Bianca Exklusiv Band 273

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TANZE MIT MIR - DIE GANZE NACHT von FERRARELLA, MARIE
Ben Kerrigan ist zurück! Nie hat Heather die zärtlichen Küsse ihrer ersten großen Liebe vergessen. Auf dem Fest zu Bens Ehren tanzt sie die ganze Nacht Wange an Wange mit ihm. Genau wie damals träumt Heather vom großen Glück. Wird es auch diesmal ein böses Erwachen geben?

BITTE BETRÜG MICH NICHT von JAMES, ARLENE
Noch nie war Amber so verliebt wie in den attraktiven Reece Carlyle, der mit dem Segelboot die Welt umrundet. Jeder Tag mit ihm ist wie ein Geschenk. Als er für ein paar Tage weg muss, macht er ihr ein überraschendes Geständnis: Er möchte danach für immer mit ihr zusammen sein.

ZURÜCK AUF DER JACHT DES MILLIONÄRS von DEPALO, ANNA
Der Duft seiner Haut und seine Küsse … Auch nach vier Jahren hat Megan die Nächte mit Stephen nicht vergessen. Als sie dem Mann ihrer Träume nun in Miami wieder begegnet, lädt er sie spontan auf seine Jacht ein. Will er ihr dort gestehen, dass er sie immer noch liebt?


  • Erscheinungstag 15.07.2016
  • Bandnummer 0273
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732745
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Arlene James, Anna DePalo

BIANCA EXKLUSIV BAND 273

1. KAPITEL

Der warme Juniwind zerzauste Ben Kerrigans dunkelblondes Haar, als er eine Hand hob, um an die Tür des rustikalen zweistöckigen Hauses am Stadtrand von Hades in Alaska zu klopfen. Es war das Haus, in dem er aufgewachsen war, das er aber eines frühen Morgens vor sieben Jahren überstürzt verlassen hatte.

Er stand schon eine ganze Weile auf der Veranda und hatte sich bereits zweimal bemerkbar machen wollen. Doch er hatte das verwitterte Holz nicht berührt, sondern die Hand sinken lassen, als wäre all seine Energie versiegt.

Dabei war er sonst alles andere als feige.

Die meiste Zeit seiner vierunddreißig Jahre war er glatt durchs Leben gesegelt. Natürlich hatte es auch heftige Stürme gegeben, und er hatte Fehler gemacht, sogar viele. Er war der Erste, der es zugab. Aber irgendwie hatte er es immer geschafft weiterzusegeln, und immer hatten sich alle Wogen wie durch Zauberhand geglättet.

Ein reuiges Lächeln umspielte seine Lippen, während er auf die Tür starrte. Dass immer alles gut ausgegangen war, hatte er hauptsächlich seinem älteren Bruder Shayne zu verdanken, der ihn nach dem Tod ihrer Eltern aufgezogen hatte. Shayne hatte hart gearbeitet, um Ben das Medizinstudium zu ermöglichen, damit sie zusammen die kleine Arztpraxis betreiben konnten – die einzige in einem Umkreis von hundert Meilen. Shayne war auch immer zur Stelle gewesen, um die Scherben aufzusammeln und zu regeln, was zu regeln war.

Seit sieben Jahren hatten sie sich nun nicht mehr gesehen und auch nichts voneinander gehört. Damals war Ben mit Lila durchgebrannt, denn sie hatte nur unter der Bedingung eingewilligt, ihre kurz zuvor gescheiterte Beziehung wieder aufzunehmen, dass er Hades mit ihr verließ. Also hatte Shayne allein das große Arbeitspensum in der Praxis bewältigen und dazu noch seine beiden Kinder versorgen müssen, die durch den plötzlichen Tod seiner Exfrau bei ihm eingezogen waren, nachdem er sie von deren Geburt an nicht hatte sehen dürfen.

Und dann war da noch die Frau, die auf Bens Betreiben hin nach Hades gekommen war, um ihn zu heiraten. Diese Bekanntschaft war durch einen Leserbrief von ihr zu einem Artikel über Alaska zustande gekommen, den er in einem Reisemagazin veröffentlicht hatte. Er hatte ihr persönlich geantwortet, und daraus war eine Brieffreundschaft entstanden. Sie hatten Fotos ausgetauscht, aber sie waren sich nie begegnet, bevor er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte – eigentlich aus reiner Verzweiflung, weil ihm zu dem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme der gescheiterten Beziehung zu Lila unmöglich erschienen war.

Rückblickend sah Ben ein, dass er wie so oft ungestüm gehandelt hatte. Dieses Wort beschrieb ihn besser als jedes andere. In den vergangenen Jahren hatte er sich jedoch bemüht, sich zu ändern. Vor allem, seit Lila ihn zum zweiten Mal verlassen hatte.

Unbehaglich trat er von einem Bein auf das andere, aber er blieb vor der Haustür stehen. Er wusste, dass er anklopfen musste, aber er konnte es noch nicht über sich bringen.

Nach seinen bitteren Erfahrungen mit Lila hatte er dazugelernt. Er hatte endlich begriffen, was selbst jahrelange Vorhaltungen von Shayne nicht vermocht hatten: Dass er wesentlich verantwortungsbewusster werden musste.

Ben hatte tatsächlich hart an sich gearbeitet, und er hatte sich geändert. Er war in Seattle geblieben und hatte sich in einer sehr lukrativen Arztpraxis etabliert. Die Arbeit mit seinen drei Partnern hatte ihm fast alles gegeben, was er sich nur wünschen konnte.

Alles außer einem wirklichen Glücksgefühl. Er hatte sich eingeredet, dass es nicht so wichtig sei, doch mit jedem weiteren Monat, der verging, wuchs eine unbehagliche innere Leere.

Und auch all die Frauen, die ihn ein kurzes Stück durch sein Leben begleitet hatten, änderten nichts daran. Traurigerweise waren sie für ihn austauschbar geworden. Ihre Gesichter hatten bei ihm keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und noch etwas bedrückte ihn: Er hatte erkannt, dass es mehr im Leben gab.

Inzwischen kam Ben sich vor wie die Hauptfigur in der „Ballade vom alten Seemann“ von Coleridge: Obwohl er nach außen hin den Sonnyboy spielte, war er innerlich ein anderer Mensch, der für seine Missetaten büßen musste, der Frieden suchte.

Und dann, eines Abends, hatte er den Grund für seine innere Unruhe gefunden – und möglicherweise auch das Mittel für eine eventuelle Heilung.

Ein Fernsehsender hatte eine Serie über Naturkatastrophen ausgestrahlt. Die erste Folge zeigte Einstürze von Höhlen und Bergwerken, und dazu gehörte auch ein Bericht über ein Minenunglück, das sich in Hades ereignet hatte. Es war nicht einmal eine aktuelle Meldung gewesen, lediglich Archivmaterial von wenigen Sekunden.

Doch diese Sendung hatte Erinnerungen an Bens Kindheit ausgelöst. Und an Shayne, der bei dem Unglück zweifellos tatkräftig zugepackt hatte, um den Verletzten zu helfen. Shayne, der die Welt verbessern wollte und es fast immer im Alleingang tat. Denn so war er – beinahe überlebensgroß und immer auf das Wohl anderer Menschen bedacht.

An jenem Abend hatte Ben den Fernseher abgeschaltet, im Dunkeln dagesessen und viel gegrübelt. Er hatte sich immer auf seinen Bruder verlassen können. Nun war es an der Zeit, sich zu revanchieren und endlich für Shayne da zu sein.

Während der Reise von Seattle nach Hades hatte Ben sich dieses Szenarium unzählige Male durch den Kopf gehen lassen. Er hatte sich ausgemalt, an Shaynes Tür zu klopfen, nach anfänglicher Verlegenheit hereingebeten zu werden, sich aufrichtig zu entschuldigen, und dann würde Shayne ihm wieder verzeihen, wie er es schon so oft getan hatte.

Ben war zuversichtlich gewesen, dass es wieder so wie früher zwischen ihnen werden konnte.

Doch als er nun auf der Treppe stand, während die Sonne ihm immer noch auf den Rücken schien, obwohl es fast neun Uhr abends war, schwand seine Hoffnung. Ihm fehlte die zuversichtliche Unbekümmertheit, die ihn fast sein ganzes Leben begleitet hatte. Überhaupt hatte er in letzter Zeit viel von seinem Optimismus eingebüßt, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.

Er starrte auf die Tür. Verdammt, er hätte mit Shayne in Kontakt bleiben sollen. Er hätte ihm schon zum ersten Weihnachtsfest eine Karte schicken und sich ausführlich entschuldigen sollen. Doch damals war er ein zu großer Egoist gewesen.

Und mit jedem Jahr, in dem er sich nicht gemeldet und sich nicht entschuldigt hatte, war es schwerer geworden, den Kontakt wiederherzustellen. Unter normalen Umständen hätte er diesen Versuch auch gar nicht erst unternommen.

Doch die Fernsehsendung über Naturkatastrophen hatte ihn aufgerüttelt. Zudem war ihm kürzlich bewusst geworden, dass er nicht unsterblich war. Denn vor einem Monat wäre er beinahe Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalls geworden – genau wie vor etlichen Jahren seine Eltern. Seitdem fühlte er sich, als hätte man ihm ein Ultimatum gestellt.

Er hatte zu viel Zeit verstreichen lassen, und nun sehnte er sich, sein weiteres Leben mit seinem einzigen Angehörigen zu verbringen.

Ja, er musste sich unbedingt mit seinem Bruder versöhnen, und er war sogar bereit, dafür zu Kreuze zu kriechen.

Er holte tief Luft, hob erneut die Hand, und diesmal klopfte er an. Laut und hart. Bevor ihn der Mut wieder verließ, bevor sein Arm wieder kraftlos hinuntersank.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor er ein Geräusch aus dem Haus hörte. Hoffentlich hatte er Shayne nicht geweckt. Denn als einziger Arzt in dem Städtchen musste sein Bruder ständig in Bereitschaft sein und hatte sich daher schon damals angewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann immer es ihm möglich war, ein kurzes Nickerchen einzulegen.

Wieder bekam Ben Schuldgefühle. Ich werde alles wiedergutmachen, schwor er sich. Er würde Shayne in der Praxis entlasten, wo er nur konnte.

Als sich die Tür öffnete, suchte er fieberhaft nach den richtigen Worten, damit die beiden Brüder die Vergangenheit hinter sich lassen und von vorn anfangen konnten. Und doch fiel ihm keine angemessene Begrüßung ein. Schon gar nicht, als ihm wider Erwarten nicht Shayne, sondern eine Frau gegenüberstand. Sie war schlank und zierlich und hatte lange blonde Haare, lebhafte blaue Augen und ein herzförmiges Gesicht, das Wärme ausstrahlte. Sie wirkte ausgesprochen sympathisch.

Irgendwie kam sie Ben bekannt vor, aber er konnte sie nicht recht einordnen.

„Sie sind nicht Shayne“, murmelte er ziemlich dümmlich.

Sydney Elliott Kerrigan starrte den Mann auf der Schwelle unsicher an. Nur selten verirrten sich Fremde nach Hades. Die Kleinstadt und die Umgebung waren nicht gerade ein beliebtes Tourismuszentrum. Besucher suchten den Ort normalerweise nur auf, wenn sie hier Verwandte hatten.

Doch irgendetwas an diesem Mann kam ihr vage vertraut vor. Er war ihr nicht fremd. Sie kannte ihn. Aber woher? „Nein, ich bin allerdings nicht Shayne“, bestätigte sie lächelnd. „Suchen Sie den Doktor?“

Ben antwortete nicht. Unwillkürlich fragte er sich, ob er sich im Haus geirrt hatte oder ob sein Bruder verzogen war. Er trat einen Schritt zurück, um die Fassade zu mustern, obwohl er vom Gefühl her wusste, dass er hier richtig war. Aber wenn dieses Haus immer noch Shayne gehörte, wer war dann diese Frau? Sie hatte nicht in Hades gelebt, als Ben die Stadt verlassen hatte.

Sydney holte tief Luft, als ihre Erinnerung zurückkehrte.

Der große Mann, der vor ihr stand, der nun etwas älter und seriöser aussah, war der Mann auf dem Foto, das sie in der Hand gehalten hatte, als sie vor sieben Jahren aus dem Flugzeug gestiegen war. Damals war sie nach Hades gekommen, um ein neues Leben zu beginnen. Auf der Suche nach dem großen Glück. Aufgrund seiner Briefe und seines Heiratsantrags hatte sie in Seattle ihren Job gekündigt, ihr Apartment aufgelöst und all ihr Hab und Gut in einem Möbelwagen nach Hades geschickt.

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie die Erkenntnis traf, dass es der Mann war, der schriftlich um ihre Hand angehalten und sie hierher gelockt hatte. Der Mann, der dann nicht da gewesen war, um sie zu empfangen. War er es wirklich? Sie brauchte die endgültige Bestätigung. „Ben?“

Woher kannte sie ihn? Hatte Shayne ihn erwähnt, ihr ein Foto gezeigt? „Ja. Ich …“ Er unterbrach sich. Verblüffung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. „Sydney?“

Noch bevor er den Namen ausgesprochen hatte, wusste er, wer sie war: Sydney Elliott. Er hatte nur ein einziges Foto von ihr gesehen, das sie ihm in einem ihrer handgeschriebenen, sehr langen und wortgewandten Briefe geschickt hatte. Die Neugier überwog seine Schuldgefühle. Was tat sie nach all der Zeit immer noch hier? Er war davon ausgegangen, dass Shayne seiner Bitte nachgekommen war und sie am Flughafen in Empfang genommen, ihr die Situation erklärt und sie auf Bens Kosten nach Hause zurückgeschickt hatte.

Bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, fand er sich in ihren Armen wieder. Verblüfft, mit stockendem Atem, erwiderte er die Umarmung.

Hat sie die ganze Zeit auf mich gewartet?

Nein, unmöglich! Das hätte sogar Hiobs Duldsamkeit übertroffen. Es musste eine andere Erklärung geben.

„Wer ist denn da, Sydney?“, rief Shayne Kerrigan auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche. Er war hundemüde nach all den Stunden in der Praxis und hoffte, dass es sich um einen privaten Besuch und nicht um einen Patienten handelte.

Sydney löste die Arme von Ben und drehte sich zu Shayne um. „Haben wir ein gemästetes Kalb, das wir schlachten können?“

Shayne liebte seine Frau aufrichtig, aber momentan war er nicht gerade bester Laune und wenig empfänglich für ihre Scherze. Mit gerunzelter Stirn kam er zur Tür. „Was redest du denn da? Was …“ Abrupt verstummte er und starrte den Mann an, der neben seiner Frau stand. Er hatte das Gefühl, einen Geist zu sehen.

„Hallo, Shayne.“ Ben lächelte strahlend, aber gleichzeitig hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass er erwachsen geworden war, dass er endlich zu den Konsequenzen seines Handelns stand. Und er hielt sich nicht länger für den Mittelpunkt der Welt. Obwohl er seinem Bruder die Hand schütteln wollte, konnte er sich nicht rühren.

Shayne straffte die Schultern, und seine Miene verfinsterte sich. „Was machst du denn hier?“

„Er steht vor unserer Tür“, erwiderte Sydney fröhlich. Offensichtlich wollte sie Frieden stiften. „Komm rein, Ben.“ Sie hakte sich bei ihrem Schwager unter und zog ihn ins Haus, als gäbe es keine Vorgeschichte. „Hast du gegessen? Wir haben noch etwas vom Abendessen übrig …“

Shayne rührte sich nicht vom Fleck. „Verschwinde“, befahl er mit leiser Stimme und beinahe starren Lippen.

Ruckartig drehte Sydney sich zu ihrem Mann um. So unhöflich kannte sie Shayne gar nicht. Zurückhaltend, ja. Aber nicht abweisend. Er hatte damals schweigsam und kühl gewirkt, als sie vor Jahren in Hades angekommen war. Aber unter der rauen Schale verbarg sich ein gutmütiger und hilfsbereiter Mensch, der für seine Nachbarn und Patienten da war, der viel mehr gab, als er je zurückzubekommen würde.

Schon von frühester Kindheit an war Shayne verschlossen gewesen und hatte seine Gefühle nie mit vielen Worten ausdrücken können. Seine Warmherzigkeit zeigte sich an der Art, mit der er sich um Kranke und Verletzte kümmerte. Doch bei Sydney war er endlich aufgetaut. Sie hatte ihm geholfen, eine Beziehung zu seinen beiden Kindern zu knüpfen, die er kaum gekannt hatte.

Während der sieben Jahre ihrer Ehe war sie ihm allmählich näher gekommen. Obwohl man ihn nicht gerade gefühlsbetont nennen konnte, zweifelte sie nicht länger an seinem unendlichen Mitgefühl.

Nun sah sie ihn stirnrunzelnd an. „Aber er ist dein Bruder, Shayne.“

Verblüfft entgegnete er: „Er ist der Mann, der dich – uns beide – sitzen lassen hat, der uns mit einem Brief abgespeist hat.“ Finster starrte er seinen jüngeren Bruder an. „Mit einem läppischen Brief. Das war sein einziges Lebenszeichen in sieben langen Jahren.“ Er trat näher. „Was ist los, Ben? Steckst du in Schwierigkeiten? Brauchst du Geld? Ist jemand hinter dir her? Eine Frau, der du das Blaue vom Himmel versprochen hast und die sich nicht einfach damit zufriedengibt, wie ein benutztes Papiertuch weggeworfen zu werden?“

Das geschieht mir nur recht, dachte Ben, das und noch viel mehr. Und falls er die Chance bekam, wollte er es Shayne sagen und sich auf jede erdenkliche Art entschuldigen. Das Leben war zu kurz, um die Dinge so zu belassen, wie sie waren. „Nein. Ich wollte dich nur sehen und dir sagen, dass es mir leidtut.“

Shayne wirkte völlig unbeeindruckt. „Und was dann?“

Ben fühlte sich, als stünde er am Rande einer Klippe und würde in ein tosendes Gewässer starren. Jeden Moment konnte er den Halt verlieren und abstürzen. Aber er war nicht hierher gekommen, um auf Nummer sicher zu gehen, sondern um Abbitte zu leisten. „Das liegt bei dir.“

Shayne schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. Er war nicht überzeugt. Zu oft hatte er miterlebt, wie Ben seinen Charme spielen ließ und sich damit der verdienten Bestrafung entzog. „Sehr rührend, aber du musst schon verstehen, wenn ich dir nicht glaube.“

Sydney zupfte ihn am Ärmel. „Shayne, bitte.“

„Verdammt, er hat dich auf eine ganz miese Tour im Stich gelassen! Er hat dich wie den letzten Dreck behandelt!“

„Aber ihm habe ich auch das größte Glück meines Lebens zu verdanken“, widersprach sie ganz entschieden. „Ohne Ben wäre ich nie hierhergekommen.“ Sie hielt Shaynes Blick gefangen. „Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich dich nie kennengelernt.“

Sie ergriff seine Hand und fuhr mit sanfter Stimme fort. „Ich wäre deinen – unseren wundervollen Kindern nie begegnet und hätte niemals unsere Tochter zur Welt gebracht. Ich wäre nie so unverschämt glücklich geworden, wie ich es jetzt bin.“

Die Neuigkeit schlug bei Ben wie eine Bombe ein. Er hatte Shayne, der immer so verschlossen war, keine Heirat zugetraut, zumal es in dieser Gegend siebenmal so viele Männer wie Frauen gab. Vor Staunen blieb ihm der Mund offen, als er die zierliche Frau anstarrte. „Du hast meinen Bruder geheiratet?“

„Das schien damals für alle Beteiligten die einzig richtige Lösung zu sein“, sagte Sydney und lachte herzlich. „Shayne war ziemlich verloren.“

Ursprünglich hatte sie beabsichtigt, nur so lange in Hades zu bleiben, bis der Möbelwagen eingetroffen war, um ihn mit ihren Habseligkeiten gleich wieder zurück nach Seattle schicken zu können. Aber in der Zwischenzeit hatte sie ihr Herz an den ernsten Arzt und seine beiden mutterlosen Kinder verloren.

Ihre Augen blitzten, als sie hinzufügte: „Und er hat dringend eine Frau in seinem Leben gebraucht, denn allein ist er gar nicht gut zurechtgekommen.“

„Ich hätte es schon geschafft“, widersprach Shayne. „Mit der Zeit.“

Sie hakte sich bei ihm unter und lehnte sich an ihn. „So viel Zeit gibt es auf der ganzen Welt nicht“, neckte sie. Dann sah sie ihren Mann mit Unschuldsmiene an und fragte: „Kann er bleiben? Bitte!“

Shaynes Wut verflog schon wieder. Er konnte nicht Nein sagen, wenn Sydney ihn um etwas bat. Selbst wenn er der Meinung war, dass er es tun sollte. Und wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er seinen Bruder sehr vermisst und sich Sorgen um ihn gemacht hatte.

„Na gut“, stimmte er widerstrebend zu, den Blick immer noch auf Sydney geheftet. „Er kann bleiben.“

„Also, was willst du wirklich hier?“, wollte Shayne wissen. Er hatte Ben in sein Arbeitszimmer gezogen, weg von der restlichen Familie, und nun sah er ihn hinter verschlossener Tür abwartend an.

Ben setzte sich auf die dunkelbraune Ledercouch und blickte sich um. Dabei kamen viele alte Erinnerungen hoch.

Der ziemlich volle Raum mit dem steinernen Kamin hatte sich seit damals kaum verändert, als sie vor vielen Jahren „Fort“ darin gespielt hatten. Unter demselben zerkratzten Schreibtisch aus Eichenholz hatten sie sich verschanzt und vorgetäuscht, eine Festung gegen einen mysteriösen Feind zu verteidigen. Früher war der Raum das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen und hatte nach seinem Pfeifentabak gerochen, während er nun nach Möbelpolitur duftete.

Ben blickte zu dem Wandregal neben dem Kamin, das vom Fußboden bis zur Decke reichte und vor Büchern fast überquoll. Die Bibliothek ihrer Eltern, die hauptsächlich aus klassischer Literatur bestanden hatte, war um die medizinischen Fachbücher erweitert worden, die Shayne und Ben sich während des Studiums einverleibt hatten, und eines der unteren Regale enthielt nun eine Sammlung abgegriffener Kinderbücher.

Shaynes Leben scheint sehr geordnet zu sein, dachte Ben, im Gegensatz zu meinem.

Für sein Empfinden war die letzte Stunde recht gut verlaufen. Besser, als er zu hoffen gewagt hatte, nachdem er das Haus betreten hatte. Shaynes Kinder aus erster Ehe und die fünfjährige gemeinsame Tochter mit Sydney mochten Ben auf Anhieb.

Zugegeben, die beiden älteren Kinder waren zunächst etwas misstrauisch gewesen. Darin ähnelten sie ihrem Vater. Aber die Kleine war schon bald zutraulich auf Bens Schoß geklettert und hatte Ben ganz schnell für sich gewonnen. Während des Essens, das Sydney ihm förmlich aufgedrängt hatte, bekam er das Gefühl, dass er in den Schoß der Familie aufgenommen worden war.

Von jedem – mit Ausnahme des Menschen, den er am meisten verletzt hatte.

Ben schlug die Beine übereinander und wählte seine nächsten Worte sorgfältig. Er wusste, dass es viel Mühe kosten würde, Shaynes Misstrauen zu zerstreuen und ihn von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.

Aber das hatte er sich selbst zuzuschreiben, und er war bereit durchzuhalten. Wenn Shayne von ihm verlangte, durch einen brennenden Reifen zu springen, dann wollte er es tun. Das war er ihm schuldig – und noch viel mehr.

„Das habe ich dir schon gesagt“, eröffnete Ben nun, ohne seinen älteren Bruder aus den Augen zu lassen. „Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Es tut mir wirklich leid, was ich dir angetan habe.“

Shayne wanderte durch das kleine Büro. „Mal angenommen, ich glaube dir.“ Seine Stimme verriet nicht, ob es der Fall war. Er machte abrupt auf dem Absatz kehrt und fixierte Ben mit einem durchdringenden Blick. „Wie würdest du das anstellen?“

„Indem ich hierbleibe und mit dir zusammen in der Praxis arbeite, wie du es ursprünglich vorgesehen hattest.“

Die Worte lösten ferne Erinnerungen aus, die zu dem ernsten Träumer gehörten, der Shayne früher gewesen war, bevor er erkannt hatte, wie naiv sein Idealismus gewesen war. Danach hatte er zu Pessimismus geneigt. Doch nachdem er Sydney begegnet war, hatte ihn das Leben überrascht und ihm gezeigt, wie viel es zu bieten hatte. Er hatte einen guten Mittelweg gefunden und sich mit der Realität angefreundet. Doch nun ging es nicht um ihn selbst, sondern um Ben und um dessen Verantwortungslosigkeit.

Forschend musterte er seinen Bruder. So leicht ließ er sich nichts vormachen. „Wann hast du dich zuletzt mit Medizin befasst?“

Ben grinste. „Damit muss ich mich nicht erst befassen. Ich beherrsche sie aus dem Effeff.“ Beschwichtigend hob er beide Hände, als er den entnervten Ausdruck auf Shaynes Gesicht sah. „Entschuldige. Diesen Spruch konnte ich mir noch nie verkneifen.“

„Die Medizin ist kein Spaß. Schon gar nicht hier in dieser Gegend.“

Ben wurde ernst. „Da hast du völlig recht. Und um deine Frage zu beantworten: Letzte Woche habe ich das letzte Mal praktiziert. Am Mittwoch.“

Shayne zog eine Augenbraue hoch. „Doktorspiele mit einer willigen Frau …“

„Haben auch ihren Reiz“, vollendete Ben den Satz, „aber ich habe nicht gespielt. Ich habe in Seattle in einer Gemeinschaftspraxis gearbeitet.“ Er verriet nicht, dass es eine sehr lukrative Praxis war und er durch sein Ausscheiden auf ein Jahreseinkommen von fast einer halben Million Dollar verzichtete. Mit solchen Zahlen konnte er Shayne nicht beeindrucken, dem es immer nur um Heilung und nicht um Geld gegangen war. „Wir waren zu viert. Ein Orthopäde, ein Internist und ein Kardiologe. Ich bin Pädiater.“

„Du hast dich also auf Kinder spezialisiert“, murmelte Shayne nachdenklich, mit einem beifälligen Unterton.

„Ja.“ Ben spürte, wie gut ihm die brüderliche Anerkennung tat. „Wir haben fachübergreifend gearbeitet und uns gegenseitig vertreten, wenn einer von uns gerade nicht da war. Aber meistens haben wir uns an das eigene Fachgebiet gehalten.“

Shayne nickte mit stoischer Miene. „Das hat sich sicher bezahlt gemacht.“

„Ja, die Praxis lief hervorragend. Aber das ist nicht entscheidend. Es geht mir darum, hier zu Hause eine Nische für mich zu finden.“

Shayne griff zu der kleinen Karaffe Brandy auf dem Schreibtisch und schenkte beiden ein Glas ein. Niemand wusste besser als er, wie überzeugend Ben sein konnte, der sich mit seinem Charme häufig genug aus der Schlinge gezogen hatte. „Wir brauchen hier niemanden, der für eine Woche das Büßerhemd anzieht und dann plötzlich wieder verschwindet …“

„Ich werde nicht wieder verschwinden“, warf Ben ein. „Wie kann ich dich nur davon überzeugen? Ich bin bereit, alles zu tun, was du von mir verlangst. Im Übrigen bin ich ein guter Arzt. Das weißt du.“

Shayne hockte sich auf die Schreibtischkante, nippte von seinem Brandy und beobachtete seinen Bruder über den Rand des Glases hinweg. Schließlich fragte er: „Was ist passiert?“

Schulterzuckend erwiderte Ben: „Ich bin erwachsen geworden.“

„Ich meine, was mit Lila ist.“

Ben holte tief Luft, wie um sich gegen die Erinnerung zu wappnen. „Sie hat mich verlassen.“ Er hob sein Glas in einem stummen Toast und nahm einen kräftigen Schluck. „Das war ein Teil des Erwachsenwerdens.“

„Sie hat dich verlassen? Einfach so?“

„Einfach so.“ Es tat immer noch weh, selbst nach über einem Jahr. „Eines Morgens habe ich mich im Bett umgedreht, um sie zu streicheln, und sie war nicht mehr da.“ Sie hatte ihm nur eine sehr kurze Nachricht hinterlassen, in der sie schrieb, dass sie zu verschieden seien und sie fortging, weil sie sich bei ihm langweilte.

Shayne schwieg lange Zeit. Unwillkürlich verspürte er einen Anflug von Genugtuung. „Es ist ganz schön hart, von jemandem enttäuscht zu werden, von dem man immer gedacht hat, dass man sich auf ihn verlassen kann, wie?“

Wiederum dachte Ben, dass es ihm recht geschah. Und trotzdem hatte er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. „Tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe, aber du hättest es damals besser wissen sollen, anstatt auf mich zu bauen. Du warst doch immer der Solidere von uns beiden.“

Zuverlässigkeit ist eine Eigenschaft, die allzu oft als selbstverständlich hingenommen wird, dachte Shayne – wie bei einem Dach, das da ist, um zu beschützen, ohne wirklich beachtet zu werden. „Und du warst derjenige, in den alle vernarrt waren, der immer verhätschelt wurde.“

„Und den niemand ernst genommen hat.“ Ben nahm noch einen Schluck Brandy. Die Schuldgefühle, die ihn gequält und hierher geführt hatten, ließen sich nicht unterdrücken.

Shayne lachte kurz auf. „Du wolltest doch gar nicht ernst genommen werden.“

„Stimmt. Früher nicht. Aber jetzt will ich es.“ Ben stellte sein Glas ab und sagte nachdrücklich: „Und deshalb will ich in Hades bleiben.“

Shayne ließ sich nicht anmerken, ob er die Rückkehr seines Bruders befürwortete. Das misstrauische Funkeln in seinen Augen blieb. Plötzlich kam ihm ein Verdacht. „Hat dich jemand wegen eines Kunstfehlers verklagt?“

Auch diese Vermutung durfte Ben nicht verwundern. Er hatte Shaynes Vertrauen oft genug missbraucht. Aber nun wollte er sich beweisen. „Nein. Ich bin wirklich ein gewissenhafter Arzt.“ Sein Ruf war makellos. In seinem Beruf war er immer mit Leib und Seele bei der Sache. „Du könntest Hilfe gebrauchen.“

„Ich habe Hilfe.“ Shayne füllte die Gläser auf. „Ich habe eine Krankenschwester eingestellt, und sie hat ihren Bruder überredet, sich ebenfalls hier niederzulassen. Er ist Herzspezialist. Jimmy Quintano.“

Stille senkte sich über den Raum, während Ben diese Auskunft verdaute. Er hätte nie gedacht, dass jemand von außerhalb hierherkommen würde. In seiner frühen Jugend hatte es alle jungen Leute aus Hades in die Ferne gezogen. Alle außer Shayne und seinen Freund Ike.

„Dann lautet deine Antwort Nein?“, hakte er schließlich nach.

„Das habe ich nicht gesagt. Du kannst bleiben. Aber ich stelle hier die Regeln auf. Ist das klar?“

Ben fühlte sich so euphorisch wie damals als Kind, als er nach einem langen dunklen Winter endlich den ersten Sonnenstrahl gesehen hatte. Er grinste. „Was immer du sagst.“

„Als Erstes sage ich, dass der Dienst um sieben Uhr anfängt.“

Ben schluckte kurz.

„Möchtest du dich dazu äußern?“

„Allerdings.“ Ben setzte eine Unschuldsmiene auf. „Kannst du mich mitnehmen?“

„Da du heute im Gästezimmer schlafen wirst, dürfte das kein Problem sein.“

Unfähig, seinen Enthusiasmus zu bremsen, sprang Ben auf und umarmte Shayne, der die Umarmung völlig passiv über sich ergehen ließ. „Es ist schön, wieder hier zu sein.“

„Das wird sich zeigen, Ben“, murmelte Shayne keineswegs überzeugt. „Das wird sich zeigen.“

2. KAPITEL

Ben war nie ein Morgenmensch gewesen. Selbst der schwarze extrastarke Kaffee, von dem er zwei Tassen getrunken hatte, munterte ihn nur für kurze Zeit auf. Das Schaukeln des Jeeps während der Fahrt in die Stadt lullte ihn gleich wieder ein.

Als ihm die Augen zufielen, hob er den Kopf mit einem Ruck und versuchte, seine Müdigkeit zu vertuschen.

Aber Shayne sah ihn nur kurz an und bemerkte: „Noch kann ich umdrehen und dich wieder zu Hause absetzen, du Schlafmütze.“

„Nein, danke. Ich fühle mich gut.“

„Ja, ja – wie im Tran.“

Ben gähnte, streckte sich und ließ die Schultern kreisen. „Ich brauche nur ein bisschen länger als du, um zu mir zu kommen. Außerdem habe ich schon immer erst nach zwölf die beste Leistung erbracht.“

„Ja, nach zwölf Uhr nachts“, murmelte Shayne ironisch.

Ausnahmsweise hatte Ben nicht an das schöne Geschlecht gedacht. „Du weißt genau, wie ich es meine.“

Wortlos warf Shayne ihm einen abschätzigen Seitenblick zu und bog in die erste Parklücke direkt am Hintereingang der Praxis.

Es überraschte Ben, dass sie so schnell angekommen waren. Anstatt durch die ganze Stadt zu fahren, hatten sie Nebenstraßen genommen, die offensichtlich eine beträchtliche Abkürzung bedeuteten. Er stieg aus und musterte das frisch gestrichene einstöckige Gebäude. Die Farbe schien ihm nicht das einzig Neue zu sein. „Kommt es mir nur so vor, oder hast du die Praxis vergrößert?“

„Wir haben angebaut“, bestätigte Shayne. „Ein paar Untersuchungsräume und einen OP für kleinere Eingriffe. Für größere Operationen schicken wir die Patienten immer noch nach Anchorage.“ Das war einer der Gründe, weshalb er und Sydney sich ein einmotoriges Flugzeug angeschafft hatten – damit die Patienten im Notfall in das städtische Krankenhaus geflogen werden konnten.

„Wächst dieses Dorf denn tatsächlich?“, hakte Ben verwundert nach.

„Ein bisschen.“ Shayne öffnete die Hintertür. Es war beinahe unheimlich still. „Wir haben einige Neuzugänge.“ Er ging voraus in sein Sprechzimmer und zog sich seinen Arztkittel an. „Und es ziehen weniger Leute von hier weg als früher.“

Fast wie in alten Zeiten, dachte Ben, als er ebenfalls in einen weißen Kittel schlüpfte, den Shayne ihm gereicht hatte. „Sind diese Neuzugänge verantwortlich für das neue Restaurant und das Kaufhaus, das mir bei der Durchfahrt aufgefallen ist?“

Objektiv betrachtet stagnierte diese Kleinstadt mehr oder weniger. Aber für die alteingesessenen Bewohner von Hades fand geradezu ein Bauboom statt. Vor knapp einem Jahr waren ein richtiges Feuerwehrhaus, ein Kino und ein sehr kleines Hotel entstanden.

„Zum Teil.“ Shayne lächelte vor sich hin. „Ike und Jean-Luc haben in die Stadt investiert und einige Häuser bauen lassen.“

„Ike? Meinst du den Barkeeper vom Salty Dog Saloon? Deinen Freund Ike LeBlanc?“ Ben hatte Ike als einen sehr leutseligen und geselligen Mann in Erinnerung. Dessen Cousin Jean-Luc war eher still und verschlossen gewesen. Er konnte sich keinen von beiden als Unternehmer vorstellen.

Shayne nickte. „Das war früher mal so. Inzwischen haben die beiden den Saloon übernommen.“

Lächelnd folgte Ben ihm in den Rezeptionsbereich. Als er von hier weggegangen war, schien die Zeit in dem kleinen Städtchen stillgestanden zu haben. Er hätte nie gedacht, dass in Hades jemals der Fortschritt einziehen würde. „Ich habe wohl viel verpasst, was?“

„Das stimmt. Aber du kannst den Anschluss wiederfinden – falls es dir mit dem Bleiben wirklich ernst ist.“

„Es ist mir sehr ernst. Ich …“ Ben vergaß plötzlich, was immer er hatte sagen wollen, als er aus dem Fenster auf die Straße blickte und eine gertenschlanke Blondine sah. Sie hielt an jeder Hand ein kleines Mädchen, und die Kinder versuchten, sie in entgegengesetzten Richtungen von der Praxis wegzuzerren. „Da scheinen schon die ersten Patienten zu kommen.“

Shayne warf einen Blick in den Terminkalender, den Alison für ihn auf dem Empfangspult aufgeschlagen hatte. Direkt daneben stand ein Computersystem, das dieselben Informationen enthielt, aber er hatte schon immer Papier bevorzugt, auch wenn Sydney ihn deswegen ständig aufzog und ihn liebevoll ihren Dinosaurier nannte. Er glaubte einfach, auf die altmodische Weise alles besser unter Kontrolle zu haben. Seiner Erfahrung nach neigte Software dazu, sämtliches Material zu verschlingen, gerade wenn er es am allernötigsten brauchte. „Das wird Heather mit Hannah und Hayley sein.“

„Heather?“ Sobald Ben den Namen wiederholte, kehrten bruchstückhaft die Erinnerungen zurück, die er total vergessen hatte. Oder hatte er sie verdrängt? Unwillkürlich lächelte er und dachte: Sie sieht noch hübscher aus, aber auch schmaler und irgendwie … gequält.

„Heather Kendall, geborene Ryan“, erklärte Shayne, denn er war sich nicht sicher, ob Ben schon weggegangen war, bevor sie Joe Kendall geheiratet hatte.

Ben trat vom Fenster zurück, beobachtete aber weiterhin das Trio auf der Straße, das davon nichts merkte. „Ich weiß, wer sie ist“, murmelte er in einem merkwürdigen Tonfall.

Shayne horchte auf. „Hast du irgendetwas?“

Ben verdrängte die Erinnerungen an eine wundervolle Nacht am See und an Heathers verführerischen Körper. „Nichts, was ich nicht mit Kaffee beseitigen könnte.“

„Die Kaffeemaschine steht im Hinterzimmer. Schalte sie ruhig an. Alison hasst es, Kaffee zu kochen.“ Shayne öffnete die Doppeltür und lächelte die beiden energiegeladenen Mädchen an. „Hallo, Hannah und Hayley.“ Er sah Heather an. „Du bist früh dran.“

Sie lächelte schwach, während sie mit ihren Töchtern kämpfte, die sie immer noch wegzerren wollten. „Ich weiß. Lily hat mir eigentlich den ganzen Vormittag freigegeben, aber Beth hat mich gerade angerufen. Sie fühlt sich nicht gut und kann nicht kommen. Dadurch hat Lily die Frühstücksschicht ganz allein am Hals. Ich kann sie nicht hängen lassen.“ Lily war sehr gut zu Heather gewesen und hatte sie nach Joes Tod als ungelernte Serviererin eingestellt.

„Wie ich Lily kenne, muss jetzt Max einspringen und bedienen.“

Max Yearling war Lilys Mann und der einzige Sheriff im Ort. Nach Hades war sie – wie auch Jimmy Quintano – durch Alison gekommen, die wiederum durch Luc dorthin gefunden hatte.

Alison und Luc hatten sich kennengelernt, als er ihr während eines Urlaubs in Seattle bei einem Überfall durch Straßenräuber zu Hilfe gekommen war. Durch ihn hatte sie von Shayne und seiner Praxis erfahren und beschlossen, sich in dieser abgelegenen Kleinstadt nützlich zu machen. Später dann waren ihre Geschwister zu Besuch gekommen und hatten nacheinander ihr Herz an Land und Leute verloren.

Shayne lächelte vor sich hin. Irgendwie war die Geschichte der Stadt wie ein endlos langer Kinderreim, in dem ein Familienmitglied dem anderen folgte. In Hades lebten nun vier Quintanos. Drei von ihnen hatten in die Familie Yearling eingeheiratet, während Alison, die ursprünglich nur wegen der Arbeit als Krankenschwester gekommen war, inzwischen mit Jean-Luc LeBlanc verheiratet war.

„Hoffentlich nicht“, sagte Heather halb im Scherz, halb ernst. „Sonst nimmt er mir noch den Job weg, den ich dringend brauche.“

Hannah, ihre Sechsjährige, wollte sich losreißen und aus der Praxis laufen, während Hayley mit zitternder Unterlippe und Tränen in den Augen vehement erklärte: „Ich will keine Spritze!“

„Ihr bekommt heute auch keine Spritze“, versicherte Shayne. „Ich will nur gucken, ob der hässliche Ausschlag weg ist, den ihr zwei euch gegenseitig verpasst habt.“

„Was? Ein hässlicher Ausschlag?“, hakte Ben gespielt ungläubig nach. Er sah abwechselnd von einem Mädchen zum anderen. „Ihr seht gar nicht so aus, als ob ihr einen hässlichen Ausschlag hättet.“

„Hatten wir wohl!“, erklärte Hayley. Sie deutete mit dem Finger auf ihre ältere Schwester. „Hannah hat ihn zuerst gekriegt, weil sie in den Büschen gespielt hat, und dabei darf sie das gar nicht.“

Hannahs Angst war vergessen angesichts dieses Vorwurfs, der ihr in Gegenwart eines völlig fremden Menschen gemacht wurde. Empört rief sie: „Habe ich gar nicht!“

„Hast du wohl!“

Ben hockte sich vor Hannah hin. „Ich wette, der böse alte Busch hat dich einfach angesprungen und gepackt, oder?“

Die Ausrede gefiel ihr offensichtlich. Ihre Locken hüpften, als sie nachdrücklich nickte. „Ganz genau.“

„Du musst dich vor diesen Zauberbüschen hüten“, warnte er mit ernster Miene. „Die sind ganz schnell. Wo hat er dich denn erwischt?“

Ohne zu zögern schob sie den rechten Ärmel hoch und deutete auf eine Stelle, die noch vor wenigen Tagen feuerrot gewesen war. „Genau hier.“

Sorgfältig untersuchte Ben die Zone. „Es sieht so aus, als ob alles wieder gut ist.“

„Mom tut immer so ein ekliges Zeug drauf“, teilte Hayley ihm mit. Unaufgefordert entblößte auch sie ihre Arme.

„Weil sie euch lieb hat.“ Ben blickte nun zu Heather auf. „Stimmt’s, Mom?“

Sie nickte widerstrebend. Ihr Blick klebte förmlich an ihm. Ihre Stimme versagte plötzlich, ihr wurde siedend heiß, und ihr Herz begann wild zu pochen.

Ihre Beine drohten nachzugeben, während sich in ihrem Kopf ständig der Refrain wiederholte: Er ist wieder da.

„Es sieht bei beiden Mädchen sehr gut aus“, sagte Shayne zu Heather, die er bis vor wenigen Minuten für unerschütterlich gehalten hatte. Als er nun den verstörten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht musterte, wurde ihm bewusst, dass er nicht der Einzige war, den das plötzliche Auftauchen seines Bruders aus der Fassung gebracht hatte. „Heather?“

Als sie nicht reagierte, wiederholte er ihren Namen etwas nachdrücklicher. Allem Anschein nach hatte Ben nichts von seiner magischen Anziehungskraft auf Frauen eingebüßt.

Shayne beugte sich zu ihr vor und wedelte beinahe belustigt mit einer Hand vor ihrem Gesicht. Es dauerte einen Moment, bevor sie auch nur blinzelte. „Heather? Seit wann hörst du schwer?“, witzelte er.

Nur mit Mühe gelang es ihr, sich von der Verwirrung zu erholen. „Wie bitte? Oh, entschuldige. Es ist nur …“ Ihr fehlten die Worte.

Er warf einen Blick zu Ben. „Ja, diese Wirkung übt er auf uns alle aus.“ Nur ein Anflug von Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit.

„Nein, nein, ich meine …“ Nervös erklärte sie: „Ich bin nur überrascht, dass er wieder da ist, das ist alles.“ Obwohl sie mit Shayne sprach, sah sie weiterhin zu Ben.

Verflixt, sie verhaspelte sich wieder. Aber sie hatte noch nie zu den Frauen gehört, die sich unter Kontrolle hatten – wie ihre Mutter so gern betonte. Und in diesem Moment stand es um ihre Selbstbeherrschung schlimmer denn je.

Sie riss sich zusammen. Schließlich war sie nicht mehr die unschuldige Dreiundzwanzigjährige, die mit Ben im Sommer vor seinem plötzlichen Verschwinden am See geschlafen hatte. Sie war mehr als nur um die sieben Jahre älter geworden, die seitdem vergangen waren. Das Leben hatte sie geprägt. Sie war zweifache Mutter geworden, hatte geheiratet und war nun verwitwet.

In letzter Zeit war sie nicht nur die Alleinernährerin ihrer kleinen Familie, sondern auch noch die Pflegerin ihrer Mutter.

Vermutlich würde Martha Ryan gehörig vom Leder ziehen, wenn sie von Bens Rückkehr erfuhr, was unvermeidlich war, selbst wenn Heather es ihr verschwieg. In Hades verbreiteten sich solche Neuigkeiten immer rasend schnell.

Martha hatte Ben nie gemocht. Wann immer sein Name fiel, verglich sie ihn mit ihrem Mann, der sie verlassen und sich dann auch noch aus weiter Ferne von ihr hatte scheiden lassen.

Je älter Heather geworden war, desto weniger hatte sie ihrem Vater das Verschwinden verübeln können. Immer mehr hatte sie begriffen, dass er aus reinem Selbstschutz gegangen sein musste.

Nun spürte sie Bens Blick auf sich und versuchte cool zu bleiben. Es gelang ihr nicht ganz. Das wunderte sie nicht, denn kaum jemand konnte sich seiner Ausstrahlung und seinem Charme entziehen. Sie räusperte sich. „Du bist also zurückgekommen?“, fragte sie und hoffte dabei inständig, dass es zumindest ein bisschen abgeklärt klang.

Ihr lässiges Auftreten wurde jedoch zunichtegemacht, als Hayley vorwurfsvoll jammerte: „Mom, du zerquetschst mir die Finger!“

„Entschuldige, Liebes“, murmelte Heather und spürte Röte in ihre Wangen steigen.

„Du brauchst sie nicht so fest zu halten“, meinte Ben. „Sie läuft schon nicht weg.“ Er blickte zu der Kleinen hinunter. „Stimmt’s, Hayley?“

Wie jedes weibliche Wesen über zwölf Monate reagierte Hayley spontan auf seinen Tonfall und sein Lächeln. Wild schüttelte sie den Kopf, ohne dabei den Blickkontakt zu unterbrechen.

Im nächsten Moment befreite sie sich aus Heathers Griff, strahlte Ben an und ergriff seine Hand, obwohl sie ihn noch vor fünf Minuten nicht gekannt hatte.

So war es schon immer, dachte Heather wehmütig. Selbst damals in der Schule war jedes Mädchen, das sie kannte, in ihn verliebt gewesen.

Ben konnte sich nicht erinnern, dass Heather jemals so hübsch gewesen war wie jetzt – und so schweigsam. Einen Moment lang vergaß er, dass Shayne ihr Hausarzt war. „Hast du Zeit für eine gründliche Untersuchung?“, fragte er. Als sie ihn überrascht ansah, erklärte er hastig: „Ich meine natürlich die Mädchen. Nur zu deiner Beruhigung.“

Er hörte, wie Shayne empört Luft holte, und erkannte, dass er seinem Bruder wieder einmal auf die Zehen getreten war.

„Schon gut. Bemüh dich nicht. Der Ausschlag war nur auf den Armen“, wehrte sie ab. Sie klang atemlos und verspürte den Drang, ihre Töchter zu schnappen und davonzulaufen. Sie musste sich dringend beruhigen, bevor sie sich total zum Narren machte.

„Na schön.“ Er wandte sich an die Mädchen und teilte ihnen statt ihrer Mutter die Diagnose mit. Sie schienen seine Worte wie Schwämme aufzusaugen und strahlten, weil er sie wie Erwachsene behandelte. „Der Ausschlag ist schon fast weg. Wahrscheinlich hat die eklige Medizin ihn vertrieben.“

Hayley nickte mit ernster Miene. „Ganz bestimmt.“

Hannah sagte nichts, sondern sah ihn nur aus ihren großen grünen Augen an. Als er den Blick erwiderte, wurde sie plötzlich schüchtern. Sie versteckte sich hinter ihrer Mutter, beobachtete ihn aber weiterhin mit einem Auge.

Heather zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich an Shayne. „Dann komme ich vielleicht doch nicht zu spät zur Arbeit.“ Sie blickte zur Uhr. „Wenn ich die Kinder schnell genug wieder nach Hause bringe.“

„Soll ich euch fahren?“, bot Ben spontan an, und dafür erntete er einen strafenden Blick von Shayne.

Heather war schon mit Hannah an der Hand zur Tür gegangen. „Ich habe mein Auto dabei.“

„Ich fahre mit ihm“, entschied Hayley eifrig mit leuchtenden Augen.

Shayne hockte sich vor sie hin. „Tut mir leid, Honey, aber ich brauche ihn hier. Weißt du, er ist nämlich auch ein Doktor.“

Hayley zog die geschwungenen goldbraunen Augenbrauen zusammen, während sie über diese Information nachdachte. Dann blickte sie zu ihrem neuen Helden auf. „Bist du genau wie er?“

„Er arbeitet sich nach oben“, meinte Shayne hintergründig, während er sich aufrichtete und seinem Bruder eine Hand auf die Schulter legte.

„Und ich habe noch einen weiten Weg vor mir“, fügte Ben hinzu.

Prüfend sah Hayley von einem Mann zum anderen und sagte ganz ernst zu Ben: „Aber du bist doch viel größer.“

Amüsiert erklärte er: „Die Körpergröße zählt in diesem Fall nicht.“ Er blickte zur Tür und sah, dass Hannah das Gesicht in dem knappen Rock ihrer Mutter verborgen hielt.

Heather hatte aufregende Beine. Ben erinnerte sich, wie er sie verstohlen bei den Cheerleader-Übungen auf dem Spielfeld beobachtet hatte, anstatt den Anweisungen seines Trainers zu lauschen. Einen Moment nahm er sich Zeit, um den Anblick zu genießen – um der guten alten Zeiten willen.

„Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen, da du gerade hier bist?“, wollte Shayne von ihr wissen.

Sie schüttelte etwas zu schnell und zu nachdrücklich den Kopf.

„Nein, danke.“ Sie tastete hinter sich nach dem Türknauf und hielt sich förmlich daran fest. „Mitte des Monats kann ich dich bezahlen.“

Er winkte ab. „Das war eine kostenlose Nachbehandlung.“

„Danke.“ Heather nickte Ben knapp zu, drehte auf dem Absatz um und verließ die Praxis. Dabei musste sie Hayley förmlich mit sich zerren, die den Blick nicht von Ben abwenden konnte und mit der freien Hand eifrig winkte.

Shayne winkte zurück, obwohl er wusste, dass die Abschiedsgeste nicht ihm galt. Als sich die Tür schloss, sagte er zu Ben: „Bei Patienten unter einem Meter Körpergröße scheinst du ausgesprochen gut anzukommen.“ Er blickte in den Terminkalender und stellte fest, dass der nächste Patient erst in einer haben Stunde kommen würde. Zum Glück, denn er brauchte dringend einen Kaffee.

Shayne ging ins Hinterzimmer und schaltete die Kaffeemaschine ein. In letzter Zeit trank er Unmengen von Kaffee gegen die Erschöpfung, die ihn neuerdings immer mehr quälte. Bisher hatte er das für sich behalten können. Da er aber für Sydney wie ein offenes Buch war, würde es nicht lange dauern, bis sie sein kleines Geheimnis lüftete. Hoffentlich kehrte seine Energie vorher von selbst zurück.

Ben folgt ihm ins Hinterzimmer und entgegnete: „Nicht bei allen.“ Er blieb in der Tür stehen und lehnte sich an den Rahmen, denn das Zimmer, in dem ein Esstisch mit vier Stühlen stand, war zu klein, als dass sich zwei Personen darin hätten frei bewegen können. „Das größere Mädchen scheint Angst vor mir zu haben.“

„Hannah ist schüchtern. Sie war schon immer ungewöhnlich still. Bei der Geburt hat sie keinen Laut von sich gegeben.“ Shayne lächelte. „Heather machte sich zuerst sogar große Sorgen, weil Hannah nie geweint hat. Ich habe ihr gesagt, dass sie froh darüber sein soll. Erst nach Hayleys Geburt ist ihr klar geworden, welches Glück sie mit ihrer ältesten Tochter hatte.“

Ben nickte zerstreut. Ein anderer Gedanke beschäftigte ihn. Er konnte sich die zierliche Heather beim besten Willen nicht zusammen mit dem großen stämmigen Joe Kendall vorstellen, der viel eher mit Stahlträgern umgehen konnte als mit einer zerbrechlichen Frau im Arm. „Wie geht es Joe denn so? Ist er immer noch Bergmann?“

„Nein.“ Shayne löffelte reichlich Kaffeepulver in die Filtertüte. „Er ist tot.“

„Was soll das heißen?“

„Keine Atmung, kein Herzschlag. Exitus.“ Shayne schaltete die Kaffeemaschine ein und drehte sich zu Ben um. „Hast du den Grundkurs in Medizin verschlafen?“

„Ich meinte, wie er gestorben ist.“

„Minenunglück.“

Die Worte klangen gefühllos, aber Ben wusste es besser. Niemandem lagen diese Menschen mehr am Herzen als Shayne. Wann immer ein Bergwerk einstürzte, war er als Erster zur Stelle, um den Verletzten zu helfen und notfalls sogar selbst in den Schacht zu steigen. Er konnte all das Elend nur verkraften, indem er seine Gefühle für sich behielt und sich nach außen hin abschottete – wie damals, als ihre Eltern gestorben waren.

Ben dachte zurück an die Fernsehsendung, die er sich im vergangenen Monat angesehen hatte und die ihn dazu bewogen hatte, in seinen Heimatort zurückzukehren. Vielleicht stammte das Filmmaterial, das er gesehen hatte, von dem Minenunglück, bei dem Heathers Mann umgekommen war.

Er nahm die Tasse, die Shayne ihm reichte, und starrte in die pechschwarze dicke Flüssigkeit. „Du solltest die Schachtwände mit diesem Zeug streichen lassen. Sie würden nie wieder einstürzen.“

Shayne grinste und nahm einen Schluck, gerade als die Glocke an der Vordertür ertönte und eine tiefe volle Stimme „Morgen!“ rief. „Das ist Jimmy.“ Er leerte seine Tasse in einem Zug und eilte aus dem kleinen Zimmer. „Komm mit. Ich mache euch miteinander bekannt.“

Das Gebräu rüttelte Bens Körper wach. Er hatte vergessen, was für einen starken Kaffee Shayne kochte. Während er ihm folgte, lächelte er vor sich hin. Es war schön, wieder zu Hause zu sein.

Heather konnte sich nicht erinnern, wie sie die kurze Fahrt von der Praxis nach Hause geschafft hatte. Erst als sie einen Blick in den Rückspiegel warf, stellte sie überrascht fest, dass beide Mädchen ordnungsgemäß in ihren Kindersitzen angeschnallt waren. Sie starrte wieder durch die Windschutzscheibe, umklammerte das Lenkrad und kroch im Schneckentempo über die Straße.

Es war eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, denn in Hades herrschte praktisch kein Verkehr. Zu fast jeder Tageszeit hielten sich höchstens ein oder zwei Autos auf den drei Durchfahrtsstraßen auf. Wann immer sich mehr als drei Fahrzeuge in dieselbe Richtung bewegten, war von einem drohenden Verkehrsstau die Rede.

„Schneller, Mom, schneller!“, drängte Hayley. Sie wippte mit den Beinen vor und zurück, als könnte sie das Auto damit beschleunigen. „Sonst verpasse ich Celia Seal.“

Heather trat auf das Gaspedal. Die Tachonadel stieg auf rasante fünfundzwanzig Meilen. „Wir schaffen es schon.“

Hayley wirkte nicht überzeugt. „Wieso durften wir denn nicht mit dem Doktor fahren?“, schmollte sie.

„Vielleicht nächstes Mal.“

„Wirklich?“

Heather blickte in den Rückspiegel und sah Hayleys Gesicht strahlen. „Nein, nicht wirklich. Er hat andere Dinge zu tun.“

„Magst du ihn, Mom? Ich mag ihn. Er ist cool.“ Hayley unterstrich diese Erklärung mit einem Kichern, das sie dann mit beiden Händen vor dem Mund zu dämpfen versuchte.

Seufzend schüttelte Heather den Kopf. Wie die Mutter, so die Tochter. Nur dass sie selbst am eigenen Körper erfahren hatte, wie dumm sie gewesen war. Sie betete inbrünstig, dass Hayley niemals einem Mann begegnen würde, der ihre Welt derart auf den Kopf stellte.

Heather blickte erneut in den Rückspiegel und betrachtete Hannah, die in ihr übliches Schweigen verfallen war und sich nicht anmerken ließ, was sie von Ben hielt. „Hannah, was sagst du dazu? Magst du ihn?“

Hannah starrte aus dem Fenster und zuckte die Schultern, als fände sie das Thema vollkommen unwichtig.

Hayley wippte heftiger mit den Beinen und erklärte: „Die mag doch keinen.“

„Stimmt ja gar nicht“, protestierte Hannah.

Und schon geht’s wieder los, dachte Heather seufzend. Aber zumindest waren sie heil angekommen. Sie hielt direkt vor dem zweistöckigen Haus, das Joe eigenhändig für sie gebaut hatte. Es war ein Liebesbeweis gewesen. Jedes Mal, wenn sie es ansah, bekam sie Schuldgefühle, weil sie seine Gefühle nicht in selbem Maße erwidert hatte.

Es hat keinen Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Du hast getan, was für alle das Beste war.

Sie schaltete den Motor aus und ermahnte die Kinder: „Streitet nicht schon wieder. Ihr wisst doch, wie sehr es Grandma stört.“

„Die stört doch alles“, entgegnete Hayley mit einer Weisheit, die weit über ihre vier Jahre hinausging.

Sie hat recht, dachte Heather. Ihre Mutter hatte schon seit ewigen Zeiten zu allem und jedem etwas Abfälliges zu sagen und lächelte nie. Das Gesicht war zu einer dauerhaft griesgrämigen Maske erstarrt, die sie wesentlich älter wirken ließ, als sie tatsächlich war.

Heather unterdrückte einen Seufzer, als sie ausstieg. Nacheinander half sie den Mädchen aus den Kindersitzen, wie sie es schon so oft getan hatte, dass sich ihre Finger ganz automatisch bewegten.

Das Leben war seltsam. Mit achtzehn hatte sie sich vorgestellt, im Alter von dreißig, das sie inzwischen erreicht hatte, mindestens einen halben Kontinent entfernt von ihrer Mutter und von Hades zu wohnen. Sie hatte etwas Bedeutendes aus ihrem Leben machen wollen.

Doch dann war alles anders gekommen, wie es so im Leben häufig passierte. Es war die uralte Geschichte. In einer verhängnisvollen Nacht war Heather in den Bann des gut aussehenden Mannes geraten, für den sie seit ihrem zehnten Lebensjahr geschwärmt hatte. Sie hatte auf ihr Herz anstatt auf ihren Verstand gehört. Ein wundervolles Erlebnis war nicht ohne Folgen geblieben. Und noch bevor sie den Mut aufbringen konnte, dem Mann ihres Herzens mitzuteilen, dass er Vater wurde, hatte er ganz plötzlich die Stadt verlassen.

Nicht, dass er vorsätzlich gehandelt hatte. Er hatte nicht von der Schwangerschaft wissen können. Weder vor noch nach jener Nacht hatten sie eine Beziehung gehabt. An jenem Abend waren sie sich nur zufällig über den Weg gelaufen, hatten sich unterhalten, über ihre und seine Pläne für die Zukunft, über Sorgen und Zweifel und das Leben allgemein. Sie hatten beieinander Trost gesucht, nur für den Augenblick …

Nun erst wurde Heather bewusst, dass die Frage, die sie Ben vorhin in der Praxis gestellt hatte, unbeantwortet geblieben war. Er hatte ihr nicht verraten, wieso er wieder da war und wie lange er bleiben wollte. War es nur als ein kurzer Besuch gedacht, oder handelte es sich um einen längeren Aufenthalt?

Sie wusste selbst nicht, was ihr lieber gewesen wäre.

3. KAPITEL

Heather bugsierte die Kinder vor sich her ins Haus und rief: „Mom, wir sind wieder da!“

Die Dielen knarrten, als Martha in ihrem Rollstuhl auf den Flur rollte. „Hast du an meine Medizin gedacht?“

Lass uns bitte nicht wieder streiten, betete Heather im Stillen. Obwohl sie es besser wusste, hoffte sie zum Wohl der Kinder, dass ihre Mutter die Sache einfach auf sich beruhen lassen würde.

Sie schob die Mädchen in die Küche und sagte über die Schulter: „Tut mir leid. Ich hole sie nach der Arbeit ab.“ Ohne hinzusehen, spürte sie den verärgerten Blick ihrer Mutter im Rücken.

„Wenn du sie nicht wieder vergisst.“

„Ich werde bestimmt daran denken.“

„Heute Morgen hast du sie ja auch vergessen.“

„Da hatte ich es eilig“, gab Heather nur mühsam beherrscht zurück. Schließlich hatte sie die Medizin nicht absichtlich vergessen. Nur das Wiedersehen mit Ben hatte sie durcheinandergebracht. Außerdem war noch genügend Medizin für mehrere Tage im Haus.

„Und heute Abend wirst du müde sein“, wandte Martha ein.

„Dann hole ich sie eben in meiner Mittagspause.“ Als Heather sah, dass ihre Mutter den Mund zu einem weiteren Einwand öffnete, erklärte sie hastig: „Ich muss jetzt gehen.“ Sie wandte sich ab, umarmte und küsste nacheinander beide Mädchen und sagte: „Ihr zwei seid heute lieb und helft Grandma, okay?“

Hannah nickte und seufzte dabei leise. „Okay.“

Hayley dagegen schien protestieren zu wollen. Doch dann zuckte sie die Schultern. „Na klar, Mom.“

„So ist es brav.“ Lächelnd richtete Heather sich auf und ging zur Haustür. „Bis heute Abend.“

„Was macht der Ausschlag?“, wollte Martha wissen, während sie durch den Flur rollte.

„Er ist weg.“

„Das hätte ich dir auch sagen können. Dann hättest du viel Geld gespart.“

„Shayne hat nichts verlangt.“

„Das liegt wohl nur daran, dass er dir bei der Erstbehandlung zu viel berechnet hat.“

In Gegenwart der Kinder wollte Heather nicht streiten. Deshalb unterdrückte sie ihren Ärger, der ihr in letzter Zeit immer öfter hochkam. „Er hat nicht zu viel berechnet“, entgegnete sie frostig. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie durch ihre Mutter immer gefühlloser und mürrischer wurde. Mit einem Blick über die Schulter in die Küche rief sie den Kindern zu: „Bis heute Abend, Ihr Lieben!“

Gerade als sie zur Tür hinausgehen wollte, packte Martha sie am Arm und wollte wissen: „Was ist mit dir?“

Heather konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Mutter sie durchschaute, denn das hätte bedeutet, dass sie ein enges Verhältnis hatten. Und das war absolut nicht der Fall – ganz im Gegenteil. „Ich komme zu spät, Mom, das ist los mit mir.“

Doch Martha gab sich nicht mit der Antwort zufrieden. „Du zitterst.“

Hastig befreite Heather sich aus dem Griff und behauptete: „Ich habe letzte Nacht nicht genug geschlafen.“

„Was könnte dir denn schon den Schlaf rauben? Schließlich sitzt du nicht im Rollstuhl und musst nicht ständig zu allen Leuten aufblicken. Und du wirst auch nicht von allen Leuten bemitleidet.“

Heather war es leid, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, für die sie überhaupt nichts konnte. Außerdem hatte sie keine Zeit für aufmunternde Worte. „Das stimmt, Mom. Aber ich muss jetzt wirklich zur Arbeit. Wir können später darüber reden.“ Und damit lief sie aus dem Haus und schloss hastig die Tür hinter sich.

Sie wusste, dass die Verbitterung ihrer Mutter größtenteils auf der Krankheit beruhte, einer Muskelschwäche namens Myasthenia gravis, und sie bekam wieder einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie weder Zeit noch Lust hatte, ein paar Minuten länger zu bleiben und zu versuchen, Trost zu spenden. Aber sie wusste auch, dass Martha es manchmal geradezu genoss, in Selbstmitleid zu schwelgen, und dass Heather an diesem Morgen sowieso keine Chance hatte, ihre Mutter aufzuheitern.

Seufzend stieg sie in ihr Auto und fuhr los. Es gefiel ihr gar nicht, dass ihre Kinder Zeugen dieser Auseinandersetzung geworden waren. Aber es waren gerade Schulferien, und die Kindertagesstätte, die Shaynes Frau leitete, war in dieser Woche geschlossen. Sydney machte einen Kurzurlaub, was Heather ihr nicht verdenken konnte, aber es brachte sie in Bedrängnis.

Martha hatte sehr mürrisch auf die Bitte reagiert, in dieser Woche ein Auge auf die Kinder zu haben. Man hätte eigentlich annehmen können, dass sie es begrüßen würde, Gesellschaft zu haben, anstatt wie gewöhnlich den ganzen Tag allein zu sein. Aber manche Leute zogen sich eben lieber in ihr Schneckenhaus zurück.

Und es wird noch schlimmer, wenn sie von Bens Rückkehr erfährt, dachte Heather seufzend.

Martha hatte nie ein gutes Haar an ihm gelassen. Sein Charme prallte an ihr ab, was vielleicht daran lag, dass er sie in vieler Hinsicht an ihren Exmann erinnerte.

Heather hatte ihren Vater John Ryan zwar vergöttert, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass er so charmant gewesen war – oder so intelligent. Ben dagegen hatte einen scharfen Verstand. Er schien immer alles schneller und leichter als andere Menschen zu begreifen – auch als sein Bruder. Deswegen hatte er sein Medizinstudium überdurchschnittlich früh abgeschlossen.

Sie seufzte, als sie an der einzigen Ampel von Hades anhielt. Warum verteidigte sie Ben? Er brauchte sie nicht, und sie hatte genügend andere Dinge im Kopf, auch ohne dass sie sich Gedanken um ihn machte. Sie war längst nicht mehr das junge Mädchen, das hoffnungslos für ihn geschwärmt hatte, dem jeder Blick von ihm den Atem verschlagen hatte. Das alles lag eine Ewigkeit zurück.

Sie und Ben hatten nichts mehr gemeinsam.

Nichts außer Hannah.

Doch davon wusste er nichts. Niemand wusste davon, nicht einmal Shayne, der das Baby auf die Welt geholt hatte.

Die Schwangerschaftsdiagnose hatte sie zutiefst beängstigt. Doch dann war Joe ihr zu Hilfe gekommen – der arme liebe Joe Kendall, ihr schwerfälliger Riese, der ihr ergeben wie ein treuer Hund gewesen war. Der ihr versichert hatte, dass er sie für den Rest seines Lebens lieben und für sie sorgen würde, wenn sie ihn nur heiratete.

Also hatte sie es getan. Welche andere Wahl wäre ihr auch geblieben? Sie hatte nicht nur vermeiden wollen, dass sie als ledige Mutter geächtet wurde, sondern vor allem, dass ihrer Tochter der Makel eines unehelichen Kindes anhaftete.

Und selbst wenn niemand sonst in Hades sie je darauf angesprochen hätte, ihre Mutter hätte ihr den Fehltritt nie verziehen und vor allem dem Kind das Leben zur Hölle gemacht. Deshalb hatte Heather in die Heirat eingewilligt und sich geschworen, Joe eine gute Ehefrau zu sein.

Und die Ehe hatte tadellos funktioniert. Nichts wies darauf hin, dass Joe je den Verdacht geschöpft hatte, dass Hannah nicht von ihm sein könnte. Als sich dann Hayley angekündigt hatte, war er außer sich vor Freude gewesen.

Heather fuhr weiter in Richtung Norden durch den Ort. Im Geiste sah sie immer noch Joes strahlende Miene vor sich, als er ihr gesagt hatte, wie glücklich und wie dankbar er sei.

Das war am Abend vor dem Minenunglück gewesen.

Zumindest war er in dem Glauben an ihre Liebe gestorben. Und auf ihre Weise hatte sie ihn auch geliebt – wie einen sehr teuren Freund.

Ben dagegen hatte sie mit jeder Faser ihres jungen Herzens geliebt – so sehr, dass er es hatte merken müssen, wann immer er ihr nahe gekommen war. Ganz sicher hatte er in jener Nacht am See gespürt, was sie ihm nicht hatte sagen können: dass sie aus ihrer Sicht füreinander bestimmt waren.

Aber das hatte sich nur als jugendliche Träumerei erwiesen. Gut drei Wochen später war ihr zu Ohren gekommen, dass Ben mit einer anderen durchgebrannt war, und kurz darauf war zu allem Überfluss eine weitere Frau in Hades eingetroffen, der er in einem Brief die Ehe versprochen hatte.

Egal. Das ist alles Schnee von gestern, dachte Heather, als sie das Restaurant sah. Es hatte keinen Sinn, über diese alten Geschichten nachzudenken. Und schon bald würde auch Ben wieder der Vergangenheit angehören. Wahrscheinlich würde er demnächst von hier verschwinden, wie er es schon einmal getan hatte. Hades war zu klein, um ihn auf Dauer zu halten. Er mochte intelligenter als Shayne sein, aber er hatte nicht das Mitgefühl seines Bruders. Und davon brauchte man sehr viel, um in diesem unbedeutenden Ort zu leben und als Arzt zu praktizieren.

Nein, Ben würde nicht lange bleiben. Daher musste Heather lediglich noch die Tage bis zu seiner Abreise überstehen.

Eine Leere breitete sich in ihr aus, obwohl sie wusste, dass sein Abschied nicht nur unausweichlich, sondern auch für sie am besten war.

Heather parkte ihr zehn Jahre altes Auto, das nur durch June Yearling Quintanos geradezu wundersames Geschick als Mechanikerin in Gang gehalten wurde, und eilte in das gemütliche kleine Restaurant. Vielen Bergleuten und vor allem den zahlreichen Junggesellen von Hades war es zu einem zweiten Zuhause geworden, wo sie nicht nur gelegentlich, sondern ständig ihre Mahlzeiten einnahmen.

Aber jetzt war die Gaststube leer. Heather hatte den ersten Ansturm der Frühstücksgäste verpasst. Umso besser. Sie brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln.

Lily Quintano Yearling deckte gerade einen der Tische neu. Sie blickte auf und lächelte herzlich. „Ich dachte, du würdest heute erst nach neun kommen.“

„Ich hatte Glück und bin gleich drangekommen.“

„Wie geht es den Mädchen?“

„Sie sind wieder ganz gesund.“ Gott sei Dank, dachte Heather. Als die hässlichen Flecken aufgetreten waren, hatte sie ernste Komplikationen und sogar dauerhafte Narben befürchtet.

Lily strich die Tischdecke glatt und durchquerte den Raum. „Ich weiß nicht, wie du das alles schaffst. Du versorgst die Mädchen, die ganz schön anstrengend sind. Dann bist du für deine Mutter da. Und trotzdem arbeitest du dabei noch in Vollzeit.“

Nun, Heather packte die Dinge einfach so an, wie sie sich ergaben. Aber sie hatte sich ihr Leben früher ganz anders vorgestellt. Sie hatte davon geträumt, ein College zu besuchen, ihre künstlerische Ader zu entwickeln und etwas aus sich zu machen. Ihr Leben war voller Hoffnungen und Träume gewesen. Nun war es voller Rechnungen, die pünktlich bezahlt werden wollten.

„Ich tu eben, was getan werden muss“, erwiderte sie. Lächelnd blickte sie auf Lilys leicht gewölbten Bauch. Das Baby sollte in vier Monaten kommen. „Das wirst du auch bald feststellen. Ich bin überzeugt, dass nichts auf der Welt dich dazu bringen wird, zu Hause zu bleiben und nur Mutter zu sein.“

Lily war nie wie Heather auf sich allein gestellt gewesen. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte ihr älterer Bruder Kevin sich um sie und ihre Geschwister gekümmert. Und nun hatte sie ihren Mann. „Schon, aber ich habe keine Mutter, die ich versorgen muss, und ich werde mein Kind nicht allein erziehen.“ Betroffen presste sie die Lippen zusammen, bevor sie hastig erklärte: „Entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint. Max schimpft oft mit mir, weil ich immer so direkt bin.“

Heather stellte ihre Handtasche hinter den Tresen und band sich die kleine Servierschürze um. „Gegen Ehrlichkeit ist nichts einzuwenden.“

„Es sei denn, sie wird mit spitzer Zunge ausgesprochen“, entgegnete Max, der Sheriff von Hades. Er trat hinter seine Frau, legte ihr die Arme um die Taille und küsste sie in den Nacken, bevor er Heather zunickte und verkündete: „Jetzt, da Verstärkung hier ist, kann ich wieder für Sicherheit und Ordnung auf den Straßen von Hades sorgen.“ Er streichelte Lilys Bauch, bevor er um den Tisch herumging. „Pass gut auf den Kleinen auf.“

„Die Kleine“, widersprach sie.

Er beugte sich über den Tisch und küsste sie. „Das wird sich noch zeigen.“

Heather konnte einen Anflug von Wehmut nicht verhindern, während sie die beiden beobachtete. Sie wartete, bis Max gegangen war, bevor sie fragte: „Er freut sich wirklich darauf, Vater zu werden, oder?“

„Er fiebert förmlich vor Ungeduld. Ich fürchte, Max und Ursula werden mir keine Chance geben, das Baby im Arm zu halten, bevor es zur Schule kommt.“

Ursula Hatcher war Max’ Großmutter und die Postmeisterin von Hades. Sie hatte gerade zum vierten Mal geheiratet und kam täglich mindestens einmal vorbei, um sich nach dem Fortschritt der Schwangerschaft zu erkundigen.

„Zum Glück wird June vor mir entbinden.“ June war Max’ jüngere Schwester, die kürzlich ihre alte Autowerkstatt wieder eröffnet hatte – auf Anraten ihres Manns Kevin, der zufällig Lilys älterer Bruder Kevin war. „Da habe ich wirklich Glück“, schloss Lily lächelnd.

Dann, ganz unvermittelt, verzog sie das Gesicht und wurde ganz blass.

Heather erkannte die Symptome sofort. „Die morgendliche Übelkeit ist mal wieder da, oder?“

Lily schluckte schwer. „Sie war nie weg.“

„Dann geh.“ Heather legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu der Nische um, in der sich die Waschräume befanden. „Ich halte hier die Stellung.“

„Übernimmst du dich damit nicht?“

Die tiefe Stimme ließ Heathers Nacken prickeln. Abgesehen von diesem Morgen hatte sie Bens Bariton sieben Jahre nicht gehört, und doch schien der Klang unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt zu sein.

„Manchmal muss man eben über sich hinauswachsen.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, bevor sie sich zu ihm umdrehte. „Was kann ich für dich tun?“

„Die Frage müsste eher lauten, was ich für dich tun kann.“

Sein Lächeln ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen. Tief einatmen, ermahnte sie sich, als sich ihr Puls heftig beschleunigte. „Wieso das?“

„Deine Mutter hat in der Praxis angerufen.“

Heather ahnte nichts Gutes „Und? Was wollte sie?“

Ben nickte. „Sie hat gesagt, dass du vergessen hättest, ihre Medizin mitzubringen. Und sie hat darum gebeten, dass sie dir gebracht wird, weil du es sonst bestimmt wieder vergisst.“ Er sah sie belustigt an.

Heather errötete vor Verlegenheit. Ihre Mutter, die auch am Telefon kein Blatt vor den Mund nahm, hatte sich zweifellos über die Vergesslichkeit und Unfähigkeit ihrer Tochter ausgelassen. „Das tut mir leid.“

Sein Lächeln wurde breiter. Er legte eine Tüte mit den Medikamenten auf den Tresen. „Kein Problem. Shayne hat gesagt, dass er es auf ihre Rechnung setzt.“

Zögernd fragte sie: „Mit wem hat meine Mutter denn gesprochen?“

„Mit mir.“ Er versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, aber es wollte ihm nicht gelingen. „Sie hätte jedenfalls eine große Zukunft als Vernehmungsbeamtin vor sich, falls sie sich noch einmal neu orientieren möchte.“

Beschämt wünschte Heather, der Boden möge sich unter ihren Füßen auftun und sie verschlucken. Sie merkte kaum, dass sie „Oh Gott“ murmelte. Aber sie wurde sich sehr deutlich bewusst, dass ihre Mutter nun von Bens Rückkehr nach Hades erfahren hatte und Heather an diesem Abend in ein strenges Verhör nehmen würde. „Ich muss mich wirklich entschuldigen.“

„Wofür denn das?“

„Für das Verhalten meiner Mutter.“ Heather konnte sich gut vorstellen, mit welchen Fragen Ben bombardiert worden war. Sie wunderte sich nur, dass es ihm überhaupt gelungen war, das Telefonat zu beenden.

Sie ging durch das Restaurant und wünschte sich Gäste, die sie bedienen konnte. Normalerweise kamen nach der Frühstückszeit zumindest einige Nachzügler, die es nicht eilig hatten. Doch an diesem Tag war niemand da, der sie von Ben ablenken konnte, und das war ein Problem, denn schon bei seinem Anblick wurde ihr sehr warm.

„Meine Mutter hat die Angewohnheit, ganz spontan alles zu sagen, was ihr gerade in den Sinn kommt.“ Das war sehr schmeichelhaft ausgedrückt, aber Heather wollte sich nicht vor anderen Menschen über ihre Mutter beklagen. Um deren ungehöriges Verhalten irgendwie wiedergutzumachen, sah sie Ben entschuldigend an und fragte: „Möchtest du eine Tasse Kaffee?“

Ben lächelte. „Willst du mich damit entschädigen?“

„Ja.“

Lachend schüttelte er den Kopf. Martha Ryan hatte ihn mit bissigen und sarkastischen Fragen bombardiert, aber Heather sollte nicht glauben, dass er sie für das Verhalten ihrer Mutter verantwortlich machte. „Ich hätte gern einen Kaffee. Aber nur, wenn du mich dafür bezahlen lässt.“ Er schob ihr einen Geldschein hin. „Zum Mitnehmen, bitte. Ich habe Shayne versprochen, dass ich sofort zurückkomme. Er soll nicht denken, dass ich mich schon an meinem ersten Arbeitstag aus dem Staub gemacht habe.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

An der Imbisstheke im General Store oder im Salty Dog Saloon, den Ike und Lucy betrieben, war es gang und gäbe, Essen und Getränke mitzunehmen. In Lilys Restaurant dagegen war man darauf eingerichtet, dass sich die Gäste gemütlich hinsetzten und in aller Ruhe ihre Mahlzeit genossen, abseits der Hektik des Alltags.

Für die sehr seltenen Fälle, dass jemand eine Mahlzeit nicht beenden konnte, hatte Lily irgendwo Styroporbehälter zum Mitnehmen vorrätig. Heather ging in die Küche und überlegte, wo sie aufbewahrt wurden.

Nach wenigen Sekunden spürte sie, dass Ben ihr gefolgt war, und ihr Puls beschleunigte sich erneut. Als sie über die Schulter blickte, fühlte sie sich von seinem faszinierenden Lächeln gefangen. Es kostete sie Mühe, sich abzuwenden. „Ich bringe dir den Kaffee in die Gaststube“, versprach sie.

„Ich bin gern hier in der Küche“, entgegnete er. „Dann kann ich ein paar Minuten länger mit dir reden.“

Warum sollte er das wollen? fragte sie sich, während sie eine Schranktür nach der anderen öffnete und im dritten Hängeschrank schließlich Becher und Deckel fand. Als ihr ein möglicher Grund einfiel, versteifte sie sich.

Hatte Ben etwa die Wahrheit herausgefunden? Als er Hannah am Morgen in der Praxis ins Gesicht gesehen hatte, war ihm da die Ähnlichkeit mit sich selbst aufgefallen? Er hätte dem Krankenblatt sehr leicht das Geburtsdatum entnehmen und nachrechnen können. Da brauchte man kein Mathematikgenie zu sein, um die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, dass er der Vater sei.

Ihr Mund war plötzlich so trocken, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. Dennoch hakte sie nach: „Worüber willst du denn mit mir reden?“

Er setzte zu einer Antwort an, aber ihre Miene hielt ihn davon ab. „Du hast diesen Gesichtsausdruck.“

Sie hatte noch nie ein Pokerface machen können. All ihre Gedanken, all ihre Gefühle standen ihr immer ins Gesicht geschrieben, für die ganze Welt zu erkennen. Sie wäre eine lausige Spionin gewesen. Ein einziger Blick in ihre Augen hätte dem Feind alles verraten. Trotzdem gab sie nun ihr Bestes, um Unschuld vorzutäuschen. „Was für einen Gesichtsausdruck?“

„Den die Leute haben, wenn ihnen eine Finanzprüfung ins Haus steht und sämtliche Buchungsbelege angeblich bei einem Feuer verbrannt sind.“

Sie hob lässig eine Schulter und mied seinen Blick. „Tut mir leid. Ich bin nur ein bisschen angespannt.“

Ben dachte an das Telefongespräch von vorhin. „Lebst du mit deiner Mutter zusammen?“

„Als bei ihr Myasthenia gravis festgestellt wurde, hat Joe ihr ein Häuschen auf unserem Grundstück gebaut. Aber meistens hält sie sich im Haupthaus auf.“ Gleich nach Joes Tod hatte Martha das Gästezimmer im Erdgeschoss beschlagnahmt, das eigentlich als Spielzimmer für die Kinder gedacht war. „Also könnte man schon sagen, dass sie bei mir wohnt.“

Das erklärt manches, dachte Ben. Nach Marthas Anruf hatte er sich ihre Patientenkarte geholt und sich mit ihrem Fall vertraut gemacht. Die Krankheit, an der sie litt, hatte schon ganz andere Betroffene verbittert, und Martha hatte sowieso noch nie ein sonniges Gemüt gehabt.

Obwohl sonst niemand anders im Restaurant war, beugte er sich zu Heather vor und sagte leise: „Du hast eine Menge am Hals.“

Schwang da etwa Bewunderung in seiner Stimme mit? Heather bemühte sich, gelassen zu bleiben und vor allem zu ignorieren, dass sein Atem ihre Wange streifte und ihre Haut zum Prickeln brachte. Sie räusperte sich. „Nicht mehr als andere Leute auch.“

Er erinnerte sich, dass sie schon immer zu Bescheidenheit und Zurückhaltung geneigt hatte. Deswegen hatte ihn ihre Leidenschaft in der gemeinsamen Nacht auch so sehr überrascht.

Stille Wasser sind tief. Das war ihm schon oft in den Sinn gekommen, wenn er ihr in die Augen geblickt hatte.

„Die meisten Leute haben nicht ganz allein zwei kleine Kinder und eine kranke Mutter zu versorgen, schon gar nicht mit neunundzwanzig.“

„Ich bin schon dreißig“, korrigierte sie.

„Oh, das macht natürlich einen gewaltigen Unterschied. Dreißig! Damit stehst du praktisch mit einem Fuß im Grab.“

Manchmal fühlte sie sich auch so. Ausgemergelt und vorzeitig gealtert, vor allem nach einer Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Aber die Worte aus Bens Mund zu hören, noch dazu verbunden mit seinem strahlenden Lächeln, rief bei ihr Heiterkeit über ihre eigene Ernsthaftigkeit hervor.

Trotzdem wehrte sie sich dagegen, sich von seiner Unbeschwertheit anstecken zu lassen. Schließlich war sie kein unbekümmerter Teenager mehr. „Schwarz, nehme ich an?“

„Was meinst du damit? Ob ich auch so schwarzsehe wie du?“ Er hielt ihren Blick gefangen, während er den Kopf schüttelte. „Ich finde immer irgendwo einen Lichtblick im Leben.“

Sie presste die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken. „Ich meine den Kaffee.“

„Schwarz wie die Nacht. So stark wie nur möglich.“

Heather schüttelte sich, denn sie bevorzugte viel Sahne und Zucker. „Dann sollte ich wohl einen neuen kochen.“

Sein Blick glitt zu der Kaffeekanne, zu der sie gegriffen hatte. „Nein, der sieht doch gut aus.“

Er lächelte sie an. Ihr stockte der Atem, und ihr wurde ganz warm. Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Becher bis zum Rand füllte.

„Und wie ist es dir inzwischen ergangen?“

Heather stellte die Kanne ab und verschloss den Becher mit einem Plastikdeckel. „Seit ich die Praxis heute Morgen verlassen habe? Oder seit du Hades verlassen hast?“

„Letzteres.“

„Okay.“ Wie aus der Pistole geschossen zählte sie die Ereignisse ihres Lebens während der letzten sieben Jahre auf. „Ich habe geheiratet, zwei Kinder bekommen, bin Witwe geworden und arbeite seitdem hier.“ Sie holte tief Luft und zwang sich, Ben in die Augen zu sehen. „Das ist nicht gerade der Stoff für einen Bestseller.“

Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut, aber sie hielt seinem Blick stand. Ben sollte nicht glauben, dass sie etwas zu verbergen hatte. Wenn er Verdacht schöpfte, reimte er sich womöglich alles zusammen und erkannte, dass er ihr mehr als nur Erinnerungen an jene schicksalhafte Nacht hinterlassen hatte.

Nachdem sie den ursprünglichen Schock über die Schwangerschaft überwunden und die ernüchternde Tatsache verkraftet hatte, dass Ben aus Hades verschwunden war, hatte sie beschlossen, dass er niemals von seiner Vaterschaft erfahren sollte. Deshalb fügte sie nun hinzu, um seine Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken: „Du führst sicher ein aufregenderes Leben.“

Er lächelte. „Das finde ich nicht.“

Eindringlich musterte sie den Mann, der ihr vor so langer Zeit das Herz gestohlen hatte. Vielleicht war sein Leben doch nicht so sorglos verlaufen, wie sie bisher angenommen hatte. „Es tut mir leid mit dir und Lila.“ Als er sie mit hochgezogenen Brauen anblickte, erklärte sie hastig: „Ich meine … ich habe einfach angenommen, dass es mit euch nicht geklappt hat, weil sie nicht hier bei dir ist.“ Sie nagte an der Unterlippe und hakte nach: „Sie ist doch nicht hier, oder?“

Anstatt ihre Frage zu beantworten, erkundigte er sich: „Mache ich dich nervös?“

„Nein“, log sie. Aber sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen. „Ja“, korrigierte sie sich. Sie kam sich ziemlich dumm und hilflos vor. Wie musste das auf ihn wirken! Achselzuckend drehte sie den Kopf weg. „Ich weiß es nicht.“

Belustigt bemerkte er: „Es ist lange her, seit ich Multiple-Choice-Antworten bekommen habe.“ Er hob ihr Kinn, blickte ihr in die Augen. „Ich will dich nicht nervös machen, Heather.“

Um das zu vermeiden, hätte er die Stadt verlassen müssen, und zwar für immer. „Eigentlich machst du mich nicht nervös“, behauptete sie. „Ich habe heute nur keinen besonders guten Tag, und ich war etwas überrascht, dass du wieder hier bist.“

„Ich wette, du warst längst nicht so überrascht wie Shayne.“

„Wusste er denn auch nicht, dass du zurückkommst?“

Ben gefiel es, wie sich ihre Augen, die von einem leuchtenden Blau waren, vor Verblüffung weiteten. „Bis zur letzten Woche hatte ich doch selbst keine Ahnung.“

Mitgefühl spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. „Hat sie dich in der letzten Woche verlassen?“ Wiederum wurde ihr bewusst, dass sie voreilige Schlüsse zog. „Falls sie dich überhaupt verlassen hat“, fügte sie hastig hinzu.

Er hätte lügen können, um seinen Stolz zu wahren. Aber irgendwie erschien es ihm falsch, einer alten Freundin etwas vorzutäuschen, die so ehrlich und auf eine hinreißende Art unschuldig war. Außerdem würde die Wahrheit sowieso früh genug ans Licht kommen. Dafür würde Ursula schon sorgen. Sie verteilte nicht nur die Post, sondern verbreitete auch den neuesten Klatsch. Also nickte er. „Sie hat mich verlassen.“

Obwohl Heather es schon vermutet hatte, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass eine Frau Ben freiwillig verlassen würde. „Ich hätte nie gedacht, dass dir jemals so etwas passieren könnte.“

„Willkommen im Klub“, murmelte er spöttisch. Die Erfahrung mit Lila hatte seinen Optimismus gedämpft und ihn gezwungen, alles in seinem Leben zu überdenken, die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft.

Autor

Arlene James
Arlene James schreibt bereits seit 24 Jahren Liebesromane und hat mehr als 50 davon veröffentlicht. Sie ist Mutter von zwei wundervollen Söhnen und frisch gebackene Großmutter des, wie sie findet, aufgewecktesten Enkels aller Zeiten. Darum hat sie auch im Alter von 50 plus noch jede Menge Spaß. Sie und ihr...
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