Bianca Exklusiv Band 268

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ALLE SORGEN SIND VERGESSEN von DYER, LOIS FAYE
Wie Aschenputtel auf dem Ball fühlt sich Allison auf der Wohltätigkeitsgala des Krankenhauses. Und ihr Prinz ist Staatsanwalt Jorge Perez, dessen Flirt sie stürmisch erwidert. In seinen Armen stürzt sie sich in eine Nacht, in der sie alle Sorgen vergessen will …

SAG JA ZUM LEBEN, SAG JA ZUM GLÜCK von BELISLE, LISETTE
Nur weil sie behauptet, seine Frau zu sein, darf Abby den verletzten Jack ins Krankenhaus begleiten. Obwohl sie den attraktiven Freund ihres Bruders kaum kennt, fühlt Abby sich ungemein von ihm angezogen. So sehr, dass ihr Verlobter sie vor die Wahl stellt: er oder ich.

ENDLICH GEBORGEN BEI DIR von KAY, PATRICIA
Die junge Frau, die Kevin Callahan orientierungslos auf der Straße gefunden hat, erinnert sich langsam wieder. Stockend erzählt sie ihm ihre Geschichte und ihren Namen - Laura. Und er erfährt, dass er nicht nur Gefahr läuft, sein Herz zu verlieren, sondern auch sie ...


  • Erscheinungstag 26.02.2016
  • Bandnummer 0268
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732691
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lois Faye Dyer, Lisette Belisle, Patricia Kay

BIANCA EXKLUSIV BAND 268

1. KAPITEL

„Du wirst heute Abend mit uns auf diese Party gehen.“

Allison Baker reagierte nicht auf Zoes Ankündigung. Stattdessen nahm sie einen Schluck Eistee, streckte die Beine aus, legte die bloßen Füße auf das gelbe Sitzkissen des freien Küchenstuhls und lächelte ihre Freundin liebenswürdig an.

Zoe Armbruster hörte auf, in der Küche hin und her zugehen, stemmte die Hände in die Seiten und sah Allison wütend an. „Spar dir dein süßes Lächeln. Ich weiß, du denkst dir gerade tausend Ausreden aus, um nicht hingehen zu müssen. Und ich nehme dir nicht eine einzige davon ab.“

Allison zeigte auf die zahlreichen juristischen Fachbücher, Zeitschriften, Kugelschreiber und losen Blätter, die auf dem kleinen Tisch verstreut waren. „Zoe, ich würde ja gern mit dir und Jack ausgehen, aber ich muss für meinen Kurs in der nächsten Woche noch einen Schriftsatz fertig stellen.“

Zoe hob die Rechte. „Nein. Keine Ausreden. Nichts da.“ Sie ergriff Allisons Hand und zog sie vom Stuhl, dann drehte sie die Freundin um und schob sie entschlossen in Richtung Schlafzimmer. „Du lebst wie eine Nonne – nur Arbeit, kein Vergnügen. Heute Abend werden wir beide unsere Jobs vergessen und ordentlich Spaß haben.“

Lachend ließ Allison sich von Zoe ins Schlafzimmer befördern. Wenn die kleine Brünette so in Form war, konnte man ihr nur schwer widerstehen. Allison wusste, dass sie eigentlich nach einem Vergleichsfall suchen sollte, um ihre Argumente im Schriftsatz zu untermauern. Aber die Aussicht auf einen Abend ohne Fachbücher oder Übungsaufgaben war äußerst verlockend.

„Ich habe absolut nichts, was ich zu einem Wohltätigkeitsball anziehen könnte, Zoe.“ Sie setzte sich ans Fußende des Betts und beobachtete, wie ihre Freundin den Schrank öffnete und die darin hängenden Sachen durchsah. Allison schaute an ihrer eigenen, schlanken Gestalt hinab, dann wieder zu ihrer viel kleineren und üppiger geformten Freundin hinüber. „Und ich kann unmöglich etwas von dir tragen.“

Mit gerunzelter Stirn starrte Zoe auf ein maßgeschneidertes schwarzes Business-Kostüm und schob es zur Seite. „Wir werden schon das Richtige finden. Notfalls machen wir eins meiner Kleider enger.“

Allison lachte. „Das würde die ganze Nacht dauern. Wir würden die Party verpassen.“

Zoe verschwand halb im Schrank, und ihre Stimme klang gedämpft. „Du wirst auf diesen Ball gehen, und wenn ich dir ein Kleid stehlen muss!“

„Oh, großartig“, erwiderte Allison. Sie schüttelte den Kopf und strich sich eine rötlichbraune Locke aus dem Gesicht. „Du bist bereit, eine Straftat zu begehen, nur damit ich auf eine Party gehen kann?“

„Ja.“ Zoes nachdrücklicher Antwort folgte ein zufriedener Laut. Mit einer durchsichtigen Hülle, in der ein schwarzes Abendkleid hing, tauchte sie aus dem Schrank auf. „Aha!“

Allison straffte sich. Das Designerkleid hatte sie völlig vergessen. Sie hatte ihre Eltern in Beverly Hills besucht und mit ihrer Mutter einen Einkaufsbummel gemacht. Sie hatte es nie getragen, denn sie war einen Tag früher nach New York zurückgeflogen, um ihre Eltern nicht zu einer Filmpremiere begleiten zu müssen. Sie hasste den Medienrummel, den die beiden auslösten, wenn sie auf einer ihrer geliebten Hollywood-Partys auftauchten.

Seit Allison siebzehn war, hatte sie es geschafft, diese glamourösen Anlässe zu meiden. Jene katastrophale Nacht auf der Party nach einer Filmpreisverleihung hatte bei ihr ein unauslöschliches Trauma hinterlassen.

Zoe zog die Hülle auf und nahm das Abendkleid heraus. Ihre Augen wurden groß. „Mann, das ist ja wunderschön. Und absolut perfekt für heute Abend.“ Sie warf Allison einen Blick zu. „Hast du Schuhe, die dazu passen?“

„Ja. Ich glaube, die stehen in dem Regal hinter dem Stapel Winterpullover.“

„Toll! Hier.“ Zoe warf Allison das Kleid zu und verschwand erneut im Schrank.

Allison strich mit der Handfläche über den mit feiner Spitze besetzten Satin und befühlte den kühlen Stoff.

Zoe kam wieder zum Vorschein. Triumphierend ließ sie ein Paar schwarzer Sandaletten an einer Hand baumeln. „Hier sind sie.“ Sie blieb vor Allison stehen. „Gehst du jetzt duschen und ziehst dich um, oder muss ich dich dazu zwingen?“

„Nein, ich gebe auf.“ Allison musste über das schelmische Lächeln ihrer Freundin lachen. „Ich gehe auf die Party.“

Eine Stunde später betrachtete Allison sich in dem Spiegel, der an der Schlafzimmertür hing. Verschwunden war die arbeitsame Assistentin, die in Abendkursen Jura studierte. Die Person, die sie vor sich sah, war eine ganz andere als die, die jeden Morgen brav zur Arbeit ging und sich nach Feierabend weiterbildete. Das elegante Kleid schmiegte sich um ihre schlanken Kurven und betonte die sanft geschwungenen Brüste unterhalb des weiten, an den Schultern ansetzenden Ausschnitts.

Der schmale, knöchellange Rock war seitlich geschlitzt und gab bei jedem Schritt den Blick auf das schlanke, in Seide gehüllte Bein frei, bis hinab zu den schwarzen Sandaletten mit spitzen Absätzen.

Sie drehte sich vor dem Spiegel und schaute über die Schulter. Die schwarze Spitze umschloss Hüften und Po und ließ ihre Figur auf diskrete Weise verführerisch erscheinen. Sie hatte ihr Haar mit schlichten goldenen Kämmen hochgesteckt und nur an den Schläfen und am Nacken ein paar zarten Locken die Freiheit gelassen. Um den Hals trug sie eine einfache goldene Kette, während die filigran geflochtenen Ohrringe aus Gold ihr einen Hauch von Exotik verliehen.

Dezenter Mascara und goldbrauner Lidschatten gaben den Augen etwas Geheimnisvolles, was vom Rouge und dem sorgfältig abgestimmten Lippenstift noch betont wurde.

Die Frau im Spiegel wirkte nicht vorsichtig. Nicht brav oder arbeitsam. Und auch nicht schüchtern und introvertiert. Sie sah ganz anders aus als die Allison, die die meisten Leute kannten.

Aber, so fand Allison, sie sah aus wie eine Frau, die selbstbewusst und kontaktfreudig war und sich nicht unterkriegen ließ.

Zögernd verzog sie den Mund zu einem Lächeln. Die Frau im Spiegel lächelte zurück.

Allisons Lächeln wurde noch breiter.

Nur heute Abend, erklärte sie ihrem ungewohnten Spiegelbild. Dieses eine Mal würde Allison so wie die Frau im Spiegel sein. An diesem Abend würde sie lachen und flirten und sich amüsieren, ohne an gestern oder morgen zu denken.

„Wahnsinn! Du siehst atemberaubend aus!“ Zoes Spiegelbild erschien neben dem von Allison. „Zwei Prinzessinnen vor dem Ball.“

Zoe trug ein purpurrotes Cocktailkleid, und mit ihrem dunklen Haar und Teint gab sie einen idealen Kontrast zu Allisons schwarzer Spitze, der hellen Haut und dem rötlichbraunen Haar ab.

Allison hakte sich bei ihr ein und legte den Kopf von links nach rechts, als würde sie die beiden Spiegelbilder kritisch mustern. „Nicht schlecht für eine Sekretärin und eine Kellnerin, was?“

Zoe wedelte mit der Hand. „Ich bin keine Kellnerin, ich bin eine ‚Barista‘. Und du bist nicht Sekretärin, sondern eine Chefassistentin, aus der bald eine brillante Anwältin wird. Und heute Abend sind wir beide elegante Damen der Gesellschaft“, fügte sie hinzu.

Es läutete. „Oh, das wird Jack sein.“

Zoe zog ihre Freundin aus dem Badezimmer, und auf dem Weg zur Tür schaffte Allison es gerade noch, sich ihre winzige Abendtasche und den Mantel zu schnappen.

Der Ballsaal war so voll, dass Allison schon nach wenigen Minuten von Zoe und ihrem Begleiter getrennt wurde. Aber dieses Mal machte es ihr nichts aus, sich allein inmitten einer Menschenmenge zu befinden. In das schützende Outfit einer selbstbewussten, attraktiven Frau gehüllt, plauderte sie ohne jede Scheu mit einem viel jüngeren Mann, der neben ihr am Büffet stand. Ganz offenbar interessierte er sich für sie, und als sie nach dem kurzen Gespräch davonging, war ihre Zuversicht gewaltig gewachsen.

Ich bin eine vollkommen andere Person, dachte sie lächelnd. Und das hier macht riesigen Spaß.

Decke und Wände des Ballsaals waren mit blauem Chiffon verhängt, durch den goldgelbes Licht drang, was die Illusion einer Unterwasserwelt schuf. Rund um den Raum waren Fotos und Figuren von Walen in ihrer natürlichen Umgebung platziert. Davor drängten sich Gäste um Fachleute, die Namensschilder trugen und alle Fragen sachkundig beantworteten. Allison nippte an ihrem Champagnerglas, während sie von Gruppe zu Gruppe schlenderte, überaus fasziniert vom Wissen und der Begeisterung der Professoren.

Sie lauschte gerade einem Meereskundler, der beschrieb, wie er zusammen mit Kollegen ein verwaistes Waljunges ausgewildert hatte, als sie zusammenzuckte. Empört fuhr sie herum, um denjenigen zur Rede zu stellen, dessen Finger sie gerade an ihrem Nacken gespürt hatte.

Sie stand am Rand der Gruppe, doch obwohl es um sie herum von Menschen wimmelte, war niemand ihr so nahe, dass er sie hätte berühren können.

Seltsam. Verwirrt drehte sie sich wieder zu dem Wissenschaftler um.

Doch kurz darauf fühlte sie das federleichte Streicheln wieder. Stirnrunzelnd schaute sie über die Schulter. Aber auch dieses Mal hatte sich ihr niemand auf Armeslänge genähert.

Nervös ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern und erstarrte.

Auf der anderen Seite des Ballsaals lehnte ein Mann an einer Marmorsäule und beobachtete sie.

Allison fühlte es so deutlich, als hätte er den Arm um ihre Taille gelegt und sie an sich gezogen. Er war groß und gebräunt, hatte kurzes, schwarzes Haar und Augen, die so dunkel waren, dass sie geradezu schwarz wirkten.

Erst als einige Gäste sich zwischen sie schoben und den Blickkontakt unterbrachen, schnappte Allison nach Luft und gestand sich ein, dass sie den Fremden angestarrt hatte. Hastig nippte sie am Champagner, sah sich verlegen um und stellte erleichtert fest, dass niemand es bemerkt zu haben schien. Verwirrt und plötzlich erhitzt eilte sie so unauffällig wie möglich durch die offene Flügeltür auf die Terrasse.

Dort hielt sie sich am Geländer fest, atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen, und starrte auf die Lichter der Stadt.

Der letzte Ort, an dem Jorge Perez sich an einem heißen Samstagabend im August aufhalten wollte, war ein Wohltätigkeitsball für eine Organisation, die sich für die Rettung der Wale einsetzte. Nicht, dass er etwas gegen die großen Meeressäuger hatte. Nur zu gern hätte er einen Scheck ausgeschrieben und ihn der guten Sache gespendet. Was ihn störte, das war die Party selbst.

Er ging selten zu derartigen Anlässen und zog es vor, auch am Wochenende zu arbeiten. Doch sein Chef hatte ihn gebeten, ob er ihn vertreten könnte, und Jorge hatte nicht ablehnen können. Er mochte Ross und seine beiden Kinder. Als Ben und Sarah ihn anflehten, für Ross hinzugehen, damit ihr Vater mit ihnen zum Segeln gehen konnte, hatte er sich schnell breitschlagen lassen.

Also war er jetzt hier, in einem Smoking von Armani statt in verwaschenen Jeans, plauderte mit Stadträten, beantwortete Fragen eines Reporters nach seinem letzten Mordfall und wehrte die nicht gerade dezenten Avancen eines Hollywood-Starlets ab, das in der Begleitung eines örtlichen Hotelmagnaten gekommen war.

Was für eine langweilige Art, das Wochenende zu verbringen!

Jorge warf einen Blick auf seine Rolex. Er schätzte, dass er noch etwa eine halbe Stunde bleiben sollte, bevor er sich von der Gastgeberin verabschieden konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.

Als hinter ihm das glockenhelle Lachen des Starlets ertönte, hätte er beinahe genervt aufgestöhnt. Ohne über die Schulter zu blicken, umrundete er die fröhlich lachende Gruppe vor ihm, nahm sich vom Tablett eines vorbeikommenden Kellners ein Glas Champagner und flüchtete in den hinteren Teil des Raums. Dort lehnte er sich mit der Schulter gegen eine Marmorsäule und ließ seinen Blick durch den Ballsaal schweifen.

Er kannte viele der Gäste aus der Zeit, in der seine Exverlobte ihn mehrmals in der Woche auf Partys wie diese geschleppt hatte. Die Verlobung hatte nicht lange gehalten, und seitdem ging er nur dann zu solchen Anlässen, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.

Gelangweilt sah er sich um und zählte insgeheim die Minuten. Die Menge teilte sich und gab plötzlich den Blick auf eine Frau frei, die auf der anderen Seite des Saals stand. Schlagartig verflog Jorges Langeweile, denn ihr Anblick faszinierte ihn. Das rötlichbraune Haar schien im goldenen Licht zu schimmern, und ihr schlanker Körper steckte in einem perfekt sitzenden Kleid aus schwarzer Spitze. Sie kehrte ihm den Rücken zu, und er wünschte, sie würde sich umdrehen. Er musste ihr Gesicht sehen.

Komm schon, drängte er stumm. Dreh dich um.

Und als sie es schließlich tat, hielt er unwillkürlich den Atem an …

Sie war unglaublich schön. Selbst inmitten der eleganten, manikürten, juwelenbehangenen, perfekt gestylten Damen der Gesellschaft in ihren sündhaft teuren Designerroben fiel sie auf. Schwarze Spitze umschmeichelte Schultern, die wie poliertes Elfenbein über dem weiten Dekollete schimmerten und den Blick auf einen schlanken, anmutigen, von einer schlichten Goldkette noch betonten Hals lenkten. Rötlichbraune Locken kringelten sich an Schläfen, Wangen und Nacken, während der Rest des selbst aus der Ferne seidenweich aussehenden Haars locker hochgesteckt war und nur darauf zu warten schien, dass es sich endlich wieder auf die Schultern ergießen durfte.

Sie wandte sich ab, und dabei gab der Schlitz in ihrem Rock für den Bruchteil einer Sekunde den Blick auf Oberschenkel und Wade frei.

Wer zum Teufel mochte die Frau sein? Jorge kannte die meisten Leute im Ballsaal, einige persönlich, die Mehrzahl von Fotos oder vom Bildschirm. Er war sicher, dass er diese Frau noch nie gesehen hatte. Daran hätte er sich erinnert.

Erneut schoben sich Gäste zwischen sie und ihn.

Los, bewegt euch, bat er im Stillen. Er starrte auf den schmalen Streifen aus rötlichbraunem Haar und schwarzer Spitze, bis die lachende, plaudernde Menge weiterwogte.

Jetzt kam sie wieder in Sicht. Gebannt wartete er darauf, dass sie sich umdrehte und ihn ansah. Sie schaute über die Schulter, eine winzige Falte zwischen den Brauen, während sie nach jemandem zu suchen schien.

Ihre Blicke trafen sich. Jorge spürte es wie einen schwachen Stromschlag. Er konnte nicht erkennen, welche Farbe ihre Augen hatten, aber er sah, wie sie sich weiteten und ihr Körper mitten in der Bewegung innehielt.

Er unterdrückte einen Fluch, als die Menge ihm die Sicht nahm, und stieß sich vom Pfeiler ab, um den Raum zu durchqueren. Als er sich der Gruppe näherte, bei der sie gestanden hatte, registrierte er, dass sie gegangen war. Sein geradezu verzweifelter Blick in die Runde fiel auf ihr rötlichbraunes Haar, als sie gerade auf der Terrasse verschwand. Hastig wechselte er die Richtung und nahm einem freundlichen Kellner eine noch fast volle Flasche Champagner und zwei Gläser ab, bevor er ihr nach draußen folgte.

Langsam ging er auf sie zu und nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten, bevor sie ihn bemerkte.

„Zu schade, dass wir die Sterne nicht sehen können.“

Sie erstarrte. Dann drehte sie den Kopf und sah ihm entgegen.

Ihre Augen waren bernsteinfarben und erfüllt von einem Misstrauen, das so gar nicht zu ihrem Kleid und der raffinierten Frisur passte.

Schlagartig wurde Jorge klar, dass einer der bewährten Anmachsprüche bei ihr völlig fehl am Platz wäre.

Noch bevor sie ihn gesehen hatte, wusste Allison, dass die tiefe Stimme dem Mann aus dem Ballsaal gehörte. Einen Moment lang drohte die Panik sie zu lähmen. Doch dann lächelte er, und in seine fast pechschwarzen Augen trat eine Wärme, die ihr die Angst nahm.

Er blieb zwei Schritte vor ihr stehen, als würde er spüren, welchen Sicherheitsabstand sie brauchte, und sah zum Himmel hinauf.

„Luftverschmutzung“, bemerkte er nur.

„Luftverschmutzung?“

Sein Blick traf sich kurz mit ihrem, bevor er wieder den Kopf hob und auf die Großstadt um sie herum und das funkelnde Kristall der beiden Gläser in seiner Hand zeigte.

„Vielleicht sollte ich lieber ‚Lichtverschmutzung‘ sagen.“ Er kam näher, lehnte sich mit einer Hüfte gegen das Geländer, reichte ihr ein Glas und füllte es. „Wussten Sie, dass die Astronauten die Nacht auf der Erde nur sehen können, wenn sie sich über dünn besiedelten Bundesstaaten wie North Dakota oder Montana befinden? Die Ostküste ist so dicht besiedelt und so hell erleuchtet, dass die Nacht von dort oben wie Tag aussieht.“

„Wirklich?“ Allison nippte am Champagner und fühlte, wie sich entspannte, weil er keine Anstalten machte, sich ihr weiter zu nähern. Er war groß, weit über ein Meter achtzig, die Schultern breit in dem schwarzen Smoking.

„Wirklich.“ Er lächelte mit leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln, und seine Augen lachten sie an. „Interessieren Sie sich für Astronomie?“

„Nun ja …“ Allison wurde bewusst, dass sie auf seine Lippen gestarrt und keine Ahnung hatte, was er gerade gesagt hatte. „Wie bitte?“

„Astronomie“, wiederholte er sanft. „Interessieren Sie sich dafür?“

„Als Kind schon, aber seit ich nach New York umgezogen bin, fehlt mir die Zeit, um nach den Sternen zu schauen“, erwiderte sie und konnte den Blick noch immer nicht von seinem Gesicht losreißen.

„Und wie lange ist das her?“

„Einige Jahre.“ Plötzlich ging ihr auf, dass er ihr Fragen stellte und sie gar nicht über die Antworten nachdachte, weil er sie so faszinierte. Er brauchte nur zu lächeln, schon fühlte sie den Puls an ihrem Hals und die erotische Wirkung, die von ihm ausging. Zum ersten Mal in ihrem Leben ertappte sie sich dabei, einen Mann körperlich anziehend zu finden. Aber noch verwirrender war, dass sie überhaupt keine Angst hatte. In seiner Nähe fühlte sie sich absolut sicher. Der perfekte Mann für einen Flirt, dachte sie und erinnerte sich daran, was sie vorhin zu der Frau im Spiegel gesagt hatte: Heute Abend werde ich flirten und mich amüsieren.

Sie lächelte unwillkürlich, und er lächelte zurück, doch sein Blick wurde eindringlicher.

„Ich fürchte, ich habe vergessen, mich vorzustellen“, sagte sie höflich und streckte die Hand aus. „Mein Name ist Allison Baker.“

„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Allison.“ Er trat näher und nahm ihre Hand in seine. „Ich bin Jorge Perez.“

Seine Finger umschlossen ihre, ein wenig rau, aber warm, und ein Kribbeln durchlief ihren ganzen Körper.

„Hallo.“ Ihre Stimme klang heiser.

Seine Augen verdunkelten sich, der Druck seiner Finger wurde fester. „Also, Allison Baker.“ Er strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Was macht ein nettes Mädchen wie Sie an einem Ort wie diesem?“

Er zog eine Augenbraue hoch, und Allison lachte.

„Sie meinen, auf dieser Terrasse oder bei einem Ball zur Rettung der Wale?“

„Egal. Vor allem frage ich mich, ob sie eine besondere Beziehung zu Walen haben?“

„Aha, Sie wollen wissen, ob mich etwas zu großen Säugetieren hinzieht?“, entgegnete sie.

Er schmunzelte, doch bevor er antworten konnte, flog hinter ihnen die Tür auf, und eine Gruppe von Gästen betrat die Terrasse. Die Musik folgte ihnen, und mehrere Paare begannen zu tanzen.

Jorge schaute über die Schulter. „Ich glaube, die Party hat uns gefunden.“ Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zusammen mit seinem und der fast leeren Flasche ab. „Es wäre eine Schande, die Musik nicht zu nutzen. Sollen wir?“

Als Allison nickte, legte er einen Arm um ihre Taille und zog sie behutsam an sich. Dann nahm er ihre rechte Hand und begann sich mit ihr zu drehen.

Wieder fühlte sie das, was sie im Ballsaal durchzuckt hatte, als ihre Blicke sich trafen. Ihr Oberteil streifte sein Hemd, und ihre linke Hand lag auf der breiten Schulter, nur Zentimeter von seinem schwarzen Haar entfernt. Jedes Mal, wenn sie Luft holte, atmete sie den unaufdringlichen Duft seines Rasierwassers mit ein. Würzig und männlich verband sich dieser Duft mit der unglaublichen Ausstrahlung dieses Mannes zu einer berauschenden Kombination, die ihr zu Kopf stieg.

„Sagen Sie mir, Allison, was tun Sie, wenn Sie nicht gerade auf Wohltätigkeitsbällen für große Säugetiere fremde Männer verzaubern?“

Sie legte den Kopf zurück und erwiderte sein Lächeln. Sollte sie ihm von ihrem Job bei Manhattan Multiples erzählen? Nein, entschied sie, nicht heute Abend. Heute Abend war sie ein anderer Mensch. „Ich studiere.“

„Tatsächlich? Was studieren Sie denn?“

„Jura.“

„Noch etwas, was wir gemeinsam haben.“ Die Musik wurde langsamer, und er legte ihre rechte Hand auf seine Schulter, um ihre Taille zu umschließen und sie fester an sich zu ziehen.

„Sie studieren auch Jura?“, fragte Allison.

„Nein. Jetzt praktiziere ich Jura.“

Erfreut strahlte sie ihn an. „Sie sind Anwalt? Wie schön. Welches Fachgebiet?“

„Strafrecht.“

„Dann müssen Sie viel zu tun haben“, vermutete sie trocken. „Die Kriminalitätsrate in Amerika ist erschreckend.“

„Halt, langsam!“ Er lachte. „Das ist nicht meine Schuld. Ich tue, was ich kann, um die Situation zu verbessern.“

Ein Kellner ging mit einem Tablett voller Häppchen umher, und Jorge vermied geschickt einen Zusammenstoß, indem er Allison an sich drückte. Ihre Körper berührten sich von den Schultern bis zu den Oberschenkeln, und ihr stockte der Atem, so gewaltig war das Verlangen, das schlagartig in ihr aufstieg. Spontan legte sie die Hände in seinen Nacken.

Allison nahm nur am Rande wahr, dass die Musik und das Lachen um sie herum leiser wurden, während sie den Kopf wieder nach hinten legte, um in seine Augen zu sehen. Sie glitzerten unter halb gesenkten Lidern, als ihr Haar seinen Hals und das Gesicht streifte.

Dann bedeckte sein Mund ihren, und die erotische Spannung, die von Anfang an zwischen ihnen geherrscht hatte, explodierte geradezu. Allison schwindelte, ihr Herz schlug immer heftiger, und eine erregende Hitze durchströmte sie.

Schon bald ließ der Kuss die Zaghaftigkeit einer ersten Umarmung hinter sich und wurde leidenschaftlich. Jorge legte eine Hand um ihren Hinterkopf und tastete mit der Zunge nach ihrer. Ungeduldig empfing Allison sie und fühlte die Berührung im ganzen Körper. Sie schmiegte sich an ihn und seufzte auf, als seine Finger über eine Brust strichen und die feste Spitze fanden. Aus dem Schreck wurde jedoch sofort reine Lust, als er sie sanft gegen die Wand drängte und einen seiner muskulösen Schenkel zwischen ihre Beine schob.

Sie rieb sich an ihm, wollte mehr von ihm fühlen. Einen ekstatischen Moment lang erwiderte er es, doch dann erstarrte er, und die kräftigen Muskel seiner Arme spannten sich, bevor er den Mund von ihrem löste.

„Allison, hier geht das nicht“, sagte er schwer atmend. „Komm mit mir nach oben.“

Sie starrte ihn an, denn noch war sie unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Ich habe ein Zimmer. Ross hat es für sich und seine Frau gebucht. Als er mich bat, ihn heute zu vertreten, hat er mir den Schlüssel gegeben, für den Fall, dass ich hier übernachten will. Komm mit mir nach oben, Liebling. Bitte!“ Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.

„Ich tue so etwas nicht“, brachte sie schließlich heraus.

„Ich auch nicht.“

Allison hatte noch nie Leidenschaft gefühlt und hatte nicht geglaubt, es jemals zu können. Nicht, nachdem ihr mit siebzehn Gewalt angetan worden war. Dies war ihre erste und vielleicht einzige Chance, mit einem Mann zu schlafen. Durfte sie diesen Moment ungenutzt verstreichen lassen?

Nur heute Abend, dachte sie. Nur dieses eine Mal.

„Ja“, flüsterte sie.

In seinen Augen schien es aufzublitzen, während er wortlos zurücktrat und einen Arm um sie legte, als ihre Beine nachzugeben drohten.

Sie zögerte und strich sich übers Haar. „Müssen wir durch den Ballsaal?“, murmelte sie. Erst als sie sich nervös umsah, bemerkte sie, dass eine breite Säule sie vor neugierigen Blicken schützte.

„Nein.“ Er zog ihr Oberteil ein Stück höher. „Es gibt einen anderen Weg.“

Er führte sie durch eine versteckt liegende Tür am Ende der Terrasse in einen für Gäste nicht zugänglichen Korridor, der hinter dem Saal verlief. Erstaunt folgte Allison ihm durch zahllose Türen, bis sie endlich den Fahrstuhl erreichten.

„Woher kennst du dich in diesem Hotel so gut aus?“, wollte sie wissen, als die Kabinentür sich hinter ihnen schloss.

„Es ist vor zwei Jahren beraubt worden. Ich habe in dem Fall die Anklage vertreten und viel Zeit hier verbracht, um herauszufinden, wie die Beschuldigten sich Zugang verschafft haben.“

Sie nickte, obwohl sie ihm gar nicht richtig zuhörte, sondern auf seine Lippen starrte. Sie sehnte sich danach, sie wieder an ihren zu spüren.

„Hör auf“, verlangte er mit belegter Stimme und sah ihr in die Augen. „Ich fasse dich hier nicht an. Denn wenn ich das tue, schaffen wir es nicht bis ins Zimmer.“

Allison brachte gerade ein „Oh“ heraus, und Jorge legte den Arm fester um ihre Schultern, während die Anspannung in der engen Kabine noch wuchs.

Als der Fahrstuhl endlich hielt, führte er sie hinaus und den Korridor entlang. Er nahm seine Schlüsselkarte heraus, und Sekunden später waren sie in seinem Zimmer. Behutsam schob er Allison gegen die Tür, die er gerade hinter ihnen geschlossen hatte, küsste sie und tastete nach dem Reißverschluss ihres Kleides. Sie half ihm und zog die Schultern ein, als er es ihr abstreifte. Noch bevor der schwarze Stoff ganz nach unten geglitten war, gab er ihren Mund frei und fand eine der festen Spitzen ihrer Brüste.

Als er sie mit den Lippen umschloss und daran sog, schrie sie leise auf und presste die Hüften an seine.

Scheinbar mühelos hob er sie auf und trug sie zum Bett. Mit zitternden Fingern zog er erst sich, dann sie aus, streifte ein Kondom über und legte sich zu ihr, um sie mit Mund und Händen zu liebkosen.

Nach einer Weile hob er den Kopf, das schwarze Haar zerzaust, der Blick besitzergreifend. „Ist es sicher?“

Seine Stimme war rau und belegt, und Allison verstand nur das letzte Wort. Was hatte er gefragt? Ob sie sich sicher fühlte? Ja, das tat sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich bei einem Mann sicher. Sie nickte, und dann dachte sie nicht mehr an Sicherheit, denn er kam ganz zu ihr, und sie fühlte nur noch ihn und das, was er in ihr auslöste.

Mit gerunzelter Stirn schlug Allison ein zweites Mal in dem Kalender auf ihrem Schreibtisch nach.

Das konnte nicht sein!

Nichts führte jedoch an der Tatsache vorbei, dass der Tag, an dem sie das Ende ihrer Periode mit einem roten Sternchen markiert hatte, sechs Wochen her war.

Oder war das die vorletzte Regel gewesen, und sie hatte vergessen, die letzte einzutragen?

Nein, sie hatte es nicht vergessen. Das tat sie nie. Seit dem Sommer, in dem sie dreizehn geworden war, machte sie die kleinen Zeichen in ihrem Kalender.

Hastig überflog sie die Eintragungen zwischen dem letzten Sternchen und dem heutigen Datum. Etwa in der Mitte zwischen den beiden Tagen stutzte sie bei einem Datum, um das sie einen roten Kreis gemalt hatte. Sie hatte nichts eingetragen, aber sie wusste auch so, dass es der Samstag war, an dem sie mit Zoe und Jack zum Ball gegangen war. Der Ball, den sie mit Jorge Perez verlassen hatte.

Ihr wurde heiß, und sie schloss die Augen, als eine Flut von Erinnerungen über sie hereinbrach. Sie hatten Stunden miteinander verbracht. Ich hätte nicht mit ihm schlafen dürfen, dachte sie verzweifelt.

Allison schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte auf.

Wie hatte sie nur so dumm sein können? Was hatte sie sich bloß gedacht.

Sie hatte gar nichts gedacht, das gestand sie sich jetzt ein. Genau das war das Problem. Ab dem Moment, an dem sich ihre Blicke im Ballsaal getroffen hatten, hatte sie keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen können. Und als er sie in die Arme nahm und die sexuelle Anziehung unwiderstehlich wurde, gab es in Allisons Kopf nur noch ihn.

Erst als sie im Morgengrauen neben ihm erwachte, fragte sie sich, wie es weitergehen sollte. Dann war sie in Panik aus dem Bett und seinem Hotelzimmer geflüchtet. Seitdem hatte sie ihn nicht wiedergesehen, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Er wusste nicht, wo sie wohnte oder arbeitete, und in einer so riesigen Stadt wie New York war es unwahrscheinlich, dass er sie finden würde. Selbst wenn er sich überhaupt die Mühe machte, was sie bezweifelte.

Sie schlug das heutige Datum auf und schrieb mit roter Tinte sechs Wochen darunter.

Hoffentlich setzt meine Periode nicht ausgerechnet an diesem Wochenende ein, dachte sie. Sie hatte jede Menge Hausaufgaben zu erledigen und konnte es sich nicht leisten, mit Krämpfen im Bett zu liegen.

Sie starrte auf die roten Buchstaben, die sie gerade in das weiße Quadrat geschrieben hatte. Sechs Wochen? Natürlich, dachte sie, warum denn nicht?

Aber ihre Periode war immer regelmäßig gewesen. Ihre Hand erstarrte, und die Spitze des Füllfederhalters hinterließ einen langsam größer werdenden roten Fleck auf dem makellos weißen Papier des Terminkalenders. Allison nahm ihn gar nicht wahr, während ihre Augen sich weiteten und der Atem schneller ging.

Sechs Wochen – ihre Periode war seit zwei Wochen überfällig! Konnte es sein, dass sie schwanger war?

Das war durchaus möglich. Sie nahm die Pille nicht und hatte auch nicht auf andere Weise verhütet. Die Nacht mit Jorge war das erste Mal gewesen, dass sie sich zu so etwas hatte hinreißen lassen, und sie war vollkommen unvorbereitet gewesen.

Sie wusste, dass Kondome nicht hundertprozentig sicher waren. Und wenn sie tatsächlich schwanger geworden war, konnte sie es Jorge nicht vorwerfen. Er hatte wenigstens daran gedacht, eins zu benutzen. Sie war diejenige, die so verantwortungslos gewesen war, sich nicht doppelt abzusichern.

Allison ließ den Füllfederhalter auf den Kalender fallen, lehnte sich zurück und fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar.

Was sollte sie tun, wenn sie tatsächlich schwanger war?

Instinktiv legte sie eine Hand auf ihren Bauch.

Die eine Nacht voller unglaublicher Leidenschaft mit Jorge konnte Folgen haben, die ihr Leben für immer veränderten. Und ihren Körper.

Sie schaute an sich hinab – der Bauch war so flach wie immer.

Aber wenn sie wirklich schwanger war, würde er das nicht mehr lange bleiben. Bei Manhattan Multiples, einem Beratungszentrum für Frauen, die Zwillinge oder mehr Babys erwarteten, sah sie jeden Tag Schwangere. Daher wusste sie nur zu gut, was aus ihrer schlanken Figur werden würde, wenn sie tatsächlich Jorges Baby in sich trug.

Jorge. Sie erblasste. Würde sie es ihm sagen müssen?

Natürlich musste sie. Er wäre der Vater.

Andererseits, wie konnte sie? Würde er sich freuen? Oder wütend sein? Würde er das Kind regelmäßig besuchen wollen? Oder gar das Sorgerecht beanspruchen?

Allison presste eine Hand an die Brust, fühlte, wie ihr Herz klopfte, und atmete mehrmals tief durch, um ruhiger zu werden.

Sie zwang sich, logisch zu denken, obwohl sie am liebsten schreiend aus dem Haus gerannt wäre. Bevor sie sich den Kopf über all die Fragen zerbrach, musste sie wissen, ob sie tatsächlich schwanger war. In der Mittagspause würde sie sich einen Test aus der Apotheke holen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis zur Mittagspause.

Entschlossen schob sie den Terminkalender in eine Ecke des Schreibtischs, zog eine Akte heran und schlug sie auf. Sie zwang sich zur Konzentration, rief auf dem PC die entsprechende Datei auf und machte sich wieder an die Arbeit.

Anstatt wie geplant mit einer Kollegin zu Mittag zu essen, ging sie in die Apotheke und kehrte mit einem Schwangerschaftstest zurück.

Als der Tag bei Manhattan Multiples sich dem Ende näherte, wurde es in den Büros lauter. Schubladen knallten, Ordner wurden in Regale zurückgestellt.

„Arbeiten Sie nicht zu lange, Allison!“

Allison hob den Kopf. In der Tür stand Eloise Vale, ihre Chefin, Tasche über der Schulter und Aktenkoffer in der Hand.

„Das werde ich nicht.“

„Gut. Sie verbringen nämlich zu viele Abende im Büro“, tadelte Eloise lächelnd.

„Heute nicht. Das verspreche ich.“

„Ich nehme Sie beim Wort.“ Eloise sah auf die Uhr. „Oh, ich muss los. Bis morgen dann.“

Allison rief ihr „Gute Nacht“ nach, als die Gründerin von Manhattan Multiples davoneilte. Dann wartete sie, bis es still wurde und die letzte Kollegin sich verabschiedet hatte. Vorsichtshalber ließ sie noch zehn Minuten verstreichen, bevor sie ihre Tasche nahm und in den Waschraum ging.

Sie durchquerte ihn und sah in den drei Kabinen nach. Als sie sicher sein konnte, dass sie allein war, stellte sie die Tasche ab und holte die braune Papiertüte mit dem Schwangerschaftstest heraus.

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Sie zuckte zusammen, wirbelte herum und starrte den weißhaarigen Hausmeister an, der sie genauso überrascht ansah wie sie ihn.

„Du meine Güte!“ Er schnappte nach Luft. „Es tut mir leid, Ma’am. Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Ich komme später wieder …“

„Nein.“ Allison rang sich ein unbeschwertes Lächeln ab. „Ich bin fertig.“

Sie schob sich an dem älteren Mann und seinem Wagen mit Reinigungsmitteln vorbei und ging in ihr Büro zurück. Dort schaltete sie den Computer ein und schaute auf den Monitor, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Die Minuten krochen vorbei, bis sie endlich hörte, wie der Hausmeister den Waschraum verließ. Sie wartete, bis die Eingangstür von Manhattan Multiples sich hinter ihm schloss und absolute Stille herrschte.

Allison nahm ihre Tasche, steuerte zum zweiten Mal den Waschraum an und holte den Schwangerschaftstest heraus.

Wenige Minuten später starrte sie gebannt auf den Streifen. Es gab zwei Fenster, eins mit einem Kreis, das andere mit einem Viereck. Beide wiesen einen pinkfarbenen Strich auf. Das Ergebnis war positiv.

Ich bin schwanger, dachte sie entsetzt.

Sie konnte nicht aufhören, die Striche in ihren winzigen Fenstern anzustarren. Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihren Bauch, und wie von selbst folgte ihr Blick der Bewegung.

Nichts. Ihr Körper sah so aus wie immer.

Auch wenn es unsinnig war, sie fragte sie sich, ob sie die Schwangerschaft einfach ignorieren sollte.

Na, großartig. Toller Plan. Ihr Verstand machte sich über die Idee lustig.

Sie hob den Kopf, sah in den Spiegel und versuchte zu begreifen, dass sie in gut acht Monaten ein Kind zur Welt bringen würde.

Sie musste einen Plan entwickeln. Wie sollte sie mit einem Baby umgehen? Sie hatte keine Ahnung davon, wie es war, Mutter zu sein. Und wie sollte sie tagsüber im Büro arbeiten, abends Jura studieren und sich zugleich um ein Kind kümmern? Wie sollte sie sich und das Kind ernähren, wenn sie ihr Studium nicht abschloss? All die Fragen waren mehr, als sie im Moment verkraften konnte.

Sie stützte die Ellbogen aufs Waschbecken und senkte den Kopf. Das Haar streifte die Wangen, und sie schloss die Augen, bis der Schwindelanfall vorüberging.

Irgendwann wagte sie es, ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten. Das indirekte Licht war schmeichelhaft, aber es war nicht zu übersehen, wie blass sie war. Allison schluckte mühsam und strich sich mit zitternden Fingern das Haar nach hinten.

Sie konnte jetzt keine Entscheidungen treffen. Alles, was sie wusste, war, dass sie das Baby behalten würde. Wie zur Bestätigung hob sie das Kinn und strich sich über den noch flachen Bauch. Sie würde sich ein paar Tage freinehmen, um in Ruhe zu überlegen, was sie jetzt tun sollte.

An dem Tag, an dem Allison erfuhr, dass sie schwanger war, machte Jorge Überstunden und kam erst gegen zweiundzwanzig Uhr nach Hause.

Er nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging in sein Arbeitszimmer. Dort warf er den Aktenkoffer und die Anzugjacke auf den Sessel und schaltete den Laptop auf dem Schreibtisch ein. Kurz darauf erschien der Briefkopf der Bretton Detective Agency auf dem Bildschirm, und erwartungsvoll überflog er die Nachricht.

Die Detektei hatte sie gefunden. Das Foto, das sie mitgeschickt hatte, war unscharf, aber die Frau, die gerade über die Schulter schaute, war eindeutig Allison Baker. Und sie wohnte nicht nur hier, sie arbeitete auch in New York!

Jorge warf einen Blick auf die Uhr und fluchte. Es war zu spät, um unangemeldet vor ihrer Tür zu stehen.

Aber er wusste, wo sie arbeitete. Am nächsten Morgen würde er sie dort aufsuchen.

Manhattan Multiples. Er fragte sich, in was für einer Firma Allison Chefassistentin war. Der Bericht der Detektei enthielt dazu keine Angaben.

Er schrieb der Detektei eine kurze Nachricht und bat um eine Abschlussrechnung. Die Suche war teuer, das wusste er, aber Allison zu finden war es ihm wert. Er hätte die Polizei bitten können, ihren Namen in den Computer einzugeben, aber er hätte einen Grund dafür nennen müssen.

Wenn ich sie wiedersehe, dachte er grimmig, wird sie mir erklären müssen, warum sie einfach davongerannt ist.

Er hatte in jener Nacht etwas Seltenes gefühlt, und bis sie ihm ins Gesicht sagte, dass sie es nicht ebenfalls empfunden hatte, würde er nicht aufgeben.

2. KAPITEL

Am Morgen nach ihrem positiven Schwangerschaftstest saß Allison pünktlich am Schreibtisch. Doch anstatt den üblichen Becher Kaffee zu leeren, starrte sie auf das dampfende Gebräu und stellte es wieder ab, ohne es anzurühren.

Schadete es dem Baby, wenn sie Koffein zu sich nahm?

Sie hatte keine Ahnung.

In der Mittagspause würde sie sich ein paar Ratgeber besorgen. Sie schob den Becher von sich, warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick darauf und schlug eine Personalakte auf.

„Guten Morgen, Allison.“

Allison sah auf. Eloise stand in der Tür, einen Becher in der einen, Akten in der anderen Hand.

„Guten Morgen, Eloise.“ Ihr entging nicht, wie ihre Chefin sich kurz auf dem Korridor umsah, bevor sie hereinkam und sich setzte. „Was gibt es denn?“, fragte sie neugierig.

„Jemand vom Personal ist schwanger.“

Allison spürte, wie ihre Augen groß wurden. Sie brachte kein Wort heraus, sondern starrte Eloise nur an.

„Schwanger?“, wiederholte sie schließlich. „Wie kommen Sie denn darauf?“

Eloise beugte sich vor. „Ich habe im Waschraum einen benutzten Schwangerschaftstest gefunden. Er ist positiv.“

„Oh!“ Hektisch versuchte Allison sich zu erinnern, ob sie dort noch etwas vergessen hatte. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können?

„Ich kann mir nicht vorstellen, wer es ist. Sie vielleicht?“

Zum Glück ließ Eloise ihr keine Zeit für eine Antwort.

„Leah kann es nicht sein, die ist schon schwanger.“ Sie spitzte die Lippen. „Aber wo anfangen? Wir haben fast zwanzig Mitarbeiterinnen, nicht wahr?“

„Ja, wenn wir die Teilzeitbeschäftigten mitzählen.“

„Hm.“ Eloise tippte sich mit einem manikürten Finger ans Kinn. „Ich will wissen, wer von uns schwanger ist.“

„Bestimmt werden Sie es bald herausfinden. Eine Schwangerschaft lässt sich auf Dauer nicht verbergen.“

„Stimmt.“

Allison rang sich ein Lächeln ab. Ihre Chefin war chronisch neugierig. Sie musste sie irgendwie ablenken. „Täusche ich mich, oder haben Sie wirklich Zwillinge als unsere neuen Wachmänner eingestellt?“, fragte sie mit einem Blick auf die Akten vor ihr.

„Habe ich.“

„Wie haben Sie die denn gefunden? Und wie sollen wir sie auseinander halten?“

Lachend stand Eloise auf und beugte sich vor, um die an die Aktendeckel gehefteten Fotos zu betrachten. „Ich denke, wir werden ihnen Namensschilder verpassen müssen, damit wir wissen, wer Tony Martino und wer sein Bruder Frank ist. Die beiden sehen gut aus, nicht wahr?“

„Allerdings.“ Allison fand, dass im Fall des athletischen, schwarzhaarigen, braunäugigen Bruderpaars „gut“ noch untertrieben war. Die beiden waren echte Herzensbrecher. „Wer von ihnen hat die Tagschicht?“

„Tony. Frank arbeitet nachts. Dass sie nie zur gleichen Zeit arbeiten, wird uns helfen, sie zu unterscheiden.“

„Richtig.“ Das Telefon läutete. Allison meldete sich, lauschte einen Moment und hielt Eloise den Hörer hin. „Für Sie. Leah sagt, es sei das Gesundheitsministerium.“

„Endlich! Sie soll es zu mir durchstellen, ja?“ Eloise eilte an ihren eigenen Schreibtisch zurück.

Allison atmete erleichtert auf, als sich die Tür hinter ihrer Chefin schloss.

Das war knapp gewesen. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, den Test im Waschraum zu lassen?

Als es an der Tür klopfte, straffte sie sich und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ja?“

Die Tür ging auf, und Leah Simpson kam herein, eine Hand auf dem gerundeten Bauch.

„Jemand möchte dich sprechen, Allison.“

„So?“ Allison sah in den Kalender. „Ich habe heute Vormittag keine Termine. Wer ist es?“

Leah verdrehte die Augen und tat so, als würde sie sich Luft zufächeln. Ihre Augen blitzten schelmisch. „Er wollte mir seinen Namen nicht nennen“, sagte sie.

„Warum nicht?“

„Er sagt, er möchte dich überraschen.“

„Wie sieht er aus?“, fragte Allison neugierig und blätterte hin und her, um sicher zu sein, dass sie den Termin nicht falsch eingetragen hatte.

„Groß, tolle Figur, schwarzes Haar, braune Augen. Und sündhaft sexy“, schwärmte ihre Kollegin.

Allisons Welt kam zum Stillstand. Das kann nicht sein, dachte sie. Es konnte nicht Jorge Perez sein, der im Vorzimmer wartete. Nicht ausgerechnet heute.

„Allison? Soll ich ihn hereinführen?“

Bevor Allison ein Grund einfiel, Nein zu sagen, ertönte die tiefe, sanfte Stimme, die sie seit vier Wochen durch ihre Träume verfolgte.

„Nicht nötig, ich finde den Weg.“

Jorge erschien neben Leah in der Tür. Allison hätte aufgestöhnt, wäre sie in der Lage gewesen, etwas von sich zu geben. Sie war so verblüfft, ihn zu sehen, dass sie ihn nur anstarren konnte.

Sie nahm kaum wahr, wie Leah sich diskret zurückzog, sondern sah nur das charmante Lächeln, das Jorge ihrer Kollegin schenkte. Es machte sein eben noch verschlossenes Gesicht unwiderstehlich. Ihr Herz strömte über vor Freude, in die sich allerdings Verlegenheit mischte, denn schließlich war sie ohne ein Wort des Abschieds aus seinem Bett geflohen. Dass sie unerfahren war, daher nicht wissen konnte, wie man sich am Morgen nach einer derart leidenschaftlichen Nacht verhielt, und dass sie deshalb in Panik das Weite gesucht hatte, das alles war keine Entschuldigung. Er hatte jedes Recht, verärgert zu sein.

Allison nutzte den kurzen Moment, in dem er sich Leah zuwandte, um ihn näher zu betrachten. In dem dunkelgrauen Maßanzug sah er genauso hinreißend aus wie im Smoking. Die Schultern waren beeindruckend breit, die Haut über dem weißen Hemdkragen gebräunt, und das rabenschwarze Haar schimmerte im Schein der Deckenleuchte.

Er schloss die Tür. Allison hüllte sich in Würde wie in einen schützenden Umhang und konnte nur hoffen, dass er ihr nicht anmerkte, wie aufgeregt sie war.

Jorge hatte erwartet, diesen Moment genießen zu können, doch sein Zorn war nicht geringer als die Wiedersehensfreude.

„Hallo, Allison.“

„Hallo, Jorge.“

„Du siehst gut aus.“ Besser als gut, dachte er wütend. Ganz offenbar hatte sie keine schlaflosen Nächte damit verbracht, sich zu fragen, wo er war – im Unterschied zu ihm. Und anders als er schien sie verdammt cool zu sein.

„Danke“, erwiderte sie ernst. „Du auch.“

Er schob die Hände in die Taschen, trat vor und sah sich um. „Nettes Büro.“

„Danke“, wiederholte sie. „Was tust du hier, Jorge?“

Sie klang verwirrt, und er wusste nicht, ob er sich gekränkt oder geschmeichelt fühlen sollte. Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe erst kürzlich erfahren, wo du arbeitest. Da ich einen Termin in der Nähe hatte, dachte ich mir, ich schaue mal vorbei und sage Hallo.“

„Oh.“ Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken. „Ich …“

Ihre blendend weißen Zähne blitzten auf, als sie sich auf die Unterlippe biss. Gut, dachte er zufrieden, also bin ich doch nicht der Einzige, der nervös ist.

Absichtlich starrte er sie an und ließ den Blick kurz an ihr hinabgleiten. Verschwunden war die Frau in dem verführerischen schwarzen Kleid. Vor ihm saß jetzt eine ruhig und kühl wirkende Frau in einem karamellfarbenen Kostüm, unter dem die weiße Bluse züchtig bis zum Hals geschlossen war. Doch das Rotbraun ihres Haars schien noch immer zu leuchten.

Er runzelte die Stirn. Jetzt, da er genauer hinsah, bemerkte er die dunklen Schatten unter den Augen, die nicht annähernd so strahlten, wie er sie in Erinnerung hatte.

Erst als ihre Wangen sich ein wenig färbten, wurde ihm bewusst, dass er sie viel zu lange angestarrt hatte. Hastig riss er den Blick von ihrem Gesicht los und sah sich in dem Büro um. An einer Wand hingen einige gerahmte Fotos, und er ging hinüber.

„Freunde von dir?“ Das ältere Paar auf dem Foto in der Mitte kam ihm irgendwie bekannt vor.

„Meine Eltern.“

„Mm.“ Er sah, dass alle Fotos die beiden zeigten, eingerahmt von Prominenten aus Film, Theater und Politik. Plötzlich wusste er, woher er sie kannte. Verblüfft drehte er sich zu Allison um. „Baker? Deine Eltern sind Stephen und Marguerite Baker? Die Filmproduzenten?“

„Ja.“

„Du steckst voller Überraschungen, was?“, bemerkte er sanft.

Sie wirkte noch immer zutiefst verwirrt. Sie hätte in Hollywood bleiben und Schauspielerin werden sollen, dachte er wütend. Diese Szene spielte sie jedenfalls oscarreif.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Nein?“ Jorge war klar, warum sie sich nicht bei ihm gemeldet hatte. Ihre Eltern waren reich und berühmt, er dagegen war der Sohn eines einfachen Arbeiters. Obwohl er in Manhattan zu einem einflussreichen Mann geworden war, hatte er sich seine Position und seinen Wohlstand selbst erarbeitet, während Allison in eine reiche Familie hineingeboren worden war. Snobismus war etwas, was er schon häufiger zu spüren bekommen hatte, aber bei Allison hatte er nicht damit gerechnet.

„Jorge, ich weiß, dass unsere gemeinsame Nacht für dich nur eine einmalige Verirrung war.“

Er blinzelte. „Eine Verirrung?“

„Natürlich. Hin und wieder lese ich die Klatschspalten. Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht die Art von Frau bin, mit der du normalerweise ausgehst.“

„So?“ Verdutzt schüttelte er den Kopf.

Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bevor sie die Hände im Schoß verschränkte. „Ich weiß, ich hätte nicht gehen dürfen, ohne mich von dir zu verabschieden. Bestimmt hast du erwartet, dass ich mich bei dir melde, und du fragst dich, warum ich es nicht getan habe. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe nicht vor, dir nachzustellen.“

„Hast du nicht?“ Warum zum Teufel nicht?

„Nein. Lass mich dir versichern, dass ich nichts mehr von dir erwarte.“

Jorge atmete tief durch. „Wovon zum Teufel redest du?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen und beherrschte sich nur mühsam. Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt, um ihre kühle Fassade zu knacken, bis die lachende, offene Frau von der Hotelterrasse wieder zum Vorschein kam.

„Du musst wissen, dass wir in sehr verschiedenen Welten leben. Deshalb habe ich dich nicht angerufen, nachdem …“ Sie zögerte, holte Luft, hob das Kinn und sah ihm ins Gesicht. „Nach der Nacht im Hotel. Und deshalb bin ich auch nicht geblieben, um darüber zu sprechen.“

Bevor Jorge etwas antworten konnte, summte die Sprechanlage auf dem Schreibtisch. Sie drückte auf einen Knopf, und eine Stimme ertönte.

„Eloise hat mich gebeten, dir zu sagen, dass sie im Konferenzraum auf dich warten, Allison. Das Treffen mit den Leuten von der Stadtverwaltung, erinnerst du dich?“

„Danke, Leah. Bitte sag ihr, dass ich unterwegs bin.“

Sie warf Jorge einen Blick zu, während sie eine Schublade aufzog und einen Ordner herausnahm. „Es tut mir leid, Jorge, ich muss los.“ Sie klemmte sich den Ordner unter den Arm, nahm sich einen Kugelschreiber und umrundete den Schreibtisch. „Danke, dass du vorbeigekommen bist“, sagte sie höflich und streckte die Hand aus. „Es war nett, dich zu sehen.“

Jorge nahm die Hand, und die Berührung ließ ihn daran denken, wie sie sich nackt an ihn geschmiegt und wie sie unter ihm gelegen hatte. Er sah ihr in die Augen, während er ihre Hand an den Mund hob und sie küsste.

Sie erstarrte, dann zog sie die Hand zurück, bis er sie widerwillig freigab.

„Ich …“ Sie räusperte sich. „Hab einen schönen Tag.“

Jorge lächelte zufrieden. Offenbar war es ihm endlich gelungen, sie aus der Fassung zu bringen. Er griff um sie herum und öffnete die Tür. Dabei streifte sein Arm ihren, und ihm entging nicht, dass sie zusammenzuckte. Obwohl es ihm noch nicht reichte, bei Weitem nicht, entschied er sich, sie flüchten zu lassen. Dieses Mal.

„Du auch, Allison.“ Er sah ihr in die großen, fragenden Augen.

„Danke, das werde ich. Leb wohl.“ Sie eilte hinaus und den Korridor entlang.

Leb wohl? Nein, Liebling, wir werden uns wiedersehen, dachte Jorge, während er ihr nachsah. Der Rock bedeckte ihre Knie. Es sollte verboten sein, solche Beine zu verstecken. Unwillkürlich dachte er daran, wie er ihre Kniekehlen geküsst hatte, bevor er den Mund weiter nach oben gleiten ließ. Die Erinnerung daran war so lebendig wie am Tag nach jener langen, unvergesslichen Nacht.

Als Allison durch eine Tür am Ende des Korridors verschwand, drehte er sich um und ging davon. Er war so vertieft in das, was er gerade erlebt hatte, dass er nicht antwortete, als Leah ihn verabschiedete.

Allison konnte sich nicht auf die Besprechung konzentrieren.

Immer wieder sah sie Jorge vor sich und hörte seine höflichen Worte, die so gar nicht zu der Hitze und dem Zorn in seinen Augen passten. Verunsichert und voller Angst davor, wie er auf ihre Schwangerschaft reagieren würde, hatte sie sich hinter ihre kühle, schützende Fassade zurückgezogen.

Warum war er gekommen?

Wie hatte er sie gefunden?

Warum hatte er sich die Mühe gemacht?

Sie fand keine Antworten auf diese Fragen, bis ihr aufging, dass sie vermutlich die erste Frau war, die ihn nach einer Nacht in seinem Bett nicht bedrängt hatte. Bestimmt war er nur aus Neugier gekommen, also hatte sie ihm versichert, dass sie sich mit dem One-Night-Stand begnügen würde.

Seltsamerweise schien er darüber nicht erleichtert gewesen zu sein. Im Gegenteil, er hatte wütend ausgesehen. Und sogar zornig, nachdem er ihre Eltern auf den Fotos an der Wand erkannt hatte.

Sie rieb sich die rechte Schläfe, hinter der das schmerzhafte Pochen immer stärker wurde.

„Was denken Sie, Allison?“

Jäh in die Gegenwart zurückgeholt, schaute Allison auf die Tabellen, die auf dem Flipchart am anderen Ende des langen Tisches standen. Der Buchhalter zeigte gerade auf die dritte und sah sie erwartungsvoll an.

„Es tut mir leid, das habe ich nicht mitbekommen. Können Sie das noch mal durchgehen.“

Nur mühsam verbarg der Mann seine Verärgerung, kehrte jedoch zur ersten Tabelle zurück und wiederholte, was er gesagt hatte.

Allison konzentrierte sich auf seine Worte, fest entschlossen, sich nicht mehr durch Jorge, das Baby und die Frage, was sie jetzt tun sollte, von der Arbeit ablenken zu lassen.

Obwohl er einige anstrengende Überstunden hinter sich hatte, lag Jorge am späten Abend noch wach, die Hände unter dem Kopf, und starrte an die Decke.

Immer wieder lief die Szene mit Allison vor seinem geistigen Auge ab. Der Instinkt, der ihn im Gerichtssaal zu einem gefürchteten Ankläger machte, sagte ihm, dass mit ihrem kurzen Gespräch etwas nicht stimmte. Er wusste allerdings nicht, was.

Vielleicht war es einfach nur die Tatsache, dass die Allison in dem schwarzen Abendkleid das genaue Gegenteil der Allison in dem konservativen Geschäftskostüm zu sein schien. Eine Sekunde lang fragte er sich, ob sie vielleicht eine Zwillingsschwester hatte, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Sein Körper hatte ihren wieder erkannt. Nein, die leidenschaftliche Frau in seinem Bett und die misstrauische, reservierte von heute waren ein und dieselbe Person.

Aber warum hatte diese Allison geglaubt, die andere vor ihm verbergen zu müssen? Woher kamen das Misstrauen und die Angst in ihren Augen?

Obwohl sie ihn wütend gemacht hatte, war er entschlossen, Antworten auf seine Fragen zu finden.

Vielleicht erwartet sie nichts von mir, dachte er grimmig, aber ich erwarte etwas von ihr.

Noch während er einschlief, schmiedete er einen Plan, die widerspenstige Allison zu zähmen.

Am anderen Ende der Stadt hatte Allison ihre eigenen Einschlafprobleme. Sie hatte sich zwingen müssen, Jorge zu sagen, dass sie nichts mehr von ihm wollte. Denn alles in ihr hatte Nein geschrien.

Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass aus ihrer unglaublichen Liebesnacht ein Kind hervorgegangen war? Würde er sich freuen, dass er Vater wurde?

Wenig wahrscheinlich, dachte sie. Eher würde er verärgert sein, weil ihre Schwangerschaft sein temporeiches Leben unterbrach. Und wenn er sogar verlangte, dass sie das Baby nicht bekam?

Allison wusste, dass sie Jorge nicht gut genug kannte, um so etwas zu vermuten, aber ihre Besorgnis wuchs dennoch. Wie ihr Vater war auch Jorge Perez ein mächtiger Mann mit sehr viel Einfluss.

Sie gestand sich ein, dass er ihr Angst machte. Beruhigend strich sie sich über den Bauch. Es ist okay, kleines Baby, dachte sie, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.

Nach einer Weile schlief sie endlich ein, die Hände schützend über das neue Leben unter ihrem Herzen gelegt.

Die Schwangerschaft machte sich bereits bemerkbar. Nachdem sie am Samstagmorgen geduscht hatte, stellte sie fest, dass der BH sich nicht mehr so einfach zumachen ließ. Sie brauchte mehrere Versuche, stellte sich vor den Spiegel im Schlafzimmer, nackt bis auf den hellblauen BH, und betrachtete sich stirnrunzelnd.

Der BH war zu klein. Sie drehte sich, um einen prüfenden Blick auf den Verschluss zu werfen. Ihre Brüste waren größer geworden, zu groß für die Körbchen, und sie fühlte die Spitze und Seide an den Knospen.

Allison drehte sich ein zweites Mal und strich mit der Hand über den noch flachen Bauch.

Wenigstens sieht man es hier nicht, dachte sie.

Kurz entschlossen verwarf sie den Plan, sich an diesem Vormittag auf den Kurs in Familienrecht am Dienstagabend vorzubereiten. Stattdessen zog sie Jeans, ein lockeres Oberteil und Stiefel an. Dann nahm sie ihre Tasche und die Jacke und verließ die Wohnung, um einen dringend nötigen Einkaufsbummel zu unternehmen.

Zum Glück war Zoe für zwei Wochen zu ihren Eltern und ihrer Schwester in den Norden gefahren, sonst wäre ihr zweifellos aufgefallen, dass Allison abgelenkt war. Und natürlich hätte sie sofort eine Erklärung verlangt. Lange hätte Allison ihr nichts vormachen können. Ihre Freundin besaß den Instinkt einer routinierten Verhörspezialistin.

Am Montag im Büro stellte sie fest, dass es eine große Erleichterung war, bequeme BHs zu tragen, aber es gab noch eine andere Nebenwirkung ihrer Schwangerschaft. Das Bedürfnis, sich nach dem Mittagessen eine Weile hinzulegen, wurde immer stärker. Sie war so müde, dass sie am liebsten die Tür abgeschlossen und sich auf dem weichen Teppich zusammengerollt hätte, um ein Nickerchen zu machen. Außerdem nahm ihr Appetit mittlerweile beachtliche Ausmaße an. Bisher hatten ihr meistens ein Joghurt und ein Apfel gereicht, jetzt bestellte sie in einem Thai-Restaurant um die Ecke eine Vorspeise sowie ein üppiges Hauptgericht mit extra viel Reis.

Wenn sie so weitermachte, würde sie hundert Pfund zunehmen, noch bevor das Baby geboren war. Stirnrunzelnd starrte sie auf die vier Behälter auf dem Schreibtisch und schob sich ein Stück Huhn mit Erdnusssauce in den Mund. Leah hatte sie komisch angesehen, als das Essen geliefert wurde. Ob ihre Kollegin etwas ahnte?

Wenn es jemand tat, dann Leah. Allison erinnerte sich nur zu gut daran, wie die Empfangssekretärin zu Beginn ihrer Schwangerschaft Pickles mit Erdnussbutter bestrichen und gegessen hatte. Allison hatte sich um Leahs Magen echte Sorgen gemacht. Aber dann hatte Leah ihr versichert, dass ihr Geburtshelfer ihr gesagt habe, solche ungewöhnlichen Gelüste seien in der Schwangerschaft vollkommen normal.

Ruckartig setzte Allison sich auf, in der Hand die Essstäbchen mit Reis, Sojasprossen und Shrimps.

Geburtshelfer? Oh nein, dachte sie. Ich habe ja noch gar keinen Geburtshelfer.

Sie ließ den Bissen in einen Behälter fallen und nahm das Branchenbuch aus einer Schublade. Hastig blätterte sie darin, bis sie die Eintragung fand, die sie suchte. Dann wählte sie die Nummer der Arztpraxis.

Kurz darauf hatte sie einen Termin, leider erst in einer Woche.

Und Vitamine, dachte sie. Sie sollte unbedingt Vitamine nehmen. Ihr Blick fiel auf die halb leeren Behälter. Vermutlich war so scharfes Essen nicht gut für das Baby. Sie würde darüber an diesem Abend nachlesen.

Doch bis dahin musste sie etwas unternehmen. Ein Rezept würde sie erst in der nächsten Woche bekommen. In den Untersuchungszimmern von Manhattan Multiples gab es allerdings Vitaminpräparate für die Patientinnen.

Sie würde sich erst mal eine Packung nehmen und sie zurücklegen, sobald sie mit der Verschreibung in der Apotheke gewesen war.

Später am Nachmittag schlich sie sich in eins der Untersuchungszimmer, nahm sich, was sie brauchte, und kehrte in ihr Büro zurück. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie sich atemlos auf ihren Stuhl fallen ließ. Eine gute Spionin würde sie nie abgeben, das war klar.

Allison schaute in ihren Terminkalender. Eine Minute später hatte sie ihren Yogatermin abgesagt und sich stattdessen zu einem Schwangerschaftskurs angemeldet.

Zufrieden, dass sie so viele Dinge erledigt hatte, lud sie den Vertrag mit der Sicherheitsfirma auf den Bildschirm und verbrachte die folgende Stunde damit, die von Eloise verlangten Änderungen vorzunehmen. Danach druckte sie das Dokument aus und ging zu ihrer Chefin. Deren Tür stand offen. Allison hörte Eloise’ verärgerte Stimme und zögerte, bevor sie durch den Spalt lugte. Eloise war allein, also klopfte sie an.

„Ja?“

Die Stimme ihrer Chefin klang ein wenig gereizt.

Allison trat ein. Eloise saß am Schreibtisch, einen Stift hinters Ohr geklemmt, die Miene finster.

„Kommen Sie herein, Allison.“

„Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte Allison und setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle. „Haben Sie gerade mit jemandem gesprochen?“

Eloise verzog das Gesicht und zeigte auf ihren Monitor. „Ja, mit meinem Computer. Ich versuche gerade einen anonymen Leserbrief zu schreiben. Wegen der Haushaltskürzungen der Stadt. Er gefällt mir noch nicht.“

„Kann ich helfen?“, fragte Allison. Sie wusste, wie besorgt ihre Chefin war, weil der Bürgermeister Manhattan Multiples die Zuschüsse streichen wollte.

„Sie könnten den Brief lesen und mir sagen, was Sie davon halten.“ Eloise drückte auf eine Taste, und der Drucker warf ihr Schreiben aus. „Da haben Sie ihn. Und seien Sie ehrlich, ja?“

„Soll ich ihn überarbeiten?“, fragte Allison, als ihre Chefin ihr die beiden Seiten reichte.

„Danke, Allison, das wäre sehr hilfreich.“

Eloise’ erleichterter Blick ließ sie lächeln. Sie stand auf und legte den geänderten Vertragsentwurf auf den Schreibtisch. „Ich habe ein Kreuz gemacht, wo Sie unterschreiben müssen.“

„Sie sind ein Schatz.“

„Kein Problem. Ich lese Ihren Brief und schicke Ihnen eine E-Mail, okay?“

„Großartig!“

Als Allison das Büro verließ, starrte Eloise schon wieder auf den Bildschirm.

Während Eloise ihren zornigen Leserbrief noch ein weiteres Mal überarbeitete, saß Bill Harper, der Bürgermeister von New York, an seinem Schreibtisch und betrachtete ein Foto von Eloise. Wie immer sah es in seinem Büro chaotisch aus, aber eine Besprechung war in letzter Minute verlegt worden, und er hatte die Tür schließen und seine Sekretärin bitten können, keine Anrufe durchzustellen. Jetzt atmete er tief durch und fragte sich, ob er und die Gründerin von Manhattan Multiples jemals wieder Freunde sein könnten.

Mit den Fingerspitzen strich er über das Glas des Bilderrahmens. Sie war noch immer so schön wie damals, als sie beide ganz jung gewesen waren und er sich in sie verliebt hatte. Sie hatte einen anderen Mann geheiratet, aber er hatte nie aufgehört, sie zu lieben.

Die Sprechanlage summte.

Seufzend stellte Bill das Foto zurück an seinen Platz und nahm den Hörer ab.

Hätte Allison ihn in diesem Moment gesehen, hätte sie gewusst, warum Eloise solche Schwierigkeiten mit ihrem Leserbrief hatte. Denn die Beziehung zwischen ihrer Chefin und dem Bürgermeister von New York war alles andere als unpersönlich.

3. KAPITEL

Allison sah auf die kleine Uhr am Herd und blinzelte.

„Schon Mitternacht?“ Sie unterdrückte ein Gähnen, während sie den Stuhl zurückschob und aufstand, um sich zu strecken. Sie presste die Hände in das schmerzende Kreuz und bog sich nach links und rechts, damit die steifen Muskeln sich ein wenig lockerten.

An ihrem freien Abend direkt nach der Arbeit in die Bibliothek zu gehen, um Fachliteratur zu wälzen, war nicht mehr möglich. Stattdessen war sie sofort nach Hause gegangen, hatte den Wecker auf einundzwanzig Uhr gestellt und sich ein Nickerchen gegönnt. Anschließend hatte sie sich ein wenig Pasta erhitzt und gegessen, während sie sich Notizen für den Kurs in Strafrecht machte. Sie war den ganzen Tag müde gewesen und jetzt, drei Stunden später, fühlte sie sich regelrecht ausgelaugt.

Sie klappte die Bücher zu und ging ins Bad, wo sie sich die Zähne putzte, das Gesicht wusch, das Haar bürstete und einen weiten Pyjama anzog. Sie drehte sich vor dem Spiegel, betrachtete ihr Profil und strich sich über den noch immer flachen Bauch.

Sie wusste allerdings, dass ihr Baby sich bald zeigen würde.

Mein Baby, dachte sie voller Staunen.

So anstrengend es auch war, sie war fest entschlossen, ihr Jurastudium fortzusetzen. Was sie bei Manhattan Multiples verdiente, würde auf Dauer nicht ausreichen, um ihrem Kind ein gutes Leben zu bieten.

Außerdem quälte sie die Frage, ob sie es Jorge erzählen sollte. Sicher, er hatte ein Recht, es zu erfahren, aber würde er es überhaupt wissen wollen?

Die Ungewissheit ließ sie kaum schlafen, und am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags war sie völlig erschöpft. Als sie das Büro verließ, schlug sie den Kragen hoch und zog den Kopf vor dem herbstlichen Wind ein. Obwohl sie sich nach ihrer warmen Wohnung sehnte, steuerte sie die Universität an, um in ihren Abendkurs zu gehen.

Am Kiosk in der Halle des Seminargebäudes kaufte sie sich einen warmen Tee, bevor sie sich in eine der hinteren Reihen des Vorlesungsraums setzte und sich die Hände am Becher wärmte.

„Entschuldigung.“

Allison sah über die Schulter und drehte sich nach der Frau um, die sie aus verschiedenen Seminaren kannte.

„Hallo.“

„Na? Weißt du, wen wir heute Abend bekommen? Ich habe gehört, dass der Professor verhindert ist und einen Vertreter schickt.“

„Keine Ahnung“, gab Allison zurück.

„Nun ja, wer immer es ist, ich hoffe, er ist besser als sein Vorgänger.“

Allison nickte. „Wenn nicht, gehe ich nach Hause.“

„Ich auch.“ Die junge Frau nickte. Dann sah sie über Allisons Schulter, und ihre Augen wurden groß. „Wow. Ich glaube, ich werde bleiben.“

Neugierig drehte Allison sich nach vorn. Ein großer, breitschultriger Mann zog gerade seinen Mantel aus und warf ihn über den Schreibtisch.

Allison runzelte die Stirn. Er kam ihr bekannt vor. Das kurze, schwarze Haar schimmerte im Licht, und der graue Anzug saß perfekt am athletischen Körper.

Das kann nicht sein, dachte sie.

Als er sich umdrehte, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Sie kniff die Augen zu und riss sie wieder auf. Jorge Perez war immer noch da, öffnete einen Aktenkoffer und nahm Unterlagen heraus, während er sich im Raum umsah, der sich jetzt rasch mit Studenten füllte.

Unwillkürlich machte Allison sich auf ihrem Sitz klein. Leider waren die beiden Plätze vor ihr leer, und Sekunden später merkte sie, wie sein Blick sie erfasste und kurz auf ihr ruhen blieb.

Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und sah sich verlegen um. Aber niemand hatte bemerkt, wie sie errötet war. Sämtliche Frauen waren damit beschäftigt, Jorge anzustarren, während die Männer in ihre Bücher schauten.

„Nette Vertretung“, flüsterte die Frau hinter Allison. „Ich glaube, mir ist egal, ob er gut ist. Mir reicht der Anblick.“

Allison rang sich ein mattes Schmunzeln ab.

Drei andere Frauen kamen den Mittelgang entlang und setzten sich in Allisons Reihe.

„Hey“, murmelte eine von ihnen, „seht euch den Professor an.“

„Nett“, erwiderte die zweite der Frauen, während die dritte Studentin dramatisch seufzte und so tat, als würde sie sich frische Luft zufächern.

„Besser als nett. Heiß, sehr heiß.“

„Wer ist das? Ob er verheiratet ist?“

„Und wenn schon“, erwiderte die erste.

Allison biss die Zähne zusammen und hätte ihnen am liebsten gesagt, was sie von ihrem albernen Gerede hielt.

Aber dann musste sie sich beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen. Die Erkenntnis, dass ihre Reaktion etwas mit Eifersucht zu tun hatte, traf sie wie ein Schlag.

Ich will das nicht, dachte sie verzweifelt. Dass sie eine Nacht in seinem Bett verbracht hatte, war noch lange kein Grund, ihn für sich zu beanspruchen.

Trotzdem gingen ihr ihre Sitznachbarinnen immer mehr auf die Nerven, und sie war froh, als Jorge um Ruhe bat und mit seiner Vorlesung begann.

Während der folgenden anderthalb Stunden schrieb Allison fast alles mit, was er sagte. Wie sie, so begriffen auch die anderen Studentinnen rasch, dass er nicht nur großartig aussah, sondern auch äußerst intelligent und scharfsinnig war.

Er sah nur selten in seine Aufzeichnungen, ging beim Reden auf und ab und hielt dabei nach erhobenen Händen Ausschau. Jede Frage beantwortete er ausführlich, aber nicht langatmig, und stellte sicher, dass die Studenten seine Erklärung verstanden hatten, bevor er mit dem Lehrstoff fortfuhr. Wenn sein Blick jedoch Allison erfasste, verriet nichts, dass er sie kannte. Kein auch nur angedeutetes Lächeln, keine hochgezogene Braue – es war, als hätte die Nacht im Hotel nie stattgefunden. Und irgendwie fühlte sie sich zurückgewiesen.

Als er die Vorlesung beendete und um weitere Fragen bat, war Allison so erschöpft, dass sie den Stift auf den Notizblock fallen ließ und nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken konnte.

Während er einem Frager etwas erklärte, was er bereits ausführlich erläutert hatte, fielen ihr die Augen zu. Hastig riss Allison sie wieder auf, sah auf die Uhr und überlegte, ob es unhöflich wäre, einfach aufzustehen und zu gehen. Als sie mühsam den Kopf hob, nahm sie wahr, dass Jorge sie ansah. Sie erstarrte, einen Moment später wanderte sein Blick jedoch weiter.

Nur noch zwanzig Minuten, dachte sie. So lange werde ich doch wohl noch wach bleiben können.

Sie zog sich den Mantel um die Schultern und konzentrierte sich auf den Studenten in der dritten Reihe, der offenbar von den Feinheiten der Strafprozessordnung nicht genug bekam.

„Allison! Allison?“

„Mmm?“ Jemand rief ihren Namen. Langsam erwachte sie. Es fiel ihr ungeheuer schwer, die Augen zu öffnen.

„Bist du okay?“

Jorge beugte sich über sie, mit besorgt gerunzelter Stirn, eine Hand auf ihrem Arm. Allison wurde bewusst, dass er sie behutsam geschüttelt hatte, um sie zu wecken. Verwirrt blickte sie sich um und sah, dass außer ihnen beiden niemand mehr im Hörsaal war.

Ruckartig setzte sie sich auf. „Wo sind denn alle?“

„Die Vorlesung ist vorbei. Die anderen sind gegangen“, erwiderte Jorge und hob den Stift auf, der zu Boden gefallen war, als sie sich abrupt aufgerichtet hatte.

„Ich bin eingeschlafen.“

Er lächelte, sein Blick wärmte sie. „Ja, das bist du. War meine Vorlesung so langweilig?“

Er reichte ihr Notizblock und Stift, und sie verstaute beides in ihrer Tasche. „Danke. Nein, die Vorlesung war sehr gut. Ich bin nur schrecklich müde. Ich habe zu wenig Schlaf bekommen.“ Sie holte tief Luft, knöpfte mühsam ihren Mantel zu und wich seinem forschenden Blick aus. „Ich sollte jetzt gehen.“

Jorge wich bis in den Mittelgang zurück, half ihr beim Aufstehen, ließ sie jedoch sofort wieder los, als sie den Ausgang ansteuerte.

Dort angekommen, griff er um sie herum und schob die schwere Tür auf. Dabei kam er ihr so nahe, dass sein Duft ihre Sinne belebte und Erinnerungen an die gemeinsame Nacht weckte. Der Wunsch, sich an ihn zu schmiegen und sich darin zu verlieren, wurde fast übermächtig. Panisch zuckte Allison zurück und hastete in die Dunkelheit hinaus. Der eisige Wind, der den Regen über den Vorplatz peitschte, verschlug ihr den Atem.

„Du zitterst ja“, meinte Jorge, während er seinen aufgespannten Schirm über sie hielt und sie mit seinem Körper vor dem Wind schützte. „Wo steht dein Wagen?“

„Ich habe keinen. Ich nehme mir an der Ecke ein Taxi.“

Allison zeigte dorthin, wo der Asphalt im Schein der Straßenlaterne glänzte, und stellte bestürzt fest, dass nirgendwo ein Taxi in Sicht war.

Jorge legte den Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich und führte sie zum Parkdeck. Allison war zu müde, um zu protestieren, als er mit ihr vor einem grünen Jaguar stehen blieb. Er drückte auf die Fernbedienung und öffnete die Beifahrertür.

„Was tust du?“, fragte sie.

„Ich bringe dich nach Hause“, erwiderte er, ohne den Arm von ihren Schultern zu nehmen.

Allison wusste, dass sie ablehnen sollte. Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto größer wurde die Gefahr, dass sie sich verriet und er so von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Aber sie war so unendlich müde. An der Ecke wartete noch immer kein Taxi, und ein Windstoß ließ sie frösteln.

„Wenn du unbedingt willst“, sagte sie.

„Gut.“ Er klang zufrieden.

Jorge half ihr beim Einsteigen. Im Wagen roch es nach Leder und nach seinem Rasierwasser. Dann fiel die Fahrertür ins Schloss, und er saß neben ihr.

„Gleich wird es warm“, kündigte er an, während er den Motor anließ, und drehte sich zu Allison, um sie anzuschnallen. Eine erregende Sekunde lang berührte sein Oberkörper ihren, dann hob er den Kopf, das Gesicht dicht vor ihrem, sein Blick nicht zu entschlüsseln.

Sie sehnte sich danach, ihn einfach an sich zu ziehen, doch dann wich er zurück, und sie empfand es geradezu wie einen körperlicher Entzug.

Jorge legte den Gang ein, schaute kurz über die Schulter und fädelte sich zügig in den spärlich fließenden Verkehr ein. Allison fühlte seinen Blick wie ein flüchtiges Streicheln, bevor er auf einen Knopf drückte und warme Luft ihre kalten Beine umströmte.

Sie seufzte dankbar.

„Besser?“

„Sehr.“

Er schaltete das Radio ein. Allison lauschte dem sanften Rock, legte den Kopf zurück und schaute mit halb geschlossenen Augen auf die vorbeihuschenden Straßenlaternen. Der Regen trommelte einschläfernd aufs Wagendach, und sie ließ die Lider nach unten fallen.

„Hey, schläfst du mir etwa schon wieder ein?“ Jorges Stimme war halb belustigt, halb besorgt. „Geht es dir gut? Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?“

Allison lächelte schläfrig und kuschelte sich in den weichen Ledersitz. „Nein, es geht mir gut. In meinem Buch steht, dass es völlig normal ist, im ersten Drittel dauernd müde zu sein. Das gehört eben dazu, wenn man ein wenig schwanger ist.“

Kaum war ihr das Wort „schwanger“ über die Lippen gekommen, wurde Allison klar, was sie gerade gesagt hatte. Schlagartig war die friedliche Atmosphäre im Wagen angespannt und fühlte sich an, als wäre sie elektrisch geladen. Allison riss die Augen auf und versuchte, sich gegen die Zurückweisung zu wappnen, die sie gleich hören würde. Im Schein der Instrumente zeichnete sich Jorges markantes Profil gegen die Dunkelheit draußen ab. Seine Miene war starr, geradezu eisig, während er unbeirrt auf die Straße vor ihnen blickte.

Jorge war fassungslos. Widersprüchliche Gefühle drohten ihn zu überwältigen. Einerseits die Freude, Vater zu werden, und der Wunsch, die zarte Rothaarige für immer zu besitzen. Andererseits unbändiger Zorn. Denn sie hatte ihm nicht nur verschwiegen, dass sie von ihm schwanger war, offenbar war sie auch entschlossen, ihn nicht in ihr Leben zu lassen.

„Du bist ‚ein wenig schwanger‘?“, wiederholte er und klang so ruhig, dass es sich kaum wie eine Frage anhörte.

„Ja.“

Ihre geflüsterte Bestätigung ließ sein Herz noch schneller schlagen. Er warf ihr einen Blick zu. Sie sah ihn an, und ihre Augen waren groß und voller Besorgnis.

„Und es ist von mir.“

Das war keine Frage, es war eine Feststellung und ein Anspruch. Und er las in ihrem Blick, dass sie es wusste.

Jorge konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Das lange Schweigen, das folgte, war für Allison fast unerträglich. Endlich hielt er und fuhr rückwärts in eine Parklücke.

Sie hob den Kopf und stellte erstaunt fest, dass sie vor ihrem Haus standen. „Woher weißt du, wo ich wohne?“

Er stellte den Motor ab. „Ich habe deine Adresse nachgeschlagen.“

Doch anstatt eine Antwort abzuwarten, stieg er aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und spannte den Regenschirm auf. Als sie zu ihm auf den Bürgersteig trat, nahm er ihr die Tasche ab und führte sie die Stufen hinauf.

„Schlüssel.“

Sie wühlte in der Tasche und gab sie ihm.

Er schloss die Glastür auf und ließ ihr den Vortritt.

Sie drehte sich zu ihm um und öffnete den Mund.

„Ich komme mit nach oben“, erklärte er fest, bevor sie ein Wort herausbekam.

Sie starrte ihn einen Moment lang an.

„Wie du willst.“ Allison eilte zur Treppe. Jorge folgte ihr. Er wusste, dass er sie bedrängte, aber das war ihm egal. Am liebsten hätte er sie auf die Arme genommen und nach oben getragen.

Sie schwieg, bis sie in ihrer Wohnung standen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Bestimmt hast du Fragen“, begann sie, ohne ihn anzusehen, und zog sich den Mantel aus.

„Mehrere.“

Er nahm ihr den Mantel ab und warf ihn über die Couch. Dann zog er seinen eigenen Mantel aus und legte ihn über die Lehne des alten Schaukelstuhls.

„Du siehst durchgefroren aus.“

Sie schlang die Arme um sich und nickte. „Das bin ich.“ Nervös sah sie sich in ihrem Wohnzimmer um. „Soll ich uns einen Tee oder einen Kaffee machen?“

„Mir ist beides recht.“ Er folgte ihr in die kleine Küche und schob sie behutsam auf einen Stuhl. „Setz dich. Ich mache ihn.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich nehme an, du möchtest Tee.“

„Ja, aber ich habe auch Kaffee, wenn du …“

„Nein, Tee ist okay.“

Er füllte den Kessel mit Wasser und setzte ihn auf.

Allison versuchte, so etwas wie Ordnung in ihre Gedankenflut zu bekommen, während er Schranktüren öffnete und Tee und Becher herausnahm.

„Wir werden natürlich heiraten. So schnell wie möglich. Was hast du an diesem Wochenende vor?“

Verblüfft öffnete sie den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus.

Er drehte sich um, lehnte sich gegen die Arbeitsfläche, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf ihre Antwort.

Sie konnte ihn nur anstarren.

Er lächelte reumütig. „Ich glaube, du bist die erste Frau, die ich sprachlos gemacht habe, Allison.“

„Ich habe nicht erwartet …“ Hilflos verstummte sie, aber Hoffnung keimte in ihr auf. Empfand er etwas für sie? Hatte diese eine verzauberte Nacht ihm so viel bedeutet wie ihr?

„Dass du ein Baby bekommst? Ich auch nicht.“ Sein Blick war nicht zu entschlüsseln. „Aber du bist nicht allein schwanger geworden, Allison. Das Baby ist von uns beiden und braucht uns beide. Die einzige praktische Lösung ist eine Heirat.“

Praktische Lösung? Das war nicht das, worauf sie gehofft hatte. „Ich …“ Sie musste schlucken. Die Enttäuschung schnürte ihr die Kehle zu. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Sag Ja.“

Sie sah ihn an und sehnte sich nach mehr als den ruhigen Worten, mit denen er eine Vernunftehe beschrieb, die nichts mit Liebe zu tun hatte. „Ich muss nachdenken“, sagte sie schließlich. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du des Babys wegen heiraten willst.“

Er runzelte die Stirn. „Für wen hast du mich denn gehalten? Für einen Mann, der sich mit dir vergnügt und dich dann mit den Folgen sitzen lässt?“

„Ich weiß nicht.“ Sie machte eine Handbewegung. „Die meisten würden das tun.“

An seiner Wange zuckte ein Muskel. „Ich bin nicht wie die meisten.“

Sie musste es gewusst haben. Denn wäre er wie die meisten Männer, hätte es diese Schwangerschaft nicht gegeben. Sie wäre nie mit ihm ins Bett gegangen.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich leise.

Sein Gesicht hellte sich etwas auf. „Sag Ja, Allison. Nach der Heirat werden wir ein ganzes Leben haben, um uns kennen zu lernen.“

Autor

Lois Faye Dyer
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Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
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Lisette Belisle
Lisette Belisle schreibt Geschichten über ganz normale Leute, die ganz besondere Taten vollbringen und damit gegen alle Regeln handeln. Aber wie kam sie zum Schreiben? Das Schreiben kam zu ihr. Im Alter von 10 Jahren las Lisette ein Buch über eine Krankenschwester, die aus dem Wunsch heraus handelte, jedem Menschen...
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