Bianca Exklusiv Band 331

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WONACH DEIN HERZ SICH SEHNT von VICTORIA PADE
Die Welt steht still, als sich ihre Hände berühren: Wortlos verspricht Wyatt Graysons kräftiger Händedruck Wärme, Geborgenheit und Leidenschaft für immer und ewig. Alles, was die junge Sozialarbeiterin Neily Pratt noch nie erlebt hat, wonach sie sich so sehnt. Doch eine Liebesnacht mit Wyatt könnte Neily glatt ihren Job kosten!

EINLADUNG ZUM GLÜCK von JOAN ELLIOTT PICKART
Eigentlich führen Sandra und David eine perfekte Ehe - aber momentan kriselt es. Da erfährt Sandra: David hat für sie seinen Traum aufgegeben, Baseballprofi zu werden. Heftige Schuldgefühle erfassen sie. Kann er ihr das jemals verzeihen?

START FREI FÜR UNS BEIDE von KAREN ROSE SMITH
Ein herzzerreißendes Weinen lässt Gwen aufhorchen. Und dann entdeckt sie ein süßes Findelbaby. Gwen hat nur einen Wunsch: die Mutter zu finden! Hilfe bekommt sie dabei von dem Ex-Agenten Garrett. Die gemeinsame Suche bringt sie einander näher - und schnell ans Ziel. Nur in Sachen Liebe stehen sie erst auf Start: Denn Garrett schreckt vor einer festen Bindung zurück …


  • Erscheinungstag 02.01.2021
  • Bandnummer 331
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501095
  • Seitenanzahl 236
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Joan Elliot Pickart, Karen Rose Smith

BIANCA EXKLUSIV BAND 331

1. KAPITEL

„Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich gemacht hätte“, bedankte sich Neily Pratt bei dem Klempner Charlie, einem grauhaarigen Mann, den sie von klein auf kannte. Er war nur einer von vielen Freiwilligen, die ihr an diesem Sonntag geholfen hatten, das alte Hobbs-Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand zu bringen.

Der große Backsteinbau auf dem Hügel am Ende der Southstreet in Northbridge, Montana, hatte lange leer gestanden. Doch vor einer Woche hatten aufmerksame Einwohner plötzlich Licht hinter den Fenstern gesehen, und aus dem Schornstein war Rauch aufgestiegen. Theresa Hobbs Grayson, die 75-jährige an Alzheimer erkrankte Eigentümerin des Hauses, hatte es irgendwie geschafft, ihrer Pflegerin die Autoschlüssel zu entwenden und ganz allein in ihre frühere Heimatstadt zu fahren. In Northbridge hatte sie das Auto vor der Eisdiele abgestellt, war den Rest des Weges zu Fuß gegangen und durch die nicht abgeschlossene Kellertür ins Haus gelangt.

Als die Polizei den Zusammenhang zwischen dem verlassenen Wagen und den Lebenszeichen im Haus feststellte und einen Kontrollbesuch machte, hatte sich Theresa in einem der Schlafzimmer im ersten Stock eingeschlossen. Sie weigerte sich hysterisch, den Raum zu verlassen, und wiederholte immer wieder, sie sei gekommen, um sich das zurückzuholen, was ihr genommen worden war.

Die Polizei hatte die Sozialbehörden eingeschaltet, die in Northbridge von der Sozialarbeiterin Neily Pratt vertreten wurden.

Und so war Neily kurzerhand zu Theresa in das alte Haus gezogen, um sich um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie keine Dummheiten machte.

Als Neily die letzten Freiwilligen verabschiedet hatte, kam ihr Bruder Cam zu ihr. Er war einer der Polizisten, die die alte Dame bei der Überprüfung des Hauses in Aktion erlebt hatten.

„Kommst du hier so ganz allein zurecht?“, fragte er.

„Klar, kein Problem“, erwiderte Neily.

„Hat Theresa sich noch mal so aufgeführt wie letzte Woche?“, hakte er besorgt nach.

„Nein. Sie regt sich nur dann auf, wenn jemand sagt, sie müsse das Haus verlassen. Ansonsten ist sie absolut friedlich. Deshalb haben wir beschlossen, sie erst einmal hierzulassen, bis feststeht, wie es auf lange Sicht weitergehen soll.“

„Na ja, zumindest ist das Haus jetzt halbwegs bewohnbar. Der Abfluss in der Küche ist wieder frei, die zerbrochenen Fensterscheiben sind ausgetauscht, und die Heizung funktioniert auch wieder.“

„Ja, das ist wirklich toll. Unglaublich, wie viele Leute heute gekommen sind, um zu helfen. Jetzt brauche ich wenigstens keine Angst mehr zu haben, dass Theresa sich eine Lungenentzündung holt. Die Nächte sind doch noch ganz schön kalt, auch wenn es für April tagsüber recht warm ist.“

„Und die Sicherungen fliegen jetzt auch nicht mehr raus, wenn du die Steckdosen benutzt“, warf der Elektriker ein, der gerade aus dem Haus kam.

„Wunderbar, tausend Dank.“

Nachdem er zu seinem Wagen gegangen war, wandte sich Neily wieder Cam zu. „Jedenfalls ist Theresa auf keinen Fall gewalttätig“, fuhr sie fort. „Sie hat starke Stimmungsschwankungen, und ihren wenigen lichten Momenten folgen lange Phasen der Verwirrung, aber sie ist für niemanden eine Gefahr. Ich verstehe allerdings immer noch nicht so ganz, wie sie es ganz allein bis hierher geschafft hat. Dafür muss sie geistig ziemlich lange besonders klar und wirklich entschlossen gewesen sein. Jetzt will sie die meiste Zeit oben im Schlafzimmer im Schaukelstuhl sitzen und niemanden sehen.“

„Da war sie heute wohl auch, oder?“

„Ja, sie wollte es so. Ich musste ihr versprechen, dass sie das Schlafzimmer nicht verlassen muss und niemand zu ihr reinkommt. Aber immerhin konnte ich sie überreden, Missys Gesellschaft zu akzeptieren – mir war nicht wohl dabei, sie den ganzen Tag im Schlafzimmer alleinzulassen. Als sie hörte, dass Missy erst sechzehn ist, war es in Ordnung für sie. Offenbar will sie nur niemandem begegnen, der sie von früher kennt. Keine Ahnung, warum ihr das so wichtig ist.“

„Hast du schon eine Idee, wieso sie aus Missoula weggelaufen ist?“

„Nicht wirklich. Es gibt keine Anzeichen für Misshandlungen oder Vernachlässigung. Theresa ist gut genährt und gekleidet und körperlich ihrem Alter entsprechend gesund. Wenn der geistige Verfall nicht wäre, wäre sie zu beneiden. Meine Kollegin in Missoula hat die Pflegerin und Theresas Enkel kontaktiert, und sie kommen so bald wie möglich her. Ich soll herausfinden, ob sie als Vormund geeignet sind oder ob es irgendwelche Vorbehalte gibt – indem ich mit Theresa spreche, soweit das möglich ist. Ich schaue mir an, wie die Pflegerin und der Enkel mit ihr umgehen und wie sie auf die beiden reagiert.“

„Meinst du denn, sie kann in ihrem Zustand überhaupt etwas dazu sagen?“

„Kommt ganz darauf an, in welcher Phase sie sich gerade befindet. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist auf jeden Fall gestört – sie vergisst immer wieder, wer ich bin, und nennt mich ständig Mikayla. Aber wenn ich sie frage, wer das ist, kann oder will sie darauf keine Antwort geben. Immerhin scheint sie diese Mikayla zu mögen.“

Neily unterbrach sich und deutete auf einen Geländewagen, der den Hügel heraufkam. „Wenn das wieder so ein nerviger Reporter ist, kriege ich die Krise“, stöhnte sie.

In Missoula hatte es in den lokalen Zeitungen und Rundfunksendern Suchmeldungen gegeben, und als Theresa in Northbridge wieder auftauchte, war die kleine Stadt von Reportern heimgesucht worden, die eine große Story witterten. Es kostete Neily viel Zeit, sie abzuwimmeln.

„Ich kümmere mich drum und werde sie los“, versprach Cam. „Du solltest dir übrigens das Gesicht waschen, du bist ganz staubig und rußverschmiert.“

In diesem Moment kamen die letzten Helfer aus dem Haus, und Neily wischte sich nur schnell mit dem Ärmel übers Gesicht, bevor sie sich bei ihnen bedankte und sie verabschiedete.

Als sie gegangen waren, kam Cam zurück – mit zwei Besuchern im Schlepptau, die beim Anblick des Hauses entsetzt schienen.

„Keine Reporter“, erklärte Cam. „Das hier ist Theresas Enkel, Wyatt Grayson, und dies ihre Pflegerin, Mary Pat Gordman.“

Na toll, und ich sehe aus wie Aschenputtel, schoss es Neily durch den Kopf.

Normalerweise zeigte sie sich bei der Arbeit nicht in staubigen, alten Jeans und ausgefransten Sweatshirts, und auch die schulterlangen, schokoladenbraunen Haare trug sie sonst nicht in einem unordentlichen Pferdeschwanz.

Umso schlimmer war es, dass Theresas Enkel nicht nur in ihrem Alter war, sondern auch noch umwerfend aussah.

Das spielte zwar unter den gegebenen Umständen keine Rolle, trotzdem fühlte sich Neily im Nachteil.

Allerdings konnte sie im Moment absolut nichts daran ändern, also tat sie so, als wäre alles ganz normal und sagte in geschäftsmäßig-freundlichem Ton: „Hallo, ich bin Neily Pratt, die zuständige Sozialarbeiterin für Theresas Fall.“

Wyatt Grayson kam auf sie zu. Er war groß, hatte breite Schultern und wirkte auf angenehme Weise selbstsicher. Seine Khakihosen und das blaue Freizeithemd saßen perfekt, und seine Statur verriet, dass er regelmäßig trainierte.

Dann sah er Neily zum ersten Mal direkt an und zuckte bei ihrem Anblick merklich zurück.

Sehe ich so schlimm aus? dachte sie erschrocken.

Laut sagte sie: „Entschuldigen Sie meine Aufmachung. Wir haben heute das Haus geputzt. Der Dreck war jahrzehntealt.“

Doch Wyatt Grayson schüttelte wie betäubt den Kopf. „Nein, nein, das ist es nicht. Sie sehen nur jemandem ähnlich …“

„Vielleicht einer gewissen Mikayla?“, riet Neily. „Theresa nennt mich nämlich ständig so.“

„Mikayla“, wiederholte Wyatt Grayson erschüttert. „Genau.“

Kein Wunder, dass Theresa sie ständig mit ihr verwechselte.

Doch Theresas Enkel schien ihr auch nicht erläutern zu wollen, wer Mikayla war. Stattdessen streckte er ihr die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Pratt.“

„Nennen Sie mich Neily“, bat sie und erwiderte die Geste.

Normalerweise machte sie sich über das Händeschütteln keine Gedanken – schließlich hatte sie jeden Tag mit vielen Menschen zu tun. Doch diesmal war etwas anders. Als Wyatt Grayson ihre Hand umschloss, schien die Zeit kurz stehen zu bleiben, und Neily wurde sich jedes kleinen Details bewusst. Wie warm und stark seine Hand, wie selbstbewusst kräftig und gleichzeitig rücksichtsvoll sein Händedruck war. Wie angenehm sich der Hautkontakt anfühlte …

Sehr seltsam.

Weil solche Gedanken keinen Platz bei ihrer beruflichen Aufgabe hier hatten, entzog Neily dem Mann schnell wieder ihre Hand. Doch Wyatt Grayson betrachtete sie weiterhin nachdenklich aus seinen silbergrauen Augen.

„Ich muss wieder in die Polizeistation“, warf Cam ein. „Meine Schicht fängt gleich an. Wenn du mich nicht mehr brauchst …“

„Nein danke, du hast mir heute schon so viel geholfen“, sagte sie, obwohl ihr Wyatt Graysons Blick langsam etwas unheimlich wurde. Zum Glück wandte er sich endlich ab, um sich von Cam zu verabschieden.

Jetzt hatte sie Gelegenheit, sich zu revanchieren, ohne dass er es merkte. Wyatt Graysons dunkelblondes Haar hatte sonnengebleichte Strähnen, und er trug es an den Seiten kurz und oben etwas länger, was ihm ein jungenhaftes, verwegenes Aussehen gab. Seine Nase war lang und gerade, die Lippen etwas schmal, was aber dadurch ausgeglichen wurde, dass die Mundwinkel leicht nach oben gebogen waren. So schien er immer ein wenig zu lächeln, was ihn sehr sympathisch machte.

Mit seinen klar ausgeprägten Gesichtszügen, den hohen Wangenknochen und dem markanten Kinn hätte er problemlos als Fotomodell arbeiten können. Dazu kamen noch seine beeindruckenden grauen Augen, die je nach Lichteinfall mal silbern und mal blau schimmerten.

Allerdings spielte all das im Moment überhaupt keine Rolle. Wie er aussah – und dass Neily ihn unglaublich attraktiv fand – durfte auf keinen Fall ihre Arbeit beeinflussen. Und die bestand nun einmal darin, ganz objektiv herauszufinden, ob er sich als Theresas Vormund eignete.

„Wollen wir nicht reingehen?“, schlug Neily vor, nachdem Cam sich verabschiedet hatte.

„Wie geht es meiner Großmutter? Ist sie okay? Die Sozialarbeiterin in Missoula meinte, dass ihr kleiner Ausflug ihr nicht geschadet hätte. Aber sie ist mental nicht stabil und ja auch nicht mehr die Jüngste. Kaum zu glauben, dass sie es allein im Auto hierher geschafft hat. Meine Geschwister und ich können es immer noch nicht richtig fassen.“

Dass er sich offenbar wirklich Sorgen machte, nahm Neily als gutes Zeichen. Sie führte ihn und die Pflegerin, eine ältere, etwas stämmige Frau, ins Haus.

„Ich habe Theresa ja vorher nicht gekannt, aber meiner Auffassung nach ist sie für ihren Zustand in guter Verfassung“, erwiderte sie. „Die Autofahrt hat ihr meiner Meinung nach auch nicht geschadet.“

„Ich muss mich entschuldigen, dass keiner von uns sofort kommen konnte“, sagte er. „Die Behörden haben mich am Donnerstag verständigt, da war meine Schwester gerade in Mexiko, weil in einer unserer Fabriken dort ein Feuer ausgebrochen war. Sie wollte sofort zurückkommen, aber das war ein Notfall, und wir brauchten jemanden vor Ort. Und mein Bruder befand sich zu der Zeit in Kanada – jemand, der die Suchmeldungen gelesen hatte, wollte wohl an der Sache verdienen und hatte aus Quebec eine Lösegeldforderung geschickt. Wir mussten das ernst nehmen, und deshalb ist mein Bruder nach Kanada gefahren, um dort mit der örtlichen Polizei zusammenzuarbeiten.“

Bei der Erinnerung daran schüttelte er seufzend den Kopf. „Ich war also allein in Missoula, und als Mary Pat und ich endlich erfahren haben, wo Gram steckt, hat uns das Sozialamt mit so vielen Fragen und Formularen überschüttet, dass wir nicht sofort wegkonnten. Ich hatte schon fast den Eindruck, die wollten uns aufhalten. Es war der reine Albtraum.“

„Das tut mir leid.“

Sie verriet ihm nicht, wie recht er hatte: Das Sozialamt in Missoula hatte ihn und die Pflegerin unter nichtigen Vorwänden dortbehalten, bis man relativ sicher sein konnte, dass Theresa durch einen Kontakt mit ihnen keinen Schaden erleiden würde.

„Nachdem die Polizei Ihre Großmutter hier gefunden hatte, wurde ich sofort zu ihrer Betreuung gerufen, sodass sie in der Zwischenzeit gut versorgt war“, beruhigte Neily ihn.

„Trotzdem, ich möchte nicht, dass sie einen falschen Eindruck von uns bekommen. Wir haben uns alle große Sorgen um Gram gemacht und wären sofort gekommen, wenn wir gekonnt hätten.“

Neily führte die beiden ins Wohnzimmer, wo sich Wyatt Grayson beunruhigt umsah.

„Wo ist Gram?“, fragte er.

„Ich schlage vor, dass Sie und Ms. Gordman …“

„Mary Pat“, warf die Pflegerin ein.

„… dass Sie und Mary Pat sich schon mal setzen. Ich werde versuchen, Theresa nach unten zu holen, um Sie zu begrüßen. Sie war den ganzen Tag in ihrem Schlafzimmer, und ich fände es gut, wenn Sie von sich aus herauskommt“, erklärte Neily.

Weder Theresas Enkel noch die Pflegerin nahmen Platz. Offenbar waren sie zu besorgt, um es sich bequem zu machen – ein weiteres gutes Zeichen. Neily entschuldigte sich und ging in den zweiten Stock, wo sie leise an die Schlafzimmertür klopfte und dann eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten. Meist war Theresa zu tief in ihrer eigenen Welt versunken, um ein Klopfen überhaupt zu hören, und Missy war bereits vor einer halben Stunde gegangen.

Wie erwartet saß die alte Dame im Schaukelstuhl und wiegte sich leicht vor und zurück. Dabei starrte sie vor sich hin ins Leere. Theresa Hobbs Grayson war mit ihren eins fünfzig noch einen Kopf kleiner als Neily, dafür aber rundlicher. Das graue, relativ volle Haar trug sie in einem modischen Kurzhaarschnitt. Auch ihre Augen waren grau – von ihr hatte Wyatt Grayson die Augenfarbe wohl geerbt –, aber sie wirkten stumpf und längst nicht so lebendig wie seine.

„Theresa?“, fragte Neily leise, als die alte Dame überhaupt nicht auf ihr Kommen reagierte.

„Mikayla?“ Endlich hob Theresa den Kopf.

„Nein. Ich bin Neily, erinnern Sie sich?“

„Ja, Neily. Das mache ich immer falsch, oder?“

„Ihr Enkel Wyatt ist unten im Wohnzimmer“, erzählte Neily beiläufig, achtete dabei jedoch genau auf Theresas Reaktion.

Die Nachricht schien die alte Dame ehrlich zu freuen. Ihr Blick klärte sich ein wenig, sie hob den Kopf und richtete sich im Stuhl auf. Ein weiteres gutes Zeichen.

„Mein Wyatt?“, fragte sie glücklich.

„Und Mary Pat.“

„Mary Pat auch?“ Sie klang geradezu fröhlich, doch das währte nur einen Moment. Misstrauisch fuhr sie fort: „Sie sind aber nicht gekommen, um mich mitzunehmen, oder? Ich kann nicht weg von hier. Ich will nicht. Erst will ich wiederhaben, was mir gehört!“

„Ich weiß. Nein, Ihr Enkel und Mary Pat wollen Sie nicht von hier wegbringen. Im Gegenteil, sie werden für eine Weile mit Ihnen hier wohnen.“

„Wirklich?“

Nun war sie wieder erfreut und hoffnungsvoll, was Neily ebenfalls als positiv auffiel.

„Ist es in Ordnung für Sie, wenn die beiden hierbleiben? Auch wenn ich nicht mehr hier bin?“

„Oh ja. Die beiden werden mir helfen, das weiß ich. Sie werden mir helfen, zurückzubekommen, was mir gehört. Mein Wyatt kümmert sich um alles, und Mary Pat kümmert sich um mich. Sie sind wirklich sehr gut zu mir, die beiden Lieben.“

„Möchten Sie runterkommen und ihnen Hallo sagen?“

„Aber es sind nur Wyatt und Mary Pat dort, sonst niemand, oder?“

„Nein, alle anderen sind weg. Und das Haus sieht viel besser aus – Sie sollten sich anschauen, was wir heute alles geschafft haben.“

„Ja, ich möchte Wyatt und Mary Pat sehen.“

„Dann kommen Sie mit runter.“

Leichtfüßig stand Theresa aus dem Schaukelstuhl auf und folgte Neily die Treppe hinunter. Als sie ihren Enkel und die Pflegerin im Wohnzimmer sah, eilte sie sogar an Neily vorbei und umarmte die beiden stürmisch wie ein Kind nach einer langen Trennung von seinen Eltern. Ganz offensichtlich hatte sie weder vor Wyatt noch vor Mary Pat Angst. Das bestätigte, was die Sozialarbeiterin in Missoula gesagt hatte. Es war in Ordnung, Theresa in der Obhut der beiden zu belassen, wenn auch unter Neilys Aufsicht.

„Ach, meine Lieben, ich bin so froh euch zu sehen!“, rief Theresa immer wieder. „Aber Wyatt, wo sind Mikayla und das Baby? Hast du sie nicht mitgebracht? Ich habe das Baby immer noch nicht gesehen!“

Interessiert beobachtete Neily, wie sich Wyatt Graysons Gesichtsausdruck veränderte, bevor er sagte: „Mikayla und das Baby sind gestorben, Gram. Erinnerst du dich nicht?“

Entsetzt presste Theresa die Hände auf die Wangen. „Oh, das tut mir so leid! Ich habe es wieder vergessen. Es tut mir leid, Wyatt, so leid.“

„Mir auch. Aber es ist okay. Wir sind sehr froh, dass wir dich gefunden haben. Du hast uns alle ganz schön erschreckt.“

„Ich musste hierher zurück“, flüsterte Theresa, als verriete sie ein Geheimnis. „Hier bin ich zur Welt gekommen, weißt du“, fügte sie mit einer das Haus umfassenden Geste hinzu.

„Wir wussten nur, dass du in einer Kleinstadt bei Billings geboren bist“, antwortete Wyatt. „Mehr hast du uns nie erzählt. Wir hatten keine Ahnung, dass es Northbridge ist oder dass du hier noch ein Haus besitzt.“

„Ein Rechtsanwalt kümmert sich drum, er bezahlt auch einen Verwalter, glaube ich, der ab und zu nach dem Rechten sieht. Das hat dein Großvater vor langer, langer Zeit so eingerichtet, und seitdem lief das immer automatisch. Aber ich musste jetzt hierher zurückkommen. Ich musste einfach!“

Von einem Moment auf den anderen klang ihre Stimme erregt und verzweifelt.

„Ist schon in Ordnung, Gram. Wir sind nur froh, dass es dir gut geht.“

„Gut. Es geht mir gut. Aber ich bin ein schlechter Mensch. Das wisst ihr nicht, aber ich bin schlecht. Es geht mir gut …“

Neily hatte diesen Übergang von lichten Momenten in Verwirrung in den letzten Tagen öfter beobachtet. Mitten im Satz schlichen sich Dinge ein, die keinen Sinn ergaben, und Theresa glitt zurück in ihre eigene Welt. Wenn man sie dann drängte, regte sie sich nur auf, gab aber keine Antworten.

Auch ihr Enkel schien das zu wissen, denn er stellte keine Fragen mehr.

Theresa wirkte wieder wie ein kleines Kind, als sie zu Mary Pat ging, sich an ihren Arm hängte und sagte: „Ich möchte jetzt ins Bett gehen. Liest du mir was vor, bis ich einschlafe?“

Die Pflegerin tätschelte Theresas Arm, zog sie enger an sich und sagte: „Ich habe das Buch mitgebracht, das wir letzte Woche gelesen haben.“

„Aber du hast nicht ohne mich weitergelesen, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Ich bringe Ihren Koffer rein, Mary Pat“, sagte Wyatt. Dann an seine Großmutter gerichtet: „Danach komme ich gleich rauf und sage dir gute Nacht.“

„Ja, gleich“, wiederholte Theresa und ließ sich von Mary Pat nach oben führen.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Wyatt, als die beiden außer Hörweite waren. „Wohnen wir hier alle zusammen?“

Als Neily sich ihm zuwandte, fiel ihr wieder ein, dass sie immer noch schmutzig, ungekämmt und rußverschmiert war. Zu schade, dass sich solche Dinge nicht wie durch ein Wunder von selbst regelten, nur weil man es sich wünschte.

„Nein, jetzt wo Sie hier sind, schlafe ich wieder zu Hause. Ich überlasse die Betreuung Ihnen und Mary Pat.“

„Dann haben wir diese Hürde schon mal genommen?“, fragte er mit einem selbstironischen Lächeln, das ihn noch attraktiver machte.

Bevor Neily etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Ich weiß, dass in einem Fall, wo das Sozialamt eingeschaltet wird, die Pflegepersonen zwangsläufig überprüft werden. Darüber bin ich nicht gerade begeistert, aber wir haben auch nichts zu verbergen. Sie machen schließlich nur Ihren Job. Und wir wollen alle dasselbe, nämlich das Beste für meine Großmutter.“

Seine Einstellung machte ihre Aufgabe leichter, was sie zu schätzen wusste.

„Ja, das wollen wir wirklich alle.“

„Und im Moment ist es das Beste, wenn wir in Northbridge bleiben?“

„Theresa hat sich ziemlich angestrengt, hierher zu kommen.“

„Das stimmt. Normalerweise ist es fast unmöglich, sie dazu zu bringen, das Haus zu verlassen, und schon gar nicht ohne Begleitung. Sie war schon seit Jahren nicht mehr allein draußen. Und Auto gefahren ist sie auch schon ewig nicht mehr. Unglaublich, dass sie noch wusste, wie es geht. Wir sind so froh, dass ihr nichts passiert ist.“

„Ja, sie hatte Glück. Und offenbar ist es ihr sehr wichtig hierzubleiben. Ich habe mit der Sozialarbeiterin in Missoula und dem örtlichen Arzt gesprochen, und sie meinen beide, es wäre besser für sie, wenn wir sie im Moment nicht zwingen, das Haus zu verlassen.“

„Das ist kein Problem für uns. Wenn es sie glücklich macht, werden wir es ermöglichen.“

„Gut.“

„Aber Sie bleiben nicht hier?“, fragte er.

„Nein, aber ich besuche Sie jeden Tag, bis wir eine dauerhafte Lösung gefunden haben.“

„In Ordnung. Möchten Sie mich jetzt noch etwas fragen?“

Wer Mikayla war und wie sie und das Baby gestorben sind.

Doch da das nicht unmittelbar Theresa betraf, verkniff sich Neily die Frage und sagte stattdessen: „Es ist schon ganz schön spät. Sie möchten wahrscheinlich Ihre Sachen auspacken, und ich freue mich wirklich auf eine Dusche, nachdem wir heute den ganzen Tag das Haus geschrubbt haben. Was ich mit Ihnen besprechen muss, kann auch bis morgen warten.“

„Wer ist wir?“, fragte er. „Ich habe noch mitbekommen, wie eine Menge Leute den Hügel herunterkamen. Haben die alle beim Putzen geholfen?“

„Ja, Nachbarn und Freunde. Und ein paar Handwerker. Sie haben alle mit angefasst.“

„Kann ich sie dafür bezahlen?“

„So wird das in Northbridge nicht gehandhabt. Die Leute hier helfen sich untereinander unentgeltlich, wenn es die Situation erfordert.“

Überrascht hob er die Augenbrauen. „Das finde ich toll.“

„Ja, es ist eine der schönen Seiten, wenn man in einer Kleinstadt wohnt.“

Dann fiel ihr auf, dass sie ihm ein wenig zu intensiv in die Augen blickte, und sie sagte schnell: „Ich hole nur eben meine Tasche aus dem Hobbyraum.“

„Sie haben im Hobbyraum geschlafen? Das Haus scheint doch ziemlich groß zu sein. Gibt es oben nicht noch mehr Schlafzimmer?“

„Doch, fünf. Aber ich hatte Angst, Theresa könnte sich nachts rausschleichen, wenn ich oben schlafe. Hier unten hätte ich sie gehört, wenn sie die Treppe herunterkommt. Allerdings habe ich auch nicht sehr fest geschlafen“, fügte sie mit einem müden Lächeln hinzu.

„Das tut mir leid. Ich hätte wirklich beim Sozialamt darauf drängen sollen, schneller herkommen zu können.“

„Das ist schon in Ordnung. Jetzt sind Sie ja da. Und wenn ich erst einmal geduscht und eine Nacht in meinem eigenen Bett geschlafen habe, bin ich sofort wieder fit.“

Wieso hatte sie das Gefühl zu flirten, wenn sie mit diesem Mann über ihr Bett sprach? Neily hatte keine Ahnung, warum sie so stark auf ihn reagierte. Wahrscheinlich war sie einfach übermüdet und deshalb für die Ausstrahlung fremder, attraktiver Männer empfänglicher als sonst.

Sie überreichte Wyatt ihre Visitenkarte und erhielt von ihm seine Handynummer. Als er sie über den Flur zum Hobbyraum begleitete, beschrieb sie ihm kurz das Haus.

„Heute Nacht hätte ich sowieso mehr Schlaf bekommen“, sagte sie. „Einer der Handwerker hat Riegel an der Haustür und der Hintertür angebracht, die sich nur mit einem Schlüssel öffnen lassen. Auch alle Fenster haben jetzt Schlösser. Jetzt kann Theresa sich nicht mehr heimlich davonstehlen, und wir werden alle ruhiger schlafen.“

Neily reichte ihm den Schlüsselbund. „Jedenfalls solange sie die Schlüssel nicht in die Finger bekommt.“

„Ich möchte aber wenigstens das Material bezahlen, das die Handwerker verwendet haben“, bot Wyatt an.

„Das ist nett. Ich werde es weitergeben.“

„Sagen Sie ihnen auch, wie dankbar ich für ihre Hilfe bin …“

„Mach ich.“

Neily öffnete die Eingangstür.

„Ich hole nur eben unsere Koffer und schließe uns drei dann sicher ein“, sagte Wyatt, als er ihr nach draußen folgte.

Sein eigener Wagen war das einzige Auto weit und breit.

„Wo haben Sie geparkt?“, fragte er.

„Ich bin zu Fuß hier.“

„Dann fahre ich Sie natürlich nach Hause.“

„Danke, aber es ist nicht weit, und Sie wollten doch noch Ihrer Großmutter gute Nacht sagen.“

Außerdem freute sich Neily auf den Spaziergang in der kühlen Nachtluft. Da bekam sie vielleicht einen klaren Kopf und wurde die seltsamen Gedanken los, die ihr bei dem Anblick dieses Mannes durch den Kopf schossen.

„Ich komme dann morgen wieder“, sagte sie. „Aber wenn Sie noch irgendetwas brauchen oder Fragen haben, rufen Sie mich jederzeit an. Auch mitten in der Nacht.“

„Danke.“

Als sie bei seinem Wagen angekommen waren, öffnete Wyatt den Kofferraum, während Neily den Hügel hinunterging. Es gab keinen bestimmten Grund dafür, doch nach einer Weile drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Er war gerade dabei, das Gepäck auszuladen, und obwohl die Koffer schwer aussahen, hob er sie mühelos aus dem Kofferraum.

Der Anblick ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Das ist mir ja noch nie passiert, dachte sie überrascht. Noch nie hatte sie einen ihrer Klienten so attraktiv und anziehend gefunden.

Dann trug Wyatt die Koffer ins Haus, und genau wie sie schaute er sich noch einmal um, als könne er einfach nicht anders. Als ihre Blicke sich trafen, spürte Neily Schmetterlinge im Bauch, und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus.

Das darf auf keinen Fall so weitergehen, ermahnte sie sich streng.

Trotzdem hob sie die Hand und winkte ihm zu – und er erwiderte die Geste. Flirtete sie etwa schon wieder?

Das gewöhnte sie sich besser schnellsten ab. Schließlich musste sie sich professionell verhalten …

2. KAPITEL

Am Montagmorgen hielt Wyatt noch vor dem Aufstehen eine Telefonkonferenz mit seinem Bruder Ry und seiner Schwester Marti ab. Beide waren auf der Heimreise, wollten aber unbedingt wissen, wie es ihrer Großmutter ging. Wyatt beantwortete ihre Fragen zu den beiden Sozialarbeiterinnen, die den Fall betreuten – die eine in Missoula, die andere in Northbridge. Er versicherte ihnen, dass er im Moment gut allein klarkäme und verabschiedete sich dann von ihnen.

Dass seine Ansprechpartnerin in Northbridge ihm einfach nicht aus dem Kopf ging, verriet er seinen Geschwistern allerdings nicht. Seine Großmutter verwechselte Neily Pratt nicht zufällig mit seiner verstorbenen Frau Mikayla. Die beiden sahen sich wirklich ähnlich. Nicht gerade wie Zwillingsschwestern, aber immerhin hätte sie Cousinen sein können.

Am auffälligsten war es bei der Haarfarbe, einem schimmernden, auffälligen Rotbraun. Auch die Form der Nase war ähnlich, schmal mit einer etwas aufwärts gerichteten Spitze, was Wyatt sehr süß fand.

Damit endete die Ähnlichkeit allerdings auch schon. Während Mikayla einen dunklen Teint gehabt hatte, war Neily Pratts Haut eher hell. Sie war auch kleiner als Mikayla und hatte nicht so ausgeprägte Kurven. Der größte Unterschied war die Augenfarbe: Mikaylas Augen waren goldbraun gewesen, während die von Neily so beeindruckend blau waren, dass er am Vortag immer wieder ihren Blick gesucht hatte.

Über solche Dinge nachzudenken – und das schon früh am Morgen – war sonst gar nicht seine Art, aber er konnte es einfach nicht abstellen. Er hatte gestern eindeutig auf Neily Pratt reagiert, und er freute sich darauf, sie wiederzusehen.

Aber das machte ihm Angst, denn es könnte der Anfang von etwas sein, dem er für immer abgeschworen hatte.

Warum passierte ihm das jetzt? Er kannte diese Frau doch kaum. Und nach allem, was er nach Mikaylas Tod durchgemacht hatte, sollte das auch so bleiben.

Die letzten zwei Jahre waren die Hölle gewesen. Manchmal hatte Wyatt sich gefragt, ob er aus dem tiefen, schwarzen Loch, in dem er steckte, jemals wieder herauskommen würde. Er hatte eine Zeit lang ernsthaft befürchtet, in dieselbe krankhafte Depression zu verfallen, die seine Großmutter quälte.

Doch ganz langsam hatten die Dinge sich gebessert. Irgendwann hatte er Licht am Ende des Tunnels gesehen – zuerst nur hin und wieder, dann immer öfter. Er war erleichtert gewesen, wie erlöst. Und hatte sich geschworen, dass er so etwas nie wieder durchleben wollte. Deshalb hatte er beschlossen, allein zu bleiben. Das Risiko, noch einmal jemanden zu verlieren, den er liebte, war viel zu groß. Wenn er jedoch nie wieder eine Frau so nah wie Mikayla an sich heranließ, entging er vielleicht dieser Gefahr. Es war ein großes Opfer – denn natürlich hatte er nicht damit gerechnet, den Rest seines Lebens als Single zu verbringen –, aber seine geistige Gesundheit war ihm wichtiger. Er würde sich daran gewöhnen.

Und das hatte er auch. Nach und nach fing er an, das Leben wieder zu genießen. Nur von Frauen hielt er sich fern, und er kam gut damit zurecht. Denn ein wenig Einsamkeit hin und wieder – außer seinen beiden Geschwistern und Theresa hatte er keine Angehörigen – war tausendmal besser als die schreckliche Dunkelheit nach Mikaylas Tod.

Bis jetzt hatte es hervorragend funktioniert. Wyatt war noch keiner Frau begegnet, die ihn interessierte oder die irgendetwas in ihm zum Klingen brachte.

Bis gestern Abend.

Und jetzt freute er sich darauf, Neily Pratt wiederzusehen, auch wenn er nicht verstand, warum das so war.

Hoffentlich lag es nur an ihrer Ähnlichkeit zu Mikayla. Vielleicht löste das unbewusst etwas in ihm aus. Aber egal, was es war, er würde es nicht zulassen.

„Also bringen wir die Sache möglichst schnell über die Bühne“, murmelte er.

Je schneller, desto besser. Danach würde er Neily Pratt nie wiedersehen. Gut so. Denn um nichts auf der Welt wollte er noch einmal so eine schreckliche Zeit wie nach Mikaylas Tod erleben.

„Heute ist sie sehr traurig. Wyatt sitzt mit ihr im Wintergarten.“

Weil sie die liegengebliebene Arbeit der vergangenen Woche hatte aufarbeiten müssen, schaffte Neily es erst am Montagnachmittag zum Haus der Hobbs. Mary Pat ließ sie herein und berichtete ihr von der aktuellen Situation.

„Dann gehe ich mal zu ihnen“, erwiderte Neily.

Der Wintergarten war früher wahrscheinlich mal als Gewächshaus genutzt worden. Es war ein komplett verglaster Anbau an der Rückseite des Hauses, der bisher sehr kalt gewesen war, weil die meisten der Scheiben zerbrochen waren. Doch am Sonntag hatte der Glaser auch hier Hand angelegt, und nun sorgte die schwache Aprilsonne für angenehme Temperaturen. Außerdem hatte man einen herrlichen Blick über einen Teil der Stadt, da das Hobbs-Haus auf einem Hügel stand.

Neily machte sich nicht sofort bemerkbar. Sie wollte sehen, wie Wyatt mit Theresa umging, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Die beiden saßen in alten Korbsesseln, und Neily konnte von der Tür aus beide Gesichter im Profil sehen. Theresa wirkte tatsächlich traurig. Sie ließ den Kopf hängen und starrte düster aus dem Fenster, während Wyatt versuchte, sie mit einer amüsanten Geschichte über einen Elektrowerkzeugverkäufer aufzuheitern.

Es war eine alltägliche, entspannte Situation. Trotzdem blieb Neily noch einen Moment länger an der Tür stehen, um Wyatt zu beobachten.

Natürlich war ihr Interesse rein beruflich. Was konnte sie dafür, dass der Mann einfach umwerfend aussah, obwohl er heute nur eine dunkle Stoffhose und ein kariertes Hemd trug? Und selbstverständlich vergewisserte sie sich lediglich, dass er mit seiner Großmutter liebevoll umging. Versonnen starrte Neily dabei jedoch auf seine breiten Schultern und die goldenen Strähnen in seinem Haar, die die Sonne darin zum Leuchten brachte.

Tatsächlich gelang es ihm nach einer Weile, Theresa ein kleines Lächeln zu entlocken. Nein, zwischen den beiden gab es garantiert keine Spannungen.

„Hallo, ich bin’s“, rief Neily schließlich, als käme sie gerade erst herein.

Wyatt Grayson blickte sofort hoch, während seine Großmutter weiter aus dem Fenster starrte.

„Schau mal, Neily ist hier“, sagte er und stand auf.

Theresa gab keine Antwort, und Neily ging auf sie zu. „Hier ist es aber hübsch, wenn die Sonne scheint“, sagte sie fröhlich.

„Ja, das stimmt. Es hat etwas gedauert, aber schließlich konnten Mary Pat und ich Gram überzeugen, die Sonne zu genießen.“

Theresa sagte immer noch nichts. Wahrscheinlich war sie zu sehr in ihre bedrückenden Gedanken versunken.

Wyatt Grayson kam auf Neily zu. „Sie sind bestimmt nicht meinetwegen hier, deshalb lasse ich Sie beide jetzt mal allein. Aber hätten Sie eine Minute Zeit für mich, wenn Sie fertig sind?“

„Natürlich.“ Wie unpassend, dass seine Bitte ihr Herz höher schlagen ließ. Bestimmt ging es ihm nur um Theresa.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee? Kaffee?“

„Nein danke, ich möchte nur kurz mit Theresa sprechen.“

„Bin schon weg.“ Wyatt legte seiner Großmutter die Hand auf die Schulter. „Das ist doch in Ordnung, oder? Unterhältst du dich ein bisschen mit Neily?“

Wortlos tätschelte Theresa seine Hand, ließ dann aber den Arm kraftlos wieder sinken. Dabei schaute sie unverwandt aus dem Fenster.

Als Wyatt gegangen war, setzte Neily sich in den freien Korbstuhl.

„Hallo Theresa. Wie geht es Ihnen?“

Die alte Dame zuckte die Schultern, sagte aber nichts.

Neily folgte ihrem Blick. Die Aussicht ging auf einen Stadtteil, der in den Fünfzigerjahren gebaut worden war. Früher waren hier Felder gewesen. Etwas Ungewöhnliches konnte sie aber nicht entdecken.

„Wie gefällt es Ihnen, dass Ihr Enkel und Mary Pat jetzt hier wohnen?“, fragte sie Theresa im Plauderton.

„Sie sind sehr lieb zu mir“, erwiderte die tonlos.

„Dann freuen Sie sich, dass sie hier sind?“

„Ja.“

„Was macht Mary Pat denn alles so für Sie?“

Wieder ein Schulterzucken. „Alles. Sie bringt mir meine Tabletten, wenn es Zeit ist, sie zu nehmen. Sie macht mir was zu essen und sagt mir, wenn es kalt draußen ist und ich eine Jacke anziehen soll. Sie erinnert mich daran, die Zähne zu putzen oder mich zu kämmen, wenn ich es vergesse. Sie ist wie eine Mutter zu mir.“

All das zählte Theresa ohne besondere Betonung auf und wandte den Blick dabei nicht vom Fenster ab.

„Und trotzdem haben Sie ihre Autoschlüssel genommen und sie verlassen.“

„Es ging nicht anders. Ich musste herkommen. Auch ohne Mary Pat.“

Jetzt nahm Theresas Stimme wieder diesen hysterischen Tonfall an. Neily wechselte das Thema.

„Und was ist mit Ihrem Enkel? Was tut der für Sie?“

„Ich habe drei Enkel. Wyatt, Marti, Ry. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie anfangen sollte.“

„Kommen alle drei Sie besuchen? Kümmern sie sich um Sie?“

„Sie machen sich immer Sorgen um mich und tun alles für mich. Die Armen, sie haben so viel anderes zu tun, aber sie verwöhnen mich wie eine Königin. Und da mache ich ihnen noch mehr Ärger.“

„Haben sie das gesagt? Dass Sie ihnen Ärger machen?“

„Oh nein. Sie sagen immer, dass sie mir geben, was immer ich möchte. Und das tun sie auch.“

„Aber diesmal dachten Sie, sie würden es nicht tun? Als Sie nach Northbridge wollten?“

Theresa runzelte die Stirn. „Ich konnte ihnen nicht sagen, was ich getan habe“, flüsterte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, dann wechselte sie selbst das Thema und zeigte auf die Häuser, die unter ihnen lagen.

„All das hat mal meiner Familie gehört, wissen Sie.“

„Was alles?“

„Das Land, auf dem die Häuser stehen.“

„Nein, das wusste ich nicht.“

„Früher gehörte das alles meinem Vater. Dann habe ich es geerbt …“

„Tatsächlich?“ Neily war sich nicht sicher, ob das stimmte oder ob Theresa in eine ihrer Fantasiewelten abglitt. „Davon hat mir niemand etwas gesagt, aber es ist bestimmt schon lange her, dass Sie … was? Das Land verkauft haben?“

Theresa antwortete nicht.

„Ist es das, was Sie zurückhaben wollen?“, versuchte Neily es noch einmal. „Ihr Land? Das Land Ihres Vaters?“

Wieder bekam sie keine direkte Antwort. „Es gehörte alles uns. Von hier so weit das Auge reicht“, murmelte Theresa. „Aber so viele Dinge im Leben gehen verloren.“

„Haben Sie das Land irgendwie verloren?“

„Menschen verlieren immer wieder etwas. Wyatt weiß, wie das ist. Marti auch.“

„Es tut mir leid, dass Sie so viele Verluste erlitten haben. Möchten Sie darüber reden?“

„Ich mag mich nicht mehr unterhalten“, erklärte Theresa unvermittelt und stand auf. „Ich muss mich ausruhen.“

Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Wintergarten.

Trotzdem hatte Neily aus ihrer Sicht heute viel erreicht. Immerhin konnte sie jetzt sicher sein, dass Theresa sich über die Anwesenheit ihres Enkels und ihrer Pflegerin freute und keine negativen Gefühle damit verband.

Neily stand ebenfalls auf und folgte der alten Dame hinaus, die im Flur von Mary Pat in Empfang genommen wurde. Die Pflegerin versuchte Theresa zu überzeugen, nicht ins Schlafzimmer zu gehen, sondern stattdessen in der Küche Tee zu trinken. Doch Theresa bestand darauf, sich hinzulegen, und Mary Pat gab nach und führte sie die Treppe hinauf.

„Das ging aber schnell“, kam Wyatts Stimme aus dem Wohnzimmer.

Er lehnte lässig – und sehr sexy – an der Sesselkante, die Hände in den Taschen. Verrückt, dass sie jedes Mal, wenn sie ihn sah – selbst, wenn das letzte Mal nur ein paar Minuten her war –, dieses Herzklopfen bekam.

Neily ignorierte es und sagte gelassen: „Stimmt, es ging recht schnell, aber ich nehme, was ich kriegen kann.“

„Dann haben Sie jetzt für mich vielleicht sogar zwei Minuten Zeit?“

Flirtete er etwa mit ihr? Das konnte ja wohl nicht sein. Aber wieso lächelte er dann so verführerisch?

Du bist beruflich hier, ermahnte sie sich streng und schaute demonstrativ auf die Armbanduhr. „Ja, ich denke, ich habe zwei Minuten, bevor ich mich auf den Weg zu meinem nächsten Hausbesuch machen muss. Aber wenn es länger dauert …“

„Nein, zwei Minuten reichen mir.“ Danach kam er direkt zur Sache – also hatte sie sich das mit dem Flirten doch nur eingebildet. „Zum einen möchte ich Ihnen sagen, wie dankbar ich für Ihren Einsatz hier bin. Heute beim Frühstück hat Gram was von kaputten Scheiben und verstopften Abflüssen erzählt, von Staubwolken aus den Heizungsschächten und dem Dreck überall … Also jedenfalls ist mir da erst so recht klar geworden, wie schlimm es hier ausgesehen haben muss und welche Arbeit Sie geleistet haben. Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich bedanken.“

„Keine Ursache.“

„Ich würde gerne alle, die mitgeholfen haben, zu einem Abendessen einladen. Aber ich weiß ja leider nicht, wer meine Gäste sind.“

„Wenn Sie mir sagen, wann es stattfinden soll, kümmere ich mich gern darum.“

Es freute sie, dass er den Freiwilligen seine Dankbarkeit so tatkräftig zeigen wollte.

„Dann laden Sie alle ein?“

„Ja, mache ich.“

„Mary Pat und ich dachten an Mittwochabend. Um sieben?“

„Ist gut.“

„Was mich zu meiner zweiten Frage führt: Ich muss für das Abendessen – und natürlich auch für uns – einkaufen. Wo macht man das hier? Ich habe keinen Supermarkt gesehen …“

„Nein, den gibt es hier auch nicht. Wir haben einen Gemischtwarenladen, der so ziemlich alles führt, was man braucht. Außerdem gibt es einen Metzger, eine Bäckerei und einige Fachgeschäfte.“ Bevor Neily richtig darüber nachgedacht hatte, fügte sie hinzu: „Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen heute Abend alles, und Sie können dabei gleich einkaufen, was Sie …“

„Das wäre wunderbar“, unterbrach er sie. Als hätte auch er impulsiv gesprochen, fügte er langsamer hinzu: „Wenn Sie wirklich möchten. Sicher haben Sie viel zu tun …“

„Ich muss heute nur noch einen Hausbesuch machen, danach habe ich frei“, sagte sie. Warum nutzte sie nicht eine der Ausreden, die er ihr bot? Eine Stadtführung gehörte ja nun wirklich nicht zu ihrem Job.

Trotzdem fuhr sie fort: „Die meisten Läden haben bis acht auf. Ich fahre nach meinem Termin schnell nach Hause, esse einen Happen und kann gegen halb sieben wieder hier sein.“

„Wunderbar. Ein Rundgang mit einer Einheimischen – danach kenne ich mich dann richtig gut aus.“

„Vielleicht lässt sich Theresa überreden, mitzukommen“, schlug Neily vor. Wenn die alte Dame mitkam, hatte der Ausflug wenigstens wieder einen beruflichen Hintergrund.

„Ich frage sie“, antwortete Wyatt. „Aber ich wäre sehr überrascht, wenn sie Ja sagt.“

„Vielleicht, wenn Mary Pat auch mitgeht?“

Offenbar hatte sie sich damit verraten, denn Wyatt blickte sie fragend an. „Haben Sie etwa Angst, mit mir allein zu sein? Keine Sorge, ich bin ganz harmlos …“

Schon möglich, aber einfach zu charmant als gut für sie war.

„Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, dass es für Sie alle gut wäre, wenn Sie Northbridge ein bisschen besser kennenlernen.“

„Ich tue, was ich kann, aber ich rechne eher nicht damit, dass Gram mitkommt. Und dann bleibt Mary Pat natürlich auch hier.“

Neily nickte. „Jedenfalls bin ich um halb sieben hier.“

„Ich warte auf Sie. Oder soll ich Sie zu Hause abholen? Dann müssen Sie mir aber erst den Weg erklären.“

„Nein, es ist einfacher, wenn ich herkomme.“ Dann hatte sie auf jeden Fall die Kontrolle über alles, und die ganze Sache sah mehr nach Arbeit aus als nach einem Date.

Ein Date? Wie kam sie denn jetzt darauf?

Natürlich war das keine Verabredung. Der Mann wollte einfach nur wissen, wo man hier einkaufen ging! Aber wieso war sie dann so aufgeregt?

Wieder schaute sie auf die Uhr und sagte: „Jetzt muss ich aber wirklich los. Bei meinem nächsten Termin wird es nicht so schnell gehen wie hier, das weiß ich jetzt schon.“

Wyatt nickte, stieß sich von der Sesselkante ab und brachte Neily zur Tür.

„Dann bis heute Abend“, sagte er lächelnd.

„Bis heute Abend.“

Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Wagen. Wenn sie es bis halb sieben schaffen wollte, musste sie sich wirklich beeilen. Und obwohl das völlig unprofessionell war, hoffte sie insgeheim, dass Mary Pat und Theresa lieber zu Hause bleiben würden.

3. KAPITEL

Als Wyatt sie zum ersten Mal gesehen hatte, war Neily rußverschmiert und völlig zerzaust gewesen. Und auch an diesem Nachmittag hatte sie bereits einen hektischen Arbeitstag hinter sich gehabt.

Jetzt wollte sie sich endlich mal von ihrer besten Seite zeigen. Deshalb ließ sie das Abendessen ausfallen und nutzte die gesamte Zeit, die ihr blieb, um sich zurechtzumachen.

Natürlich nur, damit sie sich selbst gut fühlte. Denn Wyatt Grayson brachte sie durcheinander, und das war ungewöhnlich. Schließlich war sie mit fünf Brüdern aufgewachsen und kannte sich mit Jungs aus.

Aber heute Nachmittag hatte sie sich von seinem Charme und seiner Selbstsicherheit fast etwas eingeschüchtert gefühlt. Und das ging auf keinen Fall. Sie sollte Wyatt Graysons Charakter und sein Verhalten einschätzen. Dazu musste sie selbstbewusst auftreten und professionell wirken. Deshalb legte sie Wert darauf, heute Abend gut auszusehen. Nicht, um Wyatt zu beeindrucken, sondern damit er kein falsches Bild von ihr bekam.

Warum sollte ich ihn auch beeindrucken wollen, sagte sie sich, als sie in ihre graue Nadelstreifenhose schlüpfte. Sie trug die Hose für gewöhnlich gern bei ersten Dates, weil sie schlank machte und die Beine länger wirken ließ. Dazu wählte sie einen schwarzen Kaschmirrollkragenpullover, der ihre Kurven dezent betonte.

Das darf ich gar nicht, denn er gehört schließlich zu meinem Bewertungsfall. Jegliche persönliche Beziehung bringt mich in einen Interessenkonflikt.

Trotzdem hatte er eine seltsame Wirkung auf Neily, und das musste sofort aufhören.

„Schluss damit!“, sagte sie mehrmals laut, als sie sich die Nase puderte, Rouge auflegte und sich die Wimpern tuschte. Dann bürstete sie sich die Haare, bis sie glänzten, und drehte die Spitzen mit einem großen Lockenstab ein, damit sie sich auf Kinnhöhe nach außen bogen.

Zum Glück lag das ganz bei ihr. Jetzt, wo sie wusste, wie seine Berührung und sein Lächeln auf sie wirkten, konnte sie sich innerlich dagegen wappnen. Und wenn sie erst einmal gewappnet war, konnte nichts und niemand sie mehr aus der Bahn werfen. Es hatte eben auch seine Vorteile, mit fünf Brüdern aufzuwachsen.

„Du bist nichts weiter als ein Fall für mich“, verkündete sie laut, während sie ihr Haar noch einmal in Form zupfte.

Außerdem waren sie heute in ihrem Auto unterwegs und erkundeten ihre Heimatstadt, und dabei würde Neily ausschließlich an ihren Job denken. Schließlich konnte sie auf diese Weise Theresas Enkel noch besser kennenlernen und danach umso fundierter darüber urteilen, ob er als Vormund für seine Großmutter geeignet war.

Also ging sie jetzt zu einem Termin, nicht zu einem Date. Auch, wenn sie ihre Lieblingshose für erste Verabredungen trug und Schmetterlinge im Bauch hatte.

„Jetzt halten Sie mich bestimmt für einen Trottel“, sagte Wyatt später am Abend, als er und Neily an einem Bistrotisch in dem neuen Coffeeshop saßen, der gerade in Northbridge eröffnet hatte.

Neily nahm einen Schluck von ihrer heißen Schokolade. „Wie kommen Sie darauf?“, fragte sie überrascht.

„Ich bin die Hauptstraße entlanggefahren, als ich Sonntag hier ankam. Mir war nicht klar, dass es die einzige Straße mit Läden in Northbridge ist, sonst hätte ich Sie nicht gebeten, mir alles zu zeigen.“

Gespielt entrüstet hob Neily die Augenbrauen. „Wollen Sie damit behaupten, wir wären ein Straßendorf? Das stimmt nämlich ganz und gar nicht. Die Main Street hat Querstraßen, dort sind weitere Läden. Und wir haben eine Ampel.“

„Genau. Eine Metropole ist nichts dagegen.“

„Ha! Immerhin haben Sie heute alles bekommen, was Sie brauchten. Oder etwa nicht?“

„Habe ich“, gab er zu. „Allerdings ist mir aufgefallen, dass es ein Sägewerk gibt, aber keinen Baumarkt. Oder zumindest einen Eisenwarenladen.“

„Brauchen Sie denn mehr als die Muttern und Schrauben, die es im Gemischtwarenladen gibt?“

„Nein, es war mehr berufliche Neugier.“

„Ach was, sind Sie Eisenwarenladenspion?“ Neily genoss ihr spielerisches Geplänkel.

„Nein, das nicht. Aber Sie wissen doch, dass wir Home-Max sind, oder?“

Das schien nun kein Witz zu sein. „Ehrlich jetzt? Home-Max?“, fragte sie.

„Ganz ehrlich. Home-Max. Sie kennen uns also?“

Home-Max war eine hervorragend sortierte Baumarktkette, die alles hatte, was der Heimwerker brauchte – einschließlich einer riesigen Gartenabteilung. Seit einiger Zeit tauchte der Name öfter in den Zeitungen auf, weil die Kette eine Filiale nach der anderen eröffnete und den Wettbewerb kräftig aufmischte.

„Natürlich kenne ich Home-Max, aber ich wusste nicht, dass Sie Home-Max sind.“

„Meine Geschwister und ich. Uns gehört der Laden.“

„Das hat mir Theresa nicht erzählt“, erklärte Neily etwas überwältigt.

„Na ja, sie hat nicht viel damit zu tun, und meistens vergisst sie, dass wir jetzt Home-Max heißen. Sie kannte den Laden noch als G&H Eisenwaren. So hat alles angefangen, mit dem Eisenwarenladen meines Großvaters.“

„Ihr Großvater – Theresas Mann“, verdeutlichte sich Neily.

„Genau. Er hatte den Laden schon, als sie sich kennenlernten, aber es war nur ein Einmannbetrieb. Nach der Hochzeit hat Gram ihre Ersparnisse in das Geschäft gesteckt. So wurden sie G&H – G für Grayson, H für Hobbs. Hobbs war Grams Mädchenname. Als mein Großvater starb, ging der Laden an meinen Vater – ihr einziges Kind. Er hat expandiert und sechs weitere G&H Eisenwarenläden eröffnet. Meine Geschwister und ich haben alle dort ausgeholfen, sobald wir alt genug dafür waren. Aber als meine Eltern vor acht Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen, mussten wir drei plötzlich allein die Verantwortung tragen – und das in einer Krise.“

„Wieso Krise?“

„Die großen Baumarktketten fingen an, uns die Kunden wegzunehmen. Das Geschäft lief schlecht, und wir bekamen ein gutes Übernahmeangebot.“

„Aber Sie haben nicht verkauft? Warum nicht?“

„Hauptsächlich wegen Gram. Vor acht Jahren war sie geistig noch etwas fitter, aber sie brauchte damals schon eine ständige Betreuerin, und Rund-um-die-Uhr-Pflege ist teuer. Die Übernahme hätte uns nicht genug Geld gebracht, um das auf lange Sicht abzusichern. Meine Geschwister und ich konnten auch nicht garantieren, dass wir in anderen Jobs genug verdienen, um dafür aufzukommen. Wir wollten Gram aber auf keinen Fall in ein Heim geben. Also haben wir beschlossen, uns mit den Großen zu messen, anstatt an sie zu verkaufen. Wir haben fünf Läden geschlossen und nur einen behalten. Aus dem haben wir den ersten Home-Max gemacht und mit dem neuen Konzept expandiert. Seitdem läuft der Laden wieder.“

Bestimmt war es nicht ganz so leicht gewesen, wie er es klingen ließ. Neily nickte beeindruckt.

„Sie haben Ihrer Großmutter wohl immer sehr nahe gestanden, wenn Sie so viel für sie riskieren.“

„Ja, das stimmt. Wir wollten einfach das Beste für sie. Und schließlich war es ihr Geld, mit dem das Geschäft damals richtig ins Laufen kam. Wir wollten nicht einfach aufgeben. Ganz selbstlos war es aber auch nicht. Marti, Ry und mir lag viel daran, weiter als Team zusammenzuarbeiten. Und wir hatten Glück, es hat geklappt.“

Auch das war wieder ein positiver Aspekt, den Neily in ihre Bewertung aufnehmen konnte. Dass die ganze Familie zusammengehalten hatte, um für Theresa die bestmögliche Pflege zu finanzieren, zeigte eine enge Bindung und großes Engagement. Sie hätten stattdessen auch das Geld aus der Übernahme aufteilen und die Großmutter einfach in ein Heim geben können.

Je besser Neily Wyatt kennenlernte, desto mehr mochte sie ihn.

„Also war Theresas Zustand vor acht Jahren ähnlich wie heute?“, fragte sie sachlich.

Wyatt nickte ernst. „Gram hat psychische Probleme, seit ich sie kenne. Sie hat Phasen tiefster Depression, und manchmal dabei keinen Bezug mehr zu Realität. Diese Zeiten der Verwirrung häufen sich, je älter sie wird. Ängstlich war sie schon immer, und daraus haben sich richtige Phobien entwickelt. Deshalb geht sie kaum noch aus dem Haus und braucht ständig jemanden um sich herum. Umso erstaunlicher, dass sie es ganz allein bis nach Northbridge geschafft hat.“

„Und ihre Vergesslichkeit?“

„Die wird immer schlimmer. Besonders das Kurzzeitgedächtnis ist betroffen. Manchmal denkt sie, Ereignisse, die vor Jahrzehnten passiert sind, hätten erst gestern stattgefunden. Und an gestern kann sie sich oft gar nicht erinnern. Sie ist wirklich eine gepeinigte Seele.“

„Gibt es eine spezielle Diagnose?“

„Eine ganze Liste. Und sie bekommt gegen alles Medikamente. Teilweise hilft es sogar. Früher war sie auch in Therapie, aber nichts hat sie wirklich geheilt.“

„Kann es sein, dass sie ein Missbrauchsopfer ist?“, fragte Neily vorsichtig.

„Das hat sie rundheraus verneint. Wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, klingt es immer sehr glücklich. Sie sagt, ihre Eltern hätten sie vergöttert. Sie wurde offenbar sehr geliebt und war am Boden zerstört, als ihre Eltern starben. Später verlor sie ihren Mann, dann auch noch meinen Vater … vielleicht sind diese schrecklichen Verluste Teil ihres Traumas.“

„Aber wenn sie von ihrer Kindheit erzählte, hat sie nie erwähnt, dass sie in Northbridge aufgewachsen ist oder dass sie hier noch ein Haus hat?“ Neily konnte sich keinen Grund vorstellen, warum Theresa daraus so ein Geheimnis machte.

„Nein, sie hat immer nur von einer Kleinstadt in Montana gesprochen. Den Namen hat sie nie erwähnt.“

„Dann hat sie auch nichts davon gesagt, dass ihr Vater hier Land besaß?“

Überrascht hob Wyatt die Augenbrauen. „Land? Sie meinen, mehr als das Grundstück, auf dem das Haus steht?“

„Sie hat mir heute erzählt, dass ihrem Vater – und später ihr – das ganze Gebiet gehörte, das man vom Wintergarten aus sehen kann. Heute stehen dort Häuser, es wurde in den fünfzigerjahren erschlossen.“

„Und Sie glauben ihr?“

Neily zuckte die Achseln. „Ich habe vorher nie was davon gehört, aber das hat nichts zu sagen, schließlich war das zwanzig Jahre, bevor ich auf die Welt kam. Aber vielleicht sollte man es recherchieren. Wenn es stimmt, ist es vielleicht dieses Land, was sie zurückhaben will.“

„Könnte denn jemand es ihr gestohlen oder sie irgendwie darum betrogen haben?“

„Keine Ahnung. Aber ich denke, in den alten Grundbüchern gibt es Aufzeichnungen darüber.“

„Und, würden Sie mit mir Detektiv spielen?“

„Ich glaube, das steht nicht in meiner Jobbeschreibung“, erwiderte Neily lachend.

„Aber vielleicht macht es Spaß.“

Sein Lächeln war einfach zu verführerisch. Eigentlich war sie ja gewappnet. Aber offenbar war die Art von Widerstand, den sie bei ihren Brüdern gelernt hatte, bei Wyatt Grayson völlig wirkungslos.

Mittlerweile hatten sie beide ihre Schokolade ausgetrunken, was Neily eine Ausweichmöglichkeit gab.

„Wir sollten wohl langsam aufbrechen“, sagte sie, ohne auf seine Einladung zum Detektivspielen einzugehen.

Wyatt reagierte nicht sofort, sondern blickte sie weiter lächelnd an, als gefiele ihm, was er sah. Doch schließlich stand er auf, legte einen Geldschein auf den Tisch, der ein großzügiges Trinkgeld enthielt, und folgte Neily nach draußen.

Lass dich nicht von ihm beeindrucken, sagte sie sich auf dem Weg zum Auto, das sie vor dem Coffeeshop abgestellt hatte.

Als sie hinter dem Lenkrad saß, kam es ihr vor, als wäre ihr Wagen kleiner als sonst. Wyatt war ein großer, gut gebauter Mann, und er schien den Innenraum völlig auszufüllen. Auf jeden Fall war er ihr so nah, dass sie seine Wärme spüren konnte.

„Also, was meinen Sie?“, fragte er, als sie in Richtung South Street fuhren. „Helfen Sie mir mit der Recherche? Ich weiß ja jetzt, wie klein Northbridge ist, und würde das Grundbuchamt wahrscheinlich auch alleine finden. Aber Sie kennen bestimmt den zuständigen Beamten, und dann wäre es viel leichter, an die richtigen Dokumente zu kommen.“

Das stimmte sogar.

„Sie helfen damit Gram – und das gehört doch zu Ihrer Jobbeschreibung, oder?“, fügte er hinzu.

„Stimmt …“ Verflixt! Sie klang, als hätte er sie schon fast überredet.

Und sie wollte ja auch wirklich alles tun, um Theresa zu helfen. Wenn sie mehr darüber wusste, warum die alte Dame nach Northbridge gekommen war, konnte sie viel besser entscheiden, wie es mit ihr weitergehen sollte.

Allerdings bedeutete das, mehr Zeit mit Wyatt zu verbringen. Heute hatte sie zwar mit ihm über Theresa gesprochen und tatsächlich Dinge über ihn erfahren, die für den Fall wichtig waren. Trotzdem war es ihr mehr wie ein schöner Abend mit einem attraktiven, unterhaltsamen und sympathischen Mann vorgekommen.

Also eigentlich wie ein Date. Und ein sehr angenehmes noch dazu.

Verflixt.

„Kommen Sie schon“, drängte er sie, als Neily in die Einfahrt des Hobbs-Hauses einbog. „Helfen Sie mir. Oder zumindest Gram. Sie müssen auch an Ihre Stadt denken.“

Neily schaltete in den Leerlauf, ließ den Motor aber an. „An meine Stadt?“, fragte sie.

„Na ja, es könnte doch sein, dass ein gemeiner Kerl Gram das Land auf betrügerische Weise abgeluchst hat. Was, wenn derjenige heute immer noch hier wohnt? Würden Sie das nicht wissen wollen? Was, wenn dieser böse Kerl Ihr Bürgermeister ist und immer noch lügt und betrügt? Wenn er öffentliche Mittel unterschlägt oder wertlose Beteiligungen verkauft oder …“

„Das wäre wirklich furchtbar“, unterbrach ihn Neily lachend.

„Sehen Sie. Und es gehört zu Ihrem Job, Grams Wohlergehen sicherzustellen.“

Das bezog sich wohl eher nicht auf die weit zurückliegende Vergangenheit. Doch mittlerweile war Neily selbst neugierig, ob Theresa wirklich Opfer einer Betrügerei geworden war oder ob sie sich in ihrem geistig labilen Zustand alles nur einbildete.

Somit konnte sie Wyatts Bitte erfüllen, ohne sich eingestehen zu müssen, dass sie noch mehr Zeit mit ihm verbringen wollte.

„Na schön“, sagte sie, als hätte er sie überredet. „Ich helfe Ihnen. Aber nur, um Theresas Lage noch besser einschätzen zu können.“

Wyatt lächelte erfreut. „Dann sehen wir uns also morgen?“

„Theresa steht jeden Tag in meinem Terminkalender. Aber ich habe auch noch viele andere Hausbesuche, und morgen ist sie der letzte Termin. Wir werden es also erst kurz vor Schließung zum Amtsgericht schaffen, selbst wenn ich sie vorher nicht besuche, sondern mich stattdessen um ihre Angelegenheiten kümmere. Da bleibt uns nicht viel Zeit, die alten Grundbücher durchzusehen.“

„Trotzdem passt es mir ganz gut. Ich muss mich auch noch ein bisschen ums Geschäft kümmern und einige Anrufe erledigen.“

Neily nickte. Dass sie sich jetzt schon auf das morgige Treffen freute, war wohl eher ein schlechtes Zeichen – zumindest was ihre Standhaftigkeit anging. Aber sie machte auch keinen Rückzieher.

„Danke für die Stadtführung“, sagte Wyatt.

„Danke für die heiße Schokolade“, gab sie zurück.

Wyatt beugte sich zu ihr hinüber, und obwohl es keinerlei Anlass dafür gab, dachte Neily einen Moment lang, er würde sie küssen.

Erschrocken richtete sie sich auf und drückte sich an die Tür – doch er griff nur zwischen den Sitzen hindurch nach seinen Einkaufstaschen auf der Rückbank.

Natürlich hatte er nicht vorgehabt, sie zu küssen! Wie kam sie nur auf so was?

Wyatt stellte die Tüten auf seinen Schoß und wandte sich Neily wieder zu. Wenn er ihre Überreaktion bemerkt hatte, überspielte er es gut.

„Dann bis morgen“, sagte er.

„Sie sind mein Termin um halb fünf.“

Sein Lächeln war sehr süß und sexy. „Wollen wir uns irgendwo treffen?“

Vielleicht war es wirklich besser, nicht wieder im engen Auto mit ihm zu sitzen.

„Die Grundbücher werden im Amtsgericht aufbewahrt“, erwiderte sie und beschrieb ihm den Weg dorthin.

„Ich werde um halb fünf dort sein“, versicherte er.

„Bis dann.“

Wyatt nickte, doch anstatt auszusteigen, blieb er sitzen und blickte sie unverwandt an. Schließlich lächelte er geheimnisvoll, murmelte „Gute Nacht“ und stieg aus. Natürlich hätte Neily sofort den Rückwärtsgang einlegen und losfahren sollen, doch stattdessen sah sie ihm nach, bis er im Haus verschwunden war.

Und obwohl ihr völlig klar war, dass sie professionellen Abstand bewahren musste, fragte sie sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er nicht nach seinen Einkaufstüten gegriffen, sondern sie doch geküsst hätte.

Am Dienstagabend klopfte Neily an die Tür eines außerhalb gelegenen Farmhauses, bevor sie schließlich eintrat.

„Miss Sela, sind Sie da? Ich bin’s, Neily.“

„Das sehe ich. Sie und ein Mann.“ Die kurzatmige Stimme kam aus dem Wohnzimmer.

„Richtig. Das Krankenhaus hat mich gerade angerufen, weil Sie einfach so verschwunden sind. Die Leute dort machen sich Sorgen um Sie, weil keiner weiß, wo Sie stecken.“

„Ich habe ihnen aber gesagt, dass ich nach Hause will. Und Sie haben mich ja auch sofort gefunden. Die hätten nur mal kurz nachdenken müssen.“

Gefolgt von Wyatt betrat Neily das Wohnzimmer und fand Miss Sela in einem Lehnstuhl sitzend vor. Sie trug noch dieselben Sachen, in denen Neily sie am Morgen ins Krankenhaus gefahren hatte – einschließlich des Mantels. Die zierliche Frau hatte ihr schlohweißes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie blickte Neily und Wyatt aus wachen blauen Augen an.

„Das ist Wyatt Grayson“, stellte Neily ihren Begleiter vor. „Wyatt, dies ist Miss Sela Knots. Miss Sela, Sie kennen vielleicht Wyatts Großmutter, Theresa Hobbs …“

„Hobbs? Natürlich kenne ich die Hobbs. Mein Thomas wurde in derselben Woche geboren wie Lurenes Tochter. Theresa, ja, so wurde sie getauft. Aber haben Sie gesagt, dieser Mann ist ihr Enkel? Du liebe Güte, ich werde langsam alt.“

„Miss Sela ist sechsundneunzig“, erläuterte Neily für Wyatt.

„Wenn mein Thomas älter geworden wäre, hätte ich jetzt vielleicht auch erwachsene Enkel“, sagte Miss Sela, nachdem sie offenbar nachgerechnet hatte. „Ich sehe ihn nur immer in dem Alter vor mir, in dem er gestorben ist – zu jung, um Vater zu sein.“

Neily und Wyatt waren gerade beim Grundbuchamt angekommen, als sie der Anruf aus dem Krankenhaus erreicht hatte. Natürlich musste sie sofort darauf reagieren, und Wyatt hatte angeboten, ihr bei der Suche nach Miss Sela zu helfen.

Neily setzte sich nun auf die Sofakante, während Wyatt stehen blieb.

„Also, wo drückt der Schuh?“, fragte Neily freundlich.

„Ich wollte in meinem eigenen Bett schlafen, und das habe ich denen auch gesagt. Sie haben mich behandelt, als wäre ich zwei Jahre alt und haben mit mir geredet, als wäre ich zurückgeblieben oder taub. Also bin ich gegangen.“

„Aber Sie haben eine Lungenentzündung.“

„Das weiß ich selbst. Aber die Pillen dagegen kann ich auch hier nehmen, und hier schlafe ich besser als im Krankenhaus. Die haben mir überhaupt nicht zugehört, und schließlich wurde es mir zu dumm. Stan Lowell hat mich nach Hause gebracht, ich habe ihm erzählt, mein Auto wäre in der Werkstatt. Niemand kann mich gegen meinen Willen dort festhalten“, schloss sie resolut.

Als sei damit alles gesagt, wandte sie sich danach Wyatt zu. „Theresa Hobbs … es ist so schrecklich, was ihrer Familie zugestoßen ist! Sie war noch so jung, als ihre Eltern starben. Sie waren auf dem Rückweg aus Billings … damals gab es hier noch keine Ärzte, und man musste in die Stadt, wenn einem etwas fehlte. Sie waren wegen Zahnschmerzen dort, glaube ich. Auf dem Heimweg blieben sie in einem Schneesturm stecken und sind erfroren. Sie wurden erst am nächsten Tag gefunden, als der Sturm sich gelegt hatte.“

„Das stimmt genau“, bestätigte Wyatt. „Einiges davon habe ich heute erst erfahren. Ich habe in der Bibliothek im Zeitungsarchiv gestöbert.“

Das gute Gedächtnis der alten Dame beeindruckte ihn sichtlich. Ihre Erzählung brachte Neily auf eine Idee.

„Wir waren gerade auf dem Weg zum Amtsgericht, als das Krankenhaus mich anrief“, sagte sie. „Wissen Sie zufällig, ob Theresas Vater hier Land besaß?“

„Ja, natürlich. Eine ganze Menge sogar. Es war gutes Bauland, und Theresa hat es für eine lächerliche Summe an Hector Tyson verkauft. Dieses alte Schlitzohr hat damit geprahlt, nachdem Theresa die Stadt verlassen hatte. Jedem, der es hören wollte, hat er erzählt, was für ein gutes Geschäft er gemacht hat. Und dann hat er Millionen damit gescheffelt, die Grundstücke zu verkaufen und die Baumaterialien für die Häuser zu verkaufen. Es ist wirklich eine Schande. All das hätte Theresa gehören können. Aber nachdem sie ihre Eltern so tragisch verloren hatte, wollte sie wohl einfach nur weg.“

Miss Sela zuckte die Achseln. „Oder auch nicht, denn das Haus hat sie ja anscheinend nicht verkauft. Und jetzt musste sie sich wie ein Dieb in der Nacht dorthin zurückschleichen, habe ich gehört? Was hat es damit auf sich?“

„Ja, sie ist wieder hier“, bestätigte Neily. „Aber sie ist leider nicht so fit wie Sie, Miss Sela. Sie hat einige Probleme, und wir tun unser Bestes, ihr zu helfen.“

„Na, dann schicken Sie sie bloß nicht in dieses verdammte Krankenhaus“, schnappte Miss Sela. „Wenn die dich einmal in den Fängen haben, kommst du da nicht wieder raus.“

„Sie brauchen die Behandlung, damit Ihre Lungen ausheilen können“, wandte Neily ein.

„Ach was. Noch atme ich ja noch, oder? Sonst könnte ich wohl kaum mit Ihnen reden.“

„Aber Sie haben Mühe beim Atmen, oder etwa nicht? Ich höre doch, wie gepresst sie sprechen. Das muss im Krankenhaus behandelt werden. Ich verspreche Ihnen, dass Sie nur ein paar Tage dort bleiben müssen, und ich bringe Sie danach persönlich wieder nach Hause. Ich weiß ja, dass Sie normalerweise gut allein zurechtkommen. Aber im Moment eben nicht.“

Ganz offensichtlich war Miss Sela geschwächter, als sie zugeben wollte.

„Und Sie versprechen mir wirklich, dass Sie mich wieder herbringen, wenn es mir besser geht?“

„Ganz großes Ehrenwort. Ich freue mich, dass Sie noch so selbstständig sind, und es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern. Aber wenn ich eine Lungenentzündung hätte, müsste ich auch ins Krankenhaus. Es ist nun mal eine ernstzunehmende Krankheit.“

Neily nahm Miss Selas schweren Seufzer als Zustimmung und stand auf. „Kommen Sie, bevor Sie noch kränker werden“, sagte sie und wollte der alten Dame aufhelfen.

„Das kann ich noch allein!“, fuhr diese sie an. „Denken Sie bloß nicht, ich schaffe das nicht, sonst kommen Sie mir demnächst noch mit einem Rollator an!“

Allerdings war sie tatsächlich zu schwach, allein aus dem Sessel aufzustehen.

Da trat Wyatt neben den Sessel. „Es ist schon eine Weile her, dass ich einer Dame den Arm bieten durfte. Würden Sie mir den Gefallen tun?“, bat er und hielt ihr den Ellenbogen hin.

Miss Sela nahm das Angebot an und schaffte es mit seiner Hilfe, aufzustehen.

„Dieser Tage bitten mich nicht oft junge Männer um meine Begleitung“, sagte sie mit einem koketten Lächeln und fügte dann zu Neily gewandt hinzu: „Reg dich nicht auf, ich geb ihn dir wieder, wenn ich mit ihm fertig bin.“

Wyatt zwinkerte ihr über Miss Selas Kopf hinweg zu, und Neily lachte leise, als sie die beiden nach draußen begleitete. Je mehr Facetten sie von Wyatt sah, desto mehr mochte sie ihn.

Nachdem sie Miss Sela wieder ins Krankenhaus gebracht hatten, lud Wyatt Neily zum Essen in der neuen Pizzeria ein. Immerhin würden sie dort unter Leuten sein, was sie vielleicht davon ablenkte, welch unglaublichen Effekt dieser Mann auf sie hatte. Trotzdem wollte Neily gern mit ihm besprechen, was sie gerade von Miss Sela erfahren hatten. Also nahm sie seine Einladung an und stellte ihren Wagen neben seinem auf dem Parkplatz des Amtsgerichts ab, von wo aus sie das kurze Stück zur Pizzeria zu Fuß gingen.

Leider waren alle Tische besetzt – bis auf einen, der in einer ruhigen Ecke stand und so klein war, dass sich ihre Knie ständig berührten, nachdem sie sich hingesetzt hatten. Bei jeder Berührung wanderte ein warmes Kribbeln Neilys Bein hinauf, das sie so gut es ging ignorierte.

„Da hat uns Miss Sela wohl eine stundenlange Suche in alten Akten erspart“, sagte sie, nachdem sie bestellt und ihre Getränke bekommen hatten. „Jetzt wissen wir, dass ihrem Vater – und später ihr – das Land wirklich gehört hat.“

Wyatt zuckte die Achseln. „So ist es immer mit ihr – man weiß einfach nie, wann sie fantasiert und wann sie von echten Erinnerungen spricht.“

„Aber wenn sie mit dem, was ihr genommen wurde, das Land meint, kann sie es nicht zurückbekommen“, wandte Neily ein.

Wenn sie das Land meint. Kam es Ihnen so vor?“

„Ich weiß nicht. Von dem Land hat sie eher leidenschaftslos gesprochen, ganz nebenbei. Und sie hat nie direkt gesagt, dass sie das Land zurückhaben will. Aber …“

„… bei ihr weiß man nie so genau“, beendete Wyatt den Satz für sie. „Jedenfalls denke ich, dass das Geld, das sie in den Eisenwarenladen meines Großvaters investiert hat, aus dem Landverkauf stammt.“

„Ja, das klingt logisch. Es sei denn, sie hätte Bargeld von ihren Eltern geerbt.“

„Nein, davon hat sie nie etwas gesagt. Seltsam, wir haben uns auch nie gefragt, woher sie das Geld hatte.“

„Wissen Sie, welchen Beruf Ihr Urgroßvater – Theresas Vater – hatte?“

„Er war ein einfacher Schreiner – das hat jedenfalls Gram immer erzählt. Er muss seine Ersparnisse in das Land investiert haben. Vielleicht hat er ein Grundstück nach dem anderen gekauft oder bekam ein besonders günstiges Angebot. Jedenfalls hatte ich nie den Eindruck, dass er reich war. Ich war auch überrascht, dass er überhaupt ein so großes Haus besaß. Heute habe ich Gram danach gefragt, aber sie meinte nur, er hätte es mit eigenen Händen gebaut, Stein für Stein.“

Wyatt nahm einen Schluck von seinem Eistee. „Und wer ist jetzt dieser Hector Tyson? So, wie Miss Sela von ihm gesprochen hat, kennen Sie ihn wohl auch. Wohnt er noch hier?“

„Ja, und ich kenne ihn tatsächlich, wie jeder hier. Er ist so was wie Northbridges Dagobert Duck. Allerdings war es sehr interessant zu erfahren, dass er durch Theresas Land zu seinem Reichtum gekommen ist. Das wusste ich bisher nicht.“

„Woher, dachten Sie, hat er sein Geld?“

„Ihm gehört das Sägewerk, von dem wir schon gesprochen haben. Bis auf die paar Schrauben, die der Gemischtwarenladen verkauft, gibt es Baumaterial und Heimwerkerbedarf nur dort. Dementsprechend hoch sind die Preise, aber jeder zahlt sie, denn …“

„… er ist vor Ort. Das ist immer noch bequemer, als jedes Mal nach Billings zu fahren oder die Sachen online zu kaufen und liefern zu lassen“, sagte Wyatt.

„Genau. Ich dachte immer, er wäre durch seine Wucherpreise reich geworden.“

„Ist er genauso alt wie Miss Sela?“

„Nicht ganz. Er ist vierundachtzig.“

„Also neun Jahre älter als Gram. Meinen Sie, er könnte auf illegale Weise zu ihrem Land gekommen sein?“

Neily zuckte die Achseln. „Schwer vorstellbar, denn dann hätte er die Grundstücke nicht legal weiterverkaufen können. Northbridge ist zwar eine Kleinstadt, aber solche Sachen wurden auch hier streng nach Gesetz geregelt. Wir würden sicherlich lückenlose Grundbucheinträge finden, mit Hector als rechtmäßigem Vorbesitzer, wenn wir die Grundstücke nachschlagen.“

Wyatt hob die Augenbrauen. „Und wenn es legal war, aber trotzdem hinterhältig? Vielleicht hat er sie auf unlautere Weise zu dem Verkauf gezwungen. Als ich gestern mit Gram darüber gesprochen habe, warum sie hierher zurückwollte, hat sie von einem ‚er‘ gesprochen. Aber sie wollte mir nicht sagen, wer dieser ‚er‘ ist. Sie meinte, er hätte ihr gesagt, es würde alles gut werden und sie würde über etwas hinwegkommen.“

„Aber wenn sie Hector meinte, was könnte das sein?“

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ging es ja gar nicht um Hector. Es könnte auch jemand völlig anderes sein. Mit etwas Glück bringen wir sie mit der Zeit dazu, uns mehr zu erzählen.“

Da war es wieder, dieses uns und wir, das Neily immer einen kleinen wohligen Schauer über den Rücken jagte.

Nachdem der Salat serviert worden war, fragte sie: „Was haben Sie vorhin Miss Sela erzählt? Sie haben in der Bibliothek in alten Zeitungen gestöbert?“

„Ja, ich dachte mir, ich schaue mal, ob es irgendwelche Meldungen über Gram oder ihre Eltern gab. Der Landverkauf hatte wohl keinen Nachrichtenwert, denn über den habe ich nichts gefunden. Aber immerhin Grams Geburtsanzeige und den Artikel über den Tod meiner Urgroßeltern.“

„Wie alt war Theresa da?“

„Sechzehn.“

„Und sofort danach hat sie Northbridge verlassen?“

„Nein, das ist es ja. Sie hat es zwar immer so erzählt – ihre Eltern kamen ums Leben und sie ist zu einer Tante in Missoula gezogen. Bei der Busfahrt dahin lernte sie Großvater kennen, und es war Liebe auf den ersten Blick. Sie haben drei Monate später geheiratet – an ihrem achtzehnten Geburtstag. Bis jetzt war das alles, was wir je darüber erfahren haben.“

„Aber offenbar hat sie Northbridge erst eine ganze Weile nach dem Tod ihrer Eltern verlassen. Dann hätte sie mit sechzehn oder siebzehn ein ganzes Jahr allein hier gelebt?“

„Sieht so aus. Das hat sie nie erwähnt, aber laut dem Zeitungsbericht muss es so gewesen sein. Ihre Eltern starben Mitte Dezember, und sie hat im Februar Geburtstag. Also ist sie in dem Jahr nach ihrem Tod siebzehn geworden. Northbridge hat sie erst drei Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag verlassen.“

„Und Sie haben keine Ahnung, was in diesen elf Monaten passiert ist, in denen sie hier allein war?“

„Nicht die geringste. Aber das könnte ein wichtiger Hinweis sein, oder? Zumal sie in dieser Zeit diesem Hector Tyson das Land verkauft hat.“

Eine Kellnerin brachte die Pizza, und während Wyatt seine zerteilte, murmelte er: „Da muss ich wohl mal nachforschen.“

Erstaunlicherweise enttäuschte es Neily etwas, dass er diesmal nur von sich sprach.

Nach den ersten Bissen fragte er: „Und wie kommt es, dass Sie hauptberuflich mit netten alten Damen zu tun haben?“

„Ich bin nicht auf alte Damen spezialisiert“, gab Neily amüsiert zurück. „Das ist nur ein Teil meiner Aufgaben. Und sogar nur ein kleiner, auch wenn es Ihnen mittlerweile wahrscheinlich so vorkommt, als würde ich nichts anderes tun. Sie haben mich nur noch nicht bei anderen Dingen in Aktion erlebt.“

So kokett hatte das nicht klingen sollen. Ihm schien es jedoch zu gefallen, denn er lächelte charmant und fragte: „Und bei welchen anderen Dingen kann man Sie in Aktion erleben?“

Nun flirte nicht auch noch zurück, dachte sie panisch. Da habe ich ja überhaupt keine Chance.

Sie bemühte sich um einen ernsteren Tonfall. „Ich bin die einzige lizenzierte Kraft für Sozialarbeit und Familienberatung in Northbridge.“

„Und was gehört alles dazu?“

Seine ganze Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet, was ihr besonders guttat, da sonst sie es immer war, die anderen zuhörte.

„Ich werde gerufen, wenn es Anzeichen von Misshandlung oder Vernachlässigung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen gibt. Ich helfe Leuten dabei, Sozialleistungen zu beantragen. Ich habe Familien beraten und begleitet, die sich überschuldet oder ihr Heim bei einem Brand verloren hatten. Ich helfe bei der Trauerarbeit und biete Coaching an – für Gruppen, Familien, Ehepaare und Einzelpersonen. Nicht zu vergessen die Schulberatung – ich bin für die Schulfähigkeitsprüfung zuständig, leite Kurse im Kindergarten …“

„Im Kindergarten? Was lernen die Kleinen denn da? Ich dachte immer, die spielen automatisch und mehr müssen sie nicht tun?“

„Oh doch, da gibt es einiges zu lernen, vor allem, wenn die Eltern wenig Zeit haben. Wir sprechen übers Teilen, wie man Kompromisse schließt und wie man Gefühle von anderen nachvollzieht. Und wir machen Spiele wie ‚essen oder nicht essen‘ …“

Wyatt lachte. „Ehrlich jetzt? Wie geht das denn?“

„Ich sage: Pizza – essen oder nicht essen? Und wenn Sie ein Kindergartenkind sind, sagen Sie …“

„Pizza kann man essen?“

„Sehr gut“, lobte Neily so enthusiastisch, wie sie es bei ihren Kindern getan hätte. „Dann sage ich: Radiergummi – essen oder nicht essen?“

Wieder lachte Wyatt laut. „Nicht essen“, sagte er, als gebe er das nur widerstrebend zu.

„Sehr schön. Wenn Sie also fünf sind, haben Sie gerade gelernt, nicht in Ihren Radiergummi zu beißen. Oder in andere Dinge, die ich auf der Liste habe, hier aber nicht ausdrücklich erwähnen möchte.“

„Danke dafür“, sagte er lachend.

Sein Lachen war ansteckend. Neily fühlte sich unglaublich wohl in seiner Gegenwart.

„Also haben Sie nicht nur mir netten alten Damen zu tun“, fasste er zusammen. „Aber Sie haben wirklich eine wunderbare Art, mit ihnen umzugehen, soweit ich das gesehen habe.“

Sein Lob tat ihr gut, und sie genoss den Abend viel zu sehr. Zum Glück waren sie mittlerweile mit dem Essen fertig.

„Ich sollte mich jetzt wirklich auf den Heimweg machen“, sagte sie ziemlich unvermittelt. „Ich bin seit heute früh um sechs auf den Beinen.“

„Das ist wirklich ein zu langer Arbeitstag. Allerdings war es ein sehr schöner Abend für mich. Ich hoffe, für Sie hatte er nicht zu sehr mit der Arbeit zu tun.“

Nein, ganz und gar nicht – genau darin lag ja ihr Problem …

„Ich glaube, ich habe schon eine ganze Weile Feierabend, aber ich sollte trotzdem langsam nach Hause“, sagte sie.

Trotz ihrer Proteste bezahlte Wyatt für sie beide, und sie gingen gemeinsam zum Parkplatz zurück.

„Haben Sie inzwischen alle Helfer vom Sonntag für morgen Abend eingeladen?“, fragte er, als sie bei den Autos angekommen waren.

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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Joan Elliott Pickart
Joan Elliott Pickart ist eine berühmte amerikanische Schriftstellerin, die seit 1984 über 100 Liebesromane veröffentlicht hat. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Robin Elliott. Joan Elliott Pickart ist Mitbegründerin der Autorenvereinigung Prescott, einem Mitglied der Romance Writers of America (RWA).
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