Bianca Exklusiv Band 302

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  • Erscheinungstag 12.10.2018
  • Bandnummer 0302
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733940
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Daly Thompson, Karen Rose Smith, Marie Ferrarella

BIANCA EXKLUSIV BAND 302

1. KAPITEL

„Allie Hendricks ist wieder da.“

Mike Foster wollte gerade seinen Lieferanten anrufen, um ihm wegen einer verspäteten Lieferung den Marsch zu blasen. Bei den Worten legte er das Telefon jedoch wieder hin und starrte seinen Koch Barney verblüfft an. „Allie? Kann nicht sein. Es ist doch Semesterbeginn.“

„Ich weiß bloß, dass sie zurück ist.“

„Vielleicht nur über das Wochenende?“

Kunstvoll wendete Barney ein paar Eier. „Nein, sie hat das Medizinstudium abgebrochen. Ist gestern Abend einfach so bei ihrer Mutter aufgetaucht und hat die Bombe platzen lassen. Elaine hat fast der Schlag getroffen.“

Mike war schockiert. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Eine echte Schande“, fuhr Barney fort. „Wenn jemand das Zeug zur Ärztin hat, dann mit Sicherheit Allie. Da sieht man mal wieder, dass man niemanden wirklich einschätzen kann – ganz egal, wie lange man ihn kennt.“

Mike nickte geistesabwesend. Stimmt, manche Menschen waren unberechenbar. Vor wenigen Sekunden hätte er allerdings noch geschworen, dass Allie nicht dazugehörte. Sie war immer so zielstrebig gewesen.

Mit sechzehn Jahren war sie zum ersten Mal in seinem neu eröffneten Diner aufgetaucht. Und schon damals hatte sie genau gewusst, was sie werden wollte: Ärztin. Dieses Ziel hatte sie mit aller Hartnäckigkeit verfolgt. Niemand hatte auch nur ansatzweise daran gezweifelt, dass sie es erreichen würde.

Vor lauter Verwunderung vergaß Mike um ein Haar seinen Anruf. „Warte mal kurz“, sagte er zu Barney und wählte erneut. Als er den Lieferanten endlich am Telefon hatte, gab er ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er das Fleisch sofort brauchte – schließlich sei das Diner kein vegetarisches Restaurant. Doch kaum hatte er aufgelegt, kehrte er wieder zum Thema Allie zurück.

„Warum hat sie das Studium abgebrochen?“

„Keine Ahnung. Über die Gründe weiß ich nichts Näheres.“

Mike war genervt. Typisch Kleinstadt! Die Gerüchteküche brodelte ständig, aber meistens wusste niemand etwas Genaues. Dabei musste offenbar etwas Schwerwiegendes passiert sein, wenn Allie das Studium abgebrochen hatte. War sie von der Uni geflogen? Ausgeschlossen. Überfordert? Quatsch, nichts hatte Allie je überfordern können. Hatte sie womöglich Liebeskummer?

„Alles okay mit dir?“ Barney warf Mike einen raschen Seitenblick zu, bevor er sich wieder dem Grill zuwandte.

„Klar“, antwortete Mike.

In diesem Augenblick kam Maury, einer der Pflegesöhne seines Bruders Daniel, zur Hintertür herein. „Hey, Mike! Ich soll dir von Daniel ausrichten, dass Allie Hendricks in der Stadt ist.“

„Habe ich gehört“, erwiderte Mike lächelnd. Er mochte alle Söhne von Daniel, aber zu Maury hatte er ein besonders enges Verhältnis: Sie beide verband die Leidenschaft fürs Kochen. Ihm graute daher bereits vor dem Ende der Ferien, weil Maury dann nicht mehr so oft im Diner arbeiten konnte.

„Darf ich heute das marokkanische Hähnchen zubereiten?“, fragte Maury eifrig, wobei ihm offenbar das Wasser im Mund zusammenlief.

„Klar, du kannst schon mal das Gemüse klein schneiden“, gab Mike zurück. „Die Hähnchenteile sind bloß noch nicht da.“

Mike hatte sein Restaurant nach sich selbst benannt: Mike’s Diner war mittlerweile das beliebteste Lokal in Serenity Valley, einem abgeschiedenen Tal im Süden des US-Bundesstaates Vermont. Die Stammgäste kamen aus den drei Städten im Tal: aus LaRocque, wo sich das Diner selbst befand, aus Holman im Süden und aus Churchill auf der anderen Seite des Flusses. Mike servierte alles, was in einem Diner so üblich war. Sein exzellenter Ruf gründete sich allerdings vor allem auf die täglich wechselnde Tagesspezialität.

Der Laden brummte. Noch dazu hatte Mike Familie: seinen älteren Bruder Daniel und den jüngeren, Ian. Das Leben war schön.

Aber das war nicht immer so gewesen. Mike war als Kind von seinen Eltern vernachlässigt worden und hatte sich zu einem rebellischen Teenager entwickelt. Nachdem er mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, hatten seine Eltern ihn kurzerhand enterbt.

Daraufhin war er in einer Erziehungsanstalt gelandet, in der er Daniel und Ian begegnet war. Die drei äußerlich und charakterlich total unterschiedlichen Jungen verband ein gemeinsames Ziel – aus ihren Fehlern zu lernen und ehrliche und hart arbeitende Bürger zu werden.

Und dieses Ziel hatten sie erreicht. Daniel war inzwischen Tierarzt, Ian Geschäftsmann und Schafzüchter, und Mike besaß das Restaurant. Auf dem Weg zum Erfolg hatten sie sich gegenseitig stets unterstützt. Und da sie alle ihre Nachnamen in Foster geändert hatten, galten sie in den Augen der Öffentlichkeit als Brüder. Die Menschen im Tal wussten nichts über ihre Vergangenheit. Das war den Foster-Brüdern nur recht. Schließlich spielte es keine Rolle mehr, was sie als Jugendliche angestellt hatten. Wichtig war nur das Jetzt.

Mike öffnete sein Diner jeden Morgen um sieben Uhr, bewältigte den Frühstücksandrang und bereitete danach das Mittagessen vor. Sobald es nachmittags ruhiger wurde, widmete er sich dem allabendlich servierten Tagesgericht. Hilfe bekam er dabei von Barney, Maury und den beiden Vollzeitkellnerinnen Becky und Colleen.

Dank Maurys Anwesenheit hatte Mike die Zeit, mit den frühen Mittagsgästen zu sprechen. „Hallo, Ray. Hallo, Ed“, begrüßte er zwei Lokalpolitiker. „Es sind noch jede Menge Tische frei.“ Während er ihre Bestellungen aufnahm, wanderten seine Gedanken allerdings immer wieder zu Allie.

Die intelligente, freundliche, fleißige und hübsche – nun ja, auf ihre Art sogar schöne – junge Frau hatte bisher jeden Sommer und in den übrigen Ferien bei ihm als Kellnerin gejobbt. Natürlich hatte er ihr herzlich gratuliert, als sie endlich den ersehnten Studienplatz für Medizin bekommen hatte. Insgeheim hatte er jedoch den Verlust seiner besten, aber eben auch überqualifizierten Kellnerin bedauert.

Nachdem Mike weitere Mittagsgäste zu ihren Tischen geleitet hatte, kehrte er in die Küche zurück. Während Maury Mandeln und getrocknete Aprikosen hackte, machte er sich dort an die Vorbereitung des inzwischen gelieferten Hähnchens.

Plötzlich tauchte Becky neben ihm auf. „Allie Hendricks ist wieder da“, erzählte sie strahlend. „Sie ist zum Mittagessen gekommen.“

Mike war erstaunt, wie sehr er sich über diese Mitteilung freute. Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, ging er in den Speisesaal. Suchend sah er sich nach Allie um. Allerdings erkannte er sie erst auf den zweiten Blick. Konnte diese umwerfende Brünette hier wirklich Allie sein?

Plötzlich verspürte er das brennende Verlangen, seine Frisur im Spiegel zu kontrollieren. Wie albern! Schließlich kannte er Allie doch seit Jahren. Sie war wie eine kleine Schwester für ihn. Was spielte sein Aussehen da schon für eine Rolle? Ihr Aussehen dagegen warf ihn um.

Sie wirkte viel reifer und … kultivierter als früher. Aus der schüchternen Leseratte war eine selbstsichere und elegante Frau geworden. Die Allie von früher hatte immer einen Pferdeschwanz getragen, während ihr heute das dunkle glänzende Haar offen auf die Schultern fiel.

Automatisch musterte Mike sie von Kopf bis Fuß – aber das hätte ja jeder normale Mann getan. Ihr leuchtend roter Rollkragenpullover brachte ihre Haut zum Leuchten und verlieh ihren braunen Augen einen intensiveren Ton. Und in dem schwarzen Rock und den Stiefeln sah sie absolut … weiblich aus.

Langsam ging er auf sie zu. Beim letzten Mal hatte er sie zur Begrüßung umarmt, doch das kam ihm jetzt irgendwie unangebracht vor. Also streckte er nur die Hand aus und schenkte ihr ein brüderliches Lächeln. „Hey, Allie! Schön, dich wiederzusehen.“

Überrascht hob Allie eine Augenbraue und schüttelte seine Hand.

„Trägst du dein Haar jetzt etwas länger? Steht dir gut.“

„Äh, danke.“ Mike spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Deine Frisur gefällt mir auch.“

Allie unterdrückte ein Lächeln. „Und? Wie läuft es so?“

„Gut … sehr gut sogar.“ Mike räusperte sich verlegen. Ihm war bewusst, dass er sich gerade wie ein Idiot benahm, aber er war machtlos dagegen. Jede einzelne seiner Körperzellen schrie danach, mit dieser tollen Frau zu flirten. Dabei handelte es sich doch um Allie, die nach wie vor acht Jahre jünger war als er! Komisch, auf einmal kam ihm dieser Altersunterschied gar nicht mehr so groß vor.

Mike versuchte, sich zusammenzureißen. Allie war nämlich nicht nur viel jünger als er, sondern steckte offensichtlich auch mitten in einer Krise. Immerhin hatte sie ihr Medizinstudium abgebrochen. Auf keinen Fall war dies der richtige Zeitpunkt für Annäherungsversuche.

„Also bleibst du uns eine Weile erhalten?“, fragte Mike und führte Allie an einen der abgeschiedeneren Tische.

Sie setzte sich und sah ihn an. „Ja. Ich brauche einen Job.“

„Einen Job?“, wiederholte Mike verblüfft.

„Natürlich nur, falls du Hilfe brauchst.“ Sie blickte sich im Diner um und schien plötzlich etwas weniger selbstsicher. „Sieht ganz so aus, als hättest du alles bestens unter Kontrolle. Na ja, ich wollte auch nur mal vorbeischauen, um …“

Mike hatte sich bereits von seiner Verwunderung erholt. „Natürlich kannst du hier aushelfen“, unterbrach er sie. „Aber warum willst du ausgerechnet wieder als Kellnerin arbeiten?“

Sie sah ihn mit jenem direkten Blick an, der so typisch für sie war. „Wie du bestimmt schon gehört hast, habe ich mir ein Semester freigenommen. Ich brauche Zeit, um nachzudenken.“

Das war Mike zwar neu, aber er nickte trotzdem.

„Ich brauche Arbeit, damit ich meiner Mutter Miete zahlen kann und …“

Mikes Verblüffung schien ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn sie fügte rasch hinzu: „Nein, sie hat mich nicht darum gebeten. Aber sie ist ganz außer sich über meine Rückkehr. Ich möchte mich einfach nur …“

„… etwas unabhängiger fühlen?“, ergänzte Mike.

„Stimmt genau“, antwortete sie seufzend.

Mike fiel plötzlich auf, wie sinnlich ihre Lippen mit dem glänzenden roten Lippenstift aussahen. Sein Körper reagierte sofort. Nicht gut. Er musste dringend seine Hormone im Zaum halten.

„Danke, Mike“, sagte Allie leise. „Hoffentlich gibst du mir den Job nicht nur, weil …“

„Du bist die beste Kellnerin, die ich je hatte“, unterbrach Mike sie lächelnd. „Wann kannst du anfangen?“

„Heute Abend?“

Mike nickte und schob vorsorglich seinen Stuhl zurück, um etwas Abstand zu ihr zu bekommen.

„Vielen Dank noch mal“, flüsterte sie. Gott, hatte sie ein umwerfendes Lächeln!

„Keine Ursache.“ Verzweifelt zermarterte Mike sich das Hirn, wie er sich am elegantesten von ihr verabschieden konnte. Doch ihm fiel nur das Naheliegendste ein – Essen. „Wie wär’s mit einem Stück Schoko-Baiser-Torte?“

„Du kannst dich noch an meinen Lieblingskuchen erinnern?“, fragte Allie. Sie klang dabei so dankbar, dass Mike sofort wieder ganz seltsam zumute wurde. Verdammt! Am besten verzog er sich in die Küche. „Na klar.“

Mike stand auf und bat Colleen, Allie ein Stück Kuchen zu bringen. Dann winkte er ihr zum Abschied zu – und brachte sich schleunigst in Sicherheit. Seine körperliche Reaktion kam nicht nur total überraschend, sondern war ihm auch noch äußerst peinlich.

„Hör sofort auf damit!“, mahnte er sich selbst leise, als er in die Küche kam.

„Womit soll ich aufhören?“ Maury blickte verwirrt auf. „Ich wollte gerade mit den Karotten anfangen.“

Mike warf einen Blick auf Maurys Arbeitsplatz und war überrascht, wie weit der Junge schon gekommen war. Er hatte wirklich eine vielversprechende Zukunft vor sich.

Mit einem Mal wurde ihm klar, dass Maury noch auf eine Antwort wartete. „Ach so, ja klar, die Karotten“, erwiderte er lahm.

In diesem Augenblick erschien Colleen in der Schwingtür. „Mike, ein Anruf für dich!“

Dankbar für die willkommene Ablenkung, ging Mike in sein Büro. „Mike’s Diner?“, meldete er sich.

„Könnte ich bitte mit Michael Foster sprechen?“, fragte jemand knapp.

„Am Apparat“, antwortete Mike und wurde daraufhin weiterverbunden. Während er wartete, lief er auf und ab. In Gedanken war er noch immer bei Allie. Als er in den Speisesaal spähte, sah er sie mit einigen der Gäste lachen. Aufstöhnend zog er sich in sein Büro zurück.

„Mike!“, rief ein Mann am anderen Ende der Leitung. „Hier ist Richard Stein. Ich arbeite für Abernathy Foods und interessiere mich für Ihr Restaurant.“

„Es ist nicht zu verkaufen“, gab Mike zurück und wollte schon auflegen.

„Nein, darum geht es nicht“, unterbrach Stein ihn hastig.

Mike presste den Hörer wieder ans Ohr. „Wollen Sie einen Tisch reservieren?“, fragte er vorsichtig. „Wir machen nämlich grundsätzlich keine Reservierungen, und …“

„Nein“, wiederholte der Mann und lachte betont lässig. „Ich meine, natürlich würde ich sehr gern bei Ihnen essen. Allerdings wohne ich in New York und habe nicht viel Zeit für …“

„Ich habe auch nicht viel Zeit, Mr. Stein“, fiel Mike ihm ins Wort. „Hier herrscht gerade großer Andrang.“

„Es dauert nur eine Minute“, bat Stein ihn. „Ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, Mike’s Diner in eine Restaurantkette zu verwandeln. Vor ein paar Monaten habe ich eine tolle Kritik über Sie im Boston Globe gelesen, und wir haben ein paar Leute zu Ihnen geschickt, um Sie auszutesten. Unsere Mitarbeiter haben wahre Lobeshymnen auf Sie angestimmt. Daraufhin haben wir alles durchkalkuliert. Besuchen Sie uns doch demnächst in New York und hören sich unser Angebot an.“

„Was?“, fragte Mike. Ihm schwirrte der Kopf. Wovon sprach der Kerl eigentlich? Erneut schweiften seine Gedanken zu Allie ab. Ob sie immer noch da war?

Ohne nachzudenken, trat Mike an die Tür. Allie nahm gerade ihre Tasche und ihr Jackett und ging auf Colleen und Becky zu. In diesem Moment drehte sie sich zu ihm um – es war, als hätte sie seinen Blick gespürt. Mike hob eine Hand zum Abschiedsgruß, und sie winkte lächelnd zurück. Worüber wollte sie bloß so dringend zu Hause nachdenken?

„… werden ein paar Restaurants von Ihrer Sorte eröffnen“, hörte Mike Stein nun sagen. „Wir fangen erst einmal klein an, indem wir uns auf Vermont beschränken. Wenn alles gut läuft, werden wir … Mike? Sind Sie noch dran?“

Mike riss sich zusammen. „Tut mir leid“, erwiderte er. „Am besten geben Sie mir Ihre Telefonnummer, und ich rufe Sie später zurück. Ich habe im Augenblick zu viel zu tun.“

„Selbstverständlich“, antwortete Stein. „Die Gäste haben schließlich Vorrang, oder?“ Er ratterte eine Nummer herunter und wiederholte seinen Namen und den seiner Firma Abernathy Foods. Mike notierte sich die Informationen, obwohl er sich nicht sicher war, ob er überhaupt zurückrufen wollte. Aus irgendeinem Grund behagte ihm Steins Vorschlag nicht.

„Wann kann ich mit Ihrem Rückruf rechnen?“, wollte Stein wissen.

Mike brachte es nicht fertig, nie zu sagen. „Äh, halb drei?“

„Klasse“, meinte Stein erfreut. „Bis dann.“

Mit dem Hörer in der Hand beobachtete Mike, wie Allie Becky und Colleen zum Abschied umarmte. Sie winkte einigen Gästen zu und verließ das Diner.

„Er hat dir einen Job gegeben?“, fragte Elaine Hendricks sichtlich gerührt.

„Ja, Mom. Mike hat mich eingestellt“, antwortete Allie und lächelte zaghaft.

Elaine schniefte. Offenbar war sie den Tränen nah. Das Schlimmste war jedoch, dass sie gerade gebacken hatte – kein gutes Zeichen. Das tat sie immer, wenn es ihr richtig schlecht ging. Sie behauptete, dass ihr das den Psychiater ersparen würde.

Allie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Ich bin ihm wirklich dankbar dafür“, fuhr sie fort. „So habe ich mein eigenes Geld und kann dir ein bisschen Miete zahlen.“

„Ich will aber keine Miete!“, hielt Elaine dagegen, eine Dose ihrer legendären Zuckerkekse in der Hand. „Und ich will nicht, dass du als Kellnerin arbeitest. Bist du dafür nicht ein bisschen überqualifiziert?“

Prompt fühlte Allie sich schuldig. Sie wusste, dass Elaines Witwenrente ihr keine großen Sprünge erlaubte. Es verlangte ihrer Mutter große Opfer ab, sie auf die Universität zu schicken. Trotzdem wehrte sie sich innerlich dagegen, sich Schuldgefühle einreden zu lassen. Halbherzig weiterzustudieren und eine zweitklassige Ärztin zu werden war schließlich auch keine Lösung. „Ich will in aller Ruhe darüber nachdenken, was ich beruflich machen will. Dabei kann ich das Geld gut gebrauchen“, erklärte sie fest.

„Du wolltest doch immer Ärztin werden!“

„Früher schon“, antwortete Allie. „Aber wie sich herausgestellt hat, ist das nicht das Richtige für mich.“

„Wenn du dich hier erst einmal niederlässt, bleibst du vielleicht für den Rest deines Lebens Kellnerin“, meinte ihre Mutter traurig. „Du wärst nicht die Erste, der das passiert.“

Allie machte sich mit einem Teller Kekse und ihrer Tasse so rasch auf den Weg in ihr Zimmer, dass der Tee beinahe überschwappte.

Dieser Raum war stets ihr Zufluchtsort gewesen, auch wenn sie sich damals nie so allein und hilflos gefühlt hatte wie jetzt. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt. Der Tod ihres Vaters hatte sie und ihre Mutter noch enger zusammengeschweißt. Aber diese Nähe war plötzlich verschwunden.

Einen Tag zuvor war Allie ohne Ankündigung nach Hause zurückgekehrt – sie war bemüht, die unvermeidliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter so lange wie möglich hinauszuzögern. Inzwischen zweifelte sie jedoch an der Richtigkeit dieser Entscheidung. Ihre unerwartete Rückkehr hatte ihrer Mutter einen gewaltigen Schock versetzt.

„Wie konntest du nur?“, hatte Elaine geschluchzt. „Wie kannst du bloß eine so vielversprechende Karriere wegwerfen?“

„Es ist noch gar nichts entschieden. Ich brauche einfach Zeit zum Nachdenken.“

Doch diese Erklärung hatte ihre Mutter nicht beruhigt.

Frustriert suchte Allie nun im Schrank nach den schwarzen Hosen und den weißen Blusen, die sie als Kellnerin immer getragen hatte.

Und da waren sie: sauber, gestärkt und perfekt gebügelt.

Allie sah sich um. Ihr Zimmer hatte sich seit der Highschoolzeit nicht verändert. Die Tapete mit den rosa Blumen war zur Hälfte mit Fotos, getrockneten Anstecksträußen, alten Einladungen und Urkunden bedeckt – mit ihrer ganzen Vergangenheit. Nur von dem Menschen, der sie heute war, gab es keine Spur.

Dabei wurde Allie klar, dass sie keine Ahnung hatte, wer sie wirklich war. Ihr Leben lang hatte sie genau gewusst, was sie werden wollte. Unbeirrt hatte sie ihr Ziel verfolgt. Bis vor ein paar Monaten. Bis sie sich endlich die Wahrheit eingestanden hatte: dass ihre Entscheidung, Ärztin zu werden, ein Fehler gewesen war. Sie würde nie gut genug sein, um ihren eigenen hohen Erwartungen gerecht zu werden.

Diese Erkenntnis hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte den Sommer über mit sich gehadert und sogar einen Psychologen aufgesucht. Erst danach hatte sie sich dazu entschlossen, das Medizinstudium abzubrechen.

Bei der Erinnerung stieg Panik in ihr auf. Allie versuchte, die Angst zu verdrängen. Sie würde schon eine Lösung finden und einen neuen Weg einschlagen – sie war immer sehr zielstrebig gewesen.

Dass sie nun doch keine Ärztin werden würde, bedeutete schließlich nicht das Ende der Welt. Es war nur ein kleiner Umweg.

Gerade knöpfte sie ihre weiße Bluse zu, als es an der Tür klopfte. „Komm rein, Mom“, rief sie. Oh nein! Bitte nicht schon wieder.

Elaine betrat das Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Sie war eine sehr hübsche blonde Frau, wenn auch etwas kräftig nach all den Jahren mit Backen und Kochen.

„Ich habe nachgedacht“, erklärte Elaine langsam. „Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.“

Allie ließ die Hände sinken.

Oje, was kommt jetzt? Eine Geschichte über ein Mädchen, das nicht auf seine Mutter gehört hat und das zur Strafe in einen Leguan verwandelt wurde?

„Kurz vor der Hochzeit mit deinem Vater“, begann Elaine, „bekam ich plötzlich kalte Füße.“

Okay, damit hatte Allie nicht gerechnet. „Niemals!“, protestierte sie. „Du hast immer gesagt, du hättest auf den ersten Blick gewusst, dass er der Richtige ist.“

„Stimmt – bis ich den Verlobungsring am Finger trug. Dann kamen mir plötzlich Zweifel.“ Elaine schürzte die Lippen. „Ich werde es nie vergessen. Meine Mutter passte mir damals das Hochzeitskleid an. Als sie gerade den Reißverschluss zuziehen wollte, rief ich: ‚Halt!‘ Ich habe das Kleid ausgezogen. Anschließend habe ich eine Tasche gepackt, habe die Anleihen eingelöst, die meine Großmutter mir hinterlassen hatte, und bin nach Las Vegas gefahren.“

Allie schwirrte der Kopf. „Las Vegas?“, wiederholte sie.

„Ich habe mich am Swimmingpool gesonnt, Liebesromane gelesen oder Fernsehserien um perfekte Familien geguckt. Ich habe einfach alles getan, um mich jung zu fühlen. Und außerdem habe ich mich mit frisch verheirateten und frisch getrennten Frauen unterhalten. Sie haben mir alle erzählt, sie hätten geglaubt, den richtigen Mann gefunden zu haben.“

Allie nickte. Ihre innere Anspannung ließ etwas nach. Schließlich wusste sie, wie die Geschichte ausging.

„Und was hat Dad gemacht, während du … nachgedacht hast?“

„Er hat mich jeden Abend angerufen und mich gefragt, wann ich zurückkommen würde. Jedes Mal habe ich ihm geantwortet, dass ich es nicht wüsste. Als ich eines Tages lesend am Pool lag, spürte ich dann, dass mich jemand beobachtete. Ich sah auf – und da stand er. Er hat sich auf die Liege neben mir fallen lassen, und der Rest ist Geschichte.“

Allie setzte sich neben ihre Mutter und legte den Arm um ihre Schultern. „Du bist also weggelaufen. So wie ich.“

Elaine nickte traurig. „Das fiel mir erst heute Morgen wieder ein. Ich bin damals genauso weggelaufen wie du jetzt. Ich bin eine Heuchlerin. Es tut mir leid.“

„Aber am Ende hast du die richtige Entscheidung getroffen.“ Allie musste an ihren großen, gut aussehenden und sanftmütigen Vater denken. Er hatte sie und ihre Mutter über alles geliebt.

„Stimmt“, erwiderte Elaine. „Und das wirst du auch, Schatz.“

„Danke, Mom“, sagte Allie und drückte ihre Mutter an sich.

„Ich war damals so schrecklich faul in Las Vegas“, fuhr Elaine lächelnd fort. „Und du hast dir sofort einen Job besorgt. Wärst du vielleicht bereit, zusätzlich eine ehrenamtliche Aufgabe zu übernehmen?“

„Na klar“, gab Allie zurück. Sie war so erleichtert, dass sie sogar freiwillig Mist geschaufelt hätte. „Worum geht es denn?“

„Daniel Fosters Frau Lilah plant ein Wohltätigkeitsdinner für das neue Waisenhaus.“

„Das Heim, das Daniel gerade baut?“

„Stimmt. Es soll so eine Art SOS-Kinderdorf werden: Pro Haus werden sich jeweils eine Pflegemutter und ein Pflegevater um die Kinder kümmern.“

„Eine tolle Sache“, meinte Allie.

„Ich bin Leiterin des Finanzkomitees und dafür zuständig, Geschäftsleute um Spenden zu bitten. Lilah sucht noch jemanden, der das eigentliche Dinner organisiert – das Essen, die Räumlichkeiten, die Dekoration und so weiter. Und da Mike das Catering übernimmt, kam ich sofort auf dich.“

Als ihre Mutter Mikes Namen erwähnte, schweiften Allies Gedanken ab. Mit der neuen Frisur sah er richtig gut aus. Sie hatte sich sehr gefreut, ihn wiederzusehen. Und sie konnte es kaum erwarten, heute Abend mit ihm zusammenzuarbeiten. Seine Gegenwart tat ihr einfach gut. Vielleicht könnte er ihr ja dabei helfen, herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.

Sie lächelte ihre Mutter an. „Klingt super, Mom. Ich übernehme das gern.“

„Klasse. Lilah wird sich freuen.“

2. KAPITEL

Im Diner lief alles wie üblich. Becky und Colleen gaben im Sekundentakt ihre Bestellungen an die Küche weiter, Barney grillte das Georderte mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und Mike kochte. Gelegentlich klingelte das Telefon. Mike blendete das störende Geräusch jedoch aus, um sich voll aufs Kochen konzentrieren zu können – obwohl er sich ständig dabei ertappte, wie seine Gedanken zu Allie wanderten.

Warum hatte er sie nicht gebeten, erst am nächsten Abend oder am Wochenende zu kommen? Dadurch hätte er genug Zeit gehabt, ihr plötzliches Auftauchen zu verarbeiten. Wenn sie andererseits in ihrer schwarzen Hose und der weißen Bluse hereinkam, würde er vielleicht nur die Allie von früher in ihr sehen. Alles wäre wieder in Ordnung.

Es war halb zwei, als Becky plötzlich in die Küche stürmte. „Mike, da ist ein Anwalt für dich am Apparat. Er sagt, es sei dringend.“

Das musste Stein sein. Hatte er beim letzten Gespräch erwähnt, dass er Anwalt war? Mike konnte sich nicht erinnern. „Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn um halb drei zurückrufe“, antwortete Mike geistesabwesend. „Richte ihm aus, dass es nicht eher geht.“

Damit ging Becky zum Tresen zurück.

„Was ist los?“, rief Barney zu ihm herüber.

„Ein Typ aus New York will aus dem Diner eine Kette machen.“

„Was?“, fragte Barney entgeistert.

„Ja. Er will mir ein Angebot machen, und dafür soll ich nach New York kommen. Was hältst du von der Idee?“

Barney kratzte sich am Kopf. „Ich weiß nicht recht. Vielleicht solltest du dir erst mal anhören, was er zu sagen hat.“

„Könntet ihr denn allein die Stellung halten?“

Barney hob die Brauen. „Na klar“, antwortete er und warf einen Blick zu Maury, der gerade in die Küche kam. „Der Kleine hier wartet doch nur auf eine Chance, sich zu beweisen.“

Mike lachte. „Du hast recht.“

Als der größte Mittagsandrang vorbei war, kamen Becky und Colleen in die Küche. Die beiden wollten Mike mitteilen, dass sie jetzt Pause machen würden. „Versprichst du mir, den Anwalt zurückzurufen?“, fragte Becky Mike. „Es klang wirklich eilig.“

Mike hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Was wusste er schon über solche Geschäfte? Nicht viel mehr, als dass Läden wie McDonald’s und Starbucks sich wie die Kaninchen vermehrt hatten – und dass die Hamburger und der Kaffee nun überall gleich schmeckten.

Aber Ian wusste bestimmt Bescheid. Schließlich war er der Geschäftsmann in der Familie. Wenn er sich damit nicht auskannte, wer dann? Rasch sah Mike auf die Uhr über dem Herd. Zwanzig nach zwei. Er hatte noch zehn Minuten Zeit, bis er Stein zurückrufen musste. Und Ian war kein Typ, der lange um den heißen Brei herumredete.

Mike hatte Glück: Ian war zu Hause. „Abernathy Foods will aus dem Diner eine Restaurantkette machen“, sagte Mike ohne Umschweife.

„Wow“, antwortete Ian. Er klang ungewöhnlich beeindruckt für seine Verhältnisse. „Das könnte dein Durchbruch werden.“

„Mag sein“, meinte Mike. „Aber ich weiß überhaupt nichts darüber. Kannst du mir auf die Sprünge helfen?“

„Einem Unternehmen gefällt ein Laden. Es kauft das Konzept und den Namen und beginnt damit, Filialen zu gründen und zu verkaufen. Du wirst reich und das Unternehmen noch reicher.“

„Klingt nicht schlecht.“

„Einen Nachteil hat das Ganze allerdings. Du wärst zwar der Gründer der Kette. Doch das Unternehmen sucht die Standorte der Filialen aus und legt die Regeln fest. Und an die musst du dich genauso halten wie die anderen Filialleiter. Der Vorstand, das Management und auch die Aktionäre haben dann das Recht, dir vorzuschreiben, Zucker in deine Tomatensoße zu tun.“

„Der Vorstand entscheidet über die Rezepte?“

Ian seufzte. „Nein. Das war nur ein Beispiel.“

„Oh.“ Mike hatte sich Notizen gemacht und hielt inne. Er versuchte sich vorzustellen, dass Außenstehende die wichtigen Entscheidungen über sein Restaurant trafen. „Für eine Weile wäre das vermutlich gar nicht schlecht“, überlegte er laut. „Ich könnte uns damit alle reich machen, mich faul zurücklehnen, endlich reisen …“

„Es sei denn, sie beauftragen dich damit, den Aufbau der Kette zu organisieren – natürlich nur mit Zustimmung der Marketingabteilung, des Finanzdirektors, des Geschäftsführers …“

„… und des Vorstands“, ergänzte Mike, dem schon ganz schwindlig war. „Scheint nicht gerade mein Ding zu sein, oder?“

„Nein. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Ruf einfach zurück und stelle ein paar Fragen. Währenddessen hole ich ein paar Erkundigungen über Abernathy Foods ein.“

„Hast du überhaupt Zeit dafür?“, erkundigte sich Mike. Ian kümmerte sich nicht nur um die Geschäfte der Familie, sondern hatte obendrein eine Herde Merinoschafe. Er war ein viel beschäftigter Mann.

„Für manche Menschen schon.“

Mike konnte hören, dass Ian lächelte. In diesem Moment empfand er tiefe Dankbarkeit dafür, ihm und Daniel begegnet zu sein. Erst seitdem er die beiden kannte, wusste er, was es bedeutete, füreinander da zu sein.

Kaum hatte Mike aufgelegt, klingelte es erneut. Er unterdrückte einen Fluch und nahm das Gespräch an. „Mike’s Diner?“

„Wo zum Teufel steckt Maury?“, fragte der Footballtrainer der Churchill Consolidated Highschool wütend.

„Er ist hier bei mir“, antwortete Mike. „Wollen Sie mit ihm sprechen?“

„Nein, das will ich nicht. Aber vielleicht können Sie mir verraten, warum er bei Ihnen anstatt beim Footballtraining ist? Er ist mein Starverteidiger. Sagen Sie ihm, er soll sich gefälligst sofort auf den Weg machen!“

Maury hatte gar nichts von dem Training erwähnt. „Ich fürchte, wir haben einfach die Zeit vergessen“, beschwichtigte Mike den Mann. „Okay, ich schicke ihn gleich los.“

Nach dem Telefonat ging Mike zu Maury, der gerade die Hähnchenteile anbriet und den Blick starr auf sie gerichtet hatte. „Maury, Maury“, sagte er kopfschüttelnd. „Was soll ich nur mit dir machen?“

„Sorry, ich wollte die Hähnchenteile unbedingt noch …“

Abwehrend hob Mike die Hand. „Ich weiß. Das Kochen liegt dir eben im Blut. Du wirst bestimmt mal ein Fünfsternekoch, aber zuerst musst du die Highschool hinter dich bringen.“

Trotz seiner Intelligenz waren Maurys Schulleistungen eher mäßig. Der Junge hatte von Anfang an in den Ferien und am Wochenende im Restaurant ausgeholfen. Seitdem er den Führerschein hatte, verbrachte er jede Sekunde seiner freien Zeit im Diner. Heute offensichtlich sogar seine nicht freie Zeit.

„Versuch doch einfach, mit dem Footballtraining genauso gewissenhaft zu sein wie hier in der Küche“, schlug Mike vor. „Der Trainer ist auf dich angewiesen.“

„Mach ich“, antwortete Maury. Widerstrebend nahm er die letzten gebräunten Hähnchenteile aus der Pfanne, wischte sorgfältig sein Messer ab und dann weniger sorgfältig seine Hände. Lächelnd winkte er Mike zum Abschied zu. „Bis später dann.“

Insgeheim war Mike ganz dankbar für diese Unterbrechung gewesen. Doch jetzt hatte er keine Ausrede mehr, den Anruf bei Stein länger hinauszuzögern. Auf dem Tresen fand er zu seiner Überraschung zwei Telefonnummern: Die eine hatte er selbst notiert, die andere kam ihm nicht bekannt vor. Er entschied sich für die erste.

„Mike!“, rief Stein enthusiastisch.

„Tut mir leid, dass ich vorhin nicht an den Apparat kommen konnte“, sagte Mike. „Aber wir hatten ja auch halb drei vereinbart.“

Stein schwieg einen Augenblick. „Das war nicht ich.“

„Sind Sie nicht Anwalt bei Abernathy Foods?“

„Nein, Vizepräsident für den Einkauf.“

„Der andere Anrufer hat sich als Anwalt vorgestellt. Dann war es wohl doch jemand anders.“

Was konnte der Anwalt nur von ihm wollen? Beunruhigt warf Mike einen Blick auf die Nummer. Sie hatte eine Bostoner Vorwahl.

Anwälte machten ihn genauso nervös wie Polizisten. Hoffentlich holte ihn seine kriminelle Vergangenheit nicht irgendwie ein.

Mike versuchte, sich zu beruhigen. Immerhin wollte Stein ihn reich machen – oder zumindest sich selbst. Mike schaute auf die Notizen, die er sich während des Telefonats mit Ian gemacht hatte. „Schießen Sie los“, sagte er mit trockenem Mund.

Er hörte zu, wie Stein über den „Kauf des Konzepts und die Positionierung des Produkts“ sprach – Mike nahm an, er meinte das Diner damit. Im Grunde erzählte Stein nichts anderes als Ian. „Kommen Sie doch nach New York“, lud Stein ihn erneut ein. „Wir führen Sie herum, damit Sie sich ein besseres Bild von unserer Firma machen können.“

„Wie viel Einfluss hätte ich eigentlich bei der Umsetzung des Projekts?“

„So viel Sie wollen!“, erwiderte Stein. „Schließlich zahlen wir Ihnen eine Menge Geld. Da wird von Ihnen Einsatz gefordert.“ Dröhnendes Gelächter.

„Mein Konzept schließt eine täglich wechselnde Dinnerspezialität ein“, gab Mike zu bedenken. „Lässt sich das mit einer Kette realisieren?“

„Bis zu einem gewissen Grad schon“, antwortete Stein zögernd. „Aber das sind Details, die wir später noch klären können. Wann können Sie kommen? Nächste Woche vielleicht? Wie wär’s mit Mittwoch?“

„Da muss ich zuerst in meinen Terminkalender sehen“, sagte Mike. „Ich rufe Sie morgen zurück.“

Nachdem Mike das Gespräch mit Stein beendet hatte, rief er Ian an. „Wenn nichts dazwischenkommt“, informierte er ihn, „fahre ich nächste Woche nach New York.“

„Sehr gut“, gab Ian zurück. „Abernathy Foods ist sehr erfolgreich, also solltest du der Sache zumindest eine Chance geben.“

„Mach ich.“ Mike zögerte einen Moment. „Ich muss gleich einen Anwalt in Boston zurückrufen“, sagte er nervös.

„Na und?“

„Na und? Vielleicht hat das ja etwas Schlimmes zu bedeuten!“

Ian schnaubte. „Wie kommst du denn darauf?“

„Das weißt du ganz genau.“ Ein weiteres Mal musterte Mike die Bostoner Nummer. „Vermutlich sollte ich damit aufhören, mir Sorgen zu machen, und einfach anrufen.“

„Mach das.“

Mike legte auf und wählte. „Mike Foster“, meldete er sich knapp. „Ich sollte Mr. Ritter zurückrufen.“

„Oh, ja, Mr. Foster.“ Mike hatte mit einer kühlen und professionellen Stimme gerechnet, aber die Frau am anderen Ende der Leitung klang eher entschuldigend. „Mr. Ritter musste aus familiären Gründen dringend weg. Leider hat er seinen BlackBerry hier liegen lassen, sodass Sie ihn nicht auf dem Handy erreichen können.“

„Kein Problem“, meinte Mike enttäuscht. Eigentlich hatte er gehofft, die Sache schnell hinter sich zu bringen. Jetzt würde er womöglich noch Stunden in Ungewissheit leben müssen. Vielleicht sogar tagelang.

Nachdenklich ließ er den Hörer sinken. Gleich musste er Stein wegen des Treffens in New York Bescheid geben und irgendwie das Abendessen durchstehen, ohne sich seine Nervosität anmerken zu lassen. Und zu allem Überfluss kam auch noch Allie.

Doch mit etwas Glück wirkte sie auf ihn vielleicht ja gar nicht mehr so anziehend wie heute Morgen. Vielleicht war ja bald alles wieder beim Alten.

Allie war selbst überrascht, wie schnell sie sich im Diner einarbeitete.

Der einzige Nachteil war nur, dass sie fast jeden kannte, der das Restaurant betrat. Und alle stellten dieselbe Frage: Warum arbeitete sie plötzlich wieder in Mike’s Diner, statt zur Uni zu gehen?

Das Diner war voll. Bisher hatte sie Mike nur im Vorbeigehen zuwinken können. Für ein Gespräch war keine Zeit gewesen. Erst gegen acht Uhr ebbte der Strom der Dinnergäste ab. Als Allie gerade einen Stapel Teller in die Küche trug, entdeckte sie Mike in seinem Büro.

„Es war ganz schön viel los heute“, rief sie zu ihm hinüber.

Er drehte sich zu ihr um. „Wie geht’s dir eigentlich, Kleine?“, fragte er.

Allie wusste, dass er damit auf mehr anspielte als nur auf ihren ersten Arbeitstag. „Ganz okay.“

Er musterte sie schweigend.

„Na ja, auf der einen Seite bin ich erleichtert, dass ich den Mut aufgebracht und endlich das Studium abgebrochen habe. Andererseits habe ich Angst, dass ich diese Entscheidung irgendwann bereue“, fügte sie hinzu. „Aber zum Glück habe ich viel zu viel zu tun, um lange zu grübeln. Zum Beispiel muss ich ja das Dinner für das Waisenheim organisieren.“

„Deine Mutter hat dich also voll in das Projekt eingespannt?“

„Sieht so aus“, antwortete Allie. „Schön, dass du das Catering übernimmst.“

„Was bleibt mir anderes übrig?“, fragte er. „Freut mich zu hören, dass zwischen Elaine und dir alles geklärt ist.“

„Ja, Gott sei Dank. Am Anfang hat sie zwar überreagiert, aber sie hat sich mehr oder weniger bei mir dafür entschuldigt. Trotzdem mache ich mir keine Illusionen. Sie hofft natürlich insgeheim, dass ich das Studium wiederaufnehme.“

„Deine Mutter kann ganz schön stur sein“, schaltete sich eine männliche Stimme hinter Allie ein. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Barney dazugekommen war.

Als sie sich nach ihm umdrehte, war er allerdings verschwunden. Er räumte bereits die Tische ab und deckte sie für das Frühstück neu.

„Barney kennt meine Mutter?“, fragte Allie Mike. „So gut, dass er weiß, dass sie stur ist?“

„Keine Ahnung“, gab Mike zurück. „Wann findet das Dinner eigentlich statt?“

Allie nannte ihm ein Datum Ende Oktober.

Nachdem er sie seltsam lange angeschaut hatte, platzte Mike heraus: „Hast du Lust, morgen zum Frühstück vorbeizukommen und die Speisenfolge mit mir zu besprechen?“

„Gern“, erwiderte Allie überrascht. „Also bis morgen.“

Sie ging zu Colleen und Becky zurück, um ihnen beim Saubermachen zu helfen. Ein paar Worte mit Mike, und schon ging es ihr besser. Woran lag das nur? Vielleicht an seiner ruhigen und ausgeglichenen Art? Sie hatte nie erlebt, dass er einmal die Beherrschung verloren hätte.

Aber er war ja auch zufrieden mit seinem Leben. Er hatte seine Berufung gefunden. Mike und das Kochen passten zusammen wie die Liebe und rote Rosen.

Und was passte zu ihr? Sie wusste inzwischen nur, dass die medizinische Laufbahn nichts für sie war. Anfangs hatte sie sich eingeredet, dass das Studium ihr später mehr Spaß machen würde. Nach und nach waren ihre Zweifel jedoch immer größer geworden. Der Stoff hatte sie einfach nicht interessiert. Sie hatte sich förmlich dazu zwingen müssen, weiterzumachen. Und schließlich war sie von Langeweile überwältigt worden.

Was soll’s? Früher oder später würde sie schon herausfinden, was das Richtige für sie war. Bis dahin würde sie eben im Diner jobben und nebenbei das beste Dinner organisieren, dass Serenity Valley je erlebt hatte.

Nachdem Allie gegangen war, stöhnte Mike laut auf. Frühstück? Er hatte sie gefragt, ob sie mit ihm frühstücken wollte? Hatte er denn komplett den Verstand verloren? Wie sollte er nur mit dieser erwachsenen, attraktiven – nein, begehrenswerten Allie umgehen? Warum hatte er ihr nicht einfach vorgeschlagen, das Menü telefonisch oder per E-Mail zu besprechen?

Vielleicht könnte der Trip nach New York ihm ja dabei helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.

Um kurz nach zehn schloss er das Restaurant ab und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Es tat gut, niemandem mehr gute Laune vorspielen zu müssen. Zur Entspannung goss er sich ein Glas Wein ein und ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen.

Sofort spürte er, wie ihm die Augen zufielen. Er unterdrückte ein Gähnen und schlief schon halb, als er im Diner das Telefon klingeln hörte. Trotzdem gab er sich keine Mühe aufzustehen. Er brauchte seinen Schlaf.

Wenn Allie morgen früh kam, musste er ausgeruht sein – und auf der Hut.

Als Allie das Diner betrat, brachte sie den herbstlichen Duft von Holzfeuer und Äpfeln mit herein. Ihre enge schwarze Hose betonte ihre schlanken Hüften, und sie trug eine strahlend weiße Bluse.

„Du bist in Uniform?“, fragte Mike überrascht.

„Nur für den Fall, dass du Hilfe brauchst“, erklärte sie und ging lächelnd auf ihn zu.

„Danke, aber ich kann unmöglich zulassen, dass du hier rund um die Uhr arbeitest.“ Mike konnte nicht anders: Er musste zurücklächeln. Allies Gegenwart freute ihn – obwohl er genau wusste, dass er selbstsüchtig war und dass sie eigentlich hundertfünfzig Meilen entfernt an der Uni sein sollte. Er führte sie zu einem der hinteren Tische. „Willst du die Speisekarte?“

Allie sah ihn belustigt an. „Ich habe die Speisekarte im Kopf. Das Tagesgericht gestern war übrigens fantastisch.“

„Maury hat deswegen fast seinen Platz im Footballteam verloren.“

Bevor er auf ihren verwirrten Gesichtsausdruck reagieren konnte, stießen Colleen und Becky zu ihnen.

„Kaffee?“, fragte Becky und füllte ihre Tassen, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Was ist denn mit dir los, Mike?“, fragte Colleen mit gespielter Überraschung. „Du isst?“

„Gelegentlich schon“, scherzte er. „Normalerweise esse ich im Stehen in der Küche. Was dich beunruhigt, ist nur die Tatsache, dass ich diesmal sitze.“

Kichernd nahm sie ihren Block in die Hand und wandte sich Allie zu. „Schön, dich bei uns zu haben“, sagte sie. „Ganz wie in alten Zeiten.“

Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, richtete Mike wieder den Blick auf Allie. „Alles okay bei dir zu Hause?“

„Ja. Nachdem Mom sich beruhigt hat, fühle ich mich allerdings noch schuldiger als vorher“, antwortete Allie. „Ich habe sie tief enttäuscht, und sie backt mir Pfefferkuchen. Ich habe ihre Hoffnungen und Träume zunichtegemacht, und sie bringt mir Kaffee ans Bett.“ Sie seufzte. „Ihre Liebenswürdigkeit macht mich fertig.“

Mike lachte. „Vielleicht will sie damit nur wiedergutmachen, dass sie sich so aufgeregt hat.“

„Kann sein. Übrigens hat sie mir erzählt, dass sie selbst mal vor etwas davongelaufen ist.“

Allie schilderte Elaines Flucht nach Las Vegas. Mike war fassungslos. Nie hätte er Elaine Hendricks so etwas zugetraut. „Das erklärt natürlich einiges“, meinte er. „Also hat sie doch Verständnis für dich, oder?“

„Bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber sie hat meinen Vater am Schluss geheiratet. Wenn man das auf mich überträgt, bedeutet das, dass ich an die Uni zurückkehre.“

„Es geht mich ja nichts an, aber warum hat du das Studium eigentlich abgebrochen?“

„Aus vielen Gründen“, erwiderte Allie. „Es hat mir keinen Spaß gemacht. Ich habe mein Bestes gegeben, und trotzdem waren meine Noten nicht so gut wie erwartet. Nicht wirklich schlecht, aber …“

„Statt einer glatten Eins hattest du einen Notendurchschnitt von eins Komma fünf. Richtig?“

Sie räusperte sich. „Eins Komma drei.“ Als sie seine amüsierte Miene bemerkte, fügte sie hitzig hinzu: „Wenn man vorher immer einen Einser-Durchschnitt hatte, reicht das einfach nicht.“

Mike nickte. Allie war eben eine Perfektionistin, selbst wenn sie nur Papierservietten für das Diner faltete. „Früher oder später findest du schon etwas, das dir besser liegt.“

Plötzlich wurde Mike bewusst, dass er Allie betrachtete – viel zu intensiv, um noch von einem gewöhnlichen Blickkontakt sprechen zu können. Mühsam wandte Mike die Augen von ihr ab. Was war nur los mit ihm? Allie war seine Freundin. Er war acht Jahre älter als sie. Er kannte sie seit ihrer Kindheit.

Schluss damit!

„… je früher, desto besser“, hörte er Allie sagen, als er seine Gedanken endlich geordnet hatte. „Im nächsten Semester muss etwas Neues kommen. Es muss einfach!“

Mike nickte und spielte mit seiner Serviette, um Allie nicht ansehen zu müssen. „Das wird schon“, bestärkte er sie. „Du hast bestimmt die richtige Entscheidung getroffen.“ Ehe er sich’s versah, schaute er Allie wieder an. „Du hast schlicht und einfach einen Fehler korrigiert, bevor es zu spät war.“

„Kann sein“, gab Allie zurück. „Wahrscheinlich geht es mir erst besser, wenn ich eine konkrete Alternative gefunden habe.“

„Die findest du sicherlich schneller, als du denkst.“ Mike unterdrückte den Impuls, sie zu berühren. „Ich habe immer davon geträumt, Koch zu sein. Ich musste mich von großspurigen Köchen anbrüllen lassen, die großspuriges Essen für großspurige Menschen gekocht haben. Als ich genug davon hatte, habe ich beschlossen, ein bodenständiges Diner zu eröffnen. Am Anfang hatte ich eine Höllenangst davor, zu scheitern. Dann wäre mir nämlich nichts anderes übrig geblieben, als mich in Vinaigrette zu ertränken.“

Allie lachte nicht. Stattdessen blickte sie ihn so liebevoll an, dass sein Herz heftig zu klopfen begann. „Aber du bist nicht gescheitert“, sagte sie. „Das Diner läuft hervorragend.“

Etwas in ihrer Stimme berührte Mike. Sie klang so stolz, als ob das Diner ihr selbst gehörte. „Da hast du recht. Keine Ahnung, woran das liegt.“

„Ich schon.“ Sie lächelte. „An dem tollen Essen, dem zufriedenen Personal …“

„Dabei schinde ich meine Leute doch total“, wandte er scherzhaft ein.

„Ist mir nicht entgangen.“

Verzweifelt suchte Mike nach einem unpersönlichen Thema, das sich für harmlosen Small Talk eignete. Doch leider fiel ihm nichts ein. Gott sei Dank kam genau in diesem Augenblick das Frühstück.

3. KAPITEL

„Diese Biskuits sind zu gut, um wahr zu sein“, schwärmte Allie. Sie häufte hausgemachte Erdbeermarmelade auf das Gebäck, das genug Butter enthielt, um sogar die gesündeste Aorta zu verstopfen. „Barney ist wirklich ein fantastischer Koch.“

„Willst du noch einen?“

„Um Himmels willen, nein! Ich müsste nach Holman und zurück laufen, um allein den hier abzuarbeiten.“

Allie war froh, wieder zu Hause zu sein – und für Mike zu arbeiten. In seiner Gegenwart hatte sie sich schon immer wohlgefühlt. Er zog sie auf und lachte mit ihr. Er war wie der große Bruder, den sie nie gehabt hatte.

Ja, genauso wie ein Bruder. Zum Glück war sie stets vernünftig genug gewesen, sich nicht in ihren Chef zu verlieben. Nur deshalb waren sie jetzt gute Freunde. Allerdings bemerkte sie inzwischen Dinge an ihm, die ihr früher gar nicht aufgefallen waren. Wie grün seine Augen waren oder wie dicht und lang seine Wimpern. Und dass er schlank, aber gleichzeitig muskulös und breitschultrig war.

Hastig zwang sie sich, nicht länger an Mikes Körper zu denken. Er hatte sie eingeladen, um mit ihr die Speisenfolge für das Wohltätigkeitsdinner zu planen. Worauf wartete sie eigentlich noch? „Ich bin ja so froh, dass du das Catering für das Dinner übernimmst“, plapperte sie los. „Dadurch wird es bestimmt ein denkwürdiges Ereignis. Glaubst du, Hors d’œuvres sind angemessen? Wir werden natürlich Waisenkinder als Bedienung anheuern …“

Mike hörte ihr aufmerksam zu. Die durch die Fenster strömende Morgensonne betonte die Farbe seiner unglaublich grünen Augen. „Auf jeden Fall brauchen wir Hors d’œuvres. Da ich das Essen übernehme, brauchst du dir wegen der Kosten für das Menü keine Sorgen zu machen. Ich dachte an Filet Wellington, Kartoffeln, gerösteten Spargel, sautierte Tomaten, einen Endiviensalat als Vorspeise und zum Schluss irgendein tolles Dessert. Ach ja, und selbst gebackenes Brot. Was hältst du davon?“

Ihre Blicke begegneten sich. „Klingt perfekt.“

Mike lächelte. Für einen Moment sah er sie so intensiv an, dass sie die Augen nicht von ihm abwenden konnte. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor Elektrizität.

Doch als Mike sich schließlich räusperte und den Blickkontakt unterbrach, war der Zauber mit einem Mal verflogen. Er sprach weiter von dem Dinner, aber Allie hörte nicht richtig hin. Etwas Seltsames war gerade passiert, etwas sehr Verstörendes. Sie hatte eine starke Anziehungskraft zwischen ihnen gespürt. Noch nie hatte sie in Mikes Gegenwart auch nur annähernd etwas Ähnliches empfunden, und es gefiel ihr gar nicht. Dies war einfach nicht der geeignete Zeitpunkt für so etwas. Sie mochte Mike. Er war ihr Freund, mehr nicht.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Mike sie fragend ansah. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort.

„Das ist gut“, erwiderte sie rasch.

„Dass ich mir Sorgen um Barneys Gesundheit mache?“

Allie blinzelte. Oje! Sie hatte ihm überhaupt nicht zugehört. „Nein. Ich meine, ja. Ja, ich finde das gut … dass du dir über ihn Sorgen machst, wenn er zu hart arbeitet. Vielleicht solltest du mal mit ihm über einen längeren Urlaub reden.“

Mike musterte sie verwirrt. „Alles okay mit dir?“

Sie hatte keine Ahnung, was sie werden wollte. Und plötzlich fühlte sie sich zu einem ihrer ältesten Freunde hingezogen. Abgesehen davon war alles bestens.

„Klar. Ich bin nur gerade in Gedanken etwas abgeschweift. In den letzten Tagen ist so viel passiert.“ Sie verstummte.

„Verständlich“, antwortete er mit einem so hinreißenden Lächeln, dass ihr Herz einen Sprung tat. Großer Gott! Was um alles in der Welt war bloß mit ihr los?

„Zimtbrötchen, frisch aus dem Ofen!“, verkündete Colleen, die soeben zu ihnen kam und einen Korb auf den Tisch stellte.

Allie war noch nie so froh über das Auftauchen eines anderen Menschen gewesen. „Gott sei Dank!“, platzte sie heraus.

Mike und Colleen sahen sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Sie konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen.

„Das muss ein schwerer Fall von Zimtbrötchen-Entzug sein“, witzelte Colleen. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es um dich steht.“

Allie schoss Hitze ins Gesicht. Hastig griff sie nach einem Brötchen. Vielleicht half ihr das ja dabei, wieder zur Vernunft zu kommen.

Kein Zweifel: Sie musste an die Uni zurück. Und zwar dringend.

Als Allie das Diner verließ, war sie total erledigt. Das Treffen mit Mike hatte sie irgendwie aus der Bahn geworfen. Hoffentlich benahm sie sich bei der Spätschicht nicht genauso schräg.

Schließlich hatte sie auch ohne Mike schon genug Probleme am Hals, obwohl sie ihm natürlich dankbar für den Job war. Ha, Dankbarkeit! Das war es wahrscheinlich, was ihre merkwürdigen Gefühle für ihn erklärte.

Allie beschloss, einen Blick in die Immobilienanzeigen zu werfen. Wenn sie nämlich noch länger bei ihrer Mutter lebte, würde sie sich vermutlich zu einem Kleinkind zurückentwickeln. Elaine behandelte sie wie ein kleines Mädchen. Sie kochte für sie, wusch ihre Wäsche und putzte ihr Zimmer. Als Allie heute Morgen aus der Dusche gekommen war, hatte Elaine sogar ihr Bett gemacht und die Schmutzwäsche mitgenommen.

Aber konnte sie sich eine eigene Wohnung überhaupt leisten? Allie kaufte eine Ausgabe der Lokalzeitung, setzte sich auf eine der altmodischen Bänke auf der Main Street und schlug die Seite mit den Annoncen auf.

„Stadthaus im Topzustand, möbliert …“

Allie kannte die Reihe von Häusern am Fuß des Hubbard Hill. Sie waren relativ neu, billig gebaut und bestimmt schrecklich eingerichtet. Sie kamen also nicht infrage.

„Zimmer zur Miete in …“

Schrecklicher Stadtteil. Nein danke.

Es dauerte eine Minute, bis Allie sämtliche Einträge gelesen hatte. Sie kannte jedes Haus in der Stadt. Und deswegen wusste sie genau, dass ihr keins der Angebote gefallen würde – selbst wenn sie sich eins davon hätte leisten können.

Seufzend stand sie auf und wanderte ziellos durch die Stadt. Vor der Bücherei blieb sie stehen. Bücher hatten für sie immer etwas Tröstliches gehabt und ihr dabei geholfen, die Welt um sich herum zu vergessen.

Sie betrat das Gebäude und suchte im Computer nach Büchern über Berufe im Gesundheitswesen. Wie erwartet war keiner der Titel, die sie interessierten, verfügbar. Sie nahm sich vor, sich dafür vormerken zu lassen.

Als sie die Bibliotheksleiterin in ihre Richtung kommen sah, duckte sie sich hinter einem der Regale. Sie hatte keine Lust, sich ein weiteres Mal anhören zu müssen, wie überrascht alle über ihre Rückkehr waren. Wie schockiert alle waren, dass sie das Medizinstudium abgebrochen hatte. Und wie fassungslos, dass sie ihrer tollen Mutter etwas so Furchtbares angetan hatte.

Hey, niemand in der Stadt war überraschter, schockierter und fassungsloser als sie selbst!

Allie machte sich auf die Suche nach der Ratgeberabteilung, wurde jedoch nicht fündig. Stattdessen stieß sie auf ein Regal mit Bänden über Psychologie. Warum eigentlich nicht? Das konnte bestimmt nicht schaden. Als sie die Titel überflog, sprang ihr einer sofort ins Auge: Verstehen Sie Ihre Gefühle.

Sie blätterte darin und stieß auf Begriffe wie Übertragung oder Projektion.

Plötzlich wurde ihr klar, was sich wegen Mike in ihr abspielte. Im Psychologiekurs im Grundstudium hatte sie gelernt, dass Menschen ihre Emotionen oft durcheinanderbrachten. Manche übertrugen ihre Gefühle für einen Menschen auf einen anderen. Und oft verliebten sich Patienten in ihren Therapeuten, weil er ihnen bei ihren Problemen half.

Genau das passierte ihr wahrscheinlich mit Mike. Er half ihr dabei, ihre Probleme in den Griff zu kriegen. Sie verwechselte also ihre Dankbarkeit mit etwas anderem. So einfach war das.

Was für eine Erleichterung! Nachdem sie die Situation nun durchschaute, konnte sie Mike sicher wieder als guten Freund betrachten.

Allie nahm sich ein paar Bücher aus dem Regal und stellte sich in der Schlange vor der Ausleihe an.

Zum Glück war die Bibliotheksleiterin gerade beschäftigt und las einer Gruppe von Kleinkindern etwas vor. Das gelangweilte Mädchen hinter dem Tresen meinte zu ihr bloß: „Coole Bluse.“ Sonst nichts. Kein Wort über ihre Rückkehr.

Gott sei Dank! Vielleicht ging es ja doch endlich bergauf.

In wenigen Minuten würde Maury zum Footballtraining aufbrechen müssen. Trotzdem hackte er die Zwiebeln so verbissen, als könnte sonst niemand diese Aufgabe übernehmen.

Mike sah ihm an, dass ihn etwas beschäftigte. „Gefällt dir das Zwiebelnhacken nicht?“, fragte er.

Maury ließ sich nicht unterbrechen. „Doch, schon. Ich schneide sie zwar lieber in dünne Scheiben, aber Hacken ist auch okay.“

Also setzte Mike erneut an: „Hast du vielleicht gestern den Ball über die Linie gelassen?“

„Nein.“

Okay, offensichtlich musste er deutlicher werden. „Hey, irgendetwas stimmt doch nicht. Je eher du es mir erzählst, desto schneller können wir etwas dagegen unternehmen.“ Mike ging zu Maury und legte ihm die Hände auf die Schultern. Der Junge fühlte sich total verspannt an.

„Irgendetwas braut sich hier zusammen“, antwortete Maury. „Aber ich weiß nicht, was es ist.“

Mike beschloss, aufrichtig zu sein. „Das kann ich dir sagen, Maury. Eine New Yorker Firma will eine Restaurantkette aus dem Diner machen. Ein paar Filialen eröffnen. So wie bei den Fast-Food-Läden.“

„Aber dann wird sich alles verändern, oder?“

Mike wusste, dass der sonst so ausgeglichene Maury große Angst vor einschneidenden Veränderungen hatte. Das hing mit seiner Familiengeschichte zusammen: Maurys Vater hatte keinen einzigen Job lange behalten, weshalb er mit seiner Familie ständig umgezogen war. Eines Tages war seine Verzweiflung so groß gewesen, dass er erst Maurys Mutter und dann sich selbst erschossen hatte.

Daher zögerte Mike nicht und beruhigte ihn: „Es ist überhaupt nichts entschieden. Du kannst dich also erst einmal entspannen. Aber ich halte dich in Zukunft auf dem Laufenden, um unangenehme Überraschungen für dich zu vermeiden.“

Maury hackte zwar weiter, doch seine Schultern schienen sich etwas zu entspannen.

„Außerdem werde ich dich so oder so sofort nach der Kochschule engagieren, bevor dich mir jemand anders vor der Nase wegschnappt. Was auch immer geschieht, wir beide bleiben ein Team, okay? Ganz egal, wohin es mich verschlägt. Natürlich nur, solange du damit einverstanden bist.“

Endlich drehte Maury sich zu Mike um. „Ich will nichts anderes, als mit dir zusammenzuarbeiten.“

Maurys schlichte Worte berührten Mike tief. „Ohne dich wäre ich aufgeschmissen“, meinte er. „Was ist eigentlich am nächsten Mittwoch und Donnerstag? Da fahre ich nämlich nach New York, um mit der Firma über das Angebot zu sprechen. Schaffst du es, hier die Stellung zu halten?“

Maury sah ihn aus sanften Augen an. „Sicher. Welche Abendgerichte soll ich kochen?“

„Hast du einen Vorschlag?“, gab Mike zurück. Kurz darauf hatten sie zwei Rezepte ausgesucht, die nicht ganz so arbeitsintensiv waren wie üblich.

„Übernimmst du die Liste mit den Zutaten und die Bestellung beim Lieferanten?“, fragte Mike.

Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „Glaubst du, ich kann das?“

„Na klar.“ Mike war es egal, ob Maury etwas vergessen oder ob er zu viel oder zu wenig bestellen würde. Es zählte einzig und allein, dass er glücklich war.

Als Allie die Bücherei verließ, fühlte sie sich schon erheblich besser. Vielleicht würde ihr ja eins der ausgeliehenen Bücher ein paar berufliche Anregungen geben. Zumindest hatte sie einen Schritt in die richtige Richtung getan.

Auf dem Heimweg ließ sie sich Zeit, betrachtete die Häuser der Stadt und erinnerte sich dabei an früher. Sie dachte an die guten und die schlechten Zeiten zurück – wobei letztere in der Regel Partybesuche mit den abstoßendsten Jungs der Schule einschlossen. Sonst hatte nämlich niemand mit der als hochnäsig verschrienen Allie ausgehen wollen.

Dabei war sie gar nicht hochnäsig. Sie hatte einfach nur klare Zukunftsträume gehabt. Träume, die über Serenity Valley hinausgegangen waren.

Und jetzt war sie wieder hier. So viel zum Thema Träume.

Sie bog in eine Sackgasse ein, die sie immer am meisten gemocht hatte. Die dicht am Bürgersteig stehenden Häuser verliehen der ältesten Straße der Stadt ein französisches Flair, und am Ende stand eine schöne katholische Kirche. Vor einhundertfünfzig Jahren hatten die Frankokanadier hier in LaRocque eine Reihe von Walnussbäumen gepflanzt, die auch heute noch Schatten spendeten.

Ihr Lieblingsgebäude gehörte der alten Mrs. Langston. Es war aus unregelmäßigen Steinen gemauert. Über der Eingangstür rankte eine Glyzine bis hinauf aufs spitz zulaufende Schieferdach. An den Seiten wuchs Klematis.

Das Haus sah genauso bezaubernd aus wie in ihrer Erinnerung. Im Vorbeigehen bewunderte Allie es sehnsüchtig und blieb abrupt stehen, als sie ein Verkaufsschild auf dem kleinen Rasenstreifen vor dem Haus entdeckte.

Sie bekam ein ungutes Gefühl. War Mrs. Langston krank? Oder womöglich gestorben? Das hätte Elaine ihr doch sicher erzählt, oder?

Während sie so voller Sorge dastand, fuhr ein Wagen vor. Ein Paar in den Sechzigern stieg aus und kam auf sie zu. In der Frau erkannte Allie schließlich Mrs. Langstons Tochter. „Mrs Appletree!“, begrüßte sie ihre frühere Grundschullehrerin erfreut. „Wie schön, Sie wiederzusehen.“

„Ach, Sie sind … Großer Gott!“, erwiderte die Frau. „Du bist Allie Hendricks, oder?“ Sie umarmte ihre ehemalige Schülerin. „Ich hatte noch immer das ernste kleine Mädchen im Kopf, das schon lesen konnte, als es zu mir kam.“ Rasch wies sie auf ihren Mann. „Du kennst Roger doch bestimmt?“

Wer kannte den Senator nicht? „Senator Appletree“, sagte Allie und streckte die Hand aus. „Was für ein Vergnügen, Sie zu treffen.“

„Besten Dank, meine Liebe“, antwortete der Senator mit dröhnender Stimme. „Möchtest du vielleicht“, fuhr er fort, und für einen Moment dachte Allie, er wollte ihr ein Autogramm anbieten, „einen Rundgang durch Mutter Langstons Haus machen?“

Allie schüttelte den Kopf. „Ich liebe dieses Haus. Leider kann ich es mir nicht leisten, es zu kaufen. Ich habe gerade das Schild gesehen.“ Allie drehte sich zu Priscilla Appletree um. „Ist Ihre Mutter …?“

„Wir mussten sie in einer betreuten Einrichtung unterbringen“, erklärte Priscilla. „Sie hat sich zuerst mit Händen und Füßen dagegen gesträubt.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Aber schon eine Stunde nach ihrer Ankunft ist sie dem Bridgeklub beigetreten und hat neue Freundschaften geschlossen.“

„Sie wollen das Haus wirklich verkaufen?“

„Ja, für einen Spottpreis.“ Priscilla seufzte. „Meine Mutter war in der letzten Zeit nicht mehr in der Lage, sich um den Haushalt zu kümmern. Drinnen sieht es schrecklich aus, und zu allem Überfluss ist es bis obenhin mit alten Zeitungen vollgestopft. Wir könnten es natürlich renovieren lassen, aber Roger und ich haben so viel um die Ohren …“

„Priscilla hat in Wirklichkeit nur Hemmungen, die Sachen ihrer Mutter fortzuwerfen“, schaltete sich der Senator mitfühlend ein.

„Das kann ich mir gut vorstellen“, entgegnete Allie. „Es ist bestimmt schwer, sich von all den Erinnerungen zu trennen.“

„Stimmt.“ Für einen Moment sah Priscilla sehr niedergeschlagen aus, doch dann richtete sie die Aufmerksamkeit wieder auf Allie. „Und nun zu dir. Ich habe gehört, dass du zurückgekehrt bist. Hattest du Probleme?“

„Nein, das Problem war nur das Studienfach“, gab Allie offen zu. „Medizin ist einfach nicht das Richtige für mich. Ich möchte hier ein wenig zur Ruhe kommen und mir überlegen, was ich stattdessen machen will.“

„Sicher fällt dir bald etwas Passenderes ein“, sagte Priscilla aufmunternd und tätschelte Allie den Arm. „Ich … Na ja, du weißt ja selbst, wie klein das Tal ist. Ich habe gehört, dass deine Mutter nicht gerade glücklich über deine Rückkehr ist.“

„Es war ein großer Schock für sie“, gestand Allie. „Sie gibt sich wirklich Mühe, sich in mich hineinzuversetzen. Insgeheim hofft sie allerdings, dass ich das Studium wiederaufnehme. Ich fühle mich ihr gegenüber so schuldig – vor allem, weil sie sich jetzt so liebevoll um mich kümmert. Fast schon zu liebevoll.“ Sie lächelte. „Ich komme mir manchmal vor wie eine Vierjährige.“

„Typisch Mütter“, antwortete Priscilla. „Vielleicht wird es allmählich Zeit für dich, zu Hause auszuziehen.“

„Das würde ich ja gern, aber leider habe ich nicht viel Geld.“ Allie zwang sich zu einem Lächeln.

Roger und Priscilla tauschten einen Blick, woraufhin Roger nickte. „Möchtest du für eine Weile hier wohnen?“, schlug Priscilla vor. „Ich verschiebe einfach den Verkauf des Hauses, bis ich endlich die Zeit habe, hier klar Schiff zu machen.“

Mit offenem Mund starrte Allie sie an. „Das wäre ja traumhaft! Ich habe dieses Haus schon immer geliebt. Natürlich hinge es von der Miete ab …“

„Du brauchst keine Miete zu zahlen“, unterbrach der Senator sie. „Wir können es in dem jetzigen Zustand sowieso nicht vermieten.“

Es war zu schön, um wahr zu sein! „Dann räume ich eben hier auf“, meinte Allie voller Begeisterung. „Ich …“

„Willst du nicht zuerst einen Blick hineinwerfen und dir dann noch mal überlegen, ob du das Haus überhaupt betreten willst?“

„Das ist nicht nötig“, antwortete Allie entschlossen. „Wann kann ich einziehen?“

Priscilla lachte. „Von mir aus sofort. Ich mag deine Mutter sehr. Aber ich weiß, wie stur sie sein kann.“ Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Genauso wie du, Allie.“

Priscilla hatte recht. Allie und ihre Mutter waren wie zwei störrische Esel, die sich einen Stall teilen mussten. Als sie ihrer Lehrerin ins Haus folgte, hätte sie am liebsten getanzt vor Freude. Ja, es ging definitiv bergauf!

Den ganzen Tag graute Mike bereits vor dem Anruf des Anwalts. Wann immer das Telefon klingelte, zuckte er nervös zusammen. Irgendwann ertönte tatsächlich Ritters Stimme am anderen Ende der Leitung: „Mr. Foster? Hier ist Earl Ritter.“

„Ja, Mr …“

„Tut mir schrecklich leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich hatte eine kleine Familienkrise und kein Handy dabei. Aber das wissen Sie bestimmt schon von meiner Assistentin.“

„Macht nichts“, gab Mike zurück, obwohl er es nicht so meinte.

„Leider habe ich schlechte Neuigkeiten für Sie.“

Mikes Eingeweide krampften sich unwillkürlich zusammen. „Fahren Sie fort“, stieß er hervor.

„Mein Mandant Evan Howard ist gestern Morgen gestorben.“

Mike erstarrte. Evan Howard hatte seine Kindheit geprägt. Ihn hatte er überwinden müssen, um der Mann zu werden, der er heute war. Und jetzt war Evan Howard tot. Es war vorbei.

Mike war erstaunt darüber, dass er keine Erleichterung empfand. Irgendwie fühlte er sich sogar enttäuscht: Nun würde er keine Gelegenheit mehr bekommen, um sich dem Kerl gegenüber zu beweisen.

„Wie ist er gestorben?“, fragte er.

Ritter seufzte. „Bei einem Autounfall“, antwortete er. „Seine Frau ist auch tot. Dabei war sie doch noch so jung. Es ist wirklich eine Tragödie.“

Wie bitte? Evan hatte wieder geheiratet?

„Die Beerdigung findet morgen statt, die Testamentseröffnung ist am Freitag. Sie müssen kommen.“

„Ich fürchte, das geht nicht. Ich habe ein Restaurant und werde hier dringend gebraucht. Ich schicke natürlich gern Blumen, wenn Sie mir die Adresse vom Bestattungsunternehmen nennen.“

„Mike, Sie müssen kommen“, beharrte Ritter. Sein Tonfall war so dringlich, dass Mike erschrak.

„Evan war nicht gerade mein bester Freund“, entgegnete er ausweichend.

„Aber offensichtlich waren Sie seiner“, hielt Ritter dagegen. „Er hat Sie nämlich zum Vormund seines Sohnes Brian Marshall Howard ernannt.“

Mike war starr vor Schreck. Er wusste, dass Ritter auf eine Antwort wartete. Doch in seinem Kopf herrschte eine einzige gähnende Leere.

„Ihre Anwesenheit ist unbedingt erforderlich“, erklärte Ritter. „Wir müssen die notwendigen Schritte einleiten, damit Sie sich um das Kind kümmern können.“

Allmählich nahm Mikes Gehirn seine Funktion wieder auf. Wenn er also nicht auftauchte, musste er das Kind auch nicht annehmen, oder? Ein verlockender Gedanke.

Aber kein sehr anständiger. „Selbstverständlich. Ich verstehe. Ich muss hier allerdings vorher einiges in die Wege leiten …“

„Tun Sie das bitte so schnell wie möglich. Celines Familie …“

Verwirrt rieb Mike sich die Stirn. Er bekam langsam Kopfschmerzen. „Wessen Familie?“

„Sie kannten Celine nicht? Sie ist … war Evans Frau. Brians Mutter.“ Ritter klang irritiert. „Entschuldigen Sie die Frage: In welcher Beziehung standen Sie eigentlich zu dem Verstorbenen?“

Wenn Mike nun die Wahrheit sagte, würde Ritter ihn sicher verstehen. Der Anwalt würde einsehen, dass er als Ersatzvater völlig ungeeignet war. „Evan Howard war mein Vater“, antwortete er knapp.

Ritter keuchte auf. „Warum hat Evan mir verschwiegen, dass er einen erwachsenen Sohn hat?“

Mike überraschte das nicht weiter. „Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum er ausgerechnet mich zum Vormund seines Sohns bestimmt hat.“

„Sein Testament ist unmissverständlich“, entgegnete Ritter steif. „Ich nahm natürlich an, dass Sie bereits darüber informiert wären.“

Mike ließ sich auf einen der Hocker neben dem großen Hackklotz fallen. „War ich nicht“, erwiderte er. „Okay, wir sehen uns auf der Beerdigung und bei der Testamentsvollstreckung.“ Er ließ sich die Adresse des Bestattungsunternehmens und den Termin der Beerdigung geben und legte auf.

Vermutlich blieb ihm keine andere Wahl, als hinzufahren. Er musste es einfach herausfinden: Wie war sein Vater bloß auf die völlig absurde Idee gekommen, ihm die Vormundschaft zu übertragen? Großer Gott, er wusste ja nicht einmal, wie alt das Kind überhaupt war!

Aber abgesehen von ihrer katastrophalen Familiengeschichte: Er hatte keine Ahnung, wie er seinen Halbbruder großziehen und nebenbei das Restaurant leiten sollte. Das Diner bedeutete Sechzehnstundentage, und sein Job verfolgte ihn sogar bis in den Schlaf.

Das Zufallen der Hintertür riss ihn aus seinen Gedanken. Maury war vom Footballtraining zurück. Langsam stand Mike auf, um ihm und Barney die Neuigkeit mitzuteilen.

„Was?“, riefen Daniel und Ian im Chor.

„Mein Vater und seine Frau – Nummer drei, vier oder sieben, keine Ahnung – sind bei einem Autounfall gestorben und haben mich zum Vormund ihres Sohnes bestimmt.“

„Wie alt ist der Junge?“, fragte Daniel.

„Wusstest du, dass du einen Halbbruder hast?“, warf Ian ein.

„Eins nach dem anderen. Keine Ahnung – und: natürlich nicht.“

„Können wir dir irgendwie helfen?“ Diese Reaktion war typisch für Daniel.

„Das weiß ich auch nicht.“ Mike war noch ganz benommen von den jüngsten Ereignissen. „Ich fahre morgen nach Boston und komme am Freitagnachmittag zurück“, sagte er. „Ich habe schon einen Plan für Maury und Barney ausgearbeitet. Sie werden das Diner für zwei Tage übernehmen. Übrigens habe ich ihnen erzählt, dass es einer meiner Mitschüler auf der Kochschule war, der bei dem Autounfall gestorben ist.“

„Gut“, sagte Ian.

Abends war Mike noch immer so zerstreut, dass er die Gäste kaum mit der üblichen guten Laune begrüßen konnte. Allie warf ihm gelegentlich einen neugierigen Blick zu, aber er wollte mit niemandem reden.

Irgendwann zog er sich in die Küche zurück, um alles Nötige für seine Abwesenheit in die Wege zu leiten. Plötzlich tauchte Allie hinter ihm auf.

„Für heute sind wir fertig“, meinte sie. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Klar.“

„Okay.“ Sie schien ihm nicht zu glauben, ließ es jedoch dabei bewenden. „Hey, weißt du was?“, fragte sie unvermittelt. „Ich habe heute eine Unterkunft gefunden! Das Haus ist einfach perfekt. Also, abgesehen von all dem Staub, dem Durcheinander und …“ Sie lachte verlegen. „Sorry, ich wollte dich nicht mit Details langweilen.“

„Nein, ich würde gern mehr darüber erfahren. Allerdings muss ich morgen dringend wegfahren, und es gibt einiges für Barney und Maury vorzubereiten.“

„Ist etwas passiert?“ Besorgt runzelte sie die Stirn.

Mike wusste, warum sie das annahm. Normalerweise verließ er nie die Stadt. Er war stets im Restaurant zu finden – oder zumindest ein Stockwerk höher in seiner Wohnung. „Irgendwie schon“, antwortete er. „Einer meiner Mitschüler von der Kochschule ist gestorben. Er war ein sehr guter Freund. Der Kontakt zwischen uns ist zwar vor einiger Zeit eingeschlafen. Trotzdem habe ich das Gefühl, zu seiner Beerdigung gehen zu müssen.“ Mike ging es gegen den Strich, Allie nicht die Wahrheit sagen zu können. Doch er hatte keine andere Wahl.

„Selbstverständlich“, erwiderte sie verständnisvoll. „Tut mir schrecklich leid, Mike. Bestimmt hast du viele gute Erinnerungen an ihn. Kein Wunder, dass du traurig bist.“

„Danke.“

„Ruf mich an, wenn du mit jemandem reden willst, okay?“ Allie kritzelte eine Nummer auf ein Stück Einwickelpapier und gab es ihm. „Das ist meine Handynummer.“

„Danke“, wiederholte Mike und versuchte, den Kloß in seinem Hals zu ignorieren.

Allie lächelte voller Mitgefühl. „Es wird sicher alles gut, Mike. Ich denke an dich.“

Er nickte.

Nachdem Allie gegangen war, erledigte er die restlichen Vorbereitungen für seine Abreise. Erst um ein Uhr in der Nacht stieg er die Stufen zu seiner Wohnung hoch.

Im Grunde genommen spielte sich sein ganzes Leben in dem zweihundert Jahre alten Ziegelgebäude am wunderschönen Marktplatz von LaRocque ab.

Vor Jahren hatte Ian das Tal entdeckt. Er war nach Holman gezogen, während Daniel als Assistent bei einem Tierarzt in Churchill angefangen hatte. Damals hatte Mike als Hilfskoch in einem schicken Restaurant in Boston gearbeitet. Er war gut gewesen – so gut, wie man unter der Leitung eines Perfektionisten eben sein konnte. Trotzdem hätte es noch lange gedauert, bis er befördert worden wäre.

Irgendwann hatte er etwas Eigenes gewollt – und weniger Stress. Außerdem hatte er Daniel und Ian vermisst, sosehr sie ihn auch manchmal in den Wahnsinn trieben. Deshalb hatte er sich danach gesehnt, sich ebenfalls in Serenity Valley niederzulassen und ein einfacheres friedliches Leben zu führen.

Als er die formelle Einladung seiner Mutter erhalten hatte, sie in Burlington zu besuchen, hatte er sich zunächst dagegen gesperrt; das Verhältnis zu ihr war nicht viel besser gewesen als das zu seinem Vater.

Schließlich hatte er sich jedoch dazu durchgerungen und erfahren, dass sie Frieden mit ihm schließen wollte. Sie hatte inzwischen verstanden, warum er als Jugendlicher kriminell geworden war. Und sie hatte eingesehen, dass sie und Mikes Vater ihren Teil dazu beigetragen hatten.

Bei seiner Abreise hatte er sich besser gefühlt, als er je für möglich gehalten hatte.

Erst bei der Nachricht von ihrem Tod war ihm klar geworden, warum sie so dünn gewesen war: Damals war sie bereits unheilbar an Krebs erkrankt gewesen. In ihrem Testament hatte sie ihrem „guten Freund Mike Foster“ eine stattliche Summe Geld vermacht.

Der Rest war Geschichte. Mike hatte das heruntergekommene Haus in LaRocque gekauft und saniert, das Diner eröffnet und es in ein erfolgreiches Restaurant verwandelt.

Und nun schien sich alles zu wiederholen – doch diesmal ohne Vergebung. Es gab nur eine Erbschaft, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.

Mike sah sich in seiner Wohnung um. Er war durch die Ereignisse der letzten Stunden so überreizt, dass er die Details viel deutlicher wahrnahm als sonst. Eines Abends hatte er das Personal nach einem besonders anstrengenden Wochenende für eine spontane Feier mit nach oben genommen. Es war Allie gewesen, die ihm gesagt hatte, dass man aus seiner Wohnung mehr machen konnte.

Sie hatte gemeint: „Wie kann man nur in so einem Loch wohnen?“

Bei der Erinnerung daran musste Mike lächeln. Allie und ihre Mutter hatten ihm damals angeboten, die Wohnung für ihn einzurichten. Gemeinsam hatten sie daraus eine komfortable Junggesellenbude mit Ledersofa, großem Orientteppich, einem Schlafzimmer, einem kleinen Büro, einer Hightechküche und einem winzigen Badezimmer gemacht.

Er fühlte sich hier wohl und konnte sich nicht vorstellen, jemals irgendwo anders zu leben. Mit neunzig würde er einfach einen Treppenlift einbauen lassen, damit er morgens in die Küche kam.

Aber war die Wohnung groß genug für ihn und seinen Halbbruder? Bei dem Gedanken bekam Mike Bauchschmerzen. Typisch Evan! Als Kind hatte Evan ihn ständig ignoriert – und jetzt zerstörte er sein angenehmes Leben.

Na ja, in vierundzwanzig Stunden würde er mehr wissen. Mike packte einen Koffer und schlief ein paar Stunden lang unruhig. Lange vor Sonnenaufgang war er bereits in der Küche, um auf Barney zu warten.

„Bist du etwa die ganze Nacht aufgeblieben?“, fragte dieser, als er bemerkte, dass Mike für ihn und Maury alles vorbereitet hatte.

„Ach, so lange hat es gar nicht gedauert“, schwindelte Mike. „Ich wollte euch nur ein bisschen helfen.“

„Wir kommen auch ohne dich zurecht. Ich bin so lange hier, dass ich den Laden genauso gut schmeißen kann wie du.“

„Ich weiß, ich weiß“, seufzte Mike. „Ich fürchte, ich bin einfach ein bisschen neben der Spur.“

„So ein Verlust ist nie leicht“, meinte Barney.

Der Koch wusste, wovon er sprach. Er hatte vor einigen Jahren seine Frau verloren und war damals am Boden zerstört gewesen. „Und jetzt verschwinde endlich“, fügte Barney hinzu. „Alles wird hier so reibungslos laufen wie immer.“

Mike konnte nur hoffen, dass das auch für sein eigenes Vorhaben galt.

4. KAPITEL

Obwohl Mike gerade erst nach Boston gefahren war, vermisste Allie ihn bereits. Sicher lag das nur daran, dass er normalerweise immer da war. Seine Abwesenheit hinterließ einfach eine ungewohnte Lücke.

Elaine reagierte erstaunlich verständnisvoll auf ihren Umzugswunsch. Gleich am nächsten Morgen zog Allie mit ihren zwei Koffern voller Habseligkeiten und ihrem Laptop in Mrs. Langstons Haus.

Dort setzte sie sich als Erstes in einen der Samtsessel im Wohnzimmer. Versonnen betrachtete sie die Staubwolke, die dabei aufgewirbelt wurde. Sie würde erst einmal gründlich sauber machen müssen.

Neugierig erforschte sie die Schränke und fand einen Staubsauger und jede Menge Vorräte. Zuerst wollte sie sich die Küche vornehmen. Als sie jedoch einen der Küchenschränke öffnete, fuhr sie erschrocken zusammen. Igitt! Das gesamte Geschirr war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Allie räumte alles aus, putzte gründlich die Böden und ließ dabei das Wasser für den Abwasch in die Spüle laufen. Sie tauchte einen Stapel Teller ins Becken, als sie plötzlich ein Gefühl der Einsamkeit verspürte.

Wie albern! Sie war doch überglücklich gewesen, endlich allein wohnen zu können.

Außerdem hatte sie ihre Bekanntschaft mit Mike gerade erst aufgefrischt. Dass ihr seine Abwesenheit auffiel, war eine Sache – aber sich deswegen einsam vorzukommen war völlig absurd!

Sich so zu fühlen, bis ihre Spätschicht im Diner begann, kam für sie nicht infrage. Spontan beschloss sie, Lilah Foster anzurufen. Ihr wollte Allie sowieso noch ein paar Fragen zum Wohltätigkeitsdinner stellen.

Sie suchte die Nummer heraus und schlug Lilah vor, zusammen Mittagessen zu gehen.

Lilah klang etwas abgehetzt, schien sich aber zu freuen. „Gern! Ich könnte eine Pause gebrauchen. Sie haben ja keine Ahnung, wie es hier morgens zugeht.“

„Ich glaube schon“, antwortete Allie. „Vor einigen Jahren habe ich mal zwei Tage lang auf Daniels Kinder aufgepasst. Nachdem ich es überstanden hatte, habe die Füße hochgelegt und mich zwei Tage nicht mehr von der Stelle gerührt.“

Lilah lachte. „Immerhin haben Sie es überlebt. Aber zurück zum Thema: Wo wollen wir uns treffen?“

Allie musste ebenfalls lachen. Super, jetzt ging es ihr schon viel besser. „Ich habe bisher nur Gutes über Mike’s Diner gehört“, sagte sie.

„Ernsthaft? Okay, dann sehen wir uns dort. Wann? Um zwölf?“

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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