bemerken, wenn überhaupt.“ Er schaute Rachael an. „Ist der Behandlungsraum vorbereitet?“

Rachael nickte, aber ihr Zögern entging ihm nicht. Mit einer kleinen Kopfbewegung bedeutete Hugh ihr, kurz mit nach draußen zu kommen.

„Gibt es ein Problem?“

Er hielt sich wirklich nicht unnötig mit Small Talk auf. „Nein, überhaupt nicht.“ Was zwar so nicht stimmte, aber Rachael wusste, dass sie in dem Fall nichts zu melden hatte. Wie könnte sie es auch wagen, das Urteil und das Können eines plastischen Chirurgen infrage zu stellen?

„Du scheinst nicht zu wissen, was du denken sollst, stimmts? Wenn du Zweifel hast, möchte ich die jetzt hören, damit ich sie ausräumen kann. Kelvin braucht deine Unterstützung, deine Versicherung, dass alles gut wird. Und ich möchte, dass das nicht künstlich wirkt. Also, Rachael, was geht dir im Kopf herum?“

„Ich glaube nur, dass du etwas zurückhaltender sein solltest. Dein Optimismus ist vielleicht ein wenig übertrieben. Ich habe zwar noch nie groß mit plastischer Chirurgie zu tun gehabt, aber ich finde es schon gewagt, bei seinem jetzigen Zustand von einem ‚guten‘ Ergebnis zu sprechen.“

Sie erwartete auf ihre offene Meinung eigentlich eine Zurückweisung, aber Hugh sah sie einfach lächelnd an. „Lippen haben eine ausgezeichnete Durchblutung. Wunden verheilen da ganz gut. Und auch wenn du noch nicht viel mit plastischer Chirurgie zu tun hattest, hast du doch sicher von Collagen gehört, oder?“ Er wartete, bis sie zustimmend nickte, bevor er fortfuhr. „Das ist eine der Optionen in diesem Fall. Wenn die Schwellungen zurückgegangen sind, werde ich mit Kelvin über die anderen Möglichkeiten sprechen. Die Narben werden sehr fein und kaum wahrnehmbar sein. Falls die Unterlippe nach der Korrektur zu schmal ausfällt, gibt es noch die Lösung, einen kleinen Ballon einzusetzen, der die Haut dehnt. Man könnte auch eine Hautverpflanzung vornehmen. Du siehst, vieles ist machbar.“

Rachael nickte, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass alles so einfach sein würde.

„Schade, dass du nachher nicht da bist, um dich selbst vom Ergebnis zu überzeugen. Du könntest außerdem ruhig ein bisschen mehr Vertrauen in mich haben.“

„Versprichst du mir, dass du den Boten schlechter Nachrichten nicht erschießt?“ Helen tauchte hinter ihnen auf und lächelte beide an. „Die Werkstatt hat gerade angerufen.“

„Vermutlich lassen sie mir ausrichten, dass ich einen neuen Motor brauche und außerdem neue Reifen, oder?“ seufzte Rachael.

„Nein, nichts so Schlimmes.“ Helen strahlte über das ganze Gesicht. „Sie haben einen eiligen Auftrag reinbekommen, und deshalb wird dein Auto erst morgen fertig.“

„Na, super. Und wieso haben sie das dir gesagt und nicht mir?“ jammerte Rachael.

Helen zuckte mit den Schultern. „Vermutlich hat Geoff gedacht, dass er dann um einen Anpfiff herumkommt.“

„Wer ist Geoff?“ mischte sich Hugh in das Gespräch ein.

„Der Mechaniker“, antworteten beide Frauen wie aus der Pistole geschossen.

„Das sieht ja ganz so aus, als müsstest du nicht sofort losjagen, um dein Auto abzuholen.“

„Sind Sie sicher, Dr. Connell, dass ich genügend Charakter habe, um Ihnen zu assistieren?“ neckte sie Hugh.

„Ich vermute, ich muss mit dir vorlieb nehmen“, ging er auf ihren lockeren Ton ein, was sie mit einem breiten Lächeln quittierte. „Im Interesse unseres Patienten.“

Helen hob fragend die Augenbrauen, als Rachael den Behandlungsraum betrat, um die Instrumente zu prüfen. „Ich dachte, jemand von der Spätschicht soll für dich übernehmen?“

„Da mein Auto nicht fertig ist, kann ich genauso gut bleiben. Kelvin ist auch ziemlich ängstlich. Es ist vielleicht besser, wenn er nicht verschiedene Krankenschwestern über sich ergehen lassen muss.“ Helen wirkte sehr überrascht. „Und außerdem ist es interessant, Dr. Vollkommen in Aktion zu erleben. Ich werde sehen, ob er so gut ist, wie er sagt.“

„Ganz wie Sie meinen, Schwester“, foppte Helen sie. „Hugh hat Handschuhgröße neun, wir mussten sie extra bestellen.“

Kurz darauf beobachtete Rachael fasziniert, wie Hugh arbeitete und dabei beruhigend auf Kevin einredete. Er erklärte ihm seine Vorgehensweise, ersparte ihm allerdings bedrohlich klingende Details. Das Radio lief im Hintergrund und schaffte eine entspannende Atmosphäre.

Es war unglaublich heiß im Raum, aber das war ein geringer Preis, den Rachael gern in Kauf nahm, um Zeuge eines kleinen Wunders zu werden. Mit Vergrößerungsbrille und einer Lampe auf dem Kopf beugte sich Hugh konzentriert über seinen Patienten.

„Am Wochenende kannst du schon wieder ein kleines Bier zur Entspannung trinken, Kelvin“, redete Hugh beruhigend auf seinen Patienten ein, während er stetig weiterarbeitete. „Besser vielleicht erst in zwei Wochen, denn du musst erst noch Antibiotika einnehmen.“

„Er schläft“, murmelte Rachael, als Kelvins geballte Faust sich zunehmend entspannte und seine Atmung sich vertiefte.

„Ich habe ihn wohl sehr gelangweilt.“ Hugh veränderte seine Sitzposition, dehnte und streckte die Arme für einen Augenblick. Rachael nutzte die kurze Pause, um Handschuhe und Mundmaske zu wechseln. „Hier ist es verdammt heiß“, seufzte Hugh und ließ den Kopf ein paar Mal kreisen, um die Nackenverspannungen zu lindern, die durch die gebeugte Haltung entstanden waren. „Kannst du mir die Stirn ein wenig abtupfen?“ bat er.

Rachael hatte seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr im OP gestanden, aber sie hatte oft genug Ärzten assistiert, um zu wissen, was sie zu tun hatte. Bei Hugh war sie jedoch nervös, weil sie ihm dabei ziemlich nah kam. Vorsichtig machte sie sich daran, seine Bitte zu erfüllen. Obwohl es schon ziemlich spät war, duftete sein moschushaltiges Eau de Toilette immer noch ziemlich stark.

„Du benutzt zu viel After Shave“, beschwerte sie sich, noch ehe sie ihre Bemerkung zurückhalten konnte.

„Ich weiß“, antwortete Hugh locker. Ihn schien die Kritik nicht zu stören. „Ich hasse den antiseptischen Krankenhausgeruch.“ Er verzog den Mund. „Vielleicht übertreibe ich es zurzeit auch ein wenig. Es ist ein Weihnachtsgeschenk – ein Set mit passender Seife, Deo, Bodylotion und After Shave.“

Krampfhaft versuchte Rachael, das Bild dieser Weihnachtsfeier zu verdrängen – Hugh inmitten vieler Geschenke und natürlich in Gesellschaft einer wunderschönen Frau. Verbissen konzentrierte sie sich darauf, ihm Tupfer zu reichen und die Wunde regelmäßig zu säubern.

„Jetzt kommt der beste Teil.“ Fast eine Stunde lang hatte er die Mundränder beschnitten und genäht. Als er jetzt die Klammern entfernte, schaute Rachael mit unverhüllter Bewunderung zu, wie die Lippe wieder Form annahm. „Noch ein paar feine Nähte, dann sind wir fertig.“

„Das ist unglaublich.“ Rachael atmete tief durch. „Ich kann kaum glauben, wie gut das schon wieder aussieht.“ Kelvin bewegte sich. Schnell eilte sie an seine Seite, um beruhigend auf ihn einzureden, während Hugh die schwierige Prozedur beendete. Als die Vorhänge endlich wieder zurückgezogen werden konnten, sah Rachael erleichtert, wie perfekt das Ergebnis geworden war. Die hässliche Verletzung war bestens genäht worden. Man würde zwar immer eine kleine Narbe sehen, aber das Ergebnis war so viel besser als erwartet. Als Hugh seinem Patienten einen Spiegel reichte, damit er sich selbst vom Ergebnis überzeugen konnte, schien auch Kelvin über alle Maßen erleichtert. Tränen der Freude liefen dem Jungen übers Gesicht. „Ich dachte, ich sehe aus wie … wie ein Monster.“ Er starrte auf sein Spiegelbild. „Ich kann es gar nicht fassen, wie Sie das wieder hingekriegt haben.“

„Sei nicht zu überschwänglich. Morgen wird dein Gesicht erst mal ganz geschwollen sein. Eine Weile lang wirst du noch Schwierigkeiten beim Sprechen haben. Wenn die Schwellungen verschwinden, wirst du sehen, dass deine Unterlippe schmaler ist als vorher, aber darum kümmern wir uns später.“

Kelvin nickte. Seine Hand zitterte, als er sie Hugh entgegenstreckte. „Vielen Dank, Herr Doktor. Ich hatte solche Angst. Ich bin zwar nicht eitel, aber …“

„… du wolltest auch nicht mit einem Loch im Gesicht herumlaufen.“ Hugh grinste und schüttelte Kelvins Hand.

Sie hatte ihn unterschätzt, nicht nur als Chirurgen, sondern auch als Menschen. Er hatte bereits geahnt, dass der Junge durch den schlimmen Unfall Depressionen bekommen könnte. Durch seine offene Art hatte er jedoch sein Vertrauen gewonnen.

„Wie ist es gelaufen?“ Trevor steckte den Kopf durch die Tür. „Tut mir Leid, ich bin wohl im falschen Behandlungsraum. Ich suche Kelvin Adams, den mit der Gesichtsverletzung.“

„Das ist Trevors Art, Witze zu machen“, erklärte Hugh dem ziemlich mitgenommenen Jungen. „Aber er sieht wirklich gut aus, nicht wahr?“

„Ja, und draußen warten schon eine ganze Menge Verwandte, die gern die Arbeit von Dr. Connell bewundern wollen.“

„Nimm ihn mit.“ Hugh schrieb noch ein Rezept aus und machte ein paar Notizen, während Trevor und Rachael den jungen Mann in einen Rollstuhl verfrachteten.

„Du kannst gehen, Rachael. Ich übernehme ab jetzt.“

„Danke, Trevor. Ich räume nur noch die Abfälle weg.“

Aber Hugh hatte bereits alles entsorgt. Weniger rücksichtsvolle Ärzte überließen das stets den Schwestern.

„Vielen Dank.“

„Ich glaube, wir haben genug von Unfällen heute, oder?“

Autor

Margaret Barker
Margaret Barker hat das Schreiben immer sehr gemocht aber viele andere interessante Karrieren hielten sie davon ab. Als sie ein kleines Mädchen war, erzählte ihre Mutter ihr Geschichten zum besseren Einschlafen. Wenn ihre Mutter zu müde oder beschäftigt war, bat sie Margaret sich selber Geschichten zu erfinden. Sie erzählte sie...
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