Bianca Exklusiv Band 171

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DIE MILLIONENERBIN von MERRITT, JACKIE
Als Theodora ein Vermögen erbt, umschmeicheln sie plötzlich zwei Verehrer: der Anwalt Jordan und der Rancher Colt. Beide sprechen von Liebe. Aber Theodora bleibt zurückhaltend. Sie fürchtet, dass beide nur eins wollen: ihr Geld. So widersteht sie dem Werben -zunächst!

EIN PRINZ FÜR SHANNON von SINCLAIR, TRACY
Glück im Spiel! Bei einer Quizshow gewinnt Shannon eine Traumreise ins Fürstentum Mornay. Der Regent Prinz Michel zeigt ihr höchstpersönlich das Land - ohne allerdings seine unterkühlte Zurückhaltung jemals aufzugeben. Bleibt Shannon das Glück in der Liebe versagt?

DIESER KUSS IST EIN VERSPRECHEN von TOLLER WHITTENBURG, KAREN
Es ist wie im Märchen: Monty erbt ein Schloss in Frankreich! Doch kaum angekommen, gerät sie in Lebensgefahr. Ihr Gärtner Sebastian rettet sie -- und gewinnt dabei ihr Herz. Noch ahnt Monty nicht, dass er nicht nur ihre Liebe will, sondern auch das Anwesen.


  • Erscheinungstag 07.02.2008
  • Bandnummer 171
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495459
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

KAREN TOLLER WHITTENBURG

DIESER KUSS IST EIN VERSPRECHEN

Die junge Schlosserbin Monty Carlisle wird Opfer mysteriöser Ereignisse. Zum Glück ist jedes Mal ihr Gärtner Sebastian de Vergille zur Stelle, um sie zu retten. Ist das wirklich nur Zufall? Monty ahnt nicht, dass das Schloss den Vorfahren Sebastians gehörte und er es selbst besitzen möchte. So wächst in ihr die Leidenschaft – bis sich Zweifel einstellen …

TRACY SINCLAIR

EIN PRINZ FÜR SHANNON

Nach einer Ballnacht an der Côte d’Azur erfüllt sich für Shannon ein Traum: Prinz Michel – Regent des Fürstentums Mornay – versucht sie mit zärtlichen Küssen zu verführen. Dabei hat er bei Shannons Traumreise ins Fürstentum ihre leidenschaftliche Liebe wochenlang nicht erwidert. Nun zögert sie: Wird sie für den Prinz je mehr als eine Affäre sein?

JACKIE MERRITT

DIE MILLIONENERBIN

Niemals hätte Theodora gedacht, dass sie einmal ein Vermögen erben würde. Aber nun ist sie urplötzlich Millionärin – und wird gleich von zwei Männern umworben. Den Anwalt Jordan schätzt sie, doch der Rancher Colt löst prickelndere Gefühle in ihr aus. Nur zu gern würde Theodora glauben, dass Colts Leidenschaft nicht ihrem Erbe gilt, sondern ihr.

1. KAPITEL

Das Schloss sah aus, als stammte es direkt aus einem Märchen. Es war ein grandioses, vor Jahrhunderten erbautes Gebäude mit einem eindrucksvollen Wappen über der gewaltigen Eingangstür. Bis hinauf in das dritte Stockwerk standen in Wandnischen Statuen, als wollten sie die Weinberge im Tal unter ihnen bewachen. Zwei runde Türme bildeten die nördliche und südliche Ecke des Schlosses, das unter den dunkel drohenden Wolken tiefe Schatten warf, obwohl der Mond nur schwach vom Himmel schien.

Neben dem steinernen Portal flackerte eine wie eine Fackel geformte Leuchte, als wollte sie es den Blitzen gleichtun, die hin und wieder durch die Nacht zuckten. Das alte Gemäuer lag vergessen und verlassen da und wirkte alles andere als einladend.

Der Kasten sieht aus, als würde Frankenstein darin wohnen, dachte Monty. Keine Prinzessin, die etwas auf sich hielt, würde auch nur einen Fuß hineinsetzen. Sie hob den kalten, schweren Messingring des Türklopfers an und ließ ihn fallen. Das dumpfe Geräusch hallte noch nach, als sie sich verärgert zu ihrer Begleiterin umdrehte. „Um Himmels willen, Eve, nun starren Sie doch nicht so! Es ist nur ein Schloss. Wollen Sie etwa, dass man uns für neugierige Touristen hält?“ Ungeduldig klopfte sie noch einmal. „Benehmen Sie sich endlich so, wie man es von der Besitzerin dieses Schlosses erwarten kann.“

„Ja, Miss Carlisle.“

Monty wünschte, sie hätte eine Kopfschmerztablette. „Zur Sicherheit erkläre ich es Ihnen noch einmal. Hier in Frankreich tauschen wir die Rollen. Sie sind ich und heißen Montgomery Carlisle. Ich bin Sie, also Eve O’Halloran. Sie sind ich, ich bin Sie. Haben Sie das verstanden?“

„Ja, Miss Carlisle.“

Monty seufzte nie und wollte auch jetzt nicht damit anfangen … obwohl sie im Moment jeden Grund dazu besaß. „Wenn jemand Sie als Monty oder Mademoiselle Carlisle anspricht, nicken Sie freundlich und geben damit zu erkennen, dass Sie so heißen, mehr nicht. Ansonsten können Sie meinetwegen jeden ignorieren. Von der Erbin eines riesigen Vermögens erwartet niemand, dass sie sich wie ein gewöhnlicher Mensch benimmt. Sie können tun und lassen, was Sie wollen, und ich bezahle Sie sogar dafür. Hauptsache, Sie nennen mich nicht Miss Carlisle …“

Die riesige Tür stöhnte wie ein verstimmtes Cello und öffnete sich langsam. Muffige Luft drang ins Freie. Eine stämmige Frau erschien und hielt eine Laterne hoch, deren Licht auf ihr abstehendes, spinnwebenartiges Haar fiel. Ihre Augen waren nichts als dunkle Schlitze über runden, rot geschminkten Wangen. Sie sagte kein Wort, sondern starrte die beiden Besucherinnen an. Das Einzige, was einem davor bewahrte, sie für eine der Statuen in den Wandnischen zu halten, war die wilde Frisur.

„Bonsoir“, sagte Monty und hörte sich absichtlich so an, als wäre sie in der tiefsten amerikanischen Provinz aufgewachsen. Sie sprach jedes Wort sorgfältig aus, um wie eine Amerikanerin zu wirken, die „Au revoir“, nicht von „Arrivederci“, unterscheiden konnte. „Ich bin Eve O’Halloran, und das ist Miss Carlisle. Wir waren den ganzen Tag unterwegs und sind sehr müde. Könnten Sie uns unsere Zimmer zeigen, bitte … s’il vous plait?“

Die Frau verzog keine Miene. Montys grauenhafter Akzent ließ sie vollkommen ungerührt. Sie warf Eve einen mürrischen Blick zu, hielt die Laterne noch höher und machte einen Schritt nach hinten. „Hier entlang“, erwiderte sie, und ihr Englisch klang, als wäre sie eben erst aus dem Mittleren Westen der USA gekommen.

Monty schob ihre Sekretärin über die Schwelle und aus dem kalten Wind, der durch das Tal fegte. „Kommen Sie aus den Vereinigten Staaten?“, fragte Monty, während sie Eve in die gewaltige Eingangshalle folgte.

„Mein Name ist Charlotte“, antwortete die Frau, als wäre das eine Erklärung. „Der Strom ist ausgefallen.“

Das stimmte nicht ganz. An den drei Kronleuchtern über ihnen kämpften einige Glühbirnen gegen die Dunkelheit. Jedes Mal, wenn eine von ihnen flackerte, bewegten sich die Schatten, und der Raum wirkte noch unheimlicher. Durch die schweren Vorhänge an den Fenstern neben dem Eingang drang nicht einmal das grelle Aufleuchten der Blitze.

Wahrscheinlich sieht es hier am Tag noch gruseliger aus, dachte Monty. „Stimmt etwas mit dem Generator nicht?“, fragte sie.

„Für wen halten Sie mich?“, fragte Charlotte. „Für den Elektriker? Kommen Sie mit.“

Eve stand mit offenem Mund da und starrte auf die breite Treppe vor ihnen. Offenbar dachte sie gar nicht daran, die ihr zugedachte Rolle zu spielen und die Initiative zu ergreifen. Monty dagegen war fest entschlossen, sich von dem düsteren Gemäuer nicht aus der Fassung bringen zu lassen. „Lassen Sie unser Gepäck hereinholen“, sagte sie zu Charlotte. „Wir haben alles draußen gelassen.“

„Es ist niemand hier.“ Charlotte ging zur Treppe. „Ich begleite Sie nach oben. Aber Ihr Gepäck werden Sie selbst hereintragen müssen.“

Monty blieb stehen. „Was soll das heißen, es ist niemand hier? Wo ist der Verwalter? Mein Büro hat ihn doch bestimmt angewiesen, Personal einzustellen.“

„Es ist niemand hier, der sich um Ihr Gepäck kümmern kann“, wiederholte Charlotte. „Das werden Sie selbst tun müssen … nachdem ich Ihnen Ihre Zimmer gezeigt habe.“

„Augenblick mal. Wollen Sie damit sagen, dass Sie das gesamte Personal sind?“

„Nein, keineswegs.“ Charlotte ging einfach weiter. „Ich sagte nur, es ist niemand hier, der Ihr Gepäck hereinholt.“

„Aber …“, begann Eve und verstummte.

Monty konnte und wollte nicht glauben, dass Edwin sie hergeschickt hatte, ohne etwas arrangiert zu haben. „Ich möchte wissen, wo der Verwalter ist. Ich bestehe darauf, dass …“ Sie brach ab und mäßigte ihren herrischen Ton. Schließlich war sie nur die Sekretärin. „Miss Carlisle wird mehrere Wochen im Schloss wohnen. Sorgen Sie dafür, dass morgen Personal zur Verfügung steht.“

„Vielleicht hätte Miss Carlisle ihr eigenes Personal mitbringen sollen, um derartige Unannehmlichkeiten zu vermeiden.“ Die tiefe, wohlklingende Stimme kam aus der Dunkelheit, und Eve zuckte zusammen wie eine Katze, die einem knurrenden Hund begegnete.

„Und wer sind Sie?“ Monty kniff die Augen zusammen. „Das Schlossgespenst?“

„Nein, ich bin kein Gespenst“, versicherte der Mann. „Nur der Gärtner.“

Der Mann, der in den Schein der Laterne trat, sah nicht aus wie ein Gärtner. Er war groß und stattlich, hatte ein aristokratisches Gesicht, aber verdankte seine athletische Figur gewiss nicht einem Fitness-Studio. Er trug dunkle, unauffällige Kleidung, die erkennen lies, wie muskulös er war.

Das Haar war aus der hohen Stirn gekämmt und fiel ihm auf die Schultern. Der Mann strahlte etwas Rätselhaftes aus. Als er näher kam, hielt Monty unwillkürlich den Atem an. Sie brachte kein einziges Wort heraus. Sie hatte sich seit ihrem zehnten Lebensjahr von nichts und niemandem mehr einschüchtern lassen, doch jetzt stand sie schweigend und verunsichert da, während der Fremde sie lächelnd musterte.

„Willkommen in Ihrem Schloss, Mademoiselle Carlisle.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin Sebastian, der Gärtner.“

„Ich … ich bin Miss Carlisle“, sagte Eve zaghaft. „Das ist meine Sekretärin, Miss O’Halloran.“

Er versuchte, es zu verbergen, doch Monty sah ihm an, wie überrascht er war. Fast widerwillig wandte er sich Eve zu, verbeugte sich auch vor ihr und lächelte hinreißend. „Verzeihen Sie meinen Irrtum, Mademoiselle. Ich hätte nicht erwartet, dass eine amerikanische Erbin so still … und scheu ist.“

Eve senkte verlegen den Blick, und Monty kam ihr rasch zur Hilfe. „Miss Carlisle ist müde. Wir waren den ganzen Tag unterwegs, und sie muss sich ausruhen. Sebastian, es wäre äußerst hilfreich, wenn Sie unser Gepäck hereinholen, während Charlotte uns die Zimmer zeigt.“

Ihr höflicher Ton änderte nichts daran, dass es sich um eine Anweisung handelte, und Monty wartete gespannt auf seine Reaktion. Ihr graute vor dem Aufenthalt in diesem alten Schloss im Tal der Loire, aber vielleicht würde er doch nicht so langweilig werden, wie sie befürchtet hatte. „Es macht Ihnen doch nichts aus, Sebastian?“

Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war wie eine Herausforderung und ließ das Kribbeln in ihrem Bauch noch heftiger werden. „Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihr Gepäck ins Haus zu tragen, Mademoiselle.“

„Danke.“ Eve nickte und sah sich nervös um. „Ich glaube nicht, dass ich meine Taschen die Treppe hinauftragen könnte. Schon gar nicht die von Miss …“

Monty hustete und räusperte sich, bis ihr der Hals wehtat. „Hoffentlich erkälte ich mich nicht. Es ist sehr zugig hier, nicht wahr? Sie sind der Gärtner, sagten Sie?“

„Oui, mademoiselle. Ich habe gerade begonnen, den Schlossgarten in seinen alten Zustand zu versetzen. Es wäre mir eine Ehre, ihn Mademoiselle Carlisle … und auch Ihnen zu zeigen. Schon morgen, wenn Sie möchten.“

Monty drehte sich zu Eve um. „Finden Sie es nicht auch seltsam, dass ein Gärtner sich um die Außenanlagen kümmert, während es im Schloss selbst außer Charlotte kein Personal gibt?“

„Daran ist überhaupt nichts seltsam.“ Charlottes amerikanischer Akzent passte nicht in die große, dunkle Halle. „Hier will niemand arbeiten. Das Schloss ist verwunschen.“

„Ver…wunschen?“ Eve sah sie entsetzt an. „Was soll das heißen, verwunschen?“

„Sie wissen schon. Gespenster, Kobolde und unheimliche Geräusche in der Nacht. Verwunschen eben.“

Monty lachte. „Erzählen Sie das jedem Besucher, Charlotte? Oder tun Sie es nur in stürmischen Nächten, wenn der Strom ausgefallen ist?“

Charlotte hob die Laterne vor ihr strenges Gesicht. „Wir haben nicht viele Besucher. Glauben Sie, was Sie wollen, aber beschweren Sie sich nicht, wenn Sie einem unserer Geister begegnen.“

„Ich nehme nicht an, dass man einen davon zum Butler ausbilden könnte, was?“, scherzte Monty, und es erstaunte sie nicht, dass Charlotte keine Miene verzog.

Sebastian schmunzelte. „Dazu müssten Sie erst einen fangen.“

„Vielleicht habe ich das bereits. Sie sehen nicht aus wie ein Gärtner, Sebastian.“

„Und Sie, Mademoiselle, sehen nicht aus wie eine Sekretärin.“

„Ich werde mir gleich morgen eine Schreibmaschine um den Hals hängen.“

„Und ich werde mir eine Schürze umbinden und einen Strohhut aufsetzen.“

Schlagfertig war er also auch. Sie wich seinem fesselnden Blick aus und sah Charlotte an. „Was ist denn nun mit dem Verwalter? Wo steckt er?“

„Louis?“

Die Frau wirkte verwirrt, und der Blick, den sie Sebastian zuwarf, bestätigte Montys Eindruck.

„Louis ist unterwegs. Geschäftlich“, sagte er.

„Ausgerechnet jetzt?“

„Reiner Zufall, mehr nicht.“ Charlotte drehte sich zur Treppe. „Ich zeige Ihnen, wo Sie heute Nacht schlafen können.“

„Wir werden etwas länger als nur eine Nacht bleiben.“

Charlotte blickte über die Schulter. Ihre Augen funkelten. „Natürlich. Hier entlang, bitte.“

„Warten Sie.“ Eves Finger zitterten, als sie die Hand an den Mund legte. „Sind wir hier etwa … ganz allein?“

„Das kommt darauf an, was Sie unter allein verstehen.“ Charlotte war mit ihrer ausweichenden Antwort sichtlich zufrieden. „Außerdem wurde uns gesagt, dass Sie die Einsamkeit wünschen, Miss Carlisle, und hier völlig ungestört sein möchten.“

Verängstigt sah Eve Monty an. „Ich glaube, ich möchte lieber wieder abreisen“, flüsterte sie.

Monty strich sich das braune Haar aus der Stirn. Sie merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. Wahrscheinlich lag das weniger an dem langen Flug über den Atlantik als an den Partys, mit denen sie in der Woche davor Abschied gefeiert hatte. „Es wird schon gehen“, raunte sie ihrer Sekretärin zu, bevor sie sich wieder Sebastian zuwandte. „Ich nehme an, Sie haben die notwendigen Vorkehrungen für unsere Sicherheit getroffen?“

„Keine Sorge. Seb wird Sie beschützen“, sagte Charlotte und huschte die Treppe hinauf.

Monty versuchte, Sebastians Miene zu entschlüsseln, bevor er wieder in der Dunkelheit verschwand.

„Es gibt keinen Grund zur Befürchtung, Mademoiselle“, fügte Sebastian hinzu. Die Absätze seiner Stiefel klapperten auf dem Steinboden, als er zur Tür ging. Sie öffnete sich knarrend, und das grelle Licht eines Blitzes drang herein, bevor er sie hinter sich schloss.

Eve hielt Monty am Arm fest. „Was hat sie damit gemeint, dass Seb uns beschützen wird? Wovor? Vor den Gespenstern?“

„Sie klingen wie meine Tante Josephine.“ Monty schüttelte Eves Hand ab und senkte die Stimme. „Wie Sie sich vielleicht erinnern, bin ich hier, um von dem ganzen Unsinn wegzukommen. Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müssten. Keine Gespenster. Keine hässlichen Stiefmütter. Keine böse Fee, die Dornröschen in den Turm locken will. Habe ich Sie denn nicht vor Tante Jos Gruselgeschichten gewarnt?“

„Aber hier ist es so unheimlich.“

„Am Tag sieht es bestimmt viel gemütlicher aus.“

Eve seufzte und rang nervös die Hände. „Sie haben recht. Dies ist Ihr Urlaub, und den darf ich Ihnen nicht verderben.“

„Meiner Vorstellung von Urlaub entspricht das hier keineswegs. Ich bezweifle, dass Sie den Aufenthalt hier schlimmer machen können, als er ist.“ Monty sah nach oben. „Wo ist die Frau denn hin?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich würde mich viel sicherer fühlen, wenn ich die Laterne tragen könnte.“

„Ich kann die Stufen kaum erkennen.“

„Dann warten Sie hier. Ich hole die Laterne und komme wieder.“

Eve riss erschreckt die Augen auf. „Das kann ich nicht zulassen. Sie könnten sich verletzen.“

„Ich habe nicht vor, die Nacht in dieser Halle zu verbringen, Eve.“ Sie starrte dorthin, wo sich die Konturen der Treppe in der Dunkelheit aufhoben. „Charlotte!“

Wie von Geisterhand tauchte die Laterne am Ende der Treppe auf. „Folgen Sie mir!“, rief Charlotte.

Monty gefiel der Befehlston nicht, doch das Licht entfernte sich bereits wieder. „Kommen Sie, Eve.“ Sie eilte die Stufen hinauf, doch als sie oben ankam, bog Charlotte schon um eine Ecke des langen Korridors.

„Charlotte!“, rief Monty. „Charlotte, warten Sie auf uns!“

„Hier entlang“, kam es ungeduldig zurück.

Eve tastete nach Montys Arm. „Es ist so dunkel“, flüsterte sie. „Wo ist sie?“

„Vielleicht liegen unsere Zimmer an diesem Korridor.“ Von der Laterne war nichts zu sehen. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte den Korridor und die wie Engel aussehenden Statuen an den Wänden in kaltes Licht. Dann wurde es wieder dunkel. Monty ging entschlossen weiter und zog Eve mit sich.

„Ich kann nichts sehen“, flüsterte Eve verängstigt. „Sollten wir nicht lieber auf sie warten? Wir wissen doch gar nicht, wo wir sind.“

„Wir sind in der Halle der Engel.“

„Engel? Sind Sie sicher?“

Monty blieb vor einer Nische stehen und sah hinein, um nach einer Tür zu suchen. „Nun ja, vielleicht sind es auch Heilige … Nein, sie haben Flügel. Es sind Engel, kein Zweifel.“

Ein dumpfes Grollen ertönte.

„Was war das?“ Eve blieb wie angewurzelt stehen.

„Donner.“

„Es klang nicht wie Donner.“

„Vielleicht schleift Sebastian gerade unser Gepäck über die Zugbrücke, um es in den Wassergraben zu werfen.“

„Es gibt gar keine Zugbrücke … und keinen Wassergraben.“

Monty ging langsam weiter und blieb unter den ausgebreiteten Flügeln eines Engels stehen. „Charlotte?“, rief sie verärgert. „Wo sind Sie? Wir brauchen die Laterne.“

„Charlotte?“, wiederholte Eve zaghaft. „Charlotte?“

„Hier entlang.“ Die Stimme kam aus der Dunkelheit, etwa drei Engel entfernt. Die Laterne leuchtete kurz auf und verschwand wieder.

„Da ist sie“, sagte Eve und seufzte erleichtert.

Regen prasselte gegen die Fenster, und Monty sah hinaus. Edwin hätte ihr wenigstens eine Taschenlampe mitgeben können. Ohne ihn und diese unglückliche Sache mit dem Rubin wäre sie gar nicht hier …

Ein Blitz zuckte durch die Nacht, und es donnerte lauter als zuvor. Die Luft schien sich elektrisch aufzuladen. Monty kam es vor wie eine Warnung. Sie drehte sich um, hörte ein kratzendes Geräusch, spürte die Gefahr, blieb jedoch direkt unter der Statue stehen, die auf ihrem Sockel zu schwanken begann und langsam nach vorn kippte …

Jemand packte Montys Arm und riss sie aus der Bahn des umstürzenden Engels. Er presste sie an seinen kräftigen Körper. Montys Herz schlug wie wild. Ihr Retter duftete nach Sturm und Regen, und es dauerte eine Weile, bis ihr bewusst wurde, wie fest sie sich an ihn klammerte. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn loszulassen und ihm zu danken. Entsetzt starrte sie auf den zerbrochenen Engel zu ihren Füßen.

Eve schrie auf. „Was, zum Teufel, war das?“, ertönte Charlottes strenge Stimme.

Eve eilte zu ihr. Derjenige, der Monty gehalten hatte, war fort, und sie fröstelte in der kalten Luft.

Charlotte hob die Laterne und ließ das Licht über die entstellte Statue wandern. „Wie haben Sie das denn gemacht?“

Monty sehnte sich nach der tröstenden Umarmung ihres Retters.

„O nein“, flüsterte Eve voller Entsetzen. „Du hättest getötet werden können. Wir hätten nicht herkommen sollen. Es ist der Fluch, nicht wahr?“

Der Carlisle-Fluch … Die letzte Erbin … Monty dachte an Tante Josephines oft wiederholte Warnung.

„Unsinn“, sagte sie scharf. „Ich war nicht in Gefahr. Wahrscheinlich bin ich gegen den Sockel gekommen und habe das Ding umgestoßen. Es wäre nicht passiert, wenn Sie uns nicht in der Dunkelheit zurückgelassen hätten, Charlotte.“

„Ich dachte, Sie wären hinter mir.“

Unten in der großen Halle knarrte die Tür. Das Prasseln des Regens drang ins Haus, gefolgt von einem kühlen Luftschwall. Ein Koffer wurde mit dumpfem Geräusch abgestellt. Schwere Schritte ertönten, verstummten kurz, dann kam Sebastian pfeifend die Stufen hinauf.

Monty hielt den Atem an. Nein, Sebastian konnte es nicht sein. Gerade eben hatte er sie beschützt und in den Armen gehalten. Sie spürte die Wärme noch. Der Rücken ihrer Bluse war feucht von seinem nassen Hemd. Ihr Herz klopfte noch, denn er hatte sie nicht nur festgehalten, sondern sie an sich gepresst … wie ein Liebhaber. Sebastian war ihr Retter. Sie war ganz sicher. Doch als er jetzt nach oben kam, je einen Koffer unter dem Arm und in der Hand, wurde sie unsicher.

„Sie hätten nicht auf mich warten müssen“, sagte er. „Ich bringe das Gepäck in Ihre Zimmer.“ Er bemerkte Eves blasses Gesicht und stellte die Koffer ab. „Ist etwas passiert?“

Charlotte schnaubte. „Sie hat die Statue umgestoßen.“

Seb ging in die Knie und strich erst über den Engel, dann über den Marmorsockel. Und erst jetzt sah er Monty an. „Sind Sie verletzt?“

„Nein. Mein Schutzengel muss in der Nähe gewesen sein.“

„Sie haben Glück gehabt, Mademoiselle O’Halloran. Haben Sie ein Schreck gekriegt?“

„Sollte ich das?“

Er lächelte nur.

Monty griff nach der Laterne. „Geben Sie sie mir. Sie sind zu schnell für Miss Carlisle.“

Charlotte ließ die Laterne nur zögernd los.

„Hier entlang?“, fragte Monty.

„Ja, aber bleiben Sie bei mir. Es kommt noch eine Treppe.“

Eve folgte Charlotte. Monty blieb stehen, um Sebastian den Vortritt zu lassen.

„Ich werde hinter Ihnen gehen, Mademoiselle, und Sie vor den Engeln beschützen“, sagte er.

Monty lief es kalt den Rücken herunter. Es war eine Mischung aus Angst und Erregung. Sie war erst kurz in diesem verlassenen Schloss und war bereits einem Geist, einem geheimnisvollen Gärtner und einem Schutzengel begegnet.

Oder war es ein und dieselbe Person?

2. KAPITEL

Seb begleitete Eve und Monty in eins der sechzehn Schlafzimmer des Schlosses. Unter der hohen Decke wirkte das Himmelbett trotz seiner Größe klein und verloren. Die wenigen anderen Möbel waren im Raum verteilt, als sollten sie darüber hinwegtäuschen, dass so viele fehlten. Das Zimmer roch unbenutzt und nach Reinigungsmitteln.

Sie bringt nichts als Ärger, dachte Seb. Warum musste sie ausgerechnet heute auftauchen?

„Sie schlafen hier, Miss Carlisle.“ Charlotte zeigte auf eine Verbindungstür. „Und Ihre Sekretärin dort. Gleich nebenan.“

„Es ist so … groß.“

Seb musterte die vermeintliche amerikanische Erbin. Sie war blass, die Augen blau, das Haar braun. Vielleicht ist sie ganz hübsch, dachte er, hübscher als ihre Sekretärin … wenn man Perlen Rubinen vorzieht. Aber Mademoiselle O’Halloran ist ein echter Kontrast zu ihrer Arbeitgeberin. Sie bringt Farbe und Leben in das Schloss. Und Probleme.

Monty stellte die Laterne auf einen Tisch und sah sich um. „Nicht gerade das Ritz, was?“

Er unterdrückte ein Lächeln. Die kleine Sekretärin liebte also den Luxus. Vielleicht konnte er das ausnutzen.

„Wo soll ich Ihr Gepäck hinstellen, Mademoiselle Carlisle?“, fragte er die Erbin.

„Irgendwohin, danke“, erwiderte sie mit leiser, schüchterner Stimme und sah sich im Schlafzimmer um, als wäre es eine Folterkammer.

„Stellen Sie die beiden Taschen vor die Kommode“, befahl Monty. „Und die anderen hier hinein.“

Sie hatte die Verbindungstür geöffnet und sah in den nur vom grauen Mondschein erhellten Nebenraum. Sie ging hinein, und als Seb ihr mit den Taschen folgte, riss sie die Balkontür auf und sah in die Nacht hinaus. Dann lachte sie sanft. Für ihn klang es wie das Schnurren einer Katze. Als er an ihr vorbeiging, nahm er ihren berauschenden Duft wahr. Der Wunsch, sie zu packen und an sich zu drücken, kam urplötzlich. Nur mit Mühe beherrschte er sich und schloss die Tür wieder. „Es ist besser, die Feuchtigkeit draußen zu lassen, Mademoiselle.“

Sie sah ihn an. Ihr Blick war herausfordernd. „Wie bitte?“

„Es regnet. Im Freien ist der Regen nützlich, im Haus richtet er Schaden an.“

„Danke für die Aufklärung“, erwiderte sie und öffnete die Tür wieder. „Aber ich brauche frische Luft.“

Seb unterdrückte seinen Ärger. Dieses Schloss war vor Jahrhunderten errichtet worden und hatte den zerstörerischen Kräften von Krieg, Revolution und menschlicher Unvernunft widerstanden. Jetzt kam diese Frau und setzte es den feindlichen Elementen aus. „Mademoiselle“, sagte er scharf, „Sie haben sich vorhin darüber beschwert, wie kalt es hier ist. Bitte erlauben Sie mir, die Tür zu schließen.“

„Mir ist nicht mehr kalt. Die Begegnung mit dem Engel scheint mich erwärmt zu haben.“

Er ballte die Hände zu Fäusten und verbeugte sich leicht. „Es hätte der Engel des Todes sein können, Mademoiselle.“

„Es war ein Unfall, sonst nichts.“

„Ja, natürlich.“

Erst jetzt sah sie ihn an. „Wollen Sie mir Angst machen, Sebastian?“

„Ich möchte lediglich die Tür schließen. Sie setzen sich einer … unnötigen Gefahr aus.“

„Tatsächlich? Nun ja, ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen. Sie können jetzt gehen.“

Ihr Ton war herablassend, und er musste sich beherrschen, um sie nicht an sich zu reißen und zu schütteln …

„Brauchen Sie denn kein Licht?“

Seb drehte sich zur Zimmertür um. Dort stand Eve mit zwei Leuchtern. Die flackernden Kerzen ließen ihr Gesicht noch verängstigter aussehen. „Bitte, kommen Sie aus der Kälte“, sagte sie besorgt. „Sie könnten sich eine Lungenentzündung holen … oder zu Tode stürzen.“

„Denselben Rat habe ihr auch schon gegeben, Miss Carlisle, aber unsere Meinung scheint sie nicht zu interessieren“, sagte Seb.

„Ja, sie benimmt sich oft sehr unvernünftig“, erwiderte Eve, und die Leuchter in ihren Händen zitterten.

Seb lächelte. „Wie ich sehe, haben Sie Licht gefunden, um diesen finsteren Ort ein wenig zu erhellen.“

Eve drehte sich zur Seite, um die Kerzen vor dem Wind zu schützen. „Charlotte hat sie mir gegeben. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich die Laterne behalten. Sie können die Leuchter nehmen, aber ich fürchte, bei dem Wind und Regen, der von draußen hereinkommt, werden sie Ihnen nicht viel nützen.“

Monty schloss die Balkontür. „So. Jetzt können Sie beide ruhig schlafen. Mir droht keine Gefahr mehr. Weder vom Wetter noch von den Geheimnissen, die dieses alte Gemäuer in sich birgt.“ Ihr kam eine Idee, und sie sah Sebastian an. „Besitzt dieses Schloss einen Kerker? Und Geheimgänge?“

„Sie lesen zu viele Märchen“, erwiderte er lächelnd. „Zweifellos besitzt das Schloss viele Geheimnisse. Ich bin nur mit denen des Gartens vertraut.“

„Richtig. Sie sind nur ein einfacher Gärtner, nicht wahr, Sebastian?“

Er blickte ihr in die Augen, während er sich leicht verneigte.

„Ihr Bett ist gemacht“, verkündete Charlotte beim Hereinkommen. „Können Sie Ihre Decke selbst zurückschlagen oder soll ich es für Sie tun?“, fragte sie Monty spitz.

„Ich komme schon allein zurecht, danke. Vorausgesetzt, die Laken sind in den letzten vierhundert Jahren mindestens einmal gewechselt worden.“

Charlotte ließ sich nicht anmerken, ob die Antwort sie kränkte. „Im Schrank ist frisches Bettzeug, falls Sie es benötigen“, sagte sie nur und ging hinaus, ohne Monty eine gute Nacht zu wünschen.

Seb folgte ihr. „Mademoiselle Carlisle? Soll ich die Leuchter für Sie halten?“, fragte er, als er an Eve vorbeikam.

„O ja, bitte.“ Sie gab sie ihm. „Meinen Sie, dass wir morgen wieder Strom haben werden, Sebastian?“

„Bestimmt.“ Monty trat zu ihnen in den Lichtschein. „Wir sind nicht im Mittelalter. Gleich morgen früh werden Sie den Generator in Gang setzen, nicht wahr, Sebastian?“

Er drehte sich zu ihr um, und einen Herzschlag lang herrschte zwischen ihnen ein gebanntes Schweigen, das Monty diesen Mann noch rätselhafter erscheinen ließ. „Ich werde alles tun, um Miss Carlisle zufriedenzustellen.“

Keine einfache Aufgabe, dachte Monty und lächelte aufmunternd. „Das ist gut zu wissen, Sebastian.“

Bevor er sich wieder wegdrehte, sah sie das lange kastanienbraune Haar an seinem Hemd. Es war ihr Haar. Also war er es gewesen, der sie gerettet, in den Armen gehalten und das Verlangen in ihr geweckt hatte. Dennoch war er wenige Minuten später durch die Vordertür ins Schloss gekommen.

„Danke, Sebastian“, sagte Eve. „Sie waren sehr hilfreich.“

„Gute Nacht, Mademoiselle.“ Er ging zur Tür und blieb neben Monty stehen, die ihn interessiert musterte. „Schlafen Sie gut.“

Sie nahm das Haar von seinem Hemd. „Ich glaube nicht, dass die Gespenster mich heute Nacht belästigen werden. Ich habe nämlich einen Schutzengel, wissen Sie.“

Er betrachtete das Haar. „Seien Sie vorsichtig, Mademoiselle. Es gibt Engel, die in Ungnade fallen.“ Seine Schritte hallten von den Wänden wider, als er das erste Schlafzimmer durchquerte. Dann schloss die Tür sich hinter ihm. Die plötzliche Stille war unheimlich.

Eve fröstelte. „Dies ist wirklich ein Spukschloss. Ist Ihnen gar nicht kalt?“

Monty starrte noch immer auf das Haar zwischen ihren Fingern. „Wir sind hier nicht gerade willkommen, was? Gleich morgen rufe ich Onkel Edwin an und finde heraus, warum der Verwalter nicht hier ist. Das finde ich nämlich eigenartig.“

„Ich finde alles hier eigenartig.“ Eve rieb sich nervös die Hände. „Können wir nicht einfach in den Wagen steigen und zurück nach Paris fahren?“

„Soll das ein Scherz sein? Keine zehn Pferde bekommen mich heute Nacht hier heraus. Erstens bin ich viel zu müde, und zweitens möchte ich einige Nachforschungen anstellen. Hier stimmt etwas nicht.“

„Würden Sie mich dann bitte entlassen? Ich möchte nicht einfach gehen und Sie in diesem …“

„Dies ist Schloss Carlisle.“ Monty sah auf die Schatten, die die Kerzen an die Wände warfen. „Und zum ersten Mal, seit ich den Namen gehört habe, glaube ich, dass es mir hier gefallen wird.“

Monty erwachte mit klopfendem Herzen und brauchte einige Sekunden, bis sie wusste, wo sie sich befand. Im Schloss. Und der Strom war noch immer ausgefallen. Sie sah zum Tisch hinüber. Die Leuchter standen noch dort, wo Sebastian sie hingestellt hatte, aber die Kerzen waren längst heruntergebrannt. Eve war nebenan und schlief vermutlich wie ein Baby. Monty ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Sie musste geträumt haben. Einen Albtraum. Nach dem unfreundlichen Empfang am gestrigen Abend war das kein Wunder.

Das Gewitter war weitergezogen, und das Mondlicht schien silbrig zwischen den Vorhängen hindurch. Gähnend drehte Monty sich auf die Seite. Charlotte hatte dieses Zimmer für ihren Aufenthalt vorbereitet. Also hatte Edwin ihr Eintreffen angekündigt, und aus diesem Grund war die Frau hier. Warum hatte sie trotzdem das Gefühl, im Schloss nicht willkommen zu sein? Warum wurde sie den Verdacht nicht los, dass der Engel keineswegs zufällig umgestürzt war?

Beim Einschlafen hatte sie versucht, nicht an Sebastian de Vergille zu denken.

„Dangereuse.“

Das Wort drang wie das Echo eines Flüsterns in ihr Bewusstsein. Etwas, das sie gehört, sich aber vielleicht auch nur eingebildet hatte. Aber seit wann sprach ihre Einbildung französisch?

Monty schlug die Decke zurück und wollte aufstehen. Doch das Bett war so hoch, dass sie mit den Füßen den Boden nicht berühren konnte. Man hätte sich ohne weiteres ein Bein brechen können, nur um aus dem Bett zu kommen.

Vielleicht sollte sie Seb um eine Trittleiter bitten. Nein, das war keine gute Idee. Als Montgomery Carlisle würde sie nicht zögern, es zu tun. In der Rolle der schüchternen Sekretärin, die sie während ihres Exils spielen wollte, durfte sie nicht zu anspruchsvoll sein.

„Dangereuse.“

Auf halbem Weg zur Balkontür blieb Monty wie angewurzelt stehen. Diesmal hatte sie sich das sanfte Flüstern nicht eingebildet. Es war von ganz nah gekommen. Wie eine gespenstische Warnung. Wovor? Vor dem Carlisle-Fluch?

Sie nahm ihren Mut zusammen, ging weiter und schaute nach draußen. Sie riss die Balkontür auf, stand fröstelnd in der kalten Morgenluft und lauschte.

Dann hörte sie etwas. Leise, dumpfe Geräusche, die wie bei einer Unterhaltung lauter und wieder leise wurden. Kein Zweifel, es handelte sich um ein Gespräch, aber was gesagt wurde, war nicht zu verstehen. Monty betrat den Balkon, legte die Hände auf das steinerne Geländer und sah auf den dunklen Garten hinunter.

Eine Wolke trieb vor den Mond, und die Schatten bewegten sich wie Traumbilder. Das Geräusch verstummte und wurde abgelöst von den Lauten, die die Insekten und andere Tiere von sich gaben. Die Sterne blinkten am Himmel.

Monty starrte nach unten, obwohl es ihr vermutlich nur eine Erkältung einbringen würde. Sie wollte gerade wieder hineingehen, da sah sie ihn.

Sebastian.

Sein Haar und seine Kleidung verschmolzen mit der Dunkelheit, als wäre er ein Teil der Nacht. Nur sein Gesicht war zu erkennen, während er Monty vom Garten aus so beobachtete wie sie ihn.

Sie wusste nicht, wie lange sie reglos auf dem Balkon stand, und spürte weder den Wind noch die Kälte. Als Sebastian sich abwandte und in der Dunkelheit verschwand, ahnte sie, dass etwas Seltsames geschehen war. Etwas, das sie noch nie erlebt hatte.

Was immer es war, es ging von Sebastian aus. Er bewegte sich wie ein Phantom durch die Dunkelheit, tauchte neben ihr auf dem Korridor auf und kam im nächsten Moment mit dem Gepäck durch die Vordertür. Sie glaubte nicht an Gespenster. Sebastian war ein lebender Mensch. Er war zu warm, zu stark, zu männlich, um in einer anderen Welt als dieser zu existieren. Irgendwo dort draußen in der Dunkelheit musste es eine Erklärung dafür geben, dass er an zwei Orten zugleich sein konnte.

Und jetzt stand sie wie Julia auf dem Balkon und wusste, dass er gerade eben Besitz von ihr ergriffen hatte. Sie wusste nicht, wie oder warum oder was es bedeutete, sie wusste nur, dass sie sich von Sebastian de Vergille fernhalten musste. Er war eine Bedrohung. Er war „dangereux“.

Sie fröstelte, aber es war nicht die Angst, die sie frieren ließ. Es war die Einsamkeit.

„Es ist zu gefährlich. Louis muss bald kommen.“

Seb tat Charlottes Besorgnis mit einem Schulterzucken ab und hängte sich das aufgerollte Seil um. „Louis ist seit drei Tagen fort. Wir wissen nicht, wann er zurückkehrt. Ich kann es mir nicht leisten, auf ihn zu warten.“ Er befestigte einen Karabinerhaken am seinem Gürtel und überprüfte den Sitz der Kletterausrüstung. „Schon deshalb nicht, weil sie jetzt hier ist.“

„Wir können sie loswerden. Sie hat genug Angst. Wenn wir etwas nachhelfen, ist sie morgen schon verschwunden.“

„Ich wünschte, es wäre so.“

„Vertrauen Sie mir. Sie ist verwöhnt und glaubt, nur mit den Fingern schnippen zu müssen, um alles zu bekommen. Ihr steht ein böses Erwachen bevor.“

Seb lächelte. „Ich nehme an, sie hat etwas Luxuriöseres erwartet. Und ich habe den Eindruck, unsere Erbin ist nicht halb so verwöhnt, wie ihre Sekretärin es sein möchte.“

„Miss O’Halloran wird ein Problem werden.“

Seb wandte den Blick ab. Charlotte entging kaum etwas. Sie sollte nicht wissen, was für ein Problem Miss O’Halloran bereits jetzt für ihn darstellte. „Ich werde einen Weg finden.“

„In ihr Bett? Ich sehe doch, was für Blicke Sie ihr zuwerfen.“

„Sie ist attraktiv“, sagte er. „Und wenn ich sie verführen muss, um mein Ziel zu erreichen, werde ich meinen Charme einsetzen.“

„Die Frau bringt nichts als Ärger, Sebastian“, warnte Charlotte. „Lassen Sie die Finger von ihr.“

„Würden Sie es lieber sehen, wenn ich die kleine Erbin verführe?“

„Wenn sie sich in Sie verliebt, könnte das Schloss bald Ihnen gehören, Sebastian.“

„Ich will nur, was mir zusteht.“ Er blickte zur Spitze des Südturms hinauf. „Ich brauche es nur zu finden.“

„Es ist verrückt, in der Dunkelheit hinaufzuklettern.“

„Soll ich es etwa tun, wenn es hell ist?“

„Es wäre auch dann verrückt. Warten Sie, bis Sie durch den Gang in den Turm können.“

„Die Tür, die vom Tunnel in den Turm führt, ist fest verschlossen und der Eingang des Tunnels zugemauert. Ich habe keinen anderen Weg in den Turm gefunden. Jetzt, da Mademoiselle Carlisle hier ist, werde ich vielleicht keine Gelegenheit mehr bekommen, nach Geheimgängen zu suchen. Und dies ist vielleicht meine letzte Chance, den Turm zu besteigen.“

Nervös fingerte Charlotte an ihrer Schürze herum. „Aber die Turmfenster sind viel zu schmal. Selbst wenn Sie sich vorher nicht den Hals brechen, passen Sie nicht hindurch. Es ist zu gefährlich.“

Seb drückte ihre Hand. „Keine Angst. Vor Sonnenaufgang bin ich wieder draußen. Niemand wird es merken, und ich werde mir auch nicht den Hals brechen.“

„Warum gehen Sie ein solches Risiko ein, Sebastian? Wir werden die Frauen wieder los. Ohne Personal halten sie es hier keine zwei Tage aus. Mein Essen wird ihnen den Rest geben.“

Seb lachte. „Wenn Mademoiselle erst Ihre Fischsuppe gekostet hat, wird sie einen Chefkoch aus Paris kommen lassen.“

„Ich werde die Köpfe an den Fischen lassen. Das dürfte ihrem verwöhnten Gaumen einen ordentlichen Schock versetzen.“ Charlotte überlegte. „Uns fällt bestimmt noch mehr ein. Und falls das nicht wirkt, muss es vielleicht einen weiteren … Unfall geben.“

Unfall. Das Wort ließ Sebastian daran denken, wie er die Frau in den Armen gehalten und ihr herrlich duftendes Haar an der Wange gespürt hatte. Sie hatte Angst gehabt, auch wenn sie es zu verbergen versucht hatte. Aber er bezweifelte, dass sie das Schloss verlassen würde. Jedenfalls nicht, bevor sie all seine wohldurchdachten Pläne durcheinandergebracht hatte.

Er schaute an der regennassen, glatten Turmwand hinauf und dachte … an sie. So, wie er sie auf dem Balkon gesehen hatte. Mit windzerzaustem Haar, im weißen Nachthemd. Er hätte sofort verschwinden sollen, als sie ins Freie getreten war. Stattdessen war er stehen geblieben, wie verzaubert von ihrem Anblick.

O ja. Sie war ein Problem. „Dangereuse“, flüsterte er.

„Dangereuse“, wiederholte Charlotte mit einem Blick auf den dunklen Turm.

3. KAPITEL

Wie Monty erwartet hatte, machte das Tageslicht das Schloss nicht einladender. Sie saß mit angezogenen Knien in der Mitte des riesigen Betts und fragte sich, warum um alles in der Welt ihr Vorfahre dieses mittelalterliche Ungetüm gekauft hatte.

Tante Josephine hatte es mit einer Familienlegende aus ihrem offenbar unerschöpflichen Vorrat erklärt. Für Monty waren es reine Märchen. Doch jetzt fand sie es gar nicht mehr so unwahrscheinlich, dass Josiah Charles von einer Frau betrogen worden war und dieses Gemäuer erworben hatte, um sich an ihr zu rächen.

Eine wirklich gelungene Rache, dachte Monty. Der aristokratische Vorbesitzer war bestimmt heilfroh gewesen, den alten Kasten einem reichen Amerikaner andrehen zu können. Wahrscheinlich schwebte er noch immer durch die Gänge und amüsierte sich mit den anderen Geistern darüber, wie er den schwerreichen Industriellen aus Übersee hereingelegt hatte.

Monty schlug die schwere Decke zurück, kroch an den Rand der klumpigen Matratze und kletterte vorsichtig vom Bett. Barfuß stand sie auf dem abgewetzten Teppich und sah zu den Deckenmalereien hinauf. Die Farben waren verblasst, und die Bilder unter dem Staub, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte, kaum noch zu erkennen.

Auf einem der Wandteppiche war die Heilige Johanna von Orléans inmitten einer um sie herum tobenden Schlacht abgebildet. Monty betrachtete sie, fand jedoch keine Spur von dem Rubin, den die französische Nationalheldin Tante Josephine zufolge immer getragen hatte.

„Weißt du, Johanna“, sagte sie. „Wenn ich eine misstrauische Frau wäre, würde ich glauben, dass Tante Josephine mich absichtlich in diesem Zimmer untergebracht hat.“

Johanna blieb stumm.

„Na ja, ich erwarte keine Antwort von dir, aber eins muss ich dir sagen. Wenn ich Tante Josephine abgenommen hätte, dass der Carlisle-Rubin tatsächlich einmal dein Glücksbringer war, hätte ich niemals mit Stanton Grainger darum gewettet.“

Monty gähnte. „Also gut, ich gebe zu, ich hätte trotzdem gewettet. Aber nimm es nicht persönlich.“

Sie reckte sich, legte die Hände an den Bettpfosten und machte ein paar Auflockerungsübungen, bevor sie die Vorhänge aufzog und die Balkontür öffnete, um frische Luft in das staubige Zimmer zu lassen. Staubflocken wehten über den Boden, und der Sonnenschein hatte Mühe, durch die verschmutzten, seit Jahren nicht mehr geputzten Fensterscheiben ins Zimmer zu dringen. Die Luft war herrlich, und Monty trat auf den kleinen Balkon. Sie streckte die Arme in die Höhe. Es roch noch nach dem nächtlichen Regen, und sie atmete tief durch. Eine Brise trug Sebastians Pfeifen nach oben. Die Melodie kam ihr irgendwie bekannt vor.

Überrascht stellte sie fest, wie sehr sie sich darauf freute, ihn wiederzusehen. Hastig ging sie an die steinerne Brüstung und beugte sich hinüber, um im dichten Grün des wild wuchernden Gartens nach ihm zu suchen.

„Miss Carlisle?“, hörte sie Eve flüstern, noch bevor das kurze Klopfen an der Verbindungstür verklungen war. „Miss Carlisle?“

Monty brachte ihre Sekretärin mit einer warnenden Handbewegung zum Schweigen und beugte sich noch weiter vor.

„Seien Sie vorsichtig“, sagte Eve besorgt. Sie stand in der Balkontür und starrte mit sorgenvoller Miene auf Monty. „Um Himmels willen, passen Sie auf, dass Sie nicht hinunterfallen, Miss Carlisle.“

„Nennen Sie mich nicht so“, befahl Monty über die Schulter. „Ich passe schon auf. Diese Brüstung ist breit genug, um darauf zu balancieren.“

„Sie sieht äußerst gefährlich aus.“

Monty fragte sich, ob Eve als Kind einmal aus dem Fenster gefallen war. Das würde erklären, warum sie solche Angst vor Balkonen hatte. „Ist sie aber nicht. Ich beobachte gerade unseren fantastisch aussehenden Gärtner.“

Eve stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf, um in den Garten schauen zu können. „Ist er dort unten?“

„Er war es.“ Das Pfeifen war verklungen, und sie hatte keinen einzigen Blick auf Sebastian erhascht. Enttäuscht drehte Monty sich um und stützte sich auf die Brüstung. „Haben Sie gut geschlafen?“

Eves Schultern sackten nach unten. „Ich habe kein Auge zugemacht. Sie etwa?“

„Ich habe fest geschlafen, obwohl die Matratze sich große Mühe gegeben hat, mich aus dem Bett zu befördern.“ Monty lachte.

Eve warf einen Blick auf das Himmelbett. „Ich finde alles unheimlich. Wollen Sie wirklich hierbleiben?“

„Au contraire, mademoiselle. Dies ist der letzte Ort, an dem ich bleiben will. Aber Sie kennen ja meinen Onkel Edwin. Er hat sich über diese dumme Sache mit dem Carlisle-Rubin fürchterlich aufgeregt und besteht darauf, dass ich mich irgendwo verstecke, bis er alles wieder in Ordnung gebracht hat. Dauernd sprach er davon, dass Stanton Grainger einen Killer auf mich angesetzt haben könnte. Und jedes Mal wurde Tante Josephine hysterisch und jammerte etwas vom Carlisle-Fluch, der sich nun erfüllt.“ Monty lehnte sich zurück und ließ sich den Wind durch das kastanienbraune Haar wehen.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie so viel Ärger hatten“, meinte Eve mitfühlend.

„Aber Sie müssen den Trubel doch mitbekommen haben. Eine ganze Woche lang haben die beiden auf mich eingeredet. Mir ist rätselhaft, warum Sie nicht auf der Stelle gekündigt haben. Ehrlich gesagt, ich war froh wegzukommen, und ein verlassenes Schloss in Frankreich klang ganz reizvoll.“

„Ich … brauche diesen Job.“

Monty wurde schlagartig ernst. Sie wusste, dass sie keine einfache Chefin war. „Sie arbeiten jetzt schon … vier, fünf Monate für mich, Eve. Zahle ich Ihnen eigentlich ein gutes Gehalt?“

Eve betrachtete ihre Hausschuhe. „Ich bin jetzt fünf Monate bei Ihnen und sehr zufrieden mit dem, was ich verdiene, Miss Carlisle. Wirklich.“

Monty warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Sie sollen mich nicht so nennen. Noch ein Ausrutscher, und Sie können sich einen neuen Job suchen. Vergessen Sie nicht, mein Name ist Eve und Ihrer …“

Eve knabberte bekümmert an der Unterlippe und seufzte schuldbewusst. „Lautet Ihr Name wirklich Montgomery?“

„Ja. Es ist der Mädchenname meiner Ururgroßmutter. Die Familientradition verpflichtet uns Carlisles, ihn von Generation zu Generation weiterzugeben. Deshalb bin ich auch noch nicht verheiratet. Ich möchte es keinem Kind antun, diesen Namen tragen zu müssen.“

Eve sah sie mit großen Augen an. „Sie sind verpflichtet, Ihr Kind auf den Namen Montgomery taufen zu lassen?“

„Nein, laut Familiengesetz bekommt es den Namen Napoleon. Aber meine Enkel würden Montgomery heißen. Jedes einzelne davon. Montgomery, der Sechste, Siebte oder Achte. Ein schrecklicher Gedanke, finden Sie nicht auch?“

„Das könnte ziemlich verwirrend werden.“

Monty sah wieder auf den Garten hinunter. Schade, dass ihre Sekretärin überhaupt keinen Sinn für Humor hatte und sie mit ihr über keinen Scherz lachen konnte.

„Ich wünschte, Sie würden sich nicht so auf die Brüstung stützen“, sagte Eve. „Wenn Ihnen etwas zustößt, während wir hier sind, würde ich es mir nie verzeihen.“

„Was soll mir denn zustoßen?“ Monty beugte sich wieder hinüber. Ein Sturz auf die Felsen zwischen dem Schloss und dem Garten wäre mit Sicherheit tödlich. Doch das sagte sie nicht. Eve war auch so schon ängstlich genug. „Bestimmt würde ich mitten in einem Dornenbusch landen und mit einigen Kratzern davonkommen. Es wäre blamabel und mir schrecklich peinlich, aber mehr würde nicht passieren. Sie machen sich zu viele Sorgen, Eve.“

„Aber der Carlisle-Fluch …“

„Ist Unsinn. Wie alle anderen Geschichten, die Tante Josephine immer erzählt. Außerdem haben sie und Onkel Edwin mich hergeschickt, damit ich meinen siebenundzwanzigsten Geburtstag erlebe. Oder sieht der Fluch vor, dass ich genau an meinem Freudentag ein tragisches Ende nehme? Ich vergesse es immer.“ Sie legte die Hände ineinander und sog die herrlich frische Morgenluft ein. „Kommen Sie her, Eve. Sehen Sie sich den Garten an. Ich wette, er war früher einmal wunderschön.“ Sie zeigte auf ein Labyrinth aus ungepflegten Hecken. „Schauen Sie, das könnte ein Irrgarten sein.“

Eve rührte sich nicht von der Stelle. „In einem Irrgarten kann man sich verlaufen.“

„Man kann sich auch verlaufen, wenn man in diesem alten Kasten ein Badezimmer sucht.“

„Neben meinem Schlafzimmer befindet sich eins. Dem Himmel sei Dank, dass einer Ihrer Vorfahren wenigstens diesen Flügel des Schlosses modernisiert hat.“

„Meine Großeltern lebten einige Jahre hier. Ich glaube, meine Eltern haben einen Teil ihrer Flitterwochen hier verbracht. Aber nach ihrem Tod geriet das Schloss in Vergessenheit.“

„Erinnern Sie sich überhaupt noch an Ihre Eltern?“, fragte Eve.

Monty schüttelte traurig den Kopf. „Ich war erst drei, als sie ums Leben kamen. Meine Tante Josephine und ihr Mann Edwin Talbot zogen auf das Anwesen der Carlisles in Kalifornien, um sich um mich zu kümmern. Edwin wurde zu meinem Vormund ernannt und führt seitdem sämtliche Geschäfte des Carlisle-Imperiums. Es wundert mich, dass er das Schloss nicht schon vor Jahren verkauft hat.“

„Es dürfte schwer sein, einen Käufer dafür zu finden. Es ist ziemlich heruntergekommen.“

Monty nickte. Es war ein Wunder, dass das Gemäuer nicht schon längst in sich zusammengefallen war. „Ich habe erst vor wenigen Wochen erfahren, dass es den Carlisles gehört.“ Sie legte die Arme auf die Brüstung und ließ den Blick über den Garten wandern. „Ich glaube, ich werde Edwin vorschlagen, es zu restaurieren und zur Besichtigung freizugeben. Falls es dafür nicht schon zu spät ist.“

„Ich bezweifle, dass Edwin ein Vermögen ausgibt, nur damit Sie Ihr schlechtes Gewissen besänftigen können.“

Zwischen den Hecken tauchte ein Mann auf. Es war Sebastian. Montys Herz schlug auch diesmal schneller, als sie ihn sah. Er bückte sich und zog Unkraut aus der Erde.

An diesem Morgen trug er ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, das seine gebräunte Haut betonte, und schwarze, perfekt sitzende Jeans. Das dunkle Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Er sah nicht aus wie ein Gärtner. Eher wie ein Pirat. Ob er sie hören würde, wenn sie ihn rief? Wusste er, was er in ihr auslöste?

Sieh hoch, Sebastian, dachte sie. Sieh mich an. Erinnerst du dich an gestern Abend? Sieh hoch, Sebastian.

Aber er sah nicht hoch. Er schien gar nicht zu bemerken, dass sie hier oben auf dem Balkon stand und ihn beobachtete. Die Gedankenübertragung klappte nicht. Sie hob einen kleinen Kieselstein auf, bewarf ihn damit, aber traf nur einen Busch in seiner Nähe. Suchend blickte sie sich um. Sie brauchte ein anderes Wurfgeschoss.

„Geben Sie mir Ihren Hausschuh, Eve.“

„Wie bitte?“

„Ihren Hausschuh. Geben Sie ihn mir.“

„Ich werde mich erkälten.“

„Ich weiß das Opfer zu schätzen.“

Im nächsten Moment hielt Monty den zarten Schuh in der Hand und zielte auf Sebastians breiten Rücken. Er segelte durch die Luft und landete im oberen Geäst einer dürren Fichte. „Verdammt. Geben Sie mir den anderen.“

Seufzend reichte Eve ihr den zweiten. „Wäre es nicht einfacher zu schreien?“

„Eine Carlisle ruft vielleicht, aber sie schreit niemals.“ Monty zog einen breiten Goldring vom Finger und befestigte ihn am Schuh, um ihm bessere Flugeigenschaften zu verleihen. Sie beugte sich über die Brüstung und warf. Diesmal traf sie Sebastian genau zwischen den Schulterblättern.

Er drehte sich um und schaute nach oben. Ihre Blicke trafen sich, und wieder fühlte sie, wie er von ihr Besitz ergriff, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.

„Bonjour, Sebastian“, rief sie. „Der Schuh ist mir heruntergefallen.“

„Bonjour, Mademoiselle“, erwiderte er freundlich. Er hob den Schuh auf. „Ich habe ihn gefunden.“

„Gute Arbeit. Werfen Sie ihn hoch.“

Er lächelte. „Ich werde ihn für Sie aufbewahren.“

„Merci.“ Sie zeigte auf die Fichte. „Der andere hängt im Baum.“

Er blickte hinüber. Dass er hinaufklettern musste, um den Schuh zu holen, schien ihm nichts auszumachen. „Kein Problem“, sagte er. „C’est un matin delicieux, oui?“

Es war tatsächlich ein herrlicher Morgen. Monty öffnete den Mund, um ihm in perfektem Französisch zu antworten, doch Eve kam ihr zuvor. „Zeigen Sie uns nach dem Frühstück den Garten?“, bat sie ihn auf Englisch.

Seine Verbeugung war auch diesmal alles andere als unterwürfig. „Mit Vergnügen, Mademoiselle Carlisle.“ Er machte sich wieder an die Arbeit.

„Sebastian?“, rief Monty und wartete, bis er nach oben sah. „Werden Sie uns auch durch den Irrgarten führen?“

„Das wäre zu gefährlich.“

„Keine Angst, ich nehme meinen Schutzengel mit.“

Sie verließ den Balkon, und Seb drehte den Hausschuh, um ihn genauer zu betrachten. Ein Ring fiel ihm in die Hand. Ein breiter, schwerer Ring mit einem Wappen.

Er steckte ihn auf die Fingerspitze und hielt ihn hoch. Das Gold glänzte im Sonnenschein. Der Ring sah aus, als wäre er viel zu groß für ihre Hand. Und viel zu teuer für eine Sekretärin. Aber sie benutzte ihn als Wurfgeschoss. Er ließ ihn in die Hemdtasche gleiten und zog den Ärmel über den tiefen Kratzer am Unterarm.

Natürlich hatte er längst bemerkt, dass sie auf dem Balkon stand und ihm bei der Arbeit zusah. Er spürte, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Die Frau ging ihm unter die Haut und brachte seine Welt durcheinander. Aber er durfte nicht vergessen, wer er war und warum er hier war.

Es gab Momente, in denen ihm Zweifel kamen, ob sein Vorhaben wirklich vernünftig war. Momente, in denen er sich fragte, was er wem beweisen wollte. Am Abend zuvor war er bei dem Versuch, in das Turmzimmer zu gelangen, fast ums Leben gekommen. Und außer schmerzenden Muskeln und dem zerkratzten Arm hatte die riskante Kletterpartie nichts eingebracht.

Montgomery Carlisle.

Wie immer weckte der Name in ihm Zorn und Abneigung. Auch diesmal unterdrückte er diese Gefühle und speiste seine Entschlossenheit daraus. Er würde finden, was ihm gehörte … falls es existierte. Und falls es das tat, würde kein Carlisle ihn daran hindern können, es sich zu holen.

Sie war eine Carlisle. Die letzte Nachfahrin des Mannes, der den de Vergilles die Ehre geraubt hatte. Glaubte sie wirklich, ihn hereinlegen zu können? Es war nicht zu übersehen, dass sie und nicht die braunhaarige Maus die Erbin war. Die Maus war viel zu still und zaghaft, um die extravagante Montgomery Carlisle zu sein. Die rothaarige Eve O’Halloran dagegen trat viel zu selbstsicher und herrisch auf, um etwas anderes zu sein. Sie war eine Prinzessin. Er war ein Gärtner.

Seb riss Unkraut aus der feuchten Erde, warf es zur Seite und kam zu demselben Ergebnis wie am Abend zuvor. Montgomery Carlisle war gefährlich. Sie brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, um seine nächtlichen Erkundungstouren durch die Geheimgänge des Schlosses zu beenden. Vielleicht hatte sie sogar damit zu tun, dass die Schätze, die dieses Schloss seit jeher beherbergt hatte, die wertvollen Wandteppiche, Möbel und Bilder, nach und nach verschwanden. Er musste herausfinden, ob sie dahintersteckte.

Sebastian fiel nur ein Weg ein, wie er sie im Auge behalten und zugleich seine wahren Absichten vor ihr verbergen konnte. Er würde sie dazu bringen, sich in ihn zu verlieben. Charlotte hatte recht. Eine solche Verbindung konnte sich für ihn nur lohnen. Außerdem reizte ihn der Gedanke, sich an einer Carlisle zu rächen. Sie zu verführen würde nicht schwer werden. Sie war eine attraktive Frau. Er dachte daran, wie sie in seinen Armen gezittert hatte. Ihr hübscher Körper sehnte sich nach den Zärtlichkeiten eines Mannes, das spürte er. Ja, sie zu verführen war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb … egal, was sein dummes Herz sagte, wenn sie ihm in die Augen blickte.

Monty nahm den Irrgarten als persönliche Herausforderung. „Wie wäre es mit einer Wette, Seb? Wie schnell schaffe ich es hindurch?“

„Zehn Francs darauf, dass Sie in zehn Minuten wieder draußen sind.“

„Fünf Francs darauf, dass ich es in fünf schaffe.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit. Dans le jardin, tu es une fleur entre les épines“, sagte Sebastian.

Monty lachte. „Übersetzen Sie, s’il vous plait.“

„Sie haben Staub an der Nase.“

Sie wischte sich die Nase ab, obwohl sie genau wusste, was er gesagt hatte. Im Garten bist du eine Blume unter Dornen. „Ist er weg?“

Er strich mit der Fingerspitze erst an ihrer Nase entlang und dann über die Wange. „Ist er. Genau wie Mademoiselle Carlisle.“

„Sie haben ihr absichtlich Angst gemacht, Sebastian. Sie hatte noch keine zweimal in ihr Croissant gebissen, da musste sie schon von Ihnen hören, dass der Irrgarten verwunschen ist.“

„Hätte ich es ihr nach dem Frühstück sagen sollen?“

„Sparen Sie sich die Gruselgeschichten für mich auf.“ Monty sah auf die wuchernde Hecke vor ihr. „Zeigen Sie mir jetzt den Weg durch den Irrgarten, oder muss ich es allein versuchen?“

„Es ist zu gefährlich“, beharrte er.

„Geben Sie auf, Sebastian. Ich habe vor nichts und niemandem Angst.“

„Vielleicht habe ich Angst, Mademoiselle. Vor Ihnen.“

Sie blickte ihm in die Augen und genoss das Prickeln, das der Flirt in ihr auslöste, wie guten Champagner. „Kommen Sie. Sehe ich vielleicht aus wie der böse Wolf?“

Er lächelte. „Genau das ist das Problem.“

„Keine Sorge. Ich tue Ihnen nichts.“ Sie zeigte zum Eingang. „Nach Ihnen.“

„Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“ Er nahm ihre Hand, schob einen buschigen Zweig zur Seite und führte sie in den Irrgarten.

Der Weg zwischen den Hecken war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten, aber Seb ließ ihre Hand nicht los. „Ganz schön eng hier“, sagte sie.

„An manchen Stellen ist der Weg völlig zugewachsen.“

„Es wundert mich, dass überhaupt noch ein Weg vorhanden ist. Dieser Irrgarten sieht aus, als wäre er ebenso vernachlässigt worden wie der Rest des Schlosses.“

„Sie werden sehen, dass ich die schlimmsten Auswüchse schon beseitigt habe. Ich will versuchen, dem Garten etwas vom Charme des letzten Jahrhunderts zurückzugeben, aber die kleinen Reparaturen im Schloss kosten viel Zeit. Ich weiß gar nicht, wie Louis es geschafft hat, es vor dem Zusammenfallen zu bewahren. Es ist schade, dass Mademoiselle Carlisle nicht daran interessiert ist, eine vollständige Restauration zu finanzieren.“

Monty hoffte, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie zusammengezuckt war. „Ich würde nicht sagen, dass sie nicht interessiert ist.“

Er lachte. „So? Sehen Sie sich doch um. Dieses Schloss ist für sie nur ein Besitz unter vielen.“

„Vielleicht wusste sie bisher nicht, wie dringend es restauriert werden muss.“

„Das bezweifle ich. Es ist ihr einfach zu teuer.“

„Ihr war nur nicht bewusst, in welchem Zustand es sich befindet.“

Seb drückte ihre Hand und bog um eine Ecke. „Mademoiselle Carlisle kann sich glücklich schätzen, so loyales Personal zu haben.“

„Personal ist so ungefähr das Einzige, was sie hat. Hier allerdings gibt es nicht sehr viel davon.“

„Ersparen Sie mir die Geschichte vom ‚armen reichen Mädchen‘. Montgomery Carlisle kann alles bekommen, was sie will.“

Monty hatte diese Worte schon mehrmals gehört, doch sie taten noch immer weh. „Es gibt Dinge, die nicht zu kaufen sind.“

„Vielleicht.“ Mit dem Fuß schob er einen abgebrochenen Zweig aus dem Weg. „Manche Dinge stehen gar nicht zum Verkauf. Dieses Schloss, zum Beispiel. Es hat mehrere Interessenten dafür gegeben. Sie hat sich jedes Mal geweigert, es zu verkaufen.“

Monty konnte es sich nicht vorstellen. „Ich hätte … Ich meine, jeder vernünftige Mensch wäre froh, den alten Kasten loszuwerden.“

Er bog um eine weitere Ecke und führte sie zu einer Lichtung, auf der ein Pavillon stand. Wildblumen und Gräser wuchsen durch die Ritzen im Fußboden. Seb ließ Montys Hand los, ging die schiefen Stufen hinauf und strich über den einzigen noch heilen Stützpfosten. „Dies ist der Pavillon. Man sagt, dass der Geist der letzten Schlossherrin in mondlosen Nächten hier erscheint.“

„Hat sie sich verirrt? Ist sie nicht mehr aus dem Irrgarten herausgekommen und verhungert?“

„Der Irrgarten wurde erst nach ihrem Tod angelegt. Sie wurde hier im Pavillon ermordet.“

Monty bückte sich und berührte den kalten, glatten Stein der Treppe. „Wer hat sie getötet?“

„Manche behaupten, dass es ihr Liebhaber war. Er hat sie angefleht, mit ihm fortzugehen. Vielleicht war sie versucht, es zu tun. Den Teil der Geschichte kennt niemand. Aber sie wusste, dass es in ihren Kreisen verzeihlich war, einen Liebhaber zu besitzen, aber nicht, seine Familie zu verlassen. Sie wollte keine Schande über ihren Mann und die Kinder bringen, also weigerte sie sich, mit dem Liebhaber fortzugehen. Er brachte sie um.“

Monty rieb die Hände aneinander. Ihr war plötzlich kalt. „Bestimmt ein heißblütiger Franzose.“

„Au contraire, ein kaltblütiger Amerikaner. Josiah Carlisle.“

Verblüfft sah Monty ihn an. „Das kann ich nicht glauben.“

„Warum nicht? Kannten Sie ihn.“

„Natürlich nicht. Aber ich habe viel über ihn gehört … seit ich für Miss Carlisle arbeite. Ein solcher Mann ermordet niemanden, erst recht nicht eine Frau.“

„Welche Art von Mann begeht denn einen Mord?“

Darauf hatte Monty keine Antwort. „Sie sagten, manche glauben, dass der Liebhaber der Mörder war. Heißt das, man ist sich nicht einig, wie die Schlossherrin ihr vorzeitiges Ende gefunden hat?“

Sebastian setzte sich auf die Treppe. Er war ein sehr attraktiver Mann, und Monty hatte Mühe, ihn nicht fasziniert anzustarren. „Viele glaubten damals, dass Edouard, ihr Mann sie mit dem Liebhaber überrascht und sie im Jähzorn getötet hat. Aber es gab keine Beweise für diese Version.“

Monty setzte sich neben ihn. Nicht so nah, dass sie ihn berührte, aber nah genug, um seine Wärme zu spüren. „Die Spurensicherung war damals noch nicht so weit entwickelt wie heute.“

„Edouard ist nach ihrem Tod ins Ausland geflohen. Niemand weiß, ob er der Bestrafung entgehen oder sich an dem nach Amerika zurückgekehrten Liebhaber rächen wollte. Vielleicht wollte er nicht mehr an seine Frau erinnert werden. Jedenfalls hat er einen hohen Preis für die Flucht bezahlt, denn als er nach Jahren zurückkam, war das Schloss an seinen Feind Josiah Carlisle verkauft worden.“

„An den Liebhaber seiner Frau.“

„Ja. Edouards Sohn glaubte, dass sein Vater seine Mutter umgebracht hatte und nie mehr nach Frankreich zurückkehren würde. Der Skandal hatte die Familie in Geldnöte gebracht, und Hugh, der Sohn, war froh, den Ort, an dem seine Mutter gestorben war, verkaufen zu können. Natürlich wusste er nicht, an wen er verkaufte. Der Verlust des Schlosses versetzte Edouard den Todesstoß. Carlisle hatte ihm alles geraubt … die Frau, die Ehre, das Zuhause. Wenige Tage nach seiner Rückkehr stürzte er sich vom Südturm.“

Monty schaute zu Boden. „Geistert er im Schloss herum?“

„Würden Sie das etwa nicht tun?“

„O doch. Vor allem, wenn ein Carlisle es bewohnt.“

„Macht es ihnen Angst?“

Das tat es. Irgendwie war das Gespenst jetzt ein persönlicher Feind, der genug Grund hatte, sich an einem Nachfahren von Josiah Carlisle zu rächen. „Ist das Gespenst gefährlich?“

„Vielleicht fühlt es sich nach all diesen Jahren einfach nur einsam.“

„Wenn er durch das Schloss geistert und seine Frau durch den Garten, ist er nicht einsam“, wandte Monty ein.

„Er hatte ihr Blut an seinen Händen. Als er sie hier fand, füllte er seine Hände mit ihrem Blut, hob es zum Himmel und flehte Gott an, sie wieder zum Leben zu erwecken. Doch als er die Fäuste öffnete, hatte das Blut sich in Rubine verwandelt, die so kalt und leblos wie ihr Körper waren. Er warf sie fort und rannte davon. Aus den im Garten verstreuten Rubinen wuchs über Nacht dieser Irrgarten … den Edouards Geist nicht betreten und Lilys nicht verlassen kann.“ Seb lächelte. „So behauptet es jedenfalls die Legende.“

Der Wind hörte sich an wie ein Seufzen, und Monty rieb sich die Arme. „Tante Josephine wäre begeistert.“

„Wer?“

„Oh … Tante Josephine. Miss Carlisles Tante. Jeder nennt sie so … Tante, meine ich. Tante Josephine.“ Sie stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Wie heißen die Geister? Edouard und …“

„Lily de Vergille. Meine Ururgroßeltern.“

„De Vergille? Dann … gehört dieses Schloss Ihrer Familie? Ihnen?“

Seb sah ihr ins Gesicht, bevor er aufstand und sie um einen Kopf überragte. „Dies ist jetzt Schloss Carlisle, Mademoiselle. Ich erhebe keinen Anspruch auf das Schloss. Ich habe nur den Wunsch, es restauriert zu sehen.“

Das ist eine glatte Lüge, dachte Monty. Natürlich hatte er einen Anspruch auf das Schloss. Einen, der auf Geburt und Abstammung beruhte und durch keinen Kaufvertrag aus der Welt zu schaffen war. Ob die Geschichte von Lilys Ermordung stimmte oder nicht, Sebastian hatte allen Grund, jeden zu hassen, der den Namen Carlisle trug. Wenn er gewusst hätte, wer sie war, würde er sie nicht so ansehen.

Und sie wollte, dass er sie auch weiterhin so ansah. Sie wollte es sogar sehr. „Sie müssen Montgomery Carlisle hassen“, sagte sie leise. „Ihr ist es vollkommen gleichgültig, was aus dem wird, was eigentlich Ihnen gehören müsste.“

Er lächelte belustigt. „Sie sagten doch gerade, sie hätte nichts von dem Zustand des Schlosses gewusst.“

„Das stimmt. Wirklich.“ Wahrscheinlich klang sie viel zu feierlich, aber sie konnte es nicht ändern. Es war so wichtig, dass er ihr glaubte.

Seb sah ihr tief in die Augen. Die Erregung, die er dadurch in ihr auslöste, war so gewaltig, dass sie befürchtete, er könnte sie ihr ansehen. Dann hob er langsam die Hand und strich behutsam über ihre Wange. „Sie sind eine treue Sekretärin, Mademoiselle. Aber Sie brauchen Ihre Arbeitgeberin nicht zu verteidigen, denn auch ich werde mit Carlisle-Geld bezahlt.“

Sie griff nach seiner Hand und hielt sie einen Moment an ihrer Wange fest. „Was tun Sie hier, Seb? Bitte, erzählen Sie mir nicht, dass es nicht mit der Geschichte von Lily, Edouard und Josiah Carlisle zu tun hat.“

„Gut, das werde ich Ihnen nicht erzählen. Stattdessen sage ich, dass es mir seit Ihrer Ankunft schwerfällt, nicht zu vergessen, dass mein Platz im Garten ist.“

Dass er wieder zu flirten begann, enttäuschte sie. Sie hatte gehofft, ein ernsthaftes Gespräch führen zu können. „Sie sind hier, um den Garten in Ordnung zu bringen? Ausgerechnet den dieses Schlosses? Das glaube ich Ihnen nicht.“

„Nein? Mademoiselle, wäre es Ihnen lieber, wenn ich nach dem verlorenen Schatz meiner Familie suchte? Nach Lilys Rubinen? Vielleicht liegen irgendwo im Schloss Juwelen, die ein Vermögen wert sind.“

„Ja, das wäre mir lieber. Es klingt viel aufregender.“

Er holte Eves Schuhe aus der Tasche und gab sie ihr. „Ich habe sie wiedergefunden.“

„Und der Ring?“

„Den müssen Sie selbst suchen“, sagte er lachend.

„Sie haben ihn, Sebastian. Geben Sie ihn mir, sonst muss ich Sie durchsuchen …“

Sie tastete über seinen Arm, bis ihre Finger die verletzte Stelle berührten. Bevor er es verhindern konnte, hatte sie den Ärmel hochgestreift und hielt den Arm in beiden Händen. „Was ist Ihnen denn passiert?“

Er entzog ihr den Arm und schob den Ärmel wieder über die Verletzung. „Wuchernde Hecken sind nicht ungefährlich.“

„Das ist ein tiefer Schnitt, kein kleiner Kratzer.“

Er lächelte. „Einer der Schuhe saß oben im Baum fest, aber für Sie habe ich mich gern verletzt.“

Die Wunde war älter als eine Stunde, das wusste sie. Aber offenbar vertraute Seb ihr nicht. „Ich würde dasselbe für Sie tun.“

Er kehrte ihr den Rücken zu, um den Pavillon zu betrachten. Sie starrte auf die breiten Schultern, spürte seine innere Anspannung und fragte sich, wie seine Lippen sich auf ihren anfühlen würden. Erneut stieg in ihr die Ahnung auf, dass ihr Schicksal irgendwie mit Sebastians verknüpft war. Egal, wer er war und was er hier wollte.

Ihr Atem ging unwillkürlich schneller, als er sich umdrehte.

„Je t’embrasse“, flüsterte er heiser.

Er wollte sie küssen. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Hatte er das Verlangen in ihren Augen gesehen?

Sie bewegte sich nicht. Er trat auf sie zu und zog sie langsam an sich. Sie war wie verzaubert, und sie hätte sich selbst dann nicht gerührt, wenn Lilys Geist ihr auf die Schulter geklopft hätte. Als er den Kopf senkte, versetzte er sie in eine andere Welt.

Erst spürte sie seinen warmen Atem, dann seine Lippen. Dass der Kuss noch erregender war als die Vorfreude darauf, war eine mehr als angenehme Überraschung. Die Erregung durchströmte ihren Körper, bis ihr schwindlig wurde und sie die Arme um ihn schlang.

Vom Turm aus war der Pavillon deutlich zu sehen. Das Fernglas wurde schärfer gestellt, und zwei Menschen nahmen Gestalt an. Sebastian de Vergille und Montgomery Carlisle. Zwei Liebende und ihr heimlicher Kuss im Garten. Wie romantisch.

4. KAPITEL

„Was tun Sie da?“, fragte Eve.

Monty richtete sich auf, und ihr Kopf verfehlte die Kante des Marmorsockels nur knapp. „Ich sehe mich nur mal um. Sie wissen schon, am Schauplatz des Verbrechens.“

„Des Verbrechens?“, fragte Eve mit zitternder Stimme.

„Das war nur ein Scherz“, beruhigte Monty sie. „Ich wollte mir die Halle bei Tageslicht anschauen und feststellen, wie ich es geschafft habe, einen Engel umzustoßen.“

„Die Statue ist fort.“

„Allerdings. Ich frage mich, ob Charlotte das Ding in einen Schrank gestellt hat. Wie entsorgt man gefallene Engel?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn allein getragen hat.“

„Diese Frau hat tatsächlich Muskeln aus Stahl. Haben Sie das nicht bemerkt?“

Eve senkte den Blick. „Wenigstens hat sie die Splitter zusammengefegt. Offenbar kann sie mit einem Besen besser umgehen als mit einer Bratpfanne.“

Monty hatte den üblen Nachgeschmack des viel zu fettigen Frühstücks noch auf der Zunge und musste schlucken. „Sagen Sie ihr, dass wir ab jetzt nur Kaffee und Croissants vom Bäcker möchten. Wenn wir Speck und Spiegeleier wollten, wären wir nach Kansas gefahren, nicht nach Frankreich.“

„Ich sage es ihr, aber ich bin nicht sicher, ob sie sich daran hält.“ Eve strich vorsichtig über den Sockel. „Es sieht so leer aus. Meinen Sie, die Statue kann ersetzt werden? Sie sollten Edwin danach fragen.“

„Ich schreibe es auf die Liste.“ Monty wollte weiter nach Geheimtüren suchen und wünschte, Eve würde sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. „Ich werde wohl zugeben müssen, dass ich den Engel selbst vom Sockel gestoßen habe.“

„Es war doch nicht Ihre Schuld, dass Charlotte mit der Laterne davonrannte und uns allein im Dunkeln zurückließ.“ Eve seufzte voller Selbstmitleid. „Sie sollten sie feuern, Miss Carlisle. Sie bereitet Ihnen nur Ärger. Und Schmerzen. Bestimmt haben Sie einen Bluterguss.“

„Einen Bluterguss?“

„Vom Zusammenstoß mit der Statue. Die Dinger sind schwer. Bestimmt wiegen sie hundert Pfund, wenn nicht sogar mehr. Und wenn Sie so heftig gegen den Sockel gestoßen sind, dass sie umkippte …“

Ein Bluterguss. Monty fragte sich, warum sie nicht selbst darauf gekommen war. Eve war schlauer, als sie gedacht hatte. Irgendjemand musste einen Bluterguss an der Schulter haben. Es sei denn … Aber nein, sie glaubte nicht, dass die Statue absichtlich umgestürzt worden war. Die ganze Sache war ein Unfall gewesen.

„Wissen Sie, es ist eigenartig, wie die Statue gefallen ist.“ Eve schob sich das Haar hinter das Ohr. Es war eine nervöse Geste, die Monty gleich an ihr aufgefallen war. „Wenn Sie gegen diese Seite des Sockels gestoßen sind, hätte sie eigentlich in die andere Richtung fallen müssen. Dorthin, wo Sie jetzt stehen, nicht in Richtung der Fenster.“

Monty lief es kalt den Rücken herunter. „Eve, hören Sie auf, sich Dinge einzubilden. Ich bin gegen den Sockel gelaufen, die Statue kam ins Schwanken und fiel um. Es war ein Unfall.“

„Meinen Sie, das Gerede stimmt?“ Sie biss sich auf die Lippe. „Das von den Gespenstern, meine ich.“

Monty wusste nicht, ob sie sich über die Sekretärin ärgern oder amüsieren sollte. Sie lachte spöttisch. „Ehrlich, Eve, Sie hören sich ja schon an wie meine Tante Jo. Die leidet auch unter Verfolgungswahn. Warum schreiben Sie nicht einen Brief oder lesen ein Buch oder erledigen etwas?“ Monty zeigte zur Treppe. „Gehen Sie schon. Ich möchte mich allein umsehen.“

„Sie sollten nicht allein durch das Schloss wandern. Es ist zu gefährlich. Ich bleibe bei Ihnen.“

„Das ist nicht nötig.“

„Es macht mir nichts aus. Ich bin auch nicht gern allein.“

Monty trommelte verärgert mit den Fingern auf dem leeren Sockel. Eve würde während des restlichen Nachmittags wie eine Klette an ihr hängen. Natürlich konnte sie der armen Frau befehlen, sie allein zu lassen, aber Eve würde sich nicht leicht abschütteln lassen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, auf ihre Chefin aufzupassen … egal, was die Chefin davon hielt.

Achselzuckend ging Monty zur Treppe. „Dann kommen Sie. Ich will mir den Irrgarten noch einmal ansehen. In der Mitte steht ein Pavillon, und Sebastian hat mir diese tolle … Na ja, eigentlich ist es eine schreckliche Geschichte. Über einen Mord, der sich vor vielen Jahren dort ereignet hat. Die Schlossherrin wurde getötet, und ihr Blut ergoss sich über alles. Jetzt wandert ihr Geist durch den Irrgarten und kann nicht heraus.“ Sie ging die Stufen hinunter und musste lächeln, als Eves Schritte hinter ihr immer zaghafter wurden.

„Gib es zu, Onkel Edwin. Du willst mir das Leben schwer machen.“

Sein Schmunzeln kam so deutlich aus dem Hörer, als wäre er nebenan und nicht auf der anderen Seite des Atlantiks. „Hallo, Monty, Liebes. Wie schön, von dir zu hören. Genießt du deinen Aufenthalt im Schloss?“

„Es ist herrlich hier“, erwiderte Monty. „Ich wünschte, du wärest hier.“

„Um dein schweres Leben zu teilen? Nett von dir Monty, aber ich habe es hier auch nicht gerade leicht. Ich versuche, deine Rechnung mit Stanton Grainger zu begleichen.“

„Gib ihm den Rubin, und du hast keine Probleme mehr.“

Edwins Seufzer verlor auf dem Weg zwischen Südkalifornien und dem Loire-Tal nichts von seiner Dramatik. „Für dich ist alles immer so einfach, Monty.“

„Das Leben hier im Schloss ist einfach. Wir brauchen uns nicht mit so komplizierten Dingen wie Elektrizität oder Bedienungspersonal abzumühen. Oder mit Mahlzeiten, die mehr erfordern als einen Dosenöffner und einen Löffel.“

„Warum gibt es keinen Strom?“

„Woher soll ich das wissen? Ich habe genug damit zu tun, im Dunkeln in mein Schlafzimmer zu finden.“

„Was?“, fragte er gereizt.

„Ich sagte, ich …“

„Das habe ich gehört. Wo sind der Verwalter und die anderen, die er einstellen sollte?“

„Nicht hier.“

„Louis ist nicht da?“

„Nein.“

„Wo, zum Teufel, steckt er?“

„Geschäftlich unterwegs.“ Monty wickelte sich die Telefonschnur um den kleinen Finger.

„Das Schloss ist sein Geschäft. Was fällt ihm ein? Nicht da zu sein, wenn du kommst.“

„Offenbar hat er anderswo zu tun.“

„Und was findest du daran so lustig? Es wundert mich, dass du erst jetzt anrufst.“

„Ich habe das Telefon nicht früher gefunden.“

Edwin zögerte. „Na gut, Monty. Du hast mich hereingelegt, aber jetzt habe ich dich durchschaut. Wo bist du wirklich? In Paris? An der Côte d’Azur?“

Sie lachte. „Ich bin im Schloss. Kannst du dir etwa nicht vorstellen, dass ich ohne die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens auskomme?“

„Nein, Monty, das kann ich nicht. Aber nehmen wir an, du bist tatsächlich dort, wohin ich dich geschickt habe. Im Schloss. Der Verwalter ist unterwegs. Wer kümmert sich um dich?“

„Das kann ich selbst.“

Sein Schweigen klang skeptisch. „Natürlich kannst du das, Monty. Aber bitte befriedige meine Neugier. Wer ist außer dir und Eve noch dort?“

„Ein Gärtner namens Sebastian und Charlotte. Ich weiß noch nicht, was ihre Aufgabe ist, aber einige kommen schon nicht mehr in Frage.“

„Charlotte ist Louis’ amerikanische Frau“, erklärte er. „Louis’ Abwesenheit ist nicht zu entschuldigen. Ich werde ihn entlassen. Und gleich nach diesem Gespräch werde ich mich um den Strom kümmern.“

„Ich bezweifle, dass der amerikanische Botschafter in Frankreich dir dabei helfen wird, aber versuche es ruhig. Der Gärtner hat mir erzählt, dass der Strom bei jedem Gewitter ausfällt. Der schlosseigene Generator ist alt und unzuverlässig.“

„Es tut mir leid, Monty. Ich dachte, das Schloss wäre das ideale Versteck für dich.“

Als ob sie ein Versteck brauchte. Sie hoffte, dass Stanton Grainger Joans Rubin bekommen würde, so oder so. „Mach dir um den Strom keine Sorgen, Edwin. Im Moment interessiert mich mehr, warum das Schloss so heruntergekommen ist.“

„Heruntergekommen?“, wiederholte er verblüfft. „Unsinn, Monty. Ich habe tausende von Dollars für Reparaturen ausgegeben. Ganz zu schweigen von dem Vermögen, das mich das Personal und die Unterhaltung jährlich kosten.“

„Das Geld ist nicht ins Schloss geflossen, Edwin. Jedenfalls nicht viel davon. Ich schäme mich für seinen Zustand und möchte, dass du etwas unternimmst.“

„Das werde ich, Monty. Ich werde Louis feuern und einen ehrlichen, vertrauenswürdigen Verwalter einstellen.“

Sie sah durchs Fenster auf das Anwesen, das bis hinunter ins Tal und zur kleinen Stadt reichte. „Ich möchte, dass das Schloss restauriert wird, Edwin.“

„Okay. Sonst noch etwas?“

Autor

Jackie Merritt
Seit 1988 ihre erste Romance veröffentlicht wurde, schreibt Jackie Merritt hauptberuflich. Sie ist fest davon überzeugt, dass jeder, der ein bisschen Kenntnis von Sprache und Grammatik hat, ein Buch verfassen kann. Die Voraussetzung ist allerdings, dass man sehr viel Disziplin aufbringen kann. Die ersten Seiten sind leicht – bis zum...
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Karen Toller – Whittenburg hat an beiden Küsten Amerikas gelebt – der Atlantik- und der Pazifikküste. Sie bevorzugt die Landschaft von Nordost – Oklahoma, wo sie aufgewachsen ist. Sie mag den Wechsel der Jahreszeiten in Tulsa, wo sie mit ihrem Ehemann, einem Fotografen lebt. Schon in frühen Jahren hat Karen...
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