Bianca Exklusiv Band 319

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EIN EX, EIN KUSS - UND NEUES GLÜCK? von LIZ FIELDING
"Josh!" Halt suchend schmiegt Grace sich in seine Arme. Sie braucht ihn - jetzt, wo sie allein ist mit dem Baby, das sie als Leihmutter für ihre Schwester austrug. Als er sie überraschend küsst, wünscht sie sich, dass er sie nie wieder loslässt. Aber er hat sie schon einmal verlassen …

EIN KUSS IST LANGE NICHT GENUG von TRISH WYLIE
Neve glaubt nicht an die Liebe. Doch als sie den neuen Nachbarn ihrer Schwester sieht, traut sie ihren Augen nicht: Es ist Brendon, der sie einst so zärtlich geküsst hat. Und er scheint entschlossen, ihr zu beweisen: Ein Kuss ist lange nicht genug …

GEHEIMNISVOLLE ENTDECKUNG von MARY BURTON
Eine leidenschaftliche Umarmung, eine unvergessliche Nacht - doch Kelsey konnte nicht an das Glück mit Mitch glauben. Nun macht sie bei einem beruflichen Tauchgang eine schreckliche Entdeckung - und ausgerechnet Mitch steht ihr in diesem Moment bei. Der Mann, dem sie nie wieder vertrauen wollte …


  • Erscheinungstag 31.01.2020
  • Bandnummer 319
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748722
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liz Fielding, Trish Wylie, Mary Burton

BIANCA EXKLUSIV BAND 319

1. KAPITEL

Unruhig ging Grace McAllister im Eingangsbereich der Notaufnahme hin und her. Erneut tippte sie eine lange Rufnummer in ihr Handy ein. Sie musste Josh Kingsley so schnell wie möglich erreichen!

Weil es in Australien bereits Sonntagabend war, hatte sie es zuerst bei ihm zu Hause versucht. Schließlich hatte sich eine Frauenstimme gemeldet. „Anna Carling.“

„Oh …“ Einen kurzen Augenblick lang konnte Grace nur noch an eines denken: Wer ist diese Frau? Und was macht sie in Joshs Wohnung? Aber dann sammelte Grace sich wieder. „Dürfte ich bitte Josh sprechen?“, erkundigte sie sich.

„Wer ist denn am Apparat?“

„Grace … McAllister. Ich bin seine … seine …“

„Schon gut, ich weiß Bescheid. Sie sind die Schwester seiner Schwägerin, stimmt’s?“

Diese Anna Carling war also nicht nur in Joshs Wohnung, sie schien sich auch noch bestens in seinem Privatleben auszukennen!

Grace umklammerte den Telefonhörer so fest, dass ihr die Finger wehtaten. „Dürfte ich jetzt bitte mit Josh sprechen?“, fragte sie noch einmal.

„Es tut mir leid, aber Josh ist im Moment nicht da. Ich bin seine persönliche Assistentin. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

„Wissen Sie, wo er sich aufhält?“

„Er ist zurzeit in China … Hongkong, Peking oder ganz woanders. Kann ich ihm etwas ausrichten, wenn er sich wieder meldet?“

„Danke, nein.“ Was Grace ihm mitzuteilen hatte, wollte sie ihm persönlich sagen und nicht durch eine seiner Mitarbeiterinnen. Ganz egal, wie eng Anna Carling mit ihm zusammenarbeitete. „Ich müsste schon selbst mit ihm sprechen. Es ist sehr dringend.“

Statt weiter nachzuhaken, gab die Frau ihr mehrere Telefonnummern, unter denen sie Josh möglicherweise erreichen konnte. Seine Handynummer zum Beispiel und die Nummer seines Hotels in Hongkong, falls Josh dort keinen Empfang hatte. Außerdem nannte Anna ihr die Privatnummer des Niederlassungsleiters in Hongkong und sogar die Nummer von Joshs Lieblingsrestaurant.

Als sie seine Handynummer wählte, sagte ihr eine Stimme, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Dann versuchte sie es bei seinem Hotel. Aber auch dort nahm niemand ab.

Schließlich erreichte sie den Niederlassungsleiter, der ihr erzählte, dass Josh aufs chinesische Festland geflogen war. Offenbar hatte Anna ihn schon darüber informiert, dass Grace sich möglicherweise bei ihm melden würde, und ihn gebeten, sie zu unterstützen. Der Mann gab ihr die Nummer von Joshs Hotel in Peking und die seines dortigen Geschäftspartners.

Davon, dass er auch Geschäftskontakte in die chinesische Hauptstadt hatte, wusste Grace noch gar nichts. Jedenfalls hatte er bei seinem letzten Besuch in England nichts davon erzählt. Allerdings war er damals nach ein paar Stunden schon wieder abgereist, und es standen ganz andere Themen zur Debatte als seine Geschäftsbeziehungen …

Von seinem Geschäftspartner erfuhr sie, dass Josh die Stadt für einige Tage verlassen hatte und zurzeit nur über sein Mobiltelefon erreichbar war. Also war sie wieder genau dort, wo sie angefangen hatte. Immerhin lenkte die hektische Suchaktion sie davon ab, ständig darüber nachzudenken, warum sie hier im Krankenhaus war. Allerdings wurde ihr ganz mulmig bei dem Gedanken daran, was sie ihm sagen sollte, wenn sie ihn schließlich erreichte!

Diesmal hatte sie ein Freizeichen. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal … dann hörte sie seine Stimme, die ihr so vertraut und gleichzeitig so unendlich fremd vorkam. Allerdings hatte sie nur seine Mailbox dran.

„Miss McAllister …“

Grace fuhr herum. Vor ihr stand eine Krankenschwester. Grace erschauderte. Bis eben hatte sie sich dagegen gewehrt, genauer darüber nachzudenken, was gerade mit Michael passierte. Sie hatte ihren Schwager nur ganz kurz gesehen. Er hatte bewusstlos auf einer Trage gelegen, die Sanitäter hatten ihn sofort in den Operationssaal gebracht. Dann hatte man sie gebeten, zu warten.

Jetzt brauchte Grace nur einen kurzen Blick ins Gesicht der Krankenschwester zu werfen, und sie hatte die traurige Gewissheit. Ihr Schwager hatte den schweren Autounfall nicht überlebt – genau wie Graces Schwester Phoebe, die gleich am Unfallort gestorben war.

„Josh …“, brachte sie hervor. Sie hatte ihre Tränen so lange zurückgehalten, dass sich in ihrem Hals ein dicker Kloß gebildet hatte. Irgendwann wollte sie ihnen freien Lauf lassen, aber das ging jetzt noch nicht. „Josh … du musst unbedingt so schnell wie möglich nach Hause kommen!“, sprach sie ihm auf den Anrufbeantworter.

Gestern noch wäre ihr bei der Vorstellung, ihn so bald wiederzusehen, vor Aufregung schwindlig geworden. Wie damals als Teenager.

Aber Phoebes und Michaels Autounfall hatte alles verändert. Jetzt empfand Grace nur noch grenzenlose Wut. Auf das unendlich grausame Schicksal. Auf Josh, weil er die Augen vor der Wirklichkeit verschloss und sich der ganzen Familie gegenüber so beleidigt und uneinsichtig gab.

Sie hatte keine Ahnung, was er damals zu Michael gesagt hatte. Und an das, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, erinnerte sie sich kaum. Sie wusste nur noch, wie bleich er geworden war, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sich ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen ließ. Dass sie längst schwanger war und das Kind für ihre Schwester austragen wollte. Da hatte er sich wortlos zurückgezogen, das Haus verlassen und war direkt zum Flughafen gefahren.

Die Krankenschwester, die ihr jetzt gegenüberstand, war es offenbar gewohnt, mit Menschen umzugehen, die unter Schock standen. Sie legte ihr den Arm um die Schultern und bot ihr einen Tee an. Dann erkundigte sie sich, ob sie jemanden benachrichtigen könne, damit Grace mit der schrecklichen Nachricht nicht allein dastand.

„Ich habe eben schon Josh angerufen“, murmelte sie, obwohl die Frau mit dieser Aussage gar nichts anfangen konnte. „Er ist bestimmt bald hier.“

Er musste einfach herkommen!

Dann erst fiel ihr auf, dass sie das Handy immer noch ans Ohr gepresst hatte. Schnell klappte sie es zu, steckte es wieder in die Hosentasche und folgte der Schwester den Gang hinunter.

Allmählich wurde Grace klar, dass Josh es allerfrühestens in vierundzwanzig Stunden nach England schaffen würde – selbst wenn er ihre Nachricht sofort abhörte und sich gleich in das nächste Flugzeug setzte. Sie war so benommen, dass sie noch nicht wieder Auto fahren konnte. Daher rief sie ihren guten Freund Toby Makepeace an.

Wenige Minuten später war er schon bei ihr, half ihr mit den Formalitäten und brachte sie dann zu dem Haus, in dem Phoebe und Michael mit ihrem Baby gewohnt hatten. Drei Monate alt war Posie jetzt. „Ich mag dich gar nicht allein lassen“, sagte Toby.

„Mach dir keine Sorgen, Elspeth ist ja da“, erwiderte Grace. Es gelang ihr kaum, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. „Sie ist sofort hergekommen, um sich um Posie zu kümmern. Vielen Dank für deine Hilfe.“

„Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst“, erwiderte Toby sanft. „Ich helfe dir auch gern mit den Dingen, die noch anstehen …“

Grace schluckte. Darüber wollte sie jetzt lieber nicht genauer nachdenken. „Josh ist bestimmt bald hier und kümmert sich um alles.“

„Natürlich.“ Toby legte ihr kurz die Hand auf den Arm und verabschiedete sich.

Elspeth, eine Freundin von Michael und Phoebe, war sofort gekommen, um auf Posie aufzupassen, während Grace ins Krankenhaus gefahren war. Schweigend drückte sie Grace an sich. Dann kochte sie ihr einen Tee und zog sich ins Arbeitszimmer zurück, um Phoebes und Michaels Freunde und Verwandte anzurufen – auch Michaels Eltern. Seine Mutter hielt sich gerade in Japan auf, sein Vater in Frankreich.

Grace war den beiden noch nie begegnet. Seit der Scheidung hatten die Brüder Michael und Josh kaum noch Kontakt zu ihren Eltern. Immerhin kannte Elspeth sie, daher hörten sie die schreckliche Nachricht nicht von einer völlig fremden Person.

Den restlichen Tag über klingelte das Telefon ständig; alle meldeten sich auf ihre Nachrichten hin zurück – abgesehen von dem Menschen, dessen Anruf Grace am dringendsten erwartete. Trotzdem bezog sie schon mal das Bett in Joshs Souterrainwohnung frisch. Dann bereitete sie alles darauf vor, sich eine Zeit lang aus ihrem eigenen Leben zurückzuziehen.

In ihrer Wohnung im Obergeschoss sprach sie eine neue Ansage auf den Anrufbeantworter. Sie nahm ihr Laptop mit nach unten, um sich damit in den Sessel am alten gusseisernen Kochherd zu setzen, während Posie daneben im Kinderbett schlief. Sie ging die Termine für ihre Goldschmiedekurse durch und sagte allen Teilnehmern ab.

Anschließend schrieb sie Schecks über die bereits gezahlten Anmeldegebühren aus und steckte sie in adressierte Umschläge. Im Moment war sie dankbar für jede Ablenkung.

Danach kümmerte sie sich um ihre Nichte Posie. Sie badete das Mädchen, gab ihr ein Fläschchen und wechselte ihr die Windel. Die ganze Zeit wartete sie sehnsüchtig auf Joshs Anruf. Sie musste ihm unbedingt persönlich sagen, was geschehen war …

„In China ist es gerade mitten in der Nacht“, bemerkte Elspeth. Inzwischen hatte das Telefon mehrmals geklingelt, aber immer hatte sich jemand anders gemeldet. „Wahrscheinlich schläft er gerade und hört seine Mailbox erst am nächsten Morgen ab.“

„Vielleicht hätte ich doch eine Nachricht bei seinem Geschäftspartner hinterlassen sollen.“

„Ich finde, du hast dich genau richtig verhalten. Wenn du ihn gerade nicht erreichen kannst, schafft sein Partner das auch nicht.“

„Aber …“

„Außerdem ist es am besten, wenn er von dir erfährt, was passiert ist. Das sieht er bestimmt genauso. Immerhin stehst du ihm von allem Menschen auf der Welt am nächsten.“

„Warum? Er hat doch noch seine Eltern.“

Darauf ging Elspeth nicht weiter ein. „Komm, iss erst mal etwas“, schlug sie vor. „Hier steht noch eine Quiche …“

Grace schüttelte den Kopf. „Jetzt bekomme ich nichts runter.“

„Das kannst du dir aber nicht leisten. Du brauchst jetzt deine ganze Kraft, um dich um Posie zu kümmern.“

„Und was ist mit dir?“, hakte Grace nach. Immerhin hatte Elspeth gerade ihre beste Freundin verloren und fühlte sich wahrscheinlich ähnlich schrecklich. „Du bist doch schon den ganzen Tag am Rotieren, und gegessen hast du auch noch nichts.“

„Mach dir um mich mal keine Sorgen.“

„Das tue ich aber.“ Grace legte Posie wieder in ihr Bettchen. „Jetzt setz dich bitte hin, und ich koche uns beiden ein Ei.“

„Mit Toaststreifen zum Eindippen?“ Elspeth lächelte etwas angestrengt.

„Für dich doch gern. Zur Abwechslung kümmere ich mich mal um dich, einverstanden?“

„Okay, aber nur, wenn du mir versprichst, eine von den Beruhigungstabletten zu nehmen, die dir der Arzt mitgegeben hat. Du musst endlich schlafen …“

„Das geht jetzt noch nicht“, erwiderte Grace. „Erst wenn Josh mich zurückgerufen hat.“

„Aber danach legst du dich gleich hin, ja?“

„Versprochen.“ Und weil sie wusste, dass Elspeth sonst nichts essen würde, zwang sie sich dazu, ein Ei auszulöffeln und danach sogar noch einen Joghurt.

Dann ließ sie sich ein Bad ein. Fast wäre sie in dem angenehm warmen Wasser eingeschlafen, wenn Posie nicht unruhig geworden wäre. Grace kam es so vor, als ahnte die Kleine, dass ihre Welt aus den Fugen geraten war. Um das Kind mit dem vertrauten Duft ihrer Mutter zu beruhigen, zog Grace sich Phoebes Bademantel über, schmiegte das Baby an ihre Schulter und ging mit ihr den Flur entlang. Mit jedem Schritt hoffte sie, dass das Telefon endlich klingeln würde …

Mehrere Stunden später, als die Sonne auf der anderen Seite der Erdkugel längst aufgegangen sein musste, wählte Grace erneut die Handynummer von Josh. Aber auch diesmal erreichte sie nur den Anrufbeantworter. „Josh, wo bist du?“, rief sie verzweifelt in den Hörer. „Ruf mich doch bitte zurück!“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Natürlich.

„Michael ist tot, Josh“, brachte sie hilflos hervor. „Und Phoebe ist tot. Posie braucht dich!“

Schnell schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sonst hätte sie Josh noch gesagt, dass sie ihn ebenfalls brauchte. Sie hatte ihn schon immer gebraucht, wusste aber, dass Josh sehr gut ohne sie sein konnte. Und selbst in einer Ausnahmesituation wie dieser hatte Grace immer noch ihren Stolz.

„Hat Grace McAllister dich inzwischen erreicht, Josh?“, erkundigte sich Anna Carling.

In Nepal hatte Josh einen Direktflug nach Sydney gebucht. Dort angekommen, war er erst mal ins Büro gefahren, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, bevor er sich zu Hause schlafen legte.

„Wie bitte?“ Er runzelte die Stirn und blickte von der Liste mit Nachrichten auf, die seine Assistentin in seiner Abwesenheit aufgeschrieben hatte. „Grace hat angerufen?“

„Ja, Sonntag letzte Woche. Ich habe ihr deine Nummern in Hongkong gegeben. Und dann auch noch deine Handynummer, weil du ja meintest, dass du die ganze Zeit unterwegs sein würdest“, erklärte sie. „Ich hoffe, das war in Ordnung. Grace meinte, es sei sehr dringend.“

„Ja, natürlich, du hast dich ganz richtig verhalten“, beruhigte er sie. Dann wurde er nachdenklich. Was hatte Anna da eben gesagt, Grace hatte letzte Woche angerufen? Am Sonntag war er noch im Himalaja gewesen und hatte dort viel an seinen Bruder Michael gedacht … und an Grace.

Sein Handy hatte ihm zwar angezeigt, dass ihm jemand auf die Mailbox gesprochen hatte, aber das hatte er einfach ignoriert … und dann war ihm das Gerät auch noch in eine Felsspalte gefallen.

„Ich habe mein Handy im Himalaja verloren“, sagte er zu Anna. „Besorgst du mir bitte ein neues? Und hat Grace dir gesagt, worüber sie mit mir sprechen wollte?“

„Nein, sie meinte nur, es wäre dringend. Aber ich würde nicht ausgerechnet jetzt zurückrufen, in England ist es gerade mitten in der Nacht“, erinnerte Anna ihn, als er bereits auf die Kurzwahltaste gedrückt hatte.

„Ich weiß. Aber wenn sie versucht, mich zu erreichen, muss es wirklich dring…“ Er unterbrach sich, als am anderen Ende sofort der Anrufbeantworter ansprang.

„Dies ist der Anschluss von Grace McAllister. Leider kann ich momentan keine Anrufe entgegennehmen. Aufgrund eines plötzlichen Todesfalles in der Familie finden zurzeit keine Goldschmiedekurse statt. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte meiner Webseite.“

Josh erschrak. Wegen eines Todesfalles? Er erschauderte und musste sich am Schreibtisch festhalten. Plötzlich war ihm schwindlig geworden. Oh nein, dachte er. Posie!

Ja, wahrscheinlich ging es um Posie. Babys waren so zart, so anfällig für Unfälle und Krankheiten. Hirnhautentzündung, plötzlicher Kindstod … überall lauerten Gefahren. „Anna, sag bitte alle meine Termine ab“, wies er seine Assistentin an. „Und dann buch mir so schnell wie möglich einen Flug nach London.“

Als Nächstes wählte er die Nummer seines Bruders.

Die Frauenstimme am anderen Ende kam ihm zwar bekannt vor, aber es war eindeutig weder Phoebe noch Grace. „Hallo, hier spricht Josh Kingsley“, meldete er sich.

Er hörte Stimmengewirr, und dann hatte er sie am Telefon: Grace.

„Josh …“

Kaum hatte sie seinen Namen ausgesprochen, waren die Gefühle wieder da, die er schon so lange zu verdrängen versuchte. Besonders gut war ihm das noch nie gelungen. Gerade im vergangenen Jahr hatte er Grace einfach nicht vergessen können …

„Ich habe die ganze Zeit verzweifelt versucht, dich zu erreichen“, sagte sie.

„Ich habe eben bei dir angerufen und die Nachricht auf deinem Anrufbeantworter gehört“, erwiderte er ohne eine weitere Erklärung. „Was ist denn passiert? Wer … wer ist gestorben?“

Er hörte, wie sie zitternd nach Luft rang.

„Grace!“

„Michael und Phoebe hatten einen Autounfall … sie sind beide … tot!“

Einen Moment lang fand Josh keine Worte. Mein Bruder ist tot, dachte er. Tot! „Wann … ist das passiert?“

„Sonntagmorgen. Ich habe immer wieder versucht, dich zu erreichen, in Sydney, in China und auf dem Handy. Aber du hast dich nicht zurückgemeldet. Da dachte ich schon … ich …“

„Nein!“ Heftig stieß er das Wort aus. Er wusste sofort, was sie angenommen hatte – nämlich dass er sie absichtlich ignorierte. Und obwohl er gut nachvollziehen konnte, wie sie zu dieser Vermutung kam, tat es weh, das zu hören.

Grace war überglücklich über ihre Schwangerschaft gewesen. Darüber, dass sie ein Baby für ihre Schwester im Bauch trug. Sie hatte einfach nicht verstanden, warum Josh sie damals unbedingt davon abhalten wollte. Und er war nicht in der Lage gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen.

„Was genau ist passiert?“

„Die Polizisten meinten, das Auto sei auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern geraten, durch einen Zaun gerast und dann den Abhang hinuntergestürzt. Es ist ganz früh am Morgen passiert, niemand hat etwas davon mitbekommen …“

„Und … was ist mit dem Baby?“, hakte er atemlos nach. „Was ist mit Posie?“

„Wie meinst du … nein!“, erwiderte sie schnell. „Sie war nicht mit im Wagen, sondern zu Hause bei mir. Michael und Phoebe hatten einen Wochenendausflug gemacht. Es war ihr Hochzeitstag. Aber sie konnten es nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen, darum sind sie besonders früh losgefahren …“

Josh schlug sich die Hand vor den Mund, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken.

„Josh?“

„Ja, ich bin noch da“, brachte er schließlich hervor. „Wie geht es dir? Wie schaffst du das alles?“

„Atemzug für Atemzug“, erwiderte sie. „Minute für Minute. Stunde für Stunde …“

Am liebsten hätte er ihr gesagt, wie leid ihm das alles tat, aber die Worte, die ihm dazu einfielen, kamen ihm leer und bedeutungslos vor. Außerdem wusste sie wahrscheinlich sowieso, wie es ihm gerade ging, nämlich ähnlich wie ihr selbst. Schließlich hatte sie ihre Schwester verloren – und er seinen Bruder.

Bloß hatte er im Gegensatz zu ihr eine riesige Schuld auf sich geladen …

Josh beschloss, ganz sachlich an die Sache heranzugehen. „Hast du gerade jemanden bei dir, der dich unterstützt?“, erkundigte er sich. „Und was muss als Nächstes geregelt werden? Wann ist denn die …“ Er konnte das Wort Beerdigung nicht aussprechen.

„Wir haben sie am Freitag begraben. Dein Vater wollte nicht mehr länger damit warten. Und da du nicht zurückgerufen hast und wir dich nirgends erreichen konnten …“ Er hörte, wie sie schluckte. Offenbar kämpfte sie gegen die Tränen an. „Wo warst du eigentlich?“, sagte sie dann. Es klang wütend.

„Grace …“

In diesem Moment kam Anna Carling zu ihm ins Büro. „Unten wartet ein Taxi“, sagte seine Assistentin und reichte ihm ein neues Handy. „Du musst sofort los, wenn du den nächsten Flug nach London kriegen willst.“

„Grace? Ich fahre jetzt zum Flughafen“, sagte er in den Hörer. „Atme bitte weiter, bis ich bei dir bin, okay?“

Grace schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand.

Elspeth nahm ihr das Telefon aus der Hand. „Leg dich wieder hin. Vielleicht kannst du jetzt endlich ein paar Stunden durchschlafen“, sagte sie mit sanfter Stimme. Dann gab sie ihr das Röhrchen mit den Beruhigungstabletten. „Wenn Posie aufwacht, kümmere ich mich um alles. Im Kühlschrank steht ja genug Milch, die kann ich schnell warm machen. Das kriege ich schon hin.“

„Ich weiß.“ Grace schob sich das Röhrchen in die Hosentasche. Auf gar keinen Fall wollte sie die Tabletten nehmen. Sie hatte Angst davor, aufzuwachen und einen kurzen Moment lang anzunehmen, sie hätte alles nur geträumt. Um dann alles noch mal von vorn durchmachen zu müssen. Das sagte sie Elspeth allerdings nicht. Stattdessen drückte sie die Freundin einfach an sich. „Danke. Vielen Dank für alles.“

Josh betrachtete das dreistöckige Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das sein Bruder Michael gekauft hatte, als er Phoebe McAllister geheiratet hatte. Mit seinen vielen Zimmern, dem Keller und dem Dachboden bot es viel Platz für eine große Familie. Eigentlich hatten sich die beiden viele Kinder gewünscht …

Stattdessen waren er und Grace hier eingezogen. Er war damals siebzehn gewesen. Seine Eltern hatten sich gerade getrennt und waren in erster Linie mit sich selbst und ihren neuen Partnern beschäftigt – da wollten sie sich nicht auch noch mit einem launischen Teenager befassen. Grace war drei Jahre jünger gewesen, also vierzehn. Ihr hätte sich als einzige Alternative wohl das Waisenhaus geboten.

Ein frisch verheiratetes Paar hatte normalerweise andere Pläne, als sich erst mal um zwei Jugendliche zu kümmern. Und trotzdem nahmen sie Michaels jüngeren Bruder und Phoebes jüngere Schwester ganz selbstverständlich bei sich auf. Josh bekam seine eigene Wohnung im Keller und Grace ihr erstes eigenes Zimmer.

Damals war sie ein blasses, schmales Kind, während die gleichaltrigen Mädchen bereits mit ihren weiblichen Rundungen kokettierten und ihren Charme bei den Jungen an der Schule spielen ließen. Aber Graces grüne Augen, die je nach Stimmungslage wild funkelten oder dunkel schimmerten, ließen schon immer vermuten, was für ein tiefgründiger Mensch sie war.

Ihre Augen waren überproportional groß, genau wie ihre Nase und ihr Mund. Und damals, als sie noch nicht gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, hatte man in ihnen lesen können wie in einem Buch.

Gleich würde Josh wieder in genau diese Augen sehen.

Was für ein Tag war heute eigentlich? Dienstag? Und war es jetzt sieben Uhr abends oder sieben Uhr morgens?

Während er um die halbe Erde geflogen war, hatte er versucht, die schreckliche Nachricht vom Tod seines Bruders sacken zu lassen. Und auch Phoebe hatte er verloren, die für ihn so etwas wie eine große Schwester gewesen und in schweren Zeiten für ihn da gewesen war.

Für die harten Worte, die er vor einem Jahr ausgesprochen hatte, würde er sich nicht mehr entschuldigen können. Er hatte an seinem Ärger festgehalten, um damit etwas zu verbergen, das er sich selbst nicht eingestehen wollte …

Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich seinen Schuldgefühlen hinzugeben. Grace brauchte ihn, und das Baby brauchte sie beide.

Er ging auf die Eingangstür zu und betrachtete Graces Lieferwagen mit dem Schriftzug ihres Schmuckgeschäftes. Daneben hatte sonst immer das Auto seines Bruders gestanden. Jetzt parkte dort ein roter Kleinwagen. Erneut wurde Josh bewusst, was passiert war.

Er atmete tief durch und ging die Stufen zur Haustür hoch, wie so viele Male zuvor. Und trotz der warmen Frühlingssonne und der leuchtend gelben Tulpen, die links und rechts in Blumenkübeln blühten, kam es ihm vor, als würde das ganze Haus Trauer tragen.

Am Ende seines letzten Besuches hier hatte er seinem Bruder sämtliche Schlüssel zum Haus und seiner Wohnung im Keller auf den Schreibtisch geworfen. Als Zeichen dafür, dass er sich hier nie wieder blicken lassen wollte. Jetzt würde er zum ersten Mal anklopfen müssen, seit er als Siebzehnjähriger eingezogen war. Gerade wollte er den antiken Klopfer betätigen, da öffnete von innen jemand schwungvoll die Tür.

Grace! dachte er im ersten Moment und wollte sie instinktiv umarmen. Aber vor ihm stand eine fremde Frau.

Das war ja klar. Warum sollte Grace ihn auch begrüßen? Schließlich hatte sie ja Toby Makepeace, der sie jetzt tröstete, der immer für sie da war. Zumindest war das bei Joshs letztem Besuch so gewesen.

Die Frau, die ihm stattdessen die Tür geöffnet hatte, war ein paar Jahre älter, außerdem kam sie ihm bekannt vor. War das nicht eine Freundin von Phoebe? Wie hieß sie doch gleich – Elizabeth? Oder Eleanor?

Die Frau legte einen Finger auf die Lippen. „Grace ist in der Küche auf einem Stuhl eingeschlafen. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Sie hat schon so lange nicht mehr richtig geschlafen und ist völlig erschöpft.“

Er nickte.

„Das geht dir bestimmt ähnlich“, sagte sie. „Du musst dich schrecklich fühlen. Es tut mir schrecklich leid, dass du Michael verloren hast. Er war ein wunderbarer Mensch.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich fahre dann jetzt nach Hause. Sag Grace bitte, dass sie sich bei mir melden soll, wenn sie etwas braucht, ja? Ich rufe morgen früh kurz durch.“

„Ja. Vielen Dank … Elspeth.“ Endlich war ihm der Name wieder eingefallen.

Josh sah der Frau nach, bis sie in ihr Auto gestiegen war. Dann trug er sein Gepäck ins Haus und schloss so leise wie möglich die Tür. Langsam und bedächtig ging er den Flur entlang. Bevor er Grace begegnete, wollte er erst mal in seiner ehemaligen Kellerwohnung duschen. Allerdings brauchte er dafür einen Schlüssel, und der hing normalerweise in der Küche.

Unentschlossen blieb er im Flur stehen. Dabei fiel sein Blick auf ein Tischchen mit ungeöffneten Umschlägen. Einige davon waren an Grace adressiert, einige an ihn selbst. Er öffnete einen davon. Eine schwarz-weiß gestaltete Karte mit Lilien kam zum Vorschein. Herzliches Beileid, stand darauf.

Josh zuckte zusammen und ließ die Karte fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Dann ging er langsam in Richtung Küche.

Vorsichtig stieß er die Tür auf. Sie quietschte leise – genau wie immer. Dabei hatte Michael seiner Frau damals so oft versprochen, sich darum zu kümmern. Auch er selbst hatte schon angeboten, die Angeln zu ölen, aber daraufhin hatte Phoebe nur gelächelt und gesagt, dass das Quietschen sie gar nicht störte. Auf diese Weise war sie wenigstens vorgewarnt, wenn jemand in die Küche kam.

Außerdem konnte sie sich dann hin und wieder bei Michael darüber beschweren. Sonst hielt er sich womöglich noch für vollkommen, und das tat schließlich keinem Mann auf Dauer gut.

Dabei hielt Michael sich keinesfalls für vollkommen – im Gegenteil, und das wusste Josh nur zu gut. Aber das sollte das Geheimnis der beiden Brüder bleiben, also hatte er einfach schweigend zurückgelächelt.

Jetzt blieb er kurz auf dem Flur stehen und lauschte nach Geräuschen, die aus der Küche kamen. Nichts. Vorsichtig betrat er den gemütlichen Raum, der immer den Mittelpunkt des Geschehens in diesem Haus gebildet hatte. Der große Esstisch bot genug Platz für die ganze Familie und ihre Gäste.

Neben dem alten gusseisernen Kochherd stand ein Sessel, in dem die damals vierzehnjährige Grace sofort Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Damals, als sie mit einer Plastiktüte in einer Hand und einem zotteligen Terrier unter dem Arm eingezogen war …

Von da an waren die beiden ständig dort anzutreffen – das Mädchen und der kleine alte Hund. Harry hieß er. Als Harry ein paar Monate später gestorben war, hatte Josh ihr einen Welpen geschenkt. Inzwischen lebte auch der nicht mehr; dafür hatte Grace jetzt eine neue große Liebe: ihre Nichte Posie. Sie hatte das Kind als Ersatzmutter für ihre Schwester Phoebe ausgetragen, die ihr damals ein Zuhause geschenkt hatte.

Jetzt saßen Grace und Posie beide im Sessel und schliefen. Beziehungsweise: Grace saß, und Posie hatte sich an ihre Schulter gekuschelt.

Seit Posies Geburt vor drei Monaten hatte Michael seinem Bruder immer wieder Babybilder geschickt und ihn über die Entwicklung des Kindes auf dem Laufenden gehalten. Davon, dass Josh nie reagiert hatte, hatte er sich nicht beirren lassen.

Von Grace schickte er keine Fotos – bis zur Taufe, und da war sie nur auf einem Gruppenbild zu sehen. Als Taufpatin hielt sie Posie auf dem Arm, links und rechts von ihr standen Michael und Phoebe. Alle lächelten glücklich in die Kamera. Wahrscheinlich hatte Michael ihm das Bild nicht zuletzt deswegen geschickt, damit Josh sah, was er verpasst hatte.

Ihm war es egal, er interessierte sich nur für Grace. Deshalb hatte er sie und Posie aus dem Gruppenbild ausgeschnitten, den Bildausschnitt vergrößern lassen und in seine Brieftasche gesteckt.

Auf dem Foto wirkte sie entspannt und fröhlich. Aber ein Foto war eben nur ein zweidimensionales Abbild der eigentlichen Person. Man konnte ihre Wärme nicht spüren, ihren Duft nicht wahrnehmen. Man konnte die Grace auf dem Bild zwar berühren, aber sie gab einem nichts zurück. Eigentlich hatte sie ihm schon lange nichts mehr zurückgegeben, wenn er zu Hause zu Besuch gewesen war, sondern war immer auf Abstand zu ihm gegangen.

Immerhin hatte er sich inzwischen daran gewöhnt, dass sie ihr wunderschönes langes Haar irgendwann im letzten Jahr hatte abschneiden lassen und jetzt einen kurzen Bob trug. Und dass ihre jungenhafte Figur inzwischen sehr weibliche Formen angenommen hatte.

Das Bild, das sich ihm jetzt bot, war allerdings durch und durch echt. Es war eine sehr intime Szene, wie sie nur ein Ehemann und Vater zu Gesicht bekam. Josh blieb reglos stehen und traute sich kaum zu atmen. Am liebsten hätte er diesen Augenblick für immer festgehalten: Grace und das friedlich schlummernde Baby Posie. Ganz langsam, wie in einer Zeitlupe, glitt das leere Trinkfläschchen aus Graces Schoß zu Boden.

Blitzschnell bückte er sich, um das Fläschchen aufzufangen, bevor es auf die Küchenfliesen aufschlug und die beiden Schlafenden weckte.

Zu spät – als er aufblickte, bemerkte er, dass Grace die Augen geöffnet hatte. Schwer zu sagen, ob sie wach war. Sie sah ihn zwar direkt an, ihr Blick wirkte allerdings verklärt, als ob sie immer noch träumte. Als würde sie ihn nicht richtig wahrnehmen. Er hielt die Luft an und wartete darauf, dass sie die Augen wieder schloss, um weiterzuschlafen.

Stattdessen setzte sie sich auf. „Michael?“ Sie blinzelte, betrachtete ihn eingehend, und dann runzelte sie die Stirn.

Josh erkannte genau, in welchem Moment ihre Erinnerung einsetzte und sie sich bewusst wurde, was passiert war. Unwillkürlich legte er ihr eine Hand auf den Arm, als könnte er dadurch die Zeit anhalten und wieder zurückdrehen, als könnte er Grace dadurch vor allem bewahren. „Grace …“

„Oh, Josh …“

Der ganze Schmerz, den sie empfinden musste, lag in diesen beiden Worten.

Josh kniete sich vor sie auf den Boden, zog sie in die Arme und hielt sie ganz fest.

Die letzten zehn Jahre lang hatte er immer wieder daran gedacht, wie es sich angefühlt hatte, sich an sie zu schmiegen, ihr seidiges Haar auf seiner Haut zu spüren und ihre weichen, süßen Lippen … Sie hatte so unschuldig gewirkt und damit gleichzeitig sein Verlangen geweckt. Sein Verlangen nach einer Erfahrung, von der er bis dahin nicht geglaubt hatte, dass er sie jemals machen wollte.

Damals hatte er sich zu etwas hinreißen lassen, das er sich nicht verzeihen konnte. Und dann hatte er sich einfach aus seinem eigenen Bett geschlichen, in dem Grace kurze Zeit später aufgewacht war – allein.

So ist es am besten für uns beide, hatte er sich immer wieder eingeredet.

Grace brauchte Sicherheit. Jemanden, der immer für sie da sein würde, auf den sie sich verlassen konnte. Aber Josh zog es nun mal in weite Welt. Er brauchte absolute Unabhängigkeit und die Freiheit, Risiken einzugehen, um sein Unternehmen aufzubauen. So, wie er es sich immer vorgestellt hatte.

Aber nichts von dem, was er seitdem erlebt hatte, konnte die Erinnerung an diese eine Nacht mit Grace verblassen lassen. Schon gar nicht seine überstürzte Ehe, die er kurz darauf schon wieder beendet hatte. Die ganze Zeit hatte er sich immer nur nach Grace gesehnt. Und in den letzten zwölf Monaten war alles nur noch schlimmer geworden.

Jetzt fuhr er ihr zärtlich mit den Lippen über die Schläfen und atmete dabei den süßen, milchigen Babyduft ein. Dann küsste er auch Posie. Für einen kurzen Augenblick lang schien alles gut zu sein, als hätte er vor vierundzwanzig Stunden nicht eine der furchtbarsten Nachrichten seines Lebens erhalten.

2. KAPITEL

Ganz allmählich und in unregelmäßigen Schüben kam Grace wieder in der Wirklichkeit an. Erst hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand und warum etwas Schweres auf ihrer Schulter lag. Und warum Michael auf einmal vor ihr stand und sie beobachtete.

Michael? Aus irgendeinem Grunde wusste sie, dass der Mann nicht ihr Schwager sein konnte.

Und dann sagte er auf einmal ihren Namen: „Grace …“

Genauso hatte er ihn vor vielen Jahren ausgesprochen, bevor er sie fest an sich gezogen hatte. Und in diesem Moment war ihr klar, dass der Mann nicht Michael war. Nein, es war sein jüngerer Bruder Josh, der sie gerade festhielt, als wollte er sie nie wieder loslassen. Davon träumte sie, seit er sie vor zehn Jahren nach einer leidenschaftlichen Nacht einfach wortlos verlassen hatte. Danach war ihr das Leben auf einmal unendlich leer vorgekommen.

Jetzt war er wieder da – und sie klammerte sich an ihn, um zu spüren, dass er auch wirklich echt war. Sie brauchte ihn so sehr, gerade jetzt!

Sie spürte seine Lippen auf ihrer Stirn, seinen Atem an ihrer Schläfe. Und als sie zu ihm aufblickte, küsste er sie so zärtlich und intensiv wie in ihren schönsten Träumen, die sie Tag und Nacht verfolgt hatten. Genauso, wie er sie damals geküsst hatte, bevor sie sich ungeduldig ausgezogen hatten, um sich endlich ihrer heißen Leidenschaft hinzugeben. Darauf waren zehn Jahre eisige Kälte gefolgt …

Natürlich hatte er immer mal wieder bei Phoebe, Michael und Grace in Maybridge vorbeigeschaut, hatte von seinen Erlebnissen, seinen Plänen und seinen Erfolgen erzählt. Aber er hatte es nie lange zu Hause ausgehalten. Immer wollte er so schnell wie möglich weg, weil es ihn an einen anderen Ort zog oder zu einem anderen Menschen.

Seit ihrer einen gemeinsamen Nacht hatte Grace ihn nie wieder so nah an sich herangelassen. Auf keinen Fall sollte er wissen, wie sehr er sie damals verletzt hatte. Und während die anderen ihn zur Begrüßung küssten und umarmten, zog sie sich erst mal zurück, bis die erste Aufregung abgeklungen war.

Außerdem sorgte sie dafür, dass sie auf den Partys, die er dann ausrichtete, immer einen männlichen Bekannten an ihrer Seite hatte. Einen Anlass zu feiern hatte er immer: seine erste eigene Firma, seinen ersten internationalen Geschäftsabschluss … oder seine Hochzeit …

Aber so zurückhaltend Grace sich ihm gegenüber in den letzten zehn Jahren gegeben hatte – jetzt klammerte sie sich fest an ihn. Sie gab sich seinen zärtlichen Küssen hin und atmete seinen unvergesslichen Duft ein. Ja, sie brauchte Josh. So sehr, wie sie ihn noch nie gebraucht hatte. Gleichzeitig wusste sie, dass dieses Gefühl einseitig war.

Er drückte sie nicht etwa deswegen so fest an sich, weil er selbst Trost und Halt suchte, sondern weil er wusste, dass sie sich danach sehnte. Es war alles genau wie damals.

Jahrelang hatte sie ihre Gefühle für ihn unter Verschluss gehalten. Hatte ihm gegenüber den lockeren Kumpel gegeben, ihn wegen seiner Outfits, seiner Freundinnen und seines Musikgeschmacks aufgezogen … bis sie schließlich zusammengebrochen war und ihm alles gestanden hatte.

Es war der Abend vor seiner Abreise gewesen. Nur, dass es am nächsten Tag nicht wie so oft zurück auf die Universität gehen sollte oder auf einen Abenteuertrip mit seinen Freunden. Diesmal zog es Josh auf die andere Seite des Erdballs, wo er ein neues Leben aufbauen wollte.

Grace war außer sich gewesen. Weil sie ihre Verzweiflung nicht in Worten ausdrücken konnte, hatte sie einfach die Arme um ihn geschlungen. Und er war darauf eingegangen – vielleicht auch aus Unsicherheit, schließlich stand er kurz davor, alles Vertraute hinter sich zu lassen.

Sie machte ihm keinerlei Vorwürfe dafür, dass er sich genommen hatte, was sie ihm so bereitwillig angeboten hatte. Genau das hatte sie sich schließlich gewünscht, und zwar schon sehr lange. Allerdings hatte sie sich dabei einem fatalen Trugschluss hingegeben: Sie war davon ausgegangen, dass er bei ihr bleiben würde, wenn er begriff, was sie für ihn empfand.

Aber das war damals für ihn nicht infrage gekommen. Genauso wenig wie jetzt. Klar, er würde ein paar Tage oder sogar Wochen in Maybridge verbringen, sie trösten und ihr dabei helfen, den Papierkram zu erledigen.

Aber danach würde er sich in den nächsten Flieger setzen – nach Sydney oder Hongkong, China oder Südamerika. Wohin auch immer seine Pläne ihn gerade verschlugen. Er würde ihr einfach den Rücken zukehren, ohne sich noch ein einziges Mal nach ihr umzudrehen. Maybridge war einfach zu klein für jemanden wie Josh Kingsley. Schon immer gewesen.

Damals, mit achtzehn Jahren, war sie sich noch so sicher gewesen, dass sie ihn würde ändern können. Dass er sie nicht verlassen würde, wenn er erst wüsste, wie sehr sie ihn liebte.

Jetzt, mit achtundzwanzig, war sie um einiges klüger. Sie zog die Beine vom Sessel, sodass Josh ein Stück zurückweichen musste. Er hocke sich vor sie auf den Küchenboden und betrachtete sie eingehend.

Grace konnte einfach nicht wegschauen. Es kam ihr vor, als würde sie ihn zum ersten Mal seit Jahren richtig ansehen, und vielleicht stimmte das sogar. Vielleicht war sie in den letzten Jahren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihn zu ignorieren und ihn denken zu lassen, dass sie über ihn hinweg war.

Josh war nicht nur rein körperlich eine beeindruckende Erscheinung. Mit seiner großen, breitschultrigen Statur und dem wachen Verstand hatte er auf dem Sportplatz alle übertroffen, auch in der Schule und an der Universität waren seine Leistungen herausragend gewesen.

Seit seinem letzten Besuch hatte er sich einen kurzen, sauber gestutzten Bart stehen lassen. Wie ein Fremder wirkte er dadurch auf Grace. Und das war er ja auch.

Inzwischen verstand sie nur zu gut, warum er sie damals einfach verlassen hatte: Er hatte keine andere Wahl gehabt. Wäre er bei ihr geblieben, hätte er ihr früher oder später zum Vorwurf gemacht, dass er seine Träume ihretwegen nicht verwirklicht hatte. Liebe konnte so schnell in Hass umschlagen …

„Grace“, sagte Josh und riss sie damit aus ihren Gedanken und Erinnerungen. „Grace …“ Er nannte einfach nur ihren Namen. Aber was sollte er auch sonst sagen? Dass ihm sein Verhalten bei seinem letzten Besuch leidtat?

Dafür war es definitiv zu spät. Am liebsten hätte sie ihn jetzt noch geohrfeigt. Ihn beschimpft, weil er sich seit Posies Geburt nicht mehr bei ihnen hatte blicken lassen. Dabei hätte sich sein Bruder so unendlich über seinen Besuch gefreut! Aber jetzt war es zu spät … „Wo hast du eigentlich die ganze Zeit gesteckt?“, herrschte sie ihn an.

„Ich war in den Bergen … im Himalaja. Ich wollte ein paar Tage lang einfach für mich sein, ganz ohne Arbeit und Telefon, ohne irgendeinen Kontakt zur Außenwelt …“

Sein Blick wirkte so verzweifelt, dass sie Josh am liebsten an sich gezogen hätte, um ihn zu trösten. Stattdessen wandte sie sich Posie zu, die sich an ihre Schulter schmiegte, und küsste sie auf die zarte Stirn.

Komisch, dass zwei Brüder so grundverschieden sein können, dachte sie. Der eine so aufmerksam, sensibel und zugewandt … und der andere so distanziert und vollkommen sachlich. Beinahe gefühllos. Dass sie sich ausgerechnet in Josh verliebt hatte, war der größte Fehler ihres Lebens gewesen. Aber sie war damals jung und unerfahren gewesen und hatte einfach nicht anders gekonnt.

Josh war ihr Ritter auf dem weißen Pferd.

Als Vierzehnjährige war sie in eine ihr völlig fremde Stadt gekommen und musste sich schon wieder in einer neuen Schule einleben … Das war ihr schon immer schwergefallen, an ihren bisherigen Schulen hatte sie sich nie wohlgefühlt.

Josh bemerkte sofort, wie sehr ihr der erste Tag in der neuen Klasse bevorstand. Also drückte er ihr seinen Ersatzhelm in die Hand und fuhr sie auf dem Motorrad zur Schule. Und damit hatte er ihr ganzes Leben umgekrempelt. Damit hatte sie ordentlich Eindruck bei ihren Mitschülern geschunden, von diesem Moment an galt sie unter ihren Mitschülern als „cool“.

Die anderen Mädchen wollten unbedingt alle Josh Kingsley kennenlernen, und die angesagten Jungen wollten auch so sein wie er. Und auf einmal war Grace an ihrer neuen Schule keine Außenseiterin, stattdessen wollten alle mit ihr befreundet sein.

Ihr war natürlich klar, dass es den anderen dabei nicht um sie als Person ging, aber das störte sie nicht. Warum auch? Sie konnte nur zu gut nachvollziehen, was da passierte. Schließlich war sie selbst völlig fasziniert von dem umwerfenden Mann, der auch noch im selben Haus wohnte wie sie. Gleichzeitig war ihr klar, dass er sich nie dazu herablassen würde, mit einer Vierzehnjährigen wie ihr zu einer Schulparty zu gehen …

Die Mädchen, mit denen er sich stattdessen verabredete, taten ihr direkt leid. Alle bildeten sie sich anfangs ein, mit ihm den Hauptgewinn gezogen zu haben. Aber Grace wusste es besser. Er hatte ihr anvertraut, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich der Kleinstadt Maybridge zu entkommen und die große, weite Welt zu erobern. Das hatte er schließlich auch getan … und jetzt war er wieder da, wenn auch nur vorübergehend.

Josh stand auf, ging einen Schritt zurück und stellte Posies leere Trinkflasche auf das Tischchen neben dem Sessel.

„Die Flasche wäre eben fast auf den Boden gefallen“, erklärte er. „Ich habe sie schnell aufgefangen, damit du nicht aufwachst. Elspeth hat mich vorhin reingelassen. Sie hat mich gebeten, dich nicht zu stören.“

Dafür war es jetzt zu spät. Viel zu spät. Josh hatte ihr Leben schon vor vielen Jahren restlos auf den Kopf gestellt.

„Ist sie schon weg?“

Er nickte. „Sie meinte, sie würde morgen noch mal anrufen.“

„Elspeth war eine riesengroße Hilfe. Sie hat sich um alles gekümmert, ist ans Telefon gegangen und hat das Essen nach der Beerdigung organisiert. Jetzt braucht sie dringend Ruhe. Immerhin war sie Phoebes beste Freundin, das Ganze ist ihr sehr nahegegangen.“

Auch Josh sah ziemlich mitgenommen aus, wahrscheinlich hatte er auf seinem Flug nach London kaum geschlafen. Er war blass, und sein Blick wirkte glasig. „Wie geht es dir denn?“, erkundigte sie sich.

„Darüber mache ich mir irgendwann später Gedanken.“

„Wann denn? Wenn du wieder in Sydney bist?“

„Jetzt bleibe ich erst mal hier“, gab er zurück. „Bis alles geregelt ist.“

„Wie meinst du das – alles?“

„Michael hat mich als Testamentsvollstrecker benannt. Also muss ich mich um den Nachlass kümmern.“

„Das ist doch innerhalb einer Woche erledigt“, gab Grace zurück und bereute ihre Worte sofort. Bestimmt trauerte er sehr um seinen Bruder – selbst wenn er es sich nicht anmerken ließ. „Entschuldige bitte, das tut mir leid.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Er blickte zu ihr auf und atmete tief durch. „Mir tut es schrecklich leid … für dich. Du und Phoebe, ihr wart euch so nah. Sie war doch so etwas wie eine Mutter für dich.“

„Viel besser als unsere Mutter.“

„Ich weiß.“ Er betrachtete sie eingehend. „Hast du eigentlich schon mit ihr gesprochen? Mit eurer Mutter? Weiß sie, was passiert ist?“

Grace schüttelte den Kopf.

Ihre Mutter war ein ruheloser Geist und ließ sich nur hin und wieder in Maybridge blicken. Dann zog sie schon wieder weiter, an den nächsten Ort. Phoebe hatte ihr zwar irgendwann mal ein Handy gekauft, aber das benutzte sie nie, und eine Kontaktadresse hatte sie auch nie durchgegeben.

„Vor ein paar Monaten haben wir von ihr eine Karte aus Indien bekommen. Keine Ahnung, ob sie immer noch da ist.“ Grace seufzte. „Elspeth hat dort schon im Konsulat angerufen und allen Leuten Bescheid gesagt, bei denen sie sich eventuell melden könnte. Aber offenbar ist sie noch schwieriger zu erreichen als du.“

„Es tut mir leid, Grace. Ich bin von Nepal aus direkt nach Sydney zurückgeflogen. Dass du in Hongkong angerufen hattest, habe ich da nicht mehr mitbekommen.“

„Du warst in Nepal?“ Dann fiel ihr wieder ein, dass er etwas vom Himalaja gesagt hatte. „Was hast du da eigentlich gemacht?“

„Das war eine Art Pilgerreise.“

„Pilgerreise?“

„Na ja, ich wollte von dort aus Michael anrufen. Ihm davon erzählen, wie die Sonne gerade vor meinen Augen hinter dem Gebirgsmassiv untergeht. Aber meine Hände waren so steif vor Kälte, dass mir das Handy in eine Felsspalte gefallen ist.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen, als müsste er sie immer noch aufwärmen. „Eigentlich hatten wir zusammen dorthin reisen wollen.“

„Wirklich? Das wusste ich gar nicht.“

„Ja, das haben wir geplant, nachdem sich unsere Eltern getrennt hatten. Bevor er Phoebe kennengelernt hat.“

Grace runzelte die Stirn. „Sie hätte bestimmt nichts dagegen gehabt.“

„Vielleicht konnte er einfach nicht ohne sie sein, nicht mal für einen Monat. Mit Phoebe ist sein größter Traum in Erfüllung gegangen.“

Nur Josh ist ganz allein geblieben, dachte Grace. Und seine Eltern hatten sich auch nicht für ihn interessiert. Nach ihrer Trennung waren die beiden einfach ihren eigenen Bedürfnissen nachgegangen, während sich Graces Mutter wenigstens hin und wieder hatte blicken lassen.

„Michael hätte sich bestimmt gefreut, dass du endlich eure Traumreise gemacht hast“, sagte sie.

„Ja, bestimmt. Er hat sich immer gewünscht, dass alle glücklich sind. Bei mir ist es umgekehrt, fürchte ich. Ich glaube, ich wollte ihm mit meinem Anruf eins auswischen.“

„Nein!“ Bevor Grace es sich anders überlegen konnte, hatte sie die Hand auf seinen Arm gelegt.

Aber Josh starrte weiter auf den Boden. Als könnte er es nicht ertragen, ihr in die Augen zu sehen.

„Ich glaube, du hast die Reise für euch beide gemacht. Und du hast an ihn gedacht, als du da warst, und wolltest das Erlebnis mit ihm teilen. War es denn so, wie du es dir vorgestellt hattest?“

„Oh, ja. Diese Gebirgslandschaft … ist einfach unbeschreiblich. Dagegen wirkt alles andere so klein und unwichtig. Genau das wollte ich ihm erzählen. Ich wollte ihm sagen …“

„Das weiß er alles“, unterbrach sie ihn und schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. „Da bin ich mir sicher.“

„Glaubst du das wirklich?“ Jetzt zwang Josh sich doch, sie anzuschauen. „Grace … ich wünschte, ich wäre stattdessen hier gewesen. Ich finde es schrecklich, dass du das alles allein durchstehen musstest …“

„Aber ich war doch nicht allein, ich hatte jede Menge Hilfe. Toby hat mich zum Beispiel ganz wunderbar unterstützt.“

Aha. Toby Makepeace also.

Josh zog sich der Magen zusammen. Toby schien wirklich der perfekte Mann für sie zu sein: zuverlässig und beständig wie ein Fels in der Brandung.

„Außerdem haben Michaels Geschäftspartner das Begräbnis organisiert. Und dann hat dein Vater alles in die Hand genommen.“

„Ist er etwa noch da?“

„Nein, er ist gleich nach der Beisetzung wieder abgereist. Offenbar musste er unbedingt an einer wichtigen Debatte im Europaparlament teilnehmen.“

Gerade wollte Josh eine abfällige Bemerkung darüber machen, was sein Vater für wichtig hielt und was nicht, aber dann überlegte er es sich doch anders. Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte lieber nicht mit Steinen werfen, dachte er. „Und meine Mutter?“, erkundigte er sich stattdessen. „Ist sie schon wieder zu ihrem Lover in Japan abgedüst?“

„Nein, sie ist bei Freunden in London untergekommen.“

„Wahrscheinlich will sie sich die Testamentseröffnung nicht entgehen lassen“, sagte er langsam.

„Josh!“, rief sie aus. „Sie hat mich gebeten, ihr Bescheid zu sagen, sobald du hier bist. Dann wollte sie wieder herkommen.“

„Habe ich’s nicht gerade eben gesagt?“, gab er zurück. Sie wartet auf die Testamentseröffnung.“ Er seufzte. Eigentlich sollte er seine Enttäuschung über seine Eltern mit sich selbst ausmachen und nicht auch noch Grace damit belasten. „Tut mir leid, ich hätte einfach meinen Mund halten sollen“, sagte er. „Vielen Dank dafür, dass du dich so sehr bemüht hast, mich zu erreichen, statt einfach eine Nachricht in meinem Büro in Sydney zu hinterlassen.“

„Ich wollte lieber persönlich mit dir sprechen. Deine Mitarbeiter waren übrigens alle sehr nett und hilfsbereit. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mir gleich sämtliche Telefonnummern nennen würden. Immerhin bin ich für sie ein wildfremder Mensch.“

„Überhaupt nicht!“, protestierte er. „Glaubst du etwa, ich hätte dich noch nie erwähnt?“ Dann sprach er sehr viel ruhiger weiter, als würde er sich für seinen kurzen Ausbruch schämen: „Außerdem habe ich für Notfälle eine Liste mit mir nahe stehenden Menschen, denen meine Mitarbeiter sämtliche Kontaktinformationen weitergeben dürfen.“

„Und auf dieser Liste steht mein Name?“

„Natürlich. Wir wissen doch beide, dass du dich nur dann bei mir melden würdest, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt.“

Früher hätte Grace über seine Bemerkung gelacht. Wenn Josh nur wüsste, wie oft sie schon den Hörer in der Hand gehalten hatte, um ihn anzurufen – einfach, um seine Stimme zu hören.

„Grace …“

„Ich werde Michael schrecklich vermissen“, sagte sie schnell. „Er war der freundlichste, warmherzigste Mensch …“

„Stopp!“ Josh schloss kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder und blickte sie an. „Du brauchst ihn jetzt nicht gleich heiligzusprechen. Perfekt war Michael nämlich nicht, er hatte auch seine Fehler. Genau wie wir alle.“

Grace erwiderte nichts darauf, dazu war sie zu wütend. Warum musste Josh schon wieder gegen seinen Bruder angehen? Sie stand vorsichtig mit Posie auf und stützte dabei ihren Kopf. Dann legte sie die Kleine in ihr Bettchen neben dem Sessel.

Posie verzog kurz das Gesicht, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Aber als Grace ihr die Hand auf den Bauch legte, entspannte sie sich wieder. Der Körperkontakt schien sie zu beruhigen.

Sobald das Baby wieder eingeschlafen war, schaltete Grace den Wasserkocher ein – um etwas zu tun zu haben, nicht etwa, weil sie wirklich etwas trinken wollte.

„Ich habe übrigens deine alte Kellerwohnung für dich vorbereitet“, erklärte sie. „Das Bett ist frisch bezogen, und im Kühlschrank sind ein paar Lebensmittel. Du bist bestimmt müde nach dem langen Flug.“

„Ja, aber ich bleibe noch ein bisschen wach. Je schneller ich mich an diese Zeitzone gewöhne, desto besser.“

„Auch gut. Ich würde jetzt übrigens etwas essen, im Ofen steht noch ein Eintopf. Wenn du dich wirklich so schnell wie möglich auf die englischen Ess- und Schlafgewohnheiten umstellen willst, isst du am besten gleich mit.“

Er schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich habe keinen Hunger.“

„Tja, seltsamerweise geht es mir ähnlich“, gab sie zurück. „Aber leider kann ich es mir nicht leisten, eine Mahlzeit auszulassen. Ich muss mich schließlich um Posie kümmern.“

Dann hielt sie inne. Das war unfair, sagte sie sich. Josh ist gerade um die halbe Welt geflogen, da hat er es nicht verdient, so angezickt zu werden.

„Möchtest du vielleicht erst mal duschen und dich rasieren?“, schlug sie vor. „Dann kannst du ja immer noch weitersehen.“

Er strich sich über das Kinn. „Der Bart gefällt dir wohl nicht, was?“

„Wie bitte?“ Sie betrachtete ihn lange – endlich hatte sie einen guten Vorwand, das unauffällig zu tun. „Ist das etwa Absicht?“

Einen Augenblick lang zuckte es um seine Mundwinkel. Damals, zu Schulzeiten, hatte er mit seinem Lächeln die Herzen aller Mädchen zum Schmelzen gebracht. Und auch Graces Pulsschlag beschleunigte sich spürbar. Offenbar waren auch vernünftige, erwachsene Frauen nicht gegen seinen Charme gewappnet …

Andererseits war sie sowieso ein mehr als hoffnungsloser Fall, was ihn anging. „Sorry, Josh“, sagte sie schließlich. „Ich dachte wirklich erst, du hättest vergessen, deinen Rasierer einzupacken.“

„Tja, wenn das so wäre, sähe mein Bart jetzt ganz anders aus. Ich habe ja immer noch die Reisetasche dabei, mit der ich schon in China und Nepal war. Hoffentlich hast du noch Platz in deiner Waschmaschi…“

Er hielt inne, als ein leises Wimmern aus dem Kinderbettchen kam. Ein Wimmern, das sich schnell zu einem lauten Weinen entwickelte.

Grace stöhnte. „Ich dachte mir schon, dass sie nicht lange so ruhig bleiben würde“, sagte sie. „In den letzten Tagen war sie sehr aufgewühlt. Ich glaube, sie spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.“

Josh stellte sich ans Bettchen und legte Posie langsam und vorsichtig die Hand auf den Bauch – so, wie er es vorhin bei Grace beobachtet hatte.

Sofort hörte Posie auf zu weinen und betrachtete den großen Mann, der sich über sie beugte, mit weit aufgerissenen Augen. Dann streckte sie eine kleine Faust nach ihrem Onkel aus. Er hockte sich neben das Bettchen und berührte ihre Hand mit dem Zeigefinger.

Grace hielt den Atem an.

Damals war Josh außer sich vor Wut gewesen, als sie ihm gesagt hatte, dass es zu spät sei, ihre Leihmutterschaft zu verhindern. Sie sei bereits schwanger und wolle das Kind für ihre Schwester als Leihmutter austragen.

Inzwischen war Posie drei Monate alt. Grace hatte keinerlei Vorstellung davon gehabt, wie er auf die Kleine reagieren würde. Als junger Mann hatte er immer wieder betont, dass er nie im Leben Vater werden wollte.

Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie die erste Kontaktaufnahme der beiden beobachtete. Bestimmt würde Josh sie gleich fragen, wie sie so etwas nur hatte tun können. Wie sie es fertiggebracht hatte, neun Monate lang ein Kind im Bauch zu tragen, seine ersten Bewegungen zu spüren, bloß um es am Ende ihrer Schwester und seinem Bruder zu überlassen.

Zumindest hatten andere Leute ihr diese Fragen gestellt. Ihre engsten Freunde nicht, die hatten sie verstanden. Aber eine Lokalreporterin hatte irgendwie etwas von der Geschichte mitbekommen und daraufhin Grace angerufen und sie von vorn bis hinten ausgefragt. Wie es zu dieser Regelung gekommen war, warum sie sich darauf eingelassen hatte, und zum Schluss kam die unverschämte Frage, was für sie finanziell dabei heraussprang.

Interessanterweise regten sich gerade diejenigen Leute am meisten darüber auf, die sie nicht oder kaum kannten.

Menschen, die nicht wissen, was selbstlose Liebe bedeutet, dachte Grace.

Ihr waren diese Menschen gleichgültig. Aber Josh war ihr nicht egal. Wenn er wenigstens nachvollziehen könnte, warum sie so gehandelt hatte – auch wenn er selbst nichts davon hielt! Wenn er es nur einfach so stehen lassen könnte und sie nicht ins Kreuzverhör nehmen würde!

„Michael hat mich gleich nach Posies Geburt angerufen“, sagte er bedächtig. Es kam ihr vor, als hätten sie sich eine halbe Ewigkeit angeschwiegen. „Er hat sich so wahnsinnig gefreut, dass er kaum sprechen konnte.“ Im Augenblick schien Josh selbst angestrengt nach Worten zu suchen. „Ich war gerade irgendwo am anderen Ende der Welt, und wir hatten eine katastrophale Verbindung. Aber ich habe ihn trotzdem klar und deutlich verstanden. Für ihn war endlich, endlich die Welt in Ordnung.“

Josh blickte hoch und sah ihr in die Augen. „Und das hat er dir zu verdanken, Grace.“

Langsam atmete sie aus. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Also verstand er sehr wohl, warum sie das Baby für ihre Schwester bekommen hatte. „Dann hat Michael dich also gleich nach der Geburt angerufen?“

„Hat er dir nichts davon erzählt?“

Sie schüttelte den Kopf. Warum eigentlich nicht?

„Was hast du ihm denn gesagt?“, erkundigte sie sich.

„Ich wollte erst mal wissen, ob es dir gut geht. Und als er mir mehrfach versichert hat, dass alles ohne Komplikationen gelaufen ist, habe ich ihn gefragt, ob er sich auch wirklich sicher ist, dass du ihnen das Baby überlassen willst. Ich habe ihn gebeten, dich nicht zu bedrängen …“

Weil es ihr so vorkam, als hätte er noch mehr zu sagen, erwiderte sie erst mal nichts, aber er schwieg.

„Ja, ich wollte ihnen das Baby überlassen“, sagte sie schließlich. „Und er hat mich nie bedrängt.“

Warum spielte das für Josh so eine große Rolle? Und warum hatten ihre Schwester und Michael ihr damals nicht erzählt, dass er immerhin nach ihr gefragt hatte, sich sogar Sorgen um sie gemacht hatte? Hatte Phoebe denn nicht gewusst, wie viel ihr das bedeutet hätte?

Oder war gerade das das Problem?

Hatte ihre Schwester vielleicht geahnt, was vor zehn Jahren zwischen Josh und ihr passiert war? Hatten Phoebe und Michael vielleicht befürchtet, dass Josh sie davon abbringen könnte, ihnen das Kind zu überlassen?

Darüber wollte sie gar nicht weiter nachdenken. Sie ging zum Kinderbett, hob Posie hoch und schaukelte sie sanft hin und her. Die Kleine duftete nach frisch gewaschenem Haar und warmer Babyhaut.

Grace wandte sich zu Josh um und hielt ihm das Mädchen hin. „Hier“, sagte sie. „Nimm sie auch mal.“ Als er sich nicht rührte, sah sie zu ihm hoch und stellte fest, dass sein Blick nicht etwa auf dem Kind ruhte, sondern auf ihr. „Was ist denn?“

Er seufzte. „Ich dachte, du hättest inzwischen längst deinen Toby geheiratet und mit ihm eine Familie gegründet. Wolltest du das nicht immer? Eine Familie gründen?“

„Ja. Das weißt du doch.“

Grace hatte sich das Gleiche gewünscht wie ihre Schwester: ein echtes Zuhause, einen lieben Ehemann und mehrere Kinder. Andererseits sehnte sie sich auch nach Josh Kingsley, aber er und sie passten einfach nicht zusammen. Im Gegensatz zu ihr liebte er das Risiko und hielt es nie lange an einem Ort aus.

So war nun mal das Leben. Man konnte nicht alles haben, was man sich wünschte. Phoebe war es nicht anders ergangen. Sie hatte sich so sehr nach eigenen Kindern gesehnt, aber keine bekommen können.

„Leider läuft im Leben nicht immer alles so, wie wir das gern hätten“, sagte Grace laut.

„Hat sich unter deinen vielen Männerbekanntschaften niemand Passendes gefunden?“

„Wie bitte?“

„Na ja, jedes Mal, wenn ich hier zu Besuch war, hattest du doch einen neuen Mann an deiner Seite.“

„Also komm, bestimmt nicht jedes Mal!“ Grace bemühte sich, die Worte beiläufig klingen zu lassen, spürte aber gleichzeitig, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Sie erinnerte sich nur zu genau, wie ihre „Dates“ zustande gekommen waren: Immer, wenn Josh seinen Besuch angekündigt hatte, hatte sie im Kunsthandwerkscenter, in dem ihr Schmuckatelier untergebracht war, einen dankbaren Mann an Land gezogen, der sich über ein Date mit ihr freute.

Josh sollte auf keinen Fall glauben, dass sie die ganze Zeit nur auf seinen Besuch wartete! Darauf, dass er sie in die Arme schloss, um ihr zu sagen, was für ein Idiot er die ganze Zeit gewesen war. Dass er endlich eingesehen hatte, dass sie zusammengehörten.

Inzwischen war von ihren vielen Männerbekanntschaften nur noch Toby übrig geblieben. Er hatte schnell durchschaut, worum es ihr eigentlich ging, und hatte offenbar nichts dagegen, in Joshs Anwesenheit ihren glühenden Verehrer zu spielen.

Erneut hielt Grace ihm das Baby hin. „Hier“, sagte sie. „Darf ich vorstellen? Phoebe Grace Kingsley, ebenfalls bekannt unter dem Namen Posie.“

Josh hielt die Kleine etwas ungelenk von sich weg.

Das Baby ruderte ängstlich mit den Armen.

„Du musst sie näher am Körper halten“, riet Grace ihm und drückte Posie sanft an seinen breiten Oberkörper. Dann schob sie seinen Arm unter das Baby. „Guck, so fühlt sie sich gleich viel sicherer.“

Es war ihr unendlich wichtig, dass Josh eine Beziehung zu dem Kind aufbaute – schließlich würde Posie ihren leiblichen Vater nie kennenlernen, und sie brauchte dringend eine männliche Bezugsperson.

„Sie sieht Michael ziemlich ähnlich, nicht?“, bemerkte Grace. „Besonders die Augenpartie, oder?“

„Ich weiß nicht. Sie hat doch blaue Augen. Und Michaels sind … waren braun.“

„Die Farbe meinte ich damit gar nicht, außerdem haben alle Babys erst mal blaue Augen.“ Sie strich dem Mädchen über das kleine Fältchen am Lid. „Ich meinte eher die Augenform. Siehst du?“

Sie schaute Josh an, um sicherzugehen, dass er ihr auch zuhörte. Dabei fiel ihr auf, dass seine Augen die gleiche Falte hatten wie Posies – nur noch ausgeprägter. Und dann musste sie wieder an ihre einzige gemeinsame Nacht denken. Daran, wie es war, als sie nach einem langen, zärtlichen Kuss die Augen geöffnet hatte und ihr Blick als Erstes auf seine markante Lidfalte gefallen war.

Josh kam sich vor, als hätte er ein Netz roher Eier auf dem Arm. Eine falsche Bewegung, und sie würden zerbrechen. Möglicherweise sah Grace das ähnlich, denn sie stützte seinen Arm immer noch mit ihrem. Die langen, schlanken Finger hatte sie dabei auf seine gelegt.

Dass er mal ein Baby auf dem Arm halten würde, hätte er sich im Traum nicht vorgestellt. Er hatte sich nie Kinder gewünscht, weil er nicht dafür verantwortlich sein wollte, dass sie das Gleiche durchleben mussten wie er früher: die Streitereien seiner Eltern, die Seitensprünge … bis hin zu dem Tag, an dem sein Vater einfach verschwunden war. Von diesem Tag an hatte Josh seine Mutter nicht mehr wiedererkannt.

Nach und nach gewöhnte er sich aber an das Gefühl, Posie bei sich zu haben. Das schien auch Grace zu spüren. Sie zog sich zurück, sodass er jetzt allein mit dem Baby dastand, das seinem Bruder Michael so ganz und gar nicht ähnlich sah.

Am ehesten ähnelte die Kleine Grace, fand er. Nicht etwa Phoebe. Komisch, dass die beiden Schwestern waren, äußerlich hatten sie kaum Gemeinsamkeiten.

„Tja, solange Posie nicht Michaels Nase erbt“, scherzte er.

Grace lachte, und augenblicklich wurde ihm warm ums Herz. Er blickte auf.

„Ich wünschte …“, setzte er an und unterbrach sich sofort. Auf einmal wusste er nicht mehr, was er eigentlich wollte.

„Michael hat bis zuletzt gehofft, dass du doch noch zur Taufe kommen würdest“, sagte Grace. „Er hätte dich gern als Taufpaten gehabt.“

„Dabei wusste er genau, warum das von meiner Seite aus nicht ging.“

„Und warum nicht? Weil du unbedingt mal wieder die Welt erobern musstest?“

Josh schwieg.

„Gibst du sie mir wieder?“, forderte sie ihn schließlich auf. „Dann mache ich ihr schnell eine frische Windel und lege sie schlafen, während du duschst. Anschließend können wir essen.“

Josh war dankbar für den Themenwechsel. „Jetzt, wo du’s sagst – es riecht hier wirklich gerade ziemlich lecker. Wann soll ich spätestens wieder hier sein?“

„In einer halben Stunde, würde ich sagen“, erwiderte sie und ging mit dem Baby im Arm zur Treppe, die in den ersten Stock führte.

3. KAPITEL

Ganz allmählich regelte Josh die Duschtemperatur immer weiter herunter, bis er durch das kalte Wasser wieder ganz bei sich war.

Beinahe hätte er eben das Versprechen gebrochen, das er seinem Bruder gegeben hatte … Wie Grace ihn angesehen hatte! Einen Augenblick lang hätte er schwören können, dass sie die Wahrheit längst ahnte.

Skeptisch betrachtete er sein Spiegelbild. Zwischen ihm und Michael gab es gewisse äußerliche Ähnlichkeiten, und niemand hätte daran gezweifelt, dass sie Brüder waren. Aber es gab eben auch Unterschiede …

Er zog sich einen alten grauen Bademantel über und ging zu der Nische, in der noch sein Schülerschreibtisch stand. Der Tisch, an dem er damals seine Zukunft geplant hatte. Sein Computer stand schon lange nicht mehr da, dafür hing die Pinnwand immer noch an der Wand. Daran heftete ein Foto.

Josh löste es ab und betrachtete es. Das Bild zeigte ihn und Michael vor einigen Jahren dabei, wie sie den Gartengrill anzündeten. Phoebe hatte die Aufnahme gemacht, damals dürfte sein Bruder etwa so alt gewesen sein wie Josh jetzt. Ja, wir sehen uns wirklich sehr ähnlich, dachte er. Aber Michael kommt mehr nach unserer Mutter, er hat ihre braunen Augen geerbt.

Er warf das Foto auf den Schreibtisch und zog ein paar seiner alten Kleidungsstücke aus dem Schrank: eine Jeans, in die er noch hineinpasste, und ein Sweatshirt, auf dem immerhin kein peinlicher Bandname stand.

Dann las er die Nachrichten auf seinem neuen Smartphone, beantwortete die dringendsten davon und ging wieder nach oben – zu Grace. Und zu Posie, die für ihn ein Wunder und gleichzeitig eine kleine Katastrophe bedeutete.

Oben blieb er vor Michaels Arbeitszimmer stehen. Die Tür stand offen. Wie immer war alles perfekt aufgeräumt, und der Schreibtisch war leer – abgesehen von Michaels Adressbuch und einem antiken silbernen Bilderrahmen.

Josh ging in den Raum und nahm das Bild in die Hand. Phoebe war darauf zu sehen, ihr neugeborenes Baby im Arm. Die Aufnahme erweckte den Anschein, als wäre alles in bester Ordnung. Aber das stimmte nicht. Überhaupt nichts war in Ordnung. Der schöne Schein basierte auf einer Lüge.

Selbst sein ach so perfekter Bruder, von dem alle immer nur das Beste gedacht hatten, hatte eine große, wenn auch sehr menschliche Schwäche.

Vorsichtig stellte Josh das Foto zurück auf den Schreibtisch. Dann verließ er das Zimmer und schloss leise die Tür.

Michaels Papierkram sehe ich mir später an, sagte er sich.

Wahrscheinlich war ohnehin nicht viel zu tun. Josh war sich sicher, dass sein Bruder alle Rechnungen längst bezahlt hatte, dass der Schriftverkehr mit der Lebensversicherungsgesellschaft auf dem neuesten Stand war und ein rechtsgültiges Testament für den Fall der Fälle beim Familienanwalt lag. Alles, wie es sich gehörte.

Josh runzelte die Stirn. Hatte Michael sein Testament seit Posies Geburt vielleicht geändert? Das war zwar noch nicht lange her, aber Michael war ein gewissenhafter Mensch gewesen und hatte gern alles sofort erledigt. Er hatte die Vorstellung gehasst, dass andere Leute sich seinetwegen durch ein Chaos kämpfen müssten. Andererseits hatte er den Menschen, die ihm am nächsten standen, wichtige Dinge verschwiegen – und in den allermeisten Fällen mündete so etwas früher oder später auch im Chaos.

Wie auch immer Michael seinen Nachlass geregelt hatte – Graces Anteil wäre davon wohl am stärksten betroffen.

Ob sie überhaupt ahnte, wie sehr sich ihr Leben jetzt möglicherweise ändern würde? Dass sie nicht nur ihre engsten Familienangehörigen verloren hatte, sondern möglicherweise auch gezwungen sein würde, ihr geliebtes Zuhause zu verlassen? Dass sie das Baby aufgeben müsste, das sie so selbstlos ihrer Schwester überlassen hatte – allerdings in der Annahme, dem Mädchen immer nah sein zu können? Immer für sie da zu sein, um sie zu trösten, sie im Arm zu halten …

Er verdrängte die düsteren Gedanken. Dann ging er in die Küche. „Entschuldige bitte“, sagte er. „Ich musste noch kurz …“

Er hielt inne. Die Küche war leer. Dabei hätte er schwören können, dass er eben noch Graces Stimme gehört hatte. Egal. Er zog eine Schublade auf und holte Besteck heraus, um schon mal den Tisch zu decken.

Da war es wieder!

„Gute Nacht, Rosie Posie“, sagte Grace und lachte leise. „Du bist Daddys kleine Prinzessin, weißt du das?“

Er fuhr herum. Dann erblickte er das Babyfon auf der Kommode und erschrak. Konnte Grace ihn jetzt etwa auch hören?

Wahrscheinlich nicht, dachte er. Trotzdem ging er ein paar Schritte zurück und überlegte, ob er sich nicht erst mal zurückziehen sollte. Nicht, dass sie auf einmal in die Küche kam und feststellte, dass er sie von hier aus belauscht hatte!

Als Nächstes hörte er, dass irgendein Gerät aufgezogen wurde, und dann spielte eine Spieluhr leise ein Schlaflied.

„Gute Nacht, meine Süße. Träum schön …“

Sofort hatte Josh ein Bild vor Augen: Grace, wie sie sich über das Bettchen beugte, um dieses ganz besondere Kind zu küssen.

Als sie auch noch anfing, das Schlaflied mitzusingen, konnte Josh sich unmöglich vom Babyfon lösen.

Vor der offenen Küchentür blieb Grace abrupt stehen. Der Tisch war fertig gedeckt, es standen sogar eine offene Flasche Wein und ein Krug mit Wasser darauf.

„Du liebe Güte“, seufzte sie. „Wartest du etwa schon lange auf mich?“

„Na ja, ich habe mir gedacht, dass du noch zu tun hast, da habe ich mich hier etwas nützlich gemacht“, erwiderte Josh und zog einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor. „Setz dich schon mal. Ich hole den Eintopf.“

„Nein, das ist meine Aufgabe.“

„Ach, Quatsch. Ich bin doch hier, um dir zu helfen, und nicht, um dir das Leben noch schwerer zu machen.“ Er wickelte sich ein Küchentuch um die Hand, zog den Eintopf aus dem Ofen und stellte ihn auf einen Untersetzer. Josh blickte auf. „Schläft Posie inzwischen?“

„Ja, wie in kleiner Engel. Bis sie wieder Hunger kriegt und aufwacht.“

„Und wann ist das so ungefähr?“

„Hey … halt, stopp, das reicht!“, rief sie, als er ihr gerade die dritte Kelle Fleisch und Gemüse auf den Teller geben wollte. Dann ging sie auf seine Frage ein. „So gegen zehn, schätze ich. Da sind übrigens auch noch Backkartoffeln im Ofen.“ Sie sprang auf, um die Kartoffeln zu holen, aber Josh legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Bleib sitzen, ich hole sie schon.“

Sie erstarrte. Sofort zog er die Hand zurück. Aber zu spät, ihre Haut kribbelte an der Stelle, als hätte sie sich an ihm verbrannt.

Josh legte ihnen beiden je eine große Kartoffel auf den Teller.

„Nein, danke, ich …“, begann sie.

„Du musst aber etwas essen“, beharrte er.

„Ich weiß, aber …“

Aber nicht gleich so viel, brachte sie in Gedanken den Satz zu Ende, beschloss allerdings, es auf sich beruhen zu lassen.

Inzwischen hatte er noch Butter aus dem Kühlschrank geholt. Als er die Weinflasche über ihr Glas hielt, schüttelte Grace den Kopf. Er schenkte ihr stattdessen Wasser ein.

„Ich dachte, Posie schläft inzwischen durch“, sagte er schließlich. „Michael hatte mal so etwas erwähnt.“

„Eigentlich schon, aber dann ist sie doch wieder mitten in der Nacht aufgewacht“, erklärte Grace. „Sie vermisst wohl ihre Mutter.“ Aber darüber wollte sie lieber nicht weiter nachdenken. „Du weißt das von Michael?“, sagte sie schnell.

„Ja, er hat mich täglich per E-Mail über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten und auch Fotos mitgeschickt.“

Eigentlich nicht weiter erstaunlich, dachte Grace.

So war Michael eben: aufmerksam, gewissenhaft und zuverlässig. Obwohl Josh sich einfach von ihm abgewandt hatte, hatte er den Kontakt aufrechterhalten. Immerhin waren sie Brüder.

„Er wollte eben seine Freude mit dir teilen“, bemerkte Grace.

„Vielleicht, aber so einfach ist das alles nicht.“

„Das ist nur deine Auffassung.“

„Ich habe schon verstanden, warum du das mit der Leihmutterschaft gemacht hast.“

„Aber gefallen hat es dir nicht.“

„Nein.“

„Warum nicht? Was genau findest du daran so kritisch?“ Das hatte sie bis heute nicht verstanden. „Michael und Phoebe haben mich kein bisschen bedrängt. Es war ganz allein meine Idee, ich habe es ihnen vorgeschlagen.“

Einen Moment lang sah es so aus, als würde er auf ihr Nachhaken eingehen. Doch dann schüttelte er bloß den Kopf. „Wann hast du dir eigentlich die Haare abschneiden lassen?“

Wie kam er denn jetzt darauf? Aber egal, besser, sie sprachen darüber, als sich weiter über ihre Leihmutterschaft zu streiten.

„Vor ungefähr sechs Monaten.“ Grace gab sich alle Mühe, ihre Antwort selbstverständlich klingen zu lassen. Dass sie ihr bis zur Taille reichendes Haar für eine Kurzhaarfrisur abschneiden ließ, schien keinem Mann aus ihrem Bekanntenkreis zu gefallen. Sie wiederum hatte den Schritt als befreiend empfunden. „Und wann hast du dir deinen Bart wachsen lassen?“

„Auch vor ungefähr sechs Monaten.“

„Na, so was. Tja, immer wenn jemand eine intelligente Entscheidung trifft, tut jemand an einem anderen Ort auf der Welt etwas Dummes, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt ist“, bemerkte sie. Als Josh sie verständnislos ansah, musste sie grinsen. „Sorry, das habe ich aus einem ziemlich blöden Fernsehwerbespot. Phoebe ist immer …“ Sie hielt inne.

„Ja? Was war mit Phoebe? Ich finde es gut, wenn wir weiter über sie und Michael sprechen. Dadurch bleiben sie für uns lebendig.“

„Phoebe ist immer ausgeflippt, wenn sie den Spot gesehen hat“, beendete Grace ihren Satz – ganz langsam, um erst einmal auszuprobieren, wie es sich anfühlte, über ihre Schwester zu sprechen. Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen, und trotzdem fühlte sie sich dabei nicht schlecht.

Im Gegenteil. Es war schön, sich daran zu erinnern, wie sie gemeinsam mit Phoebe vor dem Fernseher gesessen hatte. Lächelnd blinzelte sie sich die Tränen aus den Augen. „Michael hat sie damals gern damit geärgert, dass er sich immer neue Versionen dieses Werbespots ausgedacht hat.“

„Aha. Ungefähr so, wie du mich jetzt auch ärgerst?“

„Ich ärgere dich nicht, ich sage nur meine Meinung.“

„Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen. Ich finde die Sache mit dem Bart übrigens überhaupt nicht dumm von mir. Deine neue Frisur steht dir gut.“

„Oh …“ Schnell schob Grace sich einen Löffel vom Eintopf in den Mund. Sein Kompliment machte sie ganz verlegen.

„Der Schnitt gefällt mir zwar überhaupt nicht“, fügte er hinzu, „aber er steht dir trotzdem.“

Von wegen Kompliment, dachte sie und verzog das Gesicht. „Dann geht’s dir wohl so wie mir mit deinem Bart.“

„Wenn du dir die Haare wieder wachsen lässt, rasiere ich ihn ab.“

Genau wie früher, als wir noch Teenager waren, dachte sie. Damals hatten sie ganz ähnliche Auseinandersetzungen über ihren Kleidungsstil, seine Freundinnen und ihren Musikgeschmack geführt.

Ob er wohl auch gerade daran denken musste? Jedenfalls sah er ihr lächelnd in die Augen. Und auf einmal kam es ihr vor, als wäre er nie weg gewesen.

Einige Sekunden lang schwiegen sie gemeinsam … bis Josh mit seinem Stuhl zurückrutschte. „Würdest du mir von dem Begräbnis erzählen?“, erkundigte er sich vorsichtig.

Sie zuckte mit den Schultern. „Michael und Phoebe haben beide genaue Anweisungen hinterlassen, wie sie beerdigt werden möchten …“ Sie schluckte. „Dabei waren sie doch noch viel zu jung, um sich Gedanken über so etwas zu machen.“

„Wahrscheinlich haben sie das jeweils dem Partner zuliebe getan“, vermutete Josh. „Damit der Hinterbliebene zu einem schrecklichen Zeitpunkt nicht auch noch solche Entscheidungen fällen muss. Was für eine Beerdigung haben sie sich denn gewünscht?“

„Einen ganz schlichten Trauergottesdienst hier in der Kirche. Und dann wollten beide, dass ihre Asche an den Wurzeln eines Baumes im Wald beigesetzt wird. Das war vermutlich Phoebes Idee. Dein Vater war nicht gerade begeistert, aber er und deine Mutter konnten das nicht verhindern.“

„Tja, umso besser, dass Michael alles vorher schwarz auf weiß festgehalten hat.“

„Josh … es war bestimmt nicht leicht für deine Eltern. Immerhin war er ihr Sohn“, sagte sie.

„Ja, aber auch nur auf dem Papier. Ansonsten haben sie sich nie großartig für Michael interessiert. Seine Mutter lebt in Japan bei ihrem Geliebten … und sein Vater hat in Straßburg seine zweite Familie gegründet. Michael hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu den beiden gehabt.“

„Und du? Hattest du Kontakt zu euren Eltern? Du bist doch auch ihr Sohn.“

„Nein. Wir haben uns nichts zu sagen.“

Grace schwieg. Was sollte sie darauf auch erwidern? Mit ihren Eltern hatten sie wohl beide Pech gehabt.

„Wie willst du das eigentlich mit deinem Goldschmiedeatelier regeln?“, erkundigte Josh sich. Offenbar wollte er das Thema wechseln. „Auf deinem Anrufbeantworter hieß es ja, du würdest alle angekündigten Kurse absagen. Und Posie braucht dich jetzt auch dringend. Aber was ist mit deinem Laden im Kunsthandwerkscenter? Und mit den Aufträgen, die du schon angenommen hast?“

„Bisher habe ich nur jemanden gebeten, ein Schild mit der Aufschrift ‚Bis auf Weiteres geschlossen’ an die Tür zu hängen“, gab sie zurück. „Sonst habe ich noch nicht genauer darüber nachgedacht.“

„Bist du in den letzten paar Tagen überhaupt aus dem Haus gekommen? Von der Beerdigung einmal abgesehen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann fahr doch morgen mal in deinem Laden vorbei. Schau wenigstens nach der Post. Ein bisschen Alltag tut dir bestimmt gut.“

„Alltag?“ Unter diesen Umständen konnte sie sich auf gar keinen Fall auf so etwas Triviales wie Schmuck konzentrieren.

Josh betrachtete sie eindringlich. „Was bleibt dir anderes übrig? Michael und Phoebe würden das auch so wollen.“

Dass dem so war, wusste sie selbst. Das brauchte Josh ihr nicht erst groß zu erklären. Trotzdem hatte sie Probleme mit der Umsetzung.

„Ich muss morgen ins Zentrum, um mit Michaels Anwalt zu sprechen. Wir könnten also zusammen hinfahren“, sagte Josh.

„In Ordnung. Dann schaue ich mal im Laden vorbei und kümmere mich um ein paar Materialbestellungen. Das, was ich sowieso da habe, kann ich ja gleich versenden. Den anderen Kunden sage ich dann Bescheid, dass sich die Lieferung verzögert, und gebe ihnen Gelegenheit, ihre Bestellung zurückzuziehen.“

„Wie wär’s, wenn du vorübergehend eine Hilfskraft einstellst?“, schlug er vor. „Wer kümmert sich denn um deinen Laden, wenn du auf einer Kunsthandwerksmesse bist?“

„Abby. Sie hat ein paar Schmuckkurse bei mir besucht, dabei habe ich festgestellt, dass sie echtes Talent hat.“

„Dann ruf sie doch an. Du kannst es dir nämlich nicht leisten, dein Geschäft einfach so schleifen zu lassen.“

„Aha, da spricht der Unternehmer. Aber ich denke und arbeite in anderen Verhältnissen. Wenn mein Laden mal ein paar Wochen geschlossen bleibt, führt das nicht gleich zur Börsenkrise.“

„Nicht?“ Er grinste sie herausfordernd an. „Hast du etwa nicht vor, in spätestens fünf Jahren Filialen in allen großen Einkaufszentren zu eröffnen?“

Grace fühlte sich an ihre Schulzeit erinnert. Damals war Josh noch fest entschlossen gewesen, es als weltjüngster Milliardär in die Zeitungen zu schaffen. War ihm das etwa gelungen? Sie wusste es nicht.

Autor

Mary Burton
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