Bianca Exklusiv Band 325

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GESTÄNDNIS NACH EINER HEISSEN NACHT von VICTORIA PADE

Wie hat Ben Walker sich verändert! Aus dem wilden Jungen, der ständig für Ärger sorgte, ist ein unglaublich anziehender Mann geworden. Als Clair ihn auf dem Klassentreffen wiedersieht, ist sie sofort bereit für eine Liebesnacht mit ihm. Doch die zärtlichen Stunden haben überraschende Folgen!

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  • Erscheinungstag 17.07.2020
  • Bandnummer 325
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748784
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Allison Lee, Laura Marie Altom

BIANCA EXKLUSIV BAND 325

1. KAPITEL

„Northbridge. Dreißig Meilen. Dreißig kurze Meilen …“

Clair Cabot redete mit sich selber. Doch sie konnte den Hinweis auf dem Schild über dem Highway noch so laut lesen, ihre Spannung legte sich nicht. Im Gegenteil. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto nervöser wurde sie.

Northbridge. Die kleine Stadt in Montana, wohin die fünfzehnjährige Clair gezogen war, als ihr Vater dort eine Ranch kaufte und in eine Schule für schwer erziehbare Jungen verwandelte.

Die kleine Stadt in Montana, in der Clair auf die High School gegangen war und einen Schüler kennen gelernt und später geheiratet hatte, bevor sie mit ihm nach Denver zog.

Die kleine Stadt in Montana, die sie zuletzt im Juni für einen Tag besucht hatte, um an dem zehnjährigen Klassentreffen teilzunehmen.

Die kleine Stadt in Montana, wo zum zweiten Mal ein Mann ihren Lebensweg verändert hatte.

„Tief einatmen und langsam wieder aus …“, befolgte sie eine Entspannungstechnik, zu der ihr der Arzt geraten hatte, als sie vorige Woche im Büro ohnmächtig geworden war.

Doch das tiefe Atmen half wenig, denn mit jeder Minute, die verging, kam sie Northbridge und der Schule für schwer erziehbare Jungen näher – und deren neuem Besitzer Ben Walker.

Schon bei dem Gedanken an den Mann musste Clair erneut tief einatmen.

Ben Walker – der Bad Boy von Northbridge.

Zumindest war er das als Teenager gewesen. Ein ungestümer Kerl, der in eine Erziehungsanstalt in Arizona gesteckt worden war, als sie in die Stadt zog. Obwohl seine Zwillingsschwester Cassie ihre beste Freundin wurde, hatte sie Ben erst im letzten Schuljahr auf der High School kennen gelernt, als er wieder nach Northbridge zurückkam, um gemeinsam mit seiner ursprünglichen Klasse den Abschluss zu machen. Sie selber war damals längst mit Rob Cabot zusammen gewesen und hatte Cassies schwierigen Zwillingsbruder gar nicht richtig wahrgenommen.

Bis zum Klassentreffen im Juni.

„Verdammtes Klassentreffen“, murmelte Clair.

Das Treffen war jedoch nicht schuld an dem, was bei ihrem letzten Besuch in Northbridge passiert war. Rob Cabot hatte die Räder ins Rollen gebracht.

Ihr Exmann.

Sie hatte ihn gefragt, ob er zu dem Klassentreffen fahren würde. Natürlich hatte sie ihn nicht angerufen oder war persönlich bei ihm vorbeigegangen, denn sie hatte diesen Mann nach ihrer Scheidung nie wiedersehen wollen. Nein, sie hatte ihm eine E-Mail geschickt. Höflich und unverbindlich. Sie hatte ihn weder provoziert noch herausgefordert und nicht einmal erwähnt, dass sie nicht fahren würde, falls er daran teilnähme. Es war eine einfache Frage gewesen, auf die eine einfache ehrliche Antwort genügte.

Und die hatte Rob ihr gegeben. Jedenfalls hatte sie das angenommen.

Er hatte geschrieben, er würde auf keinen Fall nach Northbridge fahren. Er und seine neue Frau, die er keine vierundzwanzig Stunden nach der Scheidung geheiratet hatte, hätten Besseres zu tun.

Deshalb hatte Clair angenommen, dass die Luft rein wäre und sie ruhig fahren und ein bisschen Spaß haben könnte. Ohne Robs neuer Frau zu begegnen und den Schmerz der letzten elf Monate noch einmal zu durchleben.

Doch sie hätte es besser wissen sollen. Sie hätte ahnen müssen, dass Rob sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen lassen würde.

Wen hatte sie keine fünf Minuten nach ihrer Ankunft in der High School von Northbridge getroffen?

Rob.

Und seine neue Frau.

Seine schwangere neue Frau.

Und als wäre das nicht genügend Salz in ihren Wunden gewesen, hatte Rob die Hand auf den runden Bauch seiner Frau gelegt, selbstgefällig gelächelt und gesagt: „Jetzt wissen wir, dass es nicht an mir lag.“ Die Erinnerung an diesen Augenblick schmerzte heute noch.

„Gratuliere“, hatte Clair mit erstickter Stimme geflüstert. Anschließend war sie in die Toilette geflüchtet, hatte sich eingeschlossen und war in Tränen ausgebrochen.

Dort hatte ihre alte Freundin Cassie sie gefunden.

Die arme Cassie hatte eine volle Stunde vor der Tür gestanden und ihr zugeredet, bis sie, Clair, den Mut aufbrachte und wieder herauskam.

„Ich fahre sofort nach Hause“, hatte sie verkündet.

Cassie war strikt dagegen gewesen. „Das kommt nicht in Frage. Du kannst jetzt nicht einfach wieder nach Denver fahren. Wir hatten noch nicht einmal Gelegenheit, richtig miteinander zu reden. Ich bleibe an deiner Seite und sorge dafür, dass Rob nicht mehr in deine Nähe kommt.“

Cassie hatte sie noch eine ganze Weile überzeugen müssen. Doch am Ende hatte Clair nachgegeben und war geblieben.

Aber nicht ohne einen starken Drink.

Leider war ein zweiter starker Drink hinzugekommen. Und ein dritter. Dann hatte sie nicht mehr mitgezählt.

Cassie hatte versucht, Wort zu halten und dicht bei ihr zu bleiben. Aber sie war die Organisatorin dieses Klassentreffens gewesen und hatte an jenem Abend Aufgaben und Pflichten gehabt.

Deshalb hatte sie ihren Zwillingsbruder als „Beschützer“ geschickt.

Ihren Zwillingsbruder Ben, den bekehrten Bad Boy der Stadt. Ein Bild von einem Mann.

Clair hatte nichts dagegen gehabt, dass Rob sie zusammen mit dem bestaussehenden männlichen Wesen im Raum sah.

Da Ben sich kaum noch an das letzte Schuljahr in Northbridge erinnerte, ihm die meisten Gesichter seiner ehemaligen Klassenkameraden fremd blieben, war er die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen. Clair nahm an, dass Cassie ihren Bruder über Rob und dessen neue Frau aufgeklärt hatte. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Mitleid mit ihr gehabt und war ihr deshalb keinen Zentimeter von der Seite gewichen.

Damals hatte es allerdings anders ausgesehen. Ben war entwaffnend freundlich und charmant. Seine ironischen Bemerkungen über ihre Klassenkameraden brachten sie zum Lachen. Er sorgte dafür, dass sich ihre Laune wieder besserte. Sie erholte sich schnell von dem Tiefschlag ihres Exmannes und vergaß Rob und seine schwangere Frau schließlich restlos.

Und die ganze Zeit versorgte Ben sie und sich selber mit Margaritas.

Ja, Ben hatte ebenfalls eine Menge getrunken. Das war zweifellos einer der Gründe, weshalb sie die ganze Nacht zusammengeblieben waren.

„Northbridge, fünfzehn Meilen“, las Clair laut.

Tief einatmen und langsam wieder aus. Tief einatmen und langsam wieder aus …

Alles wäre jetzt so viel einfacher, wenn sie sich an jenem Abend nicht von Cassie zum Bleiben überreden lassen hätte. Oder wenn sie wenigstens Ben Walker nicht näher kennen gelernt hätte.

Aber leider hatte sie Ben Walker näher kennen gelernt. Seine blaugrünen Augen und seine verschmitzt zuckenden Mundwinkel, die bewiesen, dass immer noch ein kleiner Teufel unter seiner Oberfläche lauerte.

Nicht dass sie eine lebhafte Erinnerung an ihn hätte. Außer seinem Aussehen und den ersten Stunden des Abends war ihr kaum etwas im Gedächtnis geblieben. Vor allem hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie gemeinsam in ihr Hotelzimmer gekommen waren. Von einem bestimmten Moment an war alles wie im Nebel.

Und der nächste Morgen? O ja, an den erinnerte Clair sich genau.

Zu ihrem Entsetzen war sie mit einem Mann neben sich im Bett aufgewacht, den sie kaum kannte.

Sie war so entsetzt gewesen, dass sie ohne Kommentar geflohen war. Sie floh, während er noch schlief, als könnte sie die Nacht damit ungeschehen machen. Und sie hatte gehofft, sie könnte die Reise nach Northbridge, das Klassentreffen und diese eine Nacht einfach vergessen.

Das wäre zu schön gewesen.

Stattdessen hatte der Makler, der die Schule ihres verstorbenen Vaters in ihrem Auftrag verkaufen sollte, sie einen Monat später angerufen und verkündet, dass er einen Käufer hätte. Sein Name wäre Ben Walker.

Natürlich hatte sie erst einmal tief Luft geholt. Doch dann hatte sie angenommen, dass der Verkauf durch Bevollmächtigte abgewickelt werden könnte, sodass sie Ben nicht persönlich gegenüberzutreten brauchte.

Leider hatte die Sache einen Haken. Da ihr Vater die Schule dem neuen Besitzer nicht selber übergeben konnte, hatte sie sich vertraglich verpflichtet, diese Aufgabe zu übernehmen. Und jetzt bestand der Makler auf der Einhaltung dieser Verpflichtung.

Deshalb war Clair Anfang September erneut auf dem Weg nach Northbridge und furchtbar verlegen, weil sie zu viel getrunken und die Nacht mit einem Fremden verbracht hatte, der noch dazu der Bruder ihrer besten Freundin war. Und weil sie diesen Bruder am nächsten Morgen einfach sitzen gelassen hatte. Und weil sie jetzt die Folgen ihres Handelns in sich trug.

„Willkommen in Northbridge, Montana“, sagte sie spöttisch, als das Hinweisschild auftauchte, und bog von dem beinahe verlassenen Highway nach rechts.

Es folgten zwei weitere Meilen durch Maisfelder, die hohe Mauern zu beiden Seiten der Straße bildeten und lange Schatten im späten Abendlicht warfen. Dann machten die Felder alten, dicht belaubten Eichen Platz, und Clair erreichte die Stadt. Und die Main Street.

Clair hielt an der Tankstelle an, die zusammen mit dem Busbahnhof gegenüber eine Art Stadttor darstellte. Sie brauchte kein Benzin, sondern dringend eine Pause. Die Tankstelle war seit 18 Uhr geschlossen. Aber die Toiletten waren offen. Dorthin eilte sie jetzt, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an das Holz.

Wieder zwang sie sich, ruhig zu atmen.

Alles ist anders gekommen, als es geplant war, dachte Clair plötzlich. Ihr Vater hatte sehr alt werden und die Schule so lange leiten sollen, bis er selber bereit war, sie in jüngere Hände zu übergeben.

Sie selber sollte verheiratet sein, eine große Familie haben und irgendwann mit Mann und Kindern nach Northbridge zurückkehren, damit ihr Vater seine Rolle als Großvater genießen konnte.

Aber es war anders gekommen.

Wenn Clair eines aus dem letzten turbulenten Jahr gelernt hatte, dann, sich den Tatsachen zu stellen.

„Also, tu was“, forderte sie sich auf.

Die Fahrt von Denver durch Wyoming nach Montana war lang gewesen, und sie war seit Tagesanbruch unterwegs. Jetzt war es nach acht, und ihr Make-up konnte eine kleine Auffrischung gebrauchen.

Clair nahm ein Papiertuch und betupfte ihr Gesicht. Anschließend öffnete sie ihre Handtasche und holte eine kleine Kosmetiktasche hervor. Sie gab etwas Rouge auf ihre hohen Wangenknochen und strich mit dem Pinsel behutsam unter ihrem Kinn entlang.

Sie war dankbar für ihre Haut und ihre Gesichtsform. Beides würde sie zwar nicht auf die Titelseite einer Zeitschrift bringen. Aber ihre Haut war sehr rein, und ihre Züge waren deutlich ausgeprägt.

Ihre Wimpern hätten dagegen ein bisschen länger sein können. Doch etwas Mascara schuf leicht Abhilfe. Während Clair die Wimperntusche auftrug, stellte sie befriedigt fest, dass das Weiß um ihre dunkelblaue Iris nicht so blutunterlaufen war wie vorige Woche, als die letzte chaotische Wende ihres Lebens sie mehrere Nächte um den Schlaf gebracht hatte.

Sie trug ein bisschen Lipgloss auf ihre rosa Lippen, die ihrer Meinung nach ruhig etwas voller hätten sein können. Wohl zum hundertsten Mal seit ihrem Friseurbesuch fragte sie sich, ob es klug gewesen war, das blonde Haar von Schulterlänge zu einem lockigen Bob zu kürzen, den die Friseurin als viel sportlicher, flotter und modischer bezeichnet hatte.

Was Ben Walker wohl von meiner neuen Frisur hält? überlegte Clair plötzlich, verdrängte den Gedanken aber sofort. Rob konnte kurzes Haar nicht leiden und hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. Wahrscheinlich hatte das ihre Entscheidung beeinflusst.

Ihr neuer Look erinnerte sie daran, dass sie jetzt auf eigenen Füßen stand. Sie war stark, kompetent und widerstandsfähig. Schließlich hatte sie letztes Jahr eine Menge ausgehalten. Sie konnte für sich selber sorgen und wurde mit allem fertig.

Zumindest hoffte sie es, obwohl ihr Magen sich ein wenig drehte, wie so oft die letzten Wochen, und sie daran erinnerte, dass die letzte chaotische Wende besonders groß gewesen war.

Doch nachdem sie sich frisch gemacht und sich erneut versichert hatte, dass alles gut werden würde, fühlte sie sich viel besser als bei ihrer Ankunft in der Stadt.

Obwohl sie gekommen war, um die Schule ihres Vaters zu übergeben.

Obwohl sie geschieden war.

Obwohl sie eine der größten Fehleinschätzungen ihres Lebens begangen hatte, als sie im Juni die Nacht mit Ben Walker verbrachte und jetzt ein Kind von ihm erwartete …

Die Schule für schwer erziehbare Jungen lag etwas außerhalb von Northbridge, im Westen der Stadt. Clair bog in die Einfahrt und hielt einen Moment an, um einen Blick auf den Ort zu werfen, den ihr Vater so sehr geliebt hatte.

Das Hauptgebäude bestand aus einem dreistöckigen Holzhaus mit hellgelber Fassade und weißen Fensterrahmen. Es lag ungefähr eine Viertelmeile von der Straße entfernt in einem Kreis von Ulmen, die es zu beschützen schienen.

Das Haus und die Bäume versperrten den Blick auf die Scheune, die Hühner- und die Schweineställe sowie die Koppeln, die aus der Schule eine bewirtschaftete Ranch machten. Das kleine Haus des Verwalters, in dem ihr Vater und sie gewohnt hatten, stand ebenfalls hinter dem Haupthaus und war von der Einfahrt aus nicht zu sehen.

Weiße Zäune begrenzten den Weg zu beiden Seiten. Dahinter lagen rechts die Weide für die Pferde und links die Weide für die Milchkühe. Die Zäune weiteten sich zu einer kreisförmigen Einfahrt. Ein üppiger grüner Rasen mit Blumenbeeten bedeckte den Boden und schmückte die Fläche unmittelbar vor dem Haus.

Wer nicht wusste, worum es sich handelte, oder nicht nahe genug herankam, um das Messingschild zu lesen, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass dies nicht das Anwesen eines wohlhabenden Farmers war. Ihrem Vater war das sehr recht gewesen. Obwohl es sich bei seiner Schule für schwer erziehbare Jungen um eine behördliche Einrichtung handelte, hatte es hier freundlich und heimelig sein sollen.

Dies war Clairs erster Besuch auf dem Anwesen nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters durch einen Herzinfarkt. Im Juni, als sie zu dem Klassentreffen gefahren war, hatte sie nicht die Kraft besessen, hier zu übernachten. Sie wollte damals erst am Tag darauf nach dem Rechten sehen.

Stattdessen war sie Hals über Kopf aus Northbridge – und vor Ben Walker – geflüchtet.

Jetzt stellte Clair zu ihrer Freude fest, dass das Anwesen genauso gepflegt aussah wie zu Zeiten ihres Vaters. Das war zweifellos Ben Walkers Verdienst. Der Makler hatte ihr erzählt, dass der neue Besitzer sofort mit der Arbeit begonnen hätte, damit er die Schule nächsten Monat wieder öffnen konnte. Er würde – ebenfalls nach Auskunft des Maklers – ihr während ihres Aufenthaltes das Verwalterhaus überlassen, um ihr die Hotelkosten zu ersparen, und selber im Haupthaus übernachten.

Da war sie nun.

Und Ben Walker wartete drinnen auf sie.

Clair hatte keine Ahnung, was er von ihr hielt. Eigentlich konnte es nichts Gutes sein. Aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Deshalb sprang sie am besten gleich ins kalte Wasser.

Atme tief ein und langsam wieder aus …

Die große Mahagonitür blieb geschlossen, als Clair den Wagen anhielt, den Motor abstellte und mit dem Koffer in der Hand ausstieg.

Erst als sie die Hand automatisch auf den Türgriff legte und öffnen wollte, fiel ihr ein, dass das Haus ihr nicht mehr gehörte. Verlegen zog sie ihre Hand zurück und läutete.

Doch nicht Ben Walker öffnete, sondern Cassie.

„Hallo, Fremde“ begrüßte die alte Freundin sie strahlend und umarmte Clair herzlich. „Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest, bevor ich wegmuss. Du hast es gerade noch geschafft.“

„Cassie!“, rief Clair erleichtert. Sie hatte nicht erwartet, die Freundin hier zu treffen. Das war eine gewaltige Hilfe.

„Komm herein“, forderte Cassie sie auf, trat aber nicht beiseite. „Du hast dir das Haar schneiden lassen“, stellte sie plötzlich fest.

„Ja“, bestätigte Clair und fingerte verlegen an den kurzen Locken in ihrem Nacken.

„Es sieht toll aus und gefällt mir sehr. Obwohl ich dir immer noch böse bin.“

„Du bist mir böse?“

„Wegen des Klassentreffens. Weshalb bist du mitten in der Nacht verschwunden, ohne mir ein Wort zu sagen, oder hast nicht wenigstens vor deiner Abreise angerufen? Selbst wenn du es furchtbar eilig hattest, weil du Rob nicht wiedersehen wolltest.“

Clair atmete erleichtert auf. Sie hatte die Freundin einige Tage später aus Denver angerufen und befürchtet, dass Ben seiner Zwillingsschwester von der gemeinsamen Nacht erzählt haben könnte. Als sie merkte, dass er es nicht getan hatte, hatte sie die naheliegendste Ausrede verwendet und Rob vorgeschoben. Offensichtlich ahnte Cassie bis heute nichts.

„Vielleicht finden wir ein bisschen Zeit und können uns treffen, während ich jetzt hier bin“, schlug sie vor, um die Freundin zu besänftigen.

„Das will ich hoffen“, sagte Cassie und merkte plötzlich, dass sie immer noch auf der Türschwelle standen. „Oh, ich bin vielleicht eine. Ich bitte dich hereinzukommen und versperre dir den Weg.“ Diesmal trat sie beiseite.

Clair trug ihren Koffer in die Diele und blickte sich neugierig um.

Ben Walker hatte das Erdgeschoss nicht verändert. Die große Diele besaß einen massiven Holzboden und getäfelte Wände mit bogenförmigen Durchgängen, die sie rechts mit dem Wohnzimmer und links mit einem Aufenthaltstraum verband, in dem die Nachbildung eines alten Poolbillardtisches stand.

Gegenüber der Eingangstür war eine breite Treppe, zu deren beiden Seiten Korridore ins Hinterhaus führten. Der Raum über der Diele war offen und gab den Blick auf das erste Stockwerk frei, wo sich die Treppe zum zweiten Stock gabelte.

Cassie hob ihr Kinn in Richtung Treppe und rief: „Ben? Kommst du runter? Clair ist da.“

„Bin schon auf dem Weg“, antwortete er. Im selben Moment kamen Arbeitsstiefel, lange, mit Jeans bekleidete Beine und beachtlich muskulöse Oberschenkel in Sicht, gefolgt von einem niedrig geschlungenen ledernen Werkzeuggürtel und schmalen Hüften, einem V-förmigen Oberkörper mit muskulöser Brust, breiten Schultern und kräftigen Bizepsen, die sich unter einem schlichten weißen T-Shirt abzeichneten.

„Erst sagst du, dass du einen Wagen in der Einfahrt gehört hast, und dann verschwindest du“, warf Cassie ihrem Bruder vor, der den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht hatte.

Ben sah nicht zu ihnen hinunter, sondern beschäftigte sich mit seinem Werkzeug, das er in die Gürtelschlaufen zurücksteckte.

„Ich musste erst den Farbeimer verschließen“, murmelte er.

Clair beobachtete ihn und stellte fest, dass er noch besser aussah, als sie sich erinnerte – was sie niemals für möglich gehalten hätte.

Ben besaß nicht nur einen bemerkenswerten Körper. Sein kurzes dunkelbraunes Haar war derart reizvoll zerzaust, dass man unmöglich feststellen konnte, ob es am Schnitt lag oder natürlich war. Die Kamera würde seine gemeißelten Züge, seine geraden Brauen, sein markantes Kinn mit dem winzigen Spalt in der Mitte und seine schmale perfekte Adlernase lieben.

Seine Haut war glatt und sonnengebräunt. Ein Tagesbart beschattete seine schlanken Wangen und gab ihm ein anziehend raues Aussehen. Als er sein Werkzeug endlich durch die entsprechenden Schlaufen gezogen hatte und seine Aufmerksamkeit auf die Diele richtete, wirkte das Blaugrün seiner Augen so kräftig, dass Clair seinen Blick beinahe körperlich spürte.

Doch seine tiefe Stimme verriet nicht das geringste Gefühl, als er sie begrüßte. „Hallo, Clair.“

Ben stieg die letzten Stufen mit leicht schwankenden Schritten hinab, die einen Anflug von Dreistigkeit hatten.

Clairs Hals wurde plötzlich trocken, und sie bekam kaum einen Ton heraus. „Hallo.“

Er ließ sie nicht aus den Augen, sagte aber nichts. Clair war nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete oder ob seine Miene tatsächlich etwas Herausforderndes hatte. Seine ganze Haltung. Deshalb war sie froh, dass Cassie das Schweigen beendete.

„Hast du schon etwas gegessen? Oder möchtest du etwas trinken? Wir haben chinesisch gegessen. Es ist noch was übrig geblieben. Außerdem habe ich einen ganzen Krug Limonade gemacht.“

„Ein Glas Limonade reicht völlig“, stieß Clair hervor.

Cassie blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich habe nur noch ein paar Minuten Zeit, dann muss ich zu einer Sitzung. Ich helfe Ben ein bisschen, weil er wahnsinnig viel zu tun hat. Aber ich muss mich auch auf das Herbstsemester vorbereiten. Deshalb kann ich nicht immer hier sein. Soll Ben deinen Koffer schnell in das Verwalterhäuschen bringen?“

In Clairs Bewusstsein drang nur, dass Cassie nicht mehr lange bleiben würde, und sie spürte erneut einen Anflug von Panik. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Okay“, sagte sie matt.

Cassie hakte sich bei ihr unter und führte sie in die Küche. Dort hatte sich ebenfalls nichts verändert. Es war ein großer weiter Raum mit professionellen Geräten und sehr wenig Dekor, abgesehen von den Wandfliesen mit ihrem Blumenmuster. Auf der einen Seite befand sich eine Arbeitsinsel mit Marmorplatte und Barhockern. An dem langen rechteckigen Tisch mit Bänken zu beiden Seiten wurde zu Abend gegessen.

Cassie schob Clair zu einem Barhocker und ging zum Kühlschrank. „Es ist schwer für dich, wieder hier zu sein, wo dein Vater nicht mehr lebt, nicht wahr?“, fragte sie, als ihr Bruder außer Hörweite war.

„Ein bisschen“, gab Clair zu, denn dies war ebenfalls ein Grund für ihre Nervosität.

„Ist es okay für dich, allein im Verwalterhäuschen zu wohnen? Ich wünschte, du könntest bei mir übernachten. Aber der Bruder meiner Mitbewohnerin schläft zurzeit auf unserer Couch. Aber wenn du möchtest, kann ich auch gerne hier herauskommen und bei dir bleiben.“

Das war ein verlockendes Angebot. Nicht nur, weil Cassie sie von Ben ablenken würde. Es wäre schön, mehr Zeit mit der Freundin zu verbringen. Doch Clair hatte noch mehr vor, als Ben Walker bei der Eröffnung seiner Schule zu helfen. Und das konnte sie nur, wenn sie sich nicht ablenken ließ. Deshalb sagte sie: „Vielen Dank, das ist nicht nötig. Ich komme bestimmt zurecht.“

„Na gut.“ Cassie brachte Clair das Glas mit der Limonade und deutete auf die Wanduhr. „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich verschwinden muss, obwohl du gerade erst angekommen bist.“

„Das macht wirklich nichts“, log Clair.

„Ich komme morgen wieder. Ben wird inzwischen gut auf dich Acht geben – nicht wahr?“

Clair hatte Ben nicht eintreten hören und blickte über die Schulter zur Schiebetür.

„Hm“, brummte er.

Cassie schien diese Antwort zu genügen, denn sie sagte: „Also gut, dann sollte ich schleunigst gehen. Wir sehen uns morgen.“

Plötzlich waren Clair und Ben allein. Die Stille wog so schwer, dass man sie beinahe fühlen konnte. Clair wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie Ben erzählen, was ihr bei dem Klassentreffen und am nächsten Morgen durch den Kopf gegangen war? Sollte sie eine Ausrede vorschieben oder lieber versuchen, Ben davon zu überzeugen, dass sie sich in einer Extremsituation befunden hatte?

Oder sollte sie einfach so tun, als wäre nichts passiert …

„Es ist eine ziemlich lange Fahrt von Denver hierher“, unterbrach Ben ihre Überlegungen und stellte sich auf die andere Seite der Arbeitsinsel. Er streckte seine Arme seitlich aus und fasste die Ränder des Hochschranks.

„Ja, das stimmt“, gab Clair zu. „Aber ich bin schon früh losgefahren, und es war ein schöner Tag für die Reise. Sonnig, aber nicht zu heiß.“

Sie konnte nicht glauben, dass sie über das Wetter sprachen. Doch sie brachte es nicht fertig, über wichtigere Dinge zu reden.

Ben machte den Anfang.

„Cassie weiß nicht, was auf dem Klassentreffen zwischen dir und mir geschehen ist. Niemand weiß es“, begann er und stieß einen seltsamen Laut aus, der nur von fern einem Lachen ähnelte. „Ich selber in vieler Hinsicht eingeschlossen.“

„Mir ist auch nicht alles klar“, gab Clair zu und starrte auf die Wassertropfen an der Außenseite ihres Glases. „Nicht einmal, was die Augenblicke betrifft, an die ich mich erinnere.“

„Wir hatten beide eine Menge getrunken“, sagte Ben, um es ihr leichter zu machen. „Aber am nächsten Morgen … Ich war wieder völlig nüchtern, und du musst es ebenfalls gewesen sein.“

„In mehr als einer Beziehung“, flüsterte sie.

„Was soll das heißen?“

Sie musste es ihm erklären, ob es ihr gefiel oder nicht. „Das passte überhaupt nicht zu mir. Ich steige sonst nicht einfach mit einem Fremden ins Bett. So etwas hatte ich noch nie getan.“ Das eigene Verhalten war ihr so fremd, dass sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte. „Ich …“ Sie räusperte sich verlegen. „Vorher war ich nur – nur mit Rob zusammen gewesen.“

„Rob?“

„Rob Cabot. Mein Exehemann.“

Ben zuckte mit den Schultern. „Müsste ich ihn kennen?“

„Wir waren in derselben Klasse. Rob war ebenfalls auf dem Treffen. Mit seiner neuen Frau. Das hatte ich nicht erwartet. Er hatte mir geschrieben, er würde nicht kommen. Es war unsere erste Begegnung nach der Scheidung, und sie brachte mich ziemlich aus der Fassung. Deshalb hatte Cassie dich gebeten, mir Gesellschaft zu leisten.“ Erwartungsvoll sah sie Ben an. Doch dem schien kein Licht aufzugehen.

„Ich weiß nur, dass es ein lausiger Abend war. Ich hätte mich niemals von meiner Schwester überreden lassen dürfen, zu dem Klassentreffen zu gehen. Ich war mir in dem letzten Jahr auf der Schule immer wie ein Fisch auf dem Trockenen vorgekommen und fühlte mich auch an dem Abend so. Als ich Cassie sagte, dass ich heimgehen wollte, erzählte sie mir, dass du dich ebenfalls unwohl fühltest, und bat mich, dir Gesellschaft zu leisten, bis sie wieder Zeit für dich hatte.“

„Dann wusstest du nicht …“ Clair hielt inne, denn sie wollte jetzt nicht über Rob sprechen. „Es war nicht nur Mitleid?“, fuhr sie fort und erschrak, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

Ben lächelte plötzlich. Es war ein träges freundschaftliches Lächeln, das die Spannung im Raum sofort lockerte.

„Du dachtest, die ganze Nacht wäre … reines Mitleid gewesen?“

„Ich konnte die Möglichkeit nicht ausschließen“, gab Clair leise zu.

Ben versuchte ernst zu bleiben. „Ich wusste nicht, dass es etwas gab, weshalb ich Mitleid mit dir hätte haben sollen“, sagte er.

„Das freut mich.“

„Jetzt hast du mich allerdings neugierig gemacht.“

„Dein Pech“, antwortete Clair in einem Ton, der ihm zeigte, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, seine Neugier zu befriedigen.

Aus einem seltsamen Grund musste Ben lachen, und die restliche Spannung verflog.

„Okay“, sagte er und entspannte sich ebenfalls. Er verlagerte sein Gewicht auf eine Hüfte, richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Deshalb bist du am nächsten Morgen verschwunden? Weil du dachtest, ich wäre nur aus Mitleid mit dir zusammen gewesen?“

„Nein, ich bin … ich bin am nächsten Morgen beinahe durchgedreht und konnte einfach nicht glauben, was ich getan hatte. Deshalb bin ich geflohen.“

Ben antwortete nicht sofort. Er schwieg so lange, dass Clair ihn schließlich ansah.

Er beobachtete sie aufmerksam, als überlegte er, ob er ihr glauben sollte. „Das hatte mir absolut nicht gefallen“, sagte er endlich.

„Tut mir leid. Das war wirklich schlechter Stil. Aber ich wusste einfach nicht, was ich tun oder sagen sollte, und wollte nur noch nach Hause.“

Das klang ziemlich lahm. Aber es entsprach der Wahrheit.

Ben erkannte es, oder er wollte sie nicht länger zappeln lassen. Nachdem er sie erneut eine Weile aufmerksam angesehen hatte, sagte er: „Wie wäre es, wenn wir jenen Abend und jene Nacht einfach vergessen und von vorn beginnen würden?“

Leider konnte Clair es nicht restlos vergessen. „Ich würde gern von vorn beginnen“, stimmte sie zumindest dem zweiten Teil seines Vorschlags zu.

„Dann sollten wir es tun.“

Der Blick seiner grünblauen Augen war viel wärmer geworden, und Clair fühlte sich schon erheblich besser.

„Du scheinst ziemlich erschöpft von der Fahrt zu sein. Da ich morgen sehr früh anfangen möchte, habe ich Cassie gesagt, dass ich das Frühstück für euch beide um halb acht fertig haben werde. Ist dir das recht?“

„Halb acht geht völlig in Ordnung.“

„Okay. Dann begleite ich dich jetzt zum Verwalterhäuschen, damit du auspacken und dich ausruhen kannst. Und morgen beginnen wir von vorn.“

„Das würde mir sehr gefallen.“

„Okay, dann ist es abgemacht.“

Er streckte ihr die Hand hin, und Clair drückte sie, ohne zu ahnen, dass diese Geste etwas in ihr bewirken könnte.

Aber es war der Fall. Der förmliche Händedruck, den zwei beliebige Fremde hätten tauschen können, machte ihr die Hitze seiner Haut, die Kraft seines Griffs und die Sinnlichkeit seiner Berührung ungeheuer bewusst – lauter Dinge, die sie auf keinen Fall wahrnehmen wollte.

„Du brauchst mich nicht zu dem Verwalterhaus zu begleiten“, sagte sie rasch. „Ich schlüpfe einfach hinaus, als wäre ich nie hier gewesen. Dann wird unser Neuanfang umso leichter.“

„Bist du sicher?“, fragte Ben, während sie vom Barhocker rutschte.

„Absolut. Du kennst mich nicht, und ich bin gar nicht da“, sagte sie und ging in Richtung Schiebetür.

Ben folgte ihr bis dort, öffnete die Tür und hielt sie mit einer Hand fest, während Clair hindurchging.

„Wir sehen uns, Fremde“, rief er hinter ihr her.

„Vielleicht. Wenn du Glück hast“, erwiderte sie, warf einen Blick über die Schulter und sah, dass er versonnen lächelte.

Am liebsten wäre sie geblieben.

Wie ist das passiert? überlegte sie, winkte zurück und eilte den kurzen Steinpfad zum Haus hinab.

Doch sie wusste keine Antwort. Sicher war nur, dass sie nach der ersten Nervosität am liebsten noch ein wenig bei Ben geblieben wäre. Kein anderer Mann hatte jemals so eine Wirkung auf sie gehabt.

Aber vielleicht war diese Wirkung unter den gegebenen Umständen gar nicht so verwunderlich.

2. KAPITEL

Ben war eine ganze Weile nicht gejoggt. Er hatte zu viel zu tun gehabt, damit seine Schule rechtzeitig fertig wurde. Aber heute Morgen ging es nicht anders, er musste unbedingt seinen Stress abbauen. Sein Kopf war voller Fragen über die Dinge, die er noch zu tun hatte – und über Clair Cabot.

Clair Cabot.

Sie war der eigentliche Grund, weshalb er jetzt in kurzen Jeans und seinem ausgeleierten grauen T-Shirt in die aufgehende Sonne lief.

Seine Schwester hatte ihm nicht erzählt, dass Clair frisch geschieden war. Dabei wusste sie, dass er nichts mehr hasste, als der „erste Mann danach“ zu sein. Er hatte auf die harte Tour gelernt, sich mindestens hundert Meter von jeder Frau fern zu halten, deren Trennung nicht schon sehr, sehr lange zurücklag.

Hätte er geahnt, dass Clairs trübe Stimmung mit ihrem Exmann zu tun hatte, hätte er sich bei dem Klassentreffen niemals bereit erklärt, ihr Gesellschaft zu leisten.

Und er hätte erst recht nicht mit ihr geschlafen.

Clair war ihm schon auf dem Parkplatz der Schule aufgefallen. Cassie hatte ihr Jahrbuch vergessen und ihn zu ihrem Wagen geschickt, um es zu holen. Während er sich durch die offene Beifahrertür ins Innere beugte, war Clair auf den freien Platz davor eingebogen.

Er hatte sie nicht wiedererkannt und keine Ahnung gehabt, dass dies die Freundin war, auf die seine Schwester sich so freute. In dem letzten Jahr vor Abschluss der High School, das er zu Hause verbringen durfte, hatte er eine Menge aufholen müssen. Deshalb hatten sich ihre Wege wahrscheinlich nicht oft gekreuzt. Außerdem war das zehn Jahre her. Oder Clair hatte damals anders ausgesehen. Jedenfalls war sie ihm nicht aufgefallen.

Im Juni war das anders gewesen. Clair hatte ihm auf Anhieb gefallen, obwohl er normalerweise auf dunkelhaarige Frauen stand.

Die Sonne hatte durch das Seitenfenster geschienen und sich in ihren blonden Strähnen gefangen. Plötzlich hatte er glänzendes Blondhaar ausgesprochen hübsch gefunden.

So hübsch, dass er nicht sicher war, ob ihm ihre jetzige kurze Frisur gefiel.

Er erinnerte sich an ihre makellose Haut mit dem gesunden rosa Hauch auf den hohen Wangenknochen, die ihr damals wie jetzt etwas exotisch Unschuldiges verliehen – falls es so etwas gab.

Nicht nur ihr blondes Haar, ihre feinen Gesichtszüge und ihre Porzellanhaut waren der Grund gewesen, weshalb er an jenem Juniabend einen zweiten Blick zu ihr hinübergeworfen hatte.

Sie hatte die Fahrertür geöffnet, und ihre langen wohlgeformten Beine waren zum Vorschein gekommen. Als sie die Tür wieder schloss, hatte er auch ihren wohlproportionierten Körper mit genau den richtigen Rundungen vorn und hinten zu Gesicht bekommen.

Clair hatte die hintere Tür geöffnet, um etwas von der Rückbank zu nehmen, und er hatte sich auf die Suche nach Cassies Jahrbuch gemacht. Beinahe gleichzeitig hatten sie die Wagentüren wieder geschlossen, und er hatte einen dritten Blick hinüber gewagt.

Diesmal hatte Clair ihn mit ihren ungewöhnlich großen dunkelblauen Augen direkt angesehen. Sie hatte ihn einen Moment mit ihrem Blick gefesselt und ihre weichen rosa Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen. Zögernd. Unsicher. Als fragte sie sich, ob sie sich an ihn erinnern müsste. Und das mit einer Wärme, dass er plötzlich froh war, zu dem Klassentreffen gefahren zu sein.

Dann waren zwei Frauen herbeigeeilt und hatten sie mit ihrem Namen begrüßt.

So hatte er erfahren, wer sie war.

Clair Cabot.

Cassies beste Freundin.

Ben erhöhte die Geschwindigkeit auf dem letzten Abschnitt seiner Laufstrecke bis an die Schmerzgrenze. Dann kam das Schulgebäude in Sicht, seine derzeit wichtigste Aufgabe. Daran hatte er sich jedes Mal erinnert, wenn Clair Cabot und ihre überstürzte Flucht an jenem Morgen vor über zwei Monaten ihm in den Sinn gekommen waren.

So eine eigene Schule hatte er sich seit seiner Entlassung aus der Erziehungsanstalt in Arizona immer gewünscht. Es war sein Traum gewesen, sein Ziel, mit schwer erziehbaren Kindern zu arbeiten, wie er eines gewesen war, und zwar so, wie es seiner Ansicht nach geschehen sollte.

Inzwischen hatte er sein Ziel erreicht und war bereit, sich seiner neuen Aufgabe und den Jungen, die er in sein Programm aufgenommen hatte, voll und ganz zu widmen. So etwas ließ sich nicht halbherzig erledigen. Bevor die Schule nicht durchorganisiert war und fast wie von allein lief, würde er sich nicht ablenken lassen. Von nichts und niemandem.

Und schon gar nicht von Clair Cabot. Trotz ihrer dunkelblauen Augen, ihres blonden Haars und ihres süßen kleinen Körpers … Nein! Das durfte nur eine strikt berufliche Beziehung sein. Basta.

Clair war gekommen, um ihm zu zeigen, wie ihr Vater die Schule geleitet hatte: wie man die Bücher führte, welche amtlichen Papiere erforderlich waren und was er tun musste, um die Genehmigung durch das Jugendamt zu erhalten.

Alles rein beruflich.

Deshalb hatte er den Vorschlag gemacht, die gemeinsame Nacht zu vergessen und noch einmal von vorn zu beginnen.

Nachdem alles Berufliche erledigt war, würde Clair dorthin zurückkehren, woher sie gekommen war – und wohin sie an dem Morgen nach dem Klassentreffen geflohen war. Und er konnte sie vergessen.

Außer, dass ihm das bisher nicht gelungen war.

Und damit war er wieder am Anfang.

Wenn ich Clair Cabot bisher nicht vergessen konnte, überlegte Ben, während er die letzten Meter im langsamen Laufschritt zurücklegte, um sich abzukühlen, wie soll es mir dann jetzt gelingen?

Er hatte keine Ahnung.

Vor allem, weil er mit ihr eine der unglaublichsten Nächte verbracht hatte, die er jemals erlebt hatte …

Clair hatte am Montagabend lange nicht einschlafen können. Die unterschiedlichsten Empfindungen über ihre erneute Begegnung mit Ben hatten sie bis nach ein Uhr nachts wach gehalten.

Deshalb verschlief sie am Dienstagmorgen. Obwohl sie nur kurz duschte und anschließend rasch in ihre Jeans und ein kurzärmeliges T-Shirt mit rundem Ausschnitt schlüpfte, traf sie nach Ben und Cassie in der Küche des Haupthauses ein.

„Tut mir leid, dass ihr warten musstet“, entschuldigte sich Clair. „Ich habe glatt verschlafen.“

„Mich hast du nicht warten lassen“, versicherte Cassie ihr. „Ich bin selber gerade erst gekommen.“

„Okay, dann entschuldige ich mich wenigstens bei dir“, erklärte Clair und sah Ben an, der an einem Ende des langen rechteckigen Tisches saß.

„Passt auf, dass das nicht noch einmal geschieht. Oder ich gebe euch eine Strafarbeit und drei Tage Hausarrest“, scherzte er. Er hob seine Tasse auf und deutete zu der Kaffeemaschine auf der Anrichte. „Bedient euch, Ladies. Der Kaffee ist frisch aufgebrüht, und im Backofen findet ihr warmes Rührei, Speck und Toast. Ich habe bereits gefrühstückt und werde schon mal nach unten gehen, um mit der Arbeit zu beginnen.“ Er stand auf, nahm sein Geschirr und stellte es in die Spülmaschine.

Clair staunte, dass er ihnen über ihre Verspätung nicht böse war.

„Wir sehen uns unten“, sagte er und verschwand durch eine Tür, hinter der sich die Treppe zum Untergeschoss verbarg.

Die nächsten Stunden vergingen mit einer Art Inventur. Ben, Clair und Cassie stellten Listen der vorhandenen Bettwäsche, der Handtücher und der anderen Dinge auf, die bei der Schließung der Schule nach dem Tod von Clairs Vater in Kisten verpackt und im Erdgeschoss gelagert worden waren. Den ganzen Tag ging es treppauf und treppab. Sie zählten, sortierten und entfernten, was zu verschlissen war, und ordneten alles Brauchbare in Schränke, Regale und Schubläden.

Clair erzählte Ben, wie ihr Vater die Schule organisiert hatte. Doch letzten Endes war es seine Entscheidung. Sie nahm ihm nicht übel, dass er einiges verändern wollte.

Sie arbeiteten bis weit nach Anbruch der Dunkelheit und waren anschließend ziemlich erschöpft. Es war zu spät, um ein ausgiebiges Abendessen zu bereiten. Deshalb ließen sie sich Pizza und Salat bringen.

Sie aßen am Couchtisch im Wohnzimmer und saßen auf dem Boden. Schließlich erklärte Cassie, dass sie restlos erledigt wäre, und fuhr nach Hause. Clair lehnte mit dem Rücken an der Vorderseite eines Ledersessels. Ben saß neben ihr, einen Arm auf das Sofakissen gestreckt.

Ben hatte tagsüber nicht viel gesagt. Cassie und Clair hatten die ganze Zeit geredet, während er vor allem mit schwerem Heben und sonstiger körperlicher Schwerarbeit beschäftigt gewesen war. Vielleicht wollte er jetzt lieber allein sein, um sich auszuruhen?

Doch zu ihrer Freude machte er keine Anstalten, den Abend zu beenden, sondern deutete mit dem Kinn auf einen alten verwitterten Pappkarton, den sie vorhin heraufgeholt hatten. Er enthielt Erinnerungsstücke an Clairs Kindheit.

„Hast du irgendwelche Schätze darin gefunden?“, fragte Ben.

„Du meinst, eine lange verschollene Antiquität, die ich zu einer dieser ‚Kunst und Krempel‘-Shows bringen könnte, die im Fernsehen stattfinden, um ihren Wert feststellen zu lassen?“

„Zum Beispiel.“

„Leider nicht. Der Karton enthält nur ein paar Puppen und Puppenkleider, einen Plüschhund mit abgekautem Ohr und meine ersten richtigen Schuhe. Nichts von Wert.“

„Wer hat dem Hund das Ohr abgekaut?“, fragte Ben lächelnd inmitten seines Tagesbarts, den er wie gestern wegen der vielen Arbeit nicht hatte rasieren können.

„Na ja, das war wohl ich. Ich habe den Hund überall mitgeschleppt und auf dem Ohr gekaut, sobald ich verlegen oder verärgert war“, erklärte Clair.

„Darf ich ihn mal sehen?“, bat er mit schelmischer Miene.

„Hübsch ist er nicht“, warnte sie ihn.

Ben zog den Karton näher und inspizierte den Inhalt.

Clair beobachtete ihn stumm. Er war wie gestern gekleidet und trug Jeans und ein T-Shirt, diesmal in Grau. Das T-Shirt saß wie eine zweite Haut und betonte die ausgeprägten Muskeln seines Oberkörpers. Wie konnte ein Mann mit so wenig Mühe so gut aussehen?

Und Ben sah ganz entschieden gut aus.

Kurz darauf griff er in den Karton und zog den Hund heraus. Das Tier war schmutzig und verschlissen. Ihm fehlte tatsächlich ein Ohr.

„Du musst häufig verlegen oder verärgert gewesen sein“, stellte Ben fest und lächelte kläglich.

„Kindheit kann eine harte Sache sein“, antwortete Clair trotzig.

„Wie lange hast du den armen Kerl herumgeschleppt?“

„Bis ich siebzehn war.“ Sie hatte todernst gesprochen, doch Ben erkannte, dass es ein Scherz gewesen war. Er setzte das Stofftier auf den Couchtisch, als wollte er es in Sichtweite behalten, und sah Clair wieder an.

„Diese Sachen stammen also aus der Zeit, bevor du hierher kamst.“

„Sie sind viel älter.“

„Ich habe mich den ganzen Tag gefragt, wie es für dich gewesen sein mag, hier aufzuwachsen.“

„Es war okay.“

„Das klingt nicht gerade begeistert. Sollte es eine Warnung sein, meine Kinder lieber woanders großzuziehen – falls ich jemals welche habe?“

Clair scheute vor dem Nachsatz seiner Frage zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Den ersten Teil beantwortete sie dagegen freimütig.

„Ich fand es hier gar nicht schlecht. Was mir nicht so sehr gefiel, war die Tatsache, dass mein Vater zu jeder Tages- oder Nachtzeit verständigt werden wollte, wenn etwas passiert war. Da hatte ich immer das Nachsehen. Immer.“

„Zum Beispiel?“

„Er hatte versprochen, mich an meinem sechzehnten Geburtstag in das beste Restaurant von Billings zum Essen auszuführen. Nur wir beide. Doch kaum war der Salat serviert, erhielt er einen Anruf von der Schule. Er hinterließ grundsätzlich, wo er zu erreichen wäre. Und wenn er nichts hörte, rief er jede Stunde selber an. Wie dem auch sei, an jenem Abend hatte eines der Kinder einen Albtraum gehabt. Obwohl es sich längst beruhigt hatte, bestellte Dad das Essen kurzerhand ab und fuhr mit mir zurück.“

Ben verzog das Gesicht. „Es war bestimmt toll für die Kinder, dass er sich derart um sie kümmerte. Aber es ging auf deine Kosten.“

„Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er nur bei echten Notfällen alles hätte stehen und liegen lassen. Doch nachdem wir hierher nach Northbridge kamen, war ihm die geringste Kleinigkeit wichtiger als ich. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Vielleicht stürzte er sich derart in seine Arbeit, um den Kummer über Moms Tod zu verdrängen.“

„Ich wusste, dass dein Vater Witwer war. Aber ich habe nie erfahren, wie deine Mutter ums Leben gekommen ist.“

„Ein Verkehrsbus übersah eine rote Ampel an einer Kreuzung und fuhr seitlich in ihren Wagen.“

„Wie alt warst du damals?“

„Vierzehn.“

„Und wann ist dein Vater hierher gekommen?“

„Ein Jahr später.“

Ben zog eine Braue in die Höhe. „Du hattest also gerade deine Mutter verloren und verlorst deinen Vater durch den Umzug hierher praktisch auch“, stellte er fest.

„Ja, so war es wirklich. Ein bisschen“, gab Clair zu. „Ich habe es nie so betrachtet, aber du hast recht. Wenn ich zurückdenke, kam es mir tatsächlich so vor.“ Dass Ben so viel Einfühlungsvermögen besaß, beeindruckte sie sehr.

Trotzdem sollte er nicht schlecht über ihren Vater denken. „Das heißt aber nicht, dass mein Vater kein großartiger Mensch gewesen wäre. Er vernachlässigte mich nie und ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er mich liebte. Es war … Ich nehme an, diese Rund-um-die-Uhr-Arbeit hier war die einzige Möglichkeit für ihn, mit dem Tod meiner Mutter fertig zu werden. Deshalb gab er seine Stelle als High-School-Lehrer auf und suchte sich etwas, das seine Zeit stärker beanspruchte.“

„Dein Vater war High-School-Lehrer, bevor er diese Schule gründete? Weshalb befasste er sich dann mit jüngeren Kindern, wenn er doch eher Erfahrung mit älteren besaß?“

„Das geschah meinetwegen. Er beschloss, nur Kinder zwischen acht und zwölf Jahren aufzunehmen, damit ich nicht in unmittelbarer Nähe von Jungen meines Alters und älteren aufwachsen würde.“

„Aus Sicherheitsgründen, um dich vor pubertierenden Jungs zu schützen, oder um zu verhindern, dass Rüpel wie ich dich verderben könnten?“

Da war er wieder, dieser Anflug von Übermut, der Bens hübschem Gesicht zusätzliche sexuelle Ausstrahlung verlieh. Erneut versuchte Clair, es nicht zu beachten. Wenigstens nicht zu sehr …

„Aus beiden Gründen. Ich sollte meine eigenen Freundinnen haben, außen vor bleiben, keinen Kontakt zu jemandem bekommen, der mir schaden konnte. Dads schlimmster Albtraum war wohl, dass ich eines Tages einen seiner Schutzbefohlenen als Schwiegersohn anschleppte“, bestätigte sie. Wenn Ben da gewesen wäre und seinen ganzen Charme eingesetzt hätte, als sie beide sechzehn oder siebzehn waren, hätte ihr Vater wohl kaum was ausrichten können.

Damit er nicht merkte, wohin ihre Gedanken gewandert waren, erzählte Clair von den Jungen, die ihr Vater schließlich in sein Programm aufgenommen hatte.

„Aber auch einige der ganz kleinen Kinder waren ziemlich anstrengend. Nach der Schule arbeitete ich hier immer, natürlich gegen Entgelt. Es gab Zeiten, da war es nicht angenehm.“

„Das ist wahrscheinlich eine gewaltige Untertreibung“, sagte Ben. „Während ich an meiner Diplomarbeit schrieb, arbeitete ich in einem Heim für Kindergartenkinder. Ich sage dir, ich habe dort Dinge gesehen, die niemand bei so Kleinen erwarten würde. Ein Fünfjähriger beschimpfte seine Therapeutin mit einem Wort, das einem Hafenarbeiter die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte, und schlitzte ihr anschließend mit einer Rasierklinge den Arm auf. Das hatte er von seinem Bruder aus dessen Haftzeit gelernt.“

„Meine Güte …“, sagte Clair verwundert. „Mein Dad nahm keine Kinder auf, die schon gewalttätig geworden waren. Allerdings hatte er einige, die sich an schlechten Tagen selber verletzen konnten.“

Ben hatte seine Examensarbeit erwähnt. Das gab ihr die Möglichkeit, sich nach seiner Ausbildung und seinen Referenzen zu erkundigen. Sie hatte keine Ahnung, was er nach Abschluss der High School gemacht hatte. Als Besitzer einer privaten Schule brauchte er keine besondere Ausbildung, sondern war nur verpflichtet, Fachpersonal einzustellen. „Du hast ein Diplom gemacht?“, fragte sie neugierig.

„Ich habe ein Diplom in Psychologie und im Aufbaustudiengang noch Psychotherapie draufgesetzt.“

Clair begann zu lächeln.

„Du glaubst mir nicht?“, fragte er verwirrt.

„O doch. Ich habe nicht den geringsten Zweifel an deinen Worten. Ich musste nur gerade daran denken, dass du in unserer Abschlussklasse vermutlich so ziemlich der Letzte warst, dem man solche Studienfächer zugetraut hätte. Geschweige denn überhaupt ein Studium.“

Ben lachte leise. „Bei mir hat man nie gewusst, woran man war.“

Was einen Teil seines Reizes ausmachte und ihm nicht zuletzt den Ruf eines Bad Boy eingetragen hatte.

„Ich weiß immer noch nicht genau, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst“, sagte er plötzlich. „Oder wieso du einfach freinehmen und hierher kommen konntest.“

„Mir gehört eine Kindertagesstätte“, antwortete Clair. „Da ich die Chefin bin und sich eine Menge Überstunden angesammelt haben, habe ich meiner Stellvertreterin die Leitung übertragen.“

Die Schwangerschaftshormone hatten sie ungewöhnlich müde gemacht, und der anstrengende Tag verlangte seinen Tribut. Ohne jede Vorwarnung musste sie plötzlich laut gähnen.

„Nanu! Woher kommt das denn?“, fragte sie verlegen.

Ben lachte leise. Clair war nicht sicher, ob über ihr Gähnen oder ihre Verlegenheit. „Mir scheint, ich habe dich heute ziemlich gefordert. Vielleicht solltest du dich lieber ausruhen, damit du mich morgen dem Lebensmittelgroßhändler und der Wäscherei vorstellen kannst.“

„Ja, ist wohl besser, wenn ich jetzt zu Bett gehe“, stimmte Clair zu. Sie durfte die Schwangerschaftsmüdigkeit nicht einfach ignorieren. Deshalb stand sie auf und begann, die Papierteller und die Pizzaschachteln einzusammeln.

„Lass nur“, forderte Ben sie auf. „Ich habe dich schon genug beansprucht. Ich werde alles wegräumen, nachdem ich dich ins Bett gebracht habe.“

Hatte das absichtlich zweideutig klingen sollen?

Offensichtlich nicht, denn er verbesserte sich sofort. „Oder wenigstens sicher ins Verwalterhaus.“

Trotzdem klang ein leiser Schalk in seiner Stimme durch, der Clair zeigte, dass Ben eher belustigt als zerknirscht über seinen Versprecher war.

„Es ist mir ernst. Lass die Sachen liegen“, wiederholte er, als sie nicht gleich aufhörte. Er stand auf, nahm den Stoffhund vom Couchtisch und drückte ihn in ihre Hand. „Hier. Wenn du deine Hände unbedingt beschäftigen musst, nimm dieses arme geschundene Tier. Ich trage den Karton für dich.“

„Der Karton ist nicht schwer“, wandte Clair ein. „Ich kann ihn selber tragen. Außerdem brauchst du mich nicht zu begleiten.“ Obwohl ihr der Gedanke sehr gefiel.

Doch Ben ließ sich nicht abweisen. „Das ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich dich heute derart schwer habe arbeiten lassen. Auch wenn du mich beim Frühstück warten lassen hast.“

„Das tut mir aufrichtig leid“, sagte Clair und verzichtete auf den Hinweis, dass er nicht unschuldig daran war. Schließlich hatte sie seinetwegen vorige Nacht nicht genug Schlaf bekommen.

„Wie dem auch sei: Morgen gibt es nur Toast mit Butter. Und den mache ich erst, wenn du tatsächlich aufgetaucht bist“, drohte Ben mit gespieltem Ernst.

„Morgen werde ich pünktlich sein. Sogar mehr als das. Das schwöre ich“, versicherte sie.

„Hm“, erwiderte er zweifelnd und ging vom Wohnzimmer durch die Küche und die Schiebetüren nach draußen.

Clair folgte ihm. Da sie hinter ihm lief, konnte sie den Blick nicht von dem wenden, was sich unter seinen rückwärtigen Jeanstaschen abspielte. Fasziniert betrachtete sie die Auf- und Abwärtsbewegungen eines der tollsten Hintern, den sie jemals gesehen hatte.

Sie erreichten das Verwalterhaus, und Clair hob gerade noch rechtzeitig den Kopf, bevor Ben sie erwischte, wie sie auf seinen Hintern starrte. Rasch schlüpfte sie um ihn herum und öffnete die Tür.

„Ich kann die Sachen jetzt nehmen“, erklärte sie und legte den Spielzeughund, den sie fest an ihre Brust gepresst hatte, oben auf den Karton.

Diesmal gab Ben nach, und sie erwartete, dass er ihr gute Nacht wünschen und ins Haupthaus zurückkehren würde.

Doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Ich habe dir noch gar nicht gesagt, wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass du mir hilfst“, sagte er.

„Das ist doch keine große Sache.“

„Für mich schon. Es ist eine gewaltige Hilfe, zu der du nicht verpflichtet bist. Dafür möchte ich dir danken.“

Plötzlich stand Clair das Bild wieder vor Augen, wie Ben sie nach dem Klassentreffen zu ihrem Hotelzimmer begleitet hatte. Er hatte ihr nur gute Nacht sagen wollen.

Stattdessen hatte er sie geküsst.

Und sie den ganzen Weg ins Zimmer hinein weitergeküsst.

Obwohl ihr der Kuss nicht lebhaft in Erinnerung war, genügte das Bild, um einige Gefühle aufzurühren, die sie damals empfunden hatte.

Gefühle, die sie wünschen ließen, dass Ben sie erneut küssen würde.

Allerdings schien er nicht die Absicht zu haben. „Also, danke“, sagte er schlicht und holte sie in die Wirklichkeit zurück.

„Gern geschehen“, antwortete Clair ganz cool, als wären ihre Gedanken nicht gerade auf ein gefährliches Gebiet abgeirrt.

„Trotzdem bin ich dir etwas schuldig.“

„Nein, das bist du nicht“, versicherte sie ihm.

Ben lächelte so freundlich, dass alle Spuren des Bad Boy verschwanden, die sie tagsüber immer wieder bei ihm bemerkt hatte. „Das bin ich doch.“

Er sah sie einen Moment eindringlich an, und der Wunsch nach einem Kuss kehrte auf der Stelle zurück.

Allerdings nur bei ihr. Ben schien diesen Wunsch nicht zu spüren, denn er trat einen Schritt zurück und sagte: „Schlaf schön. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, antwortete Clair und schloss die Tür ein bisschen zu schnell.

Das Bild von jener anderen Nacht ging ihr nicht aus dem Kopf.

Auch nicht der Wunsch, Ben zu küssen.

Und das durfte nicht sein.

Sie war immer noch nicht sicher, ob sie nach Northbridge gekommen war, um ihm zu erzählen, dass er Vater wurde.

Oder ob sie ihm nur bei der Schule helfen und anschließend für immer aus seinem Leben verschwinden wollte, ohne ihm etwas davon zu verraten.

3. KAPITEL

„Was soll ich anziehen?“, murmelte Clair am späten Mittwochnachmittag und betrachtete die Kleider, die sie auf dem Bett ausgebreitet hatte. „Das übergroße T-Shirt und die lockere Cargohose? Oder das hautenge ärmellose Top mit der knappen schwarzen langen Hose? Hm …“

Der Tag war angefüllt gewesen mit Besprechungen bei früheren Lieferanten und Service-Unternehmen ihres Vaters. Konten waren eingerichtet worden und die ersten Aufträge erteilt. Bens Schule nahm immer konkretere Formen an. Inzwischen war Clair zurück im Verwalterhaus, hatte geduscht und ihr Haar gewaschen und zog sich für ein Abendessen im Haus der Walker-Familie an. Das Essen sollte zu Ehren von Ben sowie Cassies älterem Bruder Ad und dessen frisch angetrauter Ehefrau Kit stattfinden, die gerade von ihren Flitterwochen zurückgekehrt waren.

Clair wusste nicht, was sie anziehen sollte. Ben hatte sie nicht nur eingeladen, sondern darauf bestanden, dass sie mitkam. Er hatte ihr eindeutig klar gemacht, dass er es wünschte.

Aber nicht allein deshalb freute sie sich sehr auf den Abend. Ben war das einzige Mitglied der Familie Walker, das sie nicht durch Cassie kennen gelernt hatte. Er war nie da gewesen, wenn sie zum Essen kam oder bei der Freundin übernachtete.

Nachdem Rob und sie Northbridge verlassen hatten, war sie nie wieder nach Northbridge zurückgekehrt und hatte den Kontakt zu der restlichen Familie Walker verloren. Nur Cassie hatte sie manchmal in Denver besucht.

Bei dem heutigen Abendessen würde sie die anderen Walkers zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedersehen. Das allein war der Grund für ihre Vorfreude auf den Abend – und ihre Sorge, was sie anziehen sollte. Mit Ben hatte es nichts zu tun.

Es hatte überhaupt nichts mit ihm zu tun.

Warum nur musste sie dann ständig an ihn denken, während sie hin und her überlegte? Ach, dem Mann sollten die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er sie sah.

Deshalb entschloss sie sich schließlich für das hautenge ärmellose Top, das ihre durch die Schwangerschaft beinahe um zwei Größen gewachsenen Brüste hervorragend zur Geltung brachte, und die schwarze lange Hose, bei deren Anblick ihr die Bauarbeiter letztes Mal nachgepfiffen hatten.

Um nicht zu sexy zu wirken, zog sie ein durchsichtiges Shirt über das Top. Sie wollte nicht aussehen, als ob sie sich auf ein intimes Stelldichein mit Ben traf.

Obwohl auch das sehr nett gewesen wäre.

Aber wegen eines intimen Stelldicheins mit Ben war sie nicht nach Northbridge gekommen. Neben ihrer Mithilfe beim Aufbau seiner Schule musste sie etwas klären. Eine Entscheidung treffen.

Eine große Entscheidung.

Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie ihr Vater auf ihre ungeplante Schwangerschaft reagiert hätte. Was er zu ihrem aktuellen Problem sagen würde, wusste sie dagegen genau. Er würde sagen, dass Ben ein Recht darauf hätte zu erfahren, dass er Vater wurde.

Nicht, dass sie anderer Meinung gewesen wäre. Aber sie war ein bisschen selbstsüchtig, wenn es um das Baby ging, auch wenn sie es ungern zugab.

Letztes Jahr hatte sie ihren Vater, ihren Ehemann und das Haus verloren, das sie gemeinsam mit Rob gebaut hatte. Sie hatte die Hälfte ihrer Hochzeitsgeschenke und die Hälfte aller Dinge hergeben müssen, die sie während ihrer Ehe erworben hatten. Rob hatte alle ihre Freunde auf seine Seite gezogen, weil sie nach dem Tod ihres Vaters und der Scheidung emotional zu erschöpft gewesen war und nicht um deren Freundschaft hatte kämpfen können. Deshalb hatte sie auch viele Menschen aus ihrem früheren Leben verloren. Vor allem aber hatte sie ihre sorgfältig geplante Zukunft verloren, deren sie so sicher gewesen war.

Hätten Rob und sie Kinder gehabt, hätte sie auch um das Sorgerecht kämpfen müssen, da war sie sich sicher. Rob hatte sich so gründlich von ihr getrennt, so unbarmherzig, dass er ihr bestimmt nicht einmal die Kinder gelassen hätte. Sie hatte es so satt, etwas zu verlieren. Um etwas zu kämpfen, das ihr gehörte. Solange Ben nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, gehörte dieses Baby ihr ganz allein – wie ein wunderbares heimliches Geschenk, das den Schmerz um all ihre anderen Verluste linderte.

Und es war nicht irgendein Geschenk. Clair hatte die letzten drei Jahre ihrer Ehe darum gekämpft, Mutter zu werden. Solange sie zurückdenken konnte, war ein Baby ihr größter Wunsch gewesen. Das konnte sie unmöglich teilen …

Clair streifte ihren Bademantel ab und zog das Top an. Während sie es über ihre Taille zog, legte sie die Handfläche einen Moment auf ihren Bauch, in dem ihr Baby wuchs.

Ihr Baby.

Ihres allein.

Sie konnte die Stimme ihres Vaters beinahe hören, der ihr sagte, dass das Baby ihr nicht allein gehörte. Doch sie schob den Gedanken energisch beiseite. Solange niemand von dem Baby wusste, gehörte es ihr allein.

Dass sie ein Baby bekam, war das Größte, das Wichtigste überhaupt. Die Übelkeit spielte keine Rolle. Auch der Schwindel nicht, unter dem sie manchmal litt. Oder die Müdigkeit. Alles, was sie durchmachen musste, war dieses Baby wert. Auch ihr Dilemma mit Ben.

Clair tätschelte ihren Bauch ein letztes Mal, griff nach ihrer langen Hose und zog sie an.

Mein Baby, dachte sie sehr, sehr besitzergreifend. Und sehr, sehr beschützerisch.

Während sie ihr Haar bürstete und die Locken zurechtzupfte, wünschte sie plötzlich, dass Bens Sexappeal nicht ganz so elektrisierend wäre.

Trotz bester Absichten fiel es ihr nämlich nicht leicht, sich nicht doch ein bisschen davon anstecken zu lassen.

Die Fahrt zum Haus der Familie Walker dauerte weniger als zehn Minuten – die durchschnittliche Zeit, in der man in Northbridge beinahe alles erreichte.

Das rote Backsteinhaus der Walkers hatte zwei Stockwerke und weiße Fensterläden. Sehnsüchtig blickte Clair auf die breite Vorderveranda, während Ben am Straßenrand anhielt. Plötzlich waren sie wieder da, die entspannenden Sommernachmittage, als Cassie und sie dort gesessen, ihre Fingernägel lackiert, Kekse gegessen, Eistee getrunken und stundenlang geredet hatten.

Sie war so in Erinnerungen versunken, dass sie nicht ausstieg, als Ben den Motor abstellte, und ein wenig verblüfft war, als er zu ihr herumkam und die Tür für sie öffnete.

„Siehst du irgendwelche Gespenster?“, fragte er besorgt.

„Nein. Aber ich musste gerade daran denken, dass alles noch wie früher aussieht“, antwortete Clair.

„So soll es auch sein. In Northbridge ändert sich wenig. Das ist ein Teil seines Charmes“, sagte Ben, während sie den schmalen Grasstreifen betrat, der die Straße vom Gehsteig trennte. Ein gepflegter Rasen führte zu den Büschen, welche die Vorderveranda säumten.

Sie erreichten das Haus, und Ben führte Clair ohne zu läuten hinein.

„Wo seid ihr?“, rief er, weil niemand im Wohnzimmer war.

„In der Küche!“, rief jemand vom hinteren Haus zurück.

Ben blickte auf die Kaminuhr. „Oha, achtzehn Uhr dreiunddreißig. Wir könnten Ärger bekommen.“ Lotty Walker legte Wert auf Pünktlichkeit.

Doch dafür gab es keine Anzeichen, als sie die große pastellfarbene Landhausküche betraten. Sie wurden mit lautem Hallo begrüßt, und alle umarmten Clair herzlich. Ad stellte ihr seine junge Frau Kit vor.

Dann rief Lotty Walker: „Die Suppe ist fertig!“, um den Beginn des Abendessens anzukündigen, wie sie es bei jeder Mahlzeit tat, an der Clair jemals teilgenommen hatte.

Lotty setzte sich an den Kopf des großen ovalen Tisches statt ihres Ehemanns, der vor zwanzig Jahren gestorben war, und Cassie wies die restlichen Plätze an. Clair kam zwischen Ben und ihr zu sitzen. Sobald alle saßen, wurden die Schüsseln mit dem Essen herumgereicht.

Die Unterhaltung verlief lebhaft, sodass Clair rasch auf den neuesten Stand über die Familie kam. Sie erfuhr, dass Ad immer noch das Restaurant an der Main Street besaß. Reid, der nächstjüngere Sohn der Walkers, hatte seine Ausbildung als Arzt inzwischen abgeschlossen und arbeitete in der Notaufnahme der Klinik in Northbridge. Und Luke, der jüngste Spross der Familie, war Polizist geworden und ebenfalls in Northbridge geblieben.

Clair kam es vor, als wäre sie nach Hause gekommen – als wäre sie ein Teil dieser Familie.

Das war schon früher so gewesen. Sie hatte sich furchtbar einsam gefühlt, als ihr Vater mit ihr nach Northbridge gezogen war. Ihre Mutter war gerade erst ein Jahr tot gewesen. Sie hatte alle Freunde und das Haus zurücklassen müssen, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hatte, und ihr Vater war so mit der Schule beschäftigt gewesen, dass sie in vielerlei Hinsicht auf sich allein gestellt war.

Das Haus der Walkers war ihr dagegen wie eine Oase vorgekommen. Die warmherzige liebevolle Lotty Walker hatte sie wie eine eigene Tochter behandelt. Und Ad, Reid und Luke hatten sie ebenso geneckt und geärgert wie die eigene Schwester.

Der heutige Abend war so etwas wie ihre Rückkehr zu der Familie ihrer Wahl, einer Familie, die ihr mehr Trost und moralische Unterstützung gewährt hatte, als irgendjemand ahnte.

Und die den tiefen Wunsch in ihr geweckt hatte, irgendwann selber eine Familie zu haben.

Die sie nun bald haben würde.

Dank Ben.

Nur, dass der nichts davon wusste.

Nach dem Essen zeigten Ad und Kit Fotos von ihren Flitterwochen auf den Bahamas, und es war beinahe elf, als sie sich endlich verabschiedeten.

Sosehr Clair sich gefreut hatte, alle Walkers wiederzusehen, sie bedauerte es nicht, dass der Abend vorüber war. Nach dem großen lauten Familietreffen war es schön, wieder in dem ruhigen Wagen zu sitzen.

Schön, mit Ben allein zu sein.

Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

Um sich abzulenken und nicht zu lange bei dem Gedanken zu verweilen, wie gut er selbst im dämmrigen Licht des Armaturenbretts aussah, sagte sie: „Ich war neugierig, wie das Verhältnis zwischen dir und deiner restlichen Familie sein würde. Ob du ein Außenseiter bist.“

Ben nahm den Blick von der Straße und sah sie an. „Weshalb sollte ich in meiner eigenen Familie ein Außenseiter sein?“, fragte er verwirrt.

„Ich dachte nur, weil du nie da warst, wenn ich deine Familie besuchte. Ich war nicht sicher, wie du hineinpassen würdest, nachdem du in deiner Jugend so lange fort warst. Und weil ich – jedenfalls damals – annahm, dass du anders wärst als sie.“

„Ich war anders als sie. Schließlich hatte ich mich in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Sollte das eine versteckte Frage sein, ob meine Geschwister oder meine Mutter nicht doch Abneigungen gegen mich hegen, weil meine Jugend verpfuscht war?“

Ben lächelte ein wenig, und Clair merkte, dass sie ihn nicht gekränkt hatte. „Ja, so was Ähnliches“, bestätigte sie. Sie wollte tatsächlich wissen, was seine verpfuschte Jugend nach sich gezogen hatte.

„Die erste Zeit nach meiner Heimkehr war wirklich etwas schwierig“, gab Ben zu. Er schien keine Probleme zu haben, über dieses Thema zu sprechen. „Ich hatte das Gefühl, nicht in die Familie zu passen. Aber das dauerte nicht lange. Man findet ziemlich leicht in den Schoß einer Familie wie meine zurück. Ich nahm es ihnen nicht übel, dass sie mich in diese Erziehungsanstalt nach Arizona geschickt hatten. Ich hatte die Strafe verdient. Jedenfalls grundsätzlich.“

„Grundsätzlich?“

„Ich wurde damals wegen einer Tat verurteilt, die ich nicht begangen hatte. Aber ich hatte vorher schon so viel angestellt, dass mir niemand glaubte. Ich war nicht gerade ein Unschuldsengel gewesen.“

„Aha“, sagte Clair, obwohl es wenig erklärte. Sie hatten die Ranch erreicht, und sie war nicht sicher, ob sie noch mehr erfahren würde. Ben parkte seinen Allradwagen vor dem Haupthaus, und sie stiegen aus.

Zu ihrer Freude deutete er mit dem Kopf zur Seite des Hauses und sagte: „Es ist so ein schöner Abend, um ihn jetzt zu beenden. Wie wäre es, wenn ich dich zum Verwalterhaus begleitete?“

„Einverstanden“, sagte Clair. Vielleicht würde Ben ihr auf dem Weg dorthin noch etwas mehr erzählen. Und er tat ihr den Gefallen.

Während sie langsam losgingen, sagte er: „Ich war ein schwieriges Kind.“

Clair wusste, dass Ben und Cassie erst acht Jahre alt gewesen waren, als ihr Vater, ein Automechaniker, von einem Wagen erschlagen worden war, unter dem er gelegen hatte. „Du hast deinen Vater früh verloren. Hat sein Verlust etwas damit zu tun?“

„Das spielte gewiss eine Rolle. Meine Mutter musste zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiten, und ich war häufig auf mich allein gestellt. Aber wahrscheinlich wäre ich auch so wild gewesen, wenn mein Vater am Leben geblieben wäre. Ich war einfach so ein Kind – der schlimmste Bengel der Stadt – und brachte mich ständig in Schwierigkeiten. Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten – Steine werfen, Süßigkeiten stehlen –, geringfügige Sachen. Jungenstreiche. Doch je älter ich wurde, desto schwerwiegender wurden meine Streiche. Ich trank und rauchte viel, brach in ein verlassenes Lagerhaus ein, um eine Party zu veranstalten, zerstörte Briefkästen mit einem Baseballschläger, sprühte Graffiti und schaltete während eines Heimspiels unserer Sportmannschaft die Sprinkleranlage ein.“

Aus dem Augenwinkel sah Clair, dass er ungläubig den Kopf über diese wilde Zeit schüttelte. „Ich habe eine Menge angestellt – oder es wenigstens versucht.“

„Aber nach Arizona wurdest du wegen einer Tat geschickt, die du nicht begangen hattest?“

Sie hatten das Verwalterhaus erreicht, und Ben lehnte sich mit einer Schulter an den Türrahmen. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, hineinzugehen. Deshalb stellte sich Clair ihm gegenüber.

„Dass ich nach Arizona musste, hatte ich vor allem meiner Dummheit zu verdanken“, sagte er kläglich. „Ja, an Dummheit mangelte es mir wahrhaftig nicht, da ich die Schule öfter geschwänzt als besucht hatte.“

Clair hatte das Eingangslicht angelassen. Es warf seinen gelben Schein auf sie und beleuchtete Bens hübsche Züge, als er nun endlich erzählte, weshalb er in die zentrale Erziehungsanstalt von Arizona gesteckt worden war.

„Ein Freund holte mich mit einem nagelneuen Sportwagen ab. Er behauptete, sein alter Herr hätte das Fahrzeug gerade gekauft und ihm für den Abend überlassen. Mein Freund war älter als ich. Ich wurde eine Woche später fünfzehn, und er war schon achtzehn. Wir machten eine Spritztour. Erst fuhr er, dann überredete ich ihn, mich ans Steuer zu lassen. Wir fuhren bis nach Billings. Es war pures Glück, dass wir keinen Unfall bauten. Bei unserer Geschwindigkeit hätten wir ihn beide nicht überlebt. Wir schossen wie die Rennfahrer durch den Ort, wurden aber nicht gestoppt, sondern schafften es bis nach Northbridge zurück. Auf der Main Street hielt uns der Polizeiwachtmeister an. Erst in diesem Moment erfuhr ich, dass mein Freund wegen des Wagens gelogen hatte.“

„Lass mich raten: Sein Vater hatte ihm keine Erlaubnis gegeben, damit zu fahren?“, vermutete Clair.

„Viel schlimmer. Der Wagen gehörte einem Nachbarn, der ihn erst am Nachmittag vom Händler geholt hatte. Mein Freund hatte einen nagelneuen Wagen gestohlen.“

„Aber wenn du das nicht wusstest …“

Ben schüttelte den Kopf. „Ich saß am Steuer, als wir angehalten wurden. Das allein ließ mich schon schuldig aussehen. Bei meinem Ruf glaubte mir keiner, dass ich nicht mit drinsteckte. Wir wurden beide wegen Fahrzeugdiebstahls verurteilt. Da uns in Northbridge jeder kannte und der Richter Mitleid mit meiner Mutter hatte, die uns allein großziehen musste, ließ er ihr die Wahl, mich in eine private Anstalt oder in ein öffentliches Gefängnis zu stecken.“

„War das Arizona Center eine private oder eine öffentliche Anstalt?“

„Eine private. Meine Mom musste eine weitere Hypothek auf unser Haus aufnehmen, um die Kosten aufzubringen. Doch wenn sie sich für die öffentliche Anstalt entschieden hätte, wäre der Staat mein Vormund geworden, und das Gericht beziehungsweise das Jugendamt hätte mich dorthin geschickt, wo gerade Platz war. Meine Mom hatte zu viel Angst davor, was mir unter solchen Umständen hätte passieren können. Deshalb nahm sie eine zweite Hypothek auf“, fügte er beschämt hinzu.

„Und es ist gut ausgegangen“, sagte Clair. „Also war es die Sache wert.“

„Trotzdem hätte es nicht so weit kommen dürfen. Obwohl ich ihr das Geld vor eineinhalb Jahren zurückgezahlt habe, komme ich mir immer noch wie der letzte Dreck vor, dass ich Mom so etwas durchmachen ließ.“

Clair merkte, dass es Ben ernst war. „Sei nicht so streng mit dir. Für dich wird es damals wohl auch kein Vergnügen gewesen sein, deine Familie verlassen zu müssen.“

„Es war alles andere als ein Vergnügen. In Arizona erlebte ich drei Jahre und drei Monate die reinste Hölle. Aber das war das Grundprinzip des Erziehungsprogramms dort“, antwortete Ben mit einer Mischung aus Zorn und Verärgerung in der Stimme.

„Und nach diesen drei Jahren und drei Monaten in der Hölle hast du beschlossen, etwas aus deinem Leben zu machen?“

„Ja. Das Programm hatte seinen Zweck erfüllt. Es brachte mich auf Vordermann. Trotzdem billige ich diese Methode nicht. Wir schliefen auf Matratzen auf dem Boden. Es gab keine Privatsphäre, keine Möglichkeit, sich kleine Vorrechte zu verschaffen, keine Belohnungen. Entweder man gehorchte blindlings, oder man hatte Konsequenzen für die geringsten Vergehen zu ertragen – zum Beispiel, wenn man eine einzige Minute verschlief.“ Ben hielt einen Moment inne. „Ich dachte immer, dass es bessere Methoden geben müsste, mit wilden Kindern und Jugendlichen fertig zu werden. Vielleicht nicht für die schlimmsten von uns, aber doch für die meisten.“

„Deshalb hast du beschlossen, es selber zu versuchen?“

„Zunächst beschloss ich, herauszufinden, was es an Pädagogik-Konzepten für schwer Erziehbare überhaupt gibt. Deshalb ging ich aufs College, studierte Psychologie und machte mein Diplom. Seitdem habe ich in mehreren Anstalten gearbeitet, um die unterschiedlichen Methoden und Techniken kennen zu lernen. Und zu erfahren, ob meine Art und Weise, also das, was ich mir ausgedacht habe, überhaupt wirkt.“

„Und? Tut es das?“

„Ich glaube schon. Aber versteh mich bitte nicht falsch. Dies hier wird kein warmer heimeliger Ort. Es werden strenge Regeln herrschen.“ Er nickte in Richtung Haupthaus. „Meine Jungen werden früh aufstehen, eigene Arbeiten und Verantwortungen übernehmen und das Haus und die Anlagen selber in Stand halten. Sie werden zur Schule gehen und an Einzel- und Gruppentherapien teilnehmen. Es wird harte Arbeit sein, sehr viel Arbeit, und sie werden abends todmüde ins Bett fallen. Ich habe vor, ein Punktesystem zu installieren, mit dem ihre tägliche Arbeit bewertet wird. Wer seine Pflichten ordnungsgemäß erledigt, wird auf die nächste Stufe steigen und kleine Vorrechte und Belohnungen erhalten.“

Clair spürte, wie wichtig Ben dieses Thema war. Er wusste genau, was er wollte und was nicht. Seine starke Entschlossenheit erinnerte sie ein wenig an ihre eigene Vergangenheit – und daran, dass sie diese konkreten Pläne und Vorstellungen zum Glück hinter sich hatte. Eins hatte sie nämlich gelernt: Verlassen konnte sie sich letzten Endes nur auf sich selbst.

„Es gibt Kinder, die rebellisch sind, die man nur schwer integrieren kann“, fuhr er fort. „Das lässt sich nicht schönreden. Aber wenn die Reaktion darauf jedes Mal unverhältnismäßig negativ ist, wie damals in Arizona, erzeugt das meiner Ansicht nach nur noch mehr Abwehrhaltung und Rebellentum. Prügel und andere Bestrafungen lehren die Kinder nicht, besser mit jenen Situationen fertig zu werden, die sie in Schwierigkeiten gebracht haben. Es öffnet ihnen nicht die Augen dafür, wie sie etwas gründlich durchdenken, ihrem ersten Impuls widerstehen und mit dem fertig werden können, was sie ärgert.“

„Genau das möchtest du erreichen.“

„Ja. Außerdem möchte ich ihnen produktivere Ventile für ihre Energie und ihren Zorn aufzeigen. Ich möchte ihnen die Befriedigung verschaffen, dafür belohnt zu werden, wenn sie etwas richtig gemacht haben. Sie sollen erkennen, dass es erheblich besser ist, Streicheleinheiten zu bekommen anstatt Schläge.“

Clair lächelte unwillkürlich über die Inbrunst und den Eifer in seiner Stimme, der immer stärker wurde, je länger Ben über dieses Thema redete. „Schade, dass du dich so wenig dafür einsetzt“, zog sie ihn auf.

Er lächelte ebenfalls. „Bring mich lieber nicht dazu, dir das Gegenteil zu beweisen“, antwortete er mit einer sinnlichen Stimme, die seine Leidenschaft für noch ganz andere Dinge durchklingen ließ.

Eine Leidenschaft, die unmittelbar unter seiner Oberfläche brodelte, wie Clair wusste.

Aber daran sollte sie jetzt wirklich nicht denken. Deshalb kehrte sie noch einmal zum Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. „Auf jeden Fall freue ich mich, dass du wieder im Schoß deiner Familie bist.“

Das war vielleicht nicht die geschickteste Ausdrucksweise, denn Ben zog spöttisch eine Braue in die Höhe und ließ den Blick über ihren Körper gleiten. „Nicht der schlechteste Platz“, meinte er breit und genoss es offensichtlich, sie ebenfalls aufzuziehen.

Er sah ihr tief in die Augen, und Clair spürte, dass sich etwas veränderte. Die Neckerei verflog und machte einer sinnlichen Stimmung Platz.

Ben löste sich vom Türrahmen und kam dadurch automatisch näher. Clair glaubte, dass er sie gleich in die Arme nehmen und küssen würde.

Doch gerade als sie sich innerlich darauf vorbereitete, trat er den Rückzug an. Er steckte seine Hände in die Gesäßtaschen, richtete sich auf und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. Dann wendete er den Kopf, blickte in Richtung Haupthaus und meinte: „Du hast für einen Abend vermutlich genug von den Walkers.“

Clair hätte niemals zugegeben, wie sehr er Unrecht hatte. Vor allem von einem Walker würde sie nie genug bekommen. Doch das würde sie tunlichst für sich behalten.

„Na ja, es ist ziemlich spät. Und wir haben morgen viel zu tun, wenn wir alles in Schuss haben wollen, wenn das Jugendamt kommt, um deine Schule zu inspizieren.“

Ben nickte, machte aber keine Anstalten zu gehen. Er blieb regungslos stehen und blickte ihr erneut tief in die Augen.

Clair beobachtete, wie das goldene Licht auf seinen hübschen Zügen spielte, und sehnte sich danach, ihn zu küssen.

Dann nickte er erneut und trat beiseite. „Ja, ich lasse dich jetzt lieber allein.“

„Nochmals vielen Dank … für den Abend“, sagte Clair und war entsetzt, wie deutlich man ihr die Enttäuschung anhörte. Rasch betrat sie das Haus und schloss ohne einen Blick zurück die Tür.

Es ist gut, dass Ben mich nicht geküsst hat, redete sie sich ein. Und es ist gut, dass ich ihn nicht geküsst habe. Zum Glück habe ich nur mein Ziel verfolgt, Ben besser kennen zu lernen.

Und das hatte geklappt.

Sie hatte erfahren, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er heute war, und hatte seine Ziele und Visionen für die Schule, die er demnächst eröffnen würde, kennen gelernt.

Das war sehr gut.

Wirklich.

Trotzdem war es nicht ganz so befriedigend, als wenn Ben sie doch geküsst hätte.

4. KAPITEL

„He, alles in Ordnung?“

„Ja. Ich muss mich nur ein bisschen setzen.“

Es war später Donnerstagnachmittag. Clair und Ben waren gemeinsam in der kleinen Kammer, die für die Medikamente vorgesehen war, als Clair plötzlich schwindelig wurde. Sie sank an die Wand und glitt langsam zu Boden.

Ben reagierte blitzschnell und fasste ihren Arm, um ihr zu helfen. Dann hockte er sich vor sie und sah sie eindringlich an.

„Ist dir schlecht?“, fragte er besorgt.

„Nein“, antwortete Clair, während sich alles um sie herum drehte. „Mir ist nur ein bisschen schwindelig.“

„Ein bisschen?“, wiederholte er. „Du bist leichenblass.“

Clair lächelte matt. „Vielen Dank für das Kompliment.“

Ben ließ sich nicht beirren. „Hast du das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden?“

„Nein, mir ist nur ein bisschen schwindelig“, wiederholte sie.

Er ließ ihren Arm los, nahm ihr Handgelenk und fühlte ihren Puls.

„Dein Herz schlägt schneller als normal, aber nicht besorgniserregend.“

Clair war ziemlich sicher, dass ihr rascher Puls weniger mit ihrem Schwindelanfall zu tun hatte als mit der Tatsache, dass Ben sie mit seiner großen warmen Hand berührte. Unzählige Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch.

Er legte den Rücken seiner anderen Hand an ihre Stirn, um ihre Temperatur zu messen.

„Fieber oder Schweißausbrüche hast du nicht“, stellte er fest. „Hast du Atemnot oder Schmerzen?“

„Weder noch. Der Schwindel wird auch schon weniger“, versicherte sie ihm, weil es zutraf.

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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