Bianca Exklusiv Band 338

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SEHNSUCHT, DIE NIE VERGEHT von MARIE FERRARELLA
Obwohl Stephanie zu gerne den Beteuerungen Sebastians, dass er sie nie vergessen konnte, glauben möchte, wagt sie nicht, an ein neues Glück mit ihm zu denken. Noch immer weiß sie nicht, warum er sie verließ. Warum sollte es diesmal anders sein?

ALLES, WAS ICH WILL von LORALEE LILLIBRIDGE
Es ist Liebe auf den ersten Blick! Der stolze, feurige Rodeoreiter Bo Ramsey und die junge Abby Houston scheinen füreinander geschaffen. Doch dann begeht er einen verhängnisvollen Fehler und muss die Stadt verlassen – mit einer anderen!

ZÄRTLICHE TRÄUME ÜBER DEN WOLKEN von MARY J. FORBES
Sie soll sich in Rogan Matteo verguckt haben? Empört widerspricht Lee ihrer Schwester Kat. Dabei wären die schöne Pilotin und der neue, smarte Anwalt auf Firewood Island wohl längst ein Paar – stünde ihre Vergangenheit nicht zwischen ihnen …


  • Erscheinungstag 16.07.2021
  • Bandnummer 338
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501163
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Loralee Lillibridge, Mary J. Forbes

BIANCA EXKLUSIV BAND 338

1. KAPITEL

Eine Woche war mittlerweile vergangen, und doch hatte sie immer noch das Gefühl, dass ihre ganze Welt eingestürzt war.

Es fiel ihr äußerst schwer, sich von dem letzten Schicksalsschlag zu erholen. Obwohl Stephanie Yarbourough in Luxus aufgewachsen war und es ihr zumindest finanziell nie an etwas gemangelt hatte, waren ihr Rückschläge, die ihr das Leben plötzlich ohne Vorwarnung bereitete, nicht fremd. Bisher war es ihr allerdings immer gelungen, sich von solchen Schlägen zu erholen.

Zuerst war Joan, ihre Mutter, einfach verschwunden und hatte sich nie wieder gemeldet. Nicht einmal durch eine Karte zu Weihnachten hatte sie zu erkennen gegeben, dass sie sich daran erinnerte, ihren Mann und ihre Tochter verlassen zu haben.

Es hatte viel Zeit gebraucht, aber Stephanie war darüber hinweggekommen, dass sie mit acht Jahren vergessen worden war.

Und dann war Sebastian aus ihrem Leben verschwunden, in dem Sommer vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, aber auch das hatte sie verkraftet. Oder nicht?

Nun, vielleicht nicht völlig, aber zumindest so weit, dass sie wieder ein normales Leben führen konnte. Zorn hatte ihr geholfen. Zorn hatte den Schmerz überlagert, den ohnmächtigen Kummer, dass er sie ohne ein Wort der Erklärung zurückgewiesen hatte.

Doch dieser letzte Schicksalsschlag hatte sie schwer getroffen. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte, sich davon zu erholen.

Wieder spürte sie die Tritte. Sie kamen in rascher Folge, wie, um ihr in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht allein war.

Ihr blieb keine andere Wahl, als stark zu sein, sich zusammenzureißen. Es ging nicht nur um sie selbst, sondern um die Babys, die in ihr heranwuchsen. Sie waren am meisten betroffen.

Tränen brannten in ihren Augen, als sie eine Hand schützend auf ihren gewölbten Bauch legte. Die Babys von Holly und Brett.

„Geht es Ihnen nicht gut, Mrs. Yarbourough?“

Sie blinzelte und blickte den alten, weißhaarigen Apotheker an, der sie mit einem Anflug von Besorgnis musterte. „Wie bitte?“

Er betrachtete sie mit wachsender Sorge. „Ich habe gefragt, ob es Ihnen nicht gut geht. Sie haben plötzlich aufgehört, das Rezept zu unterschreiben, und Sie sehen aus, als wären Sie meilenweit entfernt.“

Stephanie lächelte beschwichtigend. Fassaden gehörten seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben, und sie hatte die Lektion von ihrem Vater gut gelernt: Zeig nie, was du denkst. „Das war ich auch.“ Schnell unterschrieb sie das Rezept und reichte es ihm zurück.

„Hoffentlich an einem klimatisierten Ort.“ Silas Abernathy schmunzelte. „Dieser heiße Wind hier ist wirklich schwer zu ertragen.“

„Ein bisschen Luft ist besser als keine“, murmelte Stephanie philosophisch, während sie das Wechselgeld einsteckte. Ein nettes, banales Thema, dachte sie.

Doch im nächsten Moment stieg eine Woge der Bitterkeit in ihr auf. Die Hitzewelle hatte Holly und Brett veranlasst, aus dem Stegreif einen Kurzurlaub anzutreten. Stephanie hatte mitfahren sollen, war aber wegen ihres Zustandes zu Hause geblieben. Hätte sie es nicht getan …

„Eine gute Einstellung.“ Mr. Abernathy steckte das Medikament in eine Tüte. „Ich wünschte, all meine Kunden würden so denken. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele sich über die Hitze im Geschäft beklagen. Als ob dieses Energiesparprogramm meine Idee wäre!“ Er schüttelte den Kopf. „Und dabei sind die nicht mal in Ihrem Zustand.“ Sein Blick ruhte auf ihrem Bauch. „Es kann jeden Tag so weit sein, oder?“

Da er so alt war, dass er ihr Großvater hätte sein können, und ebenso freundlich, nahm sie ihm die persönliche Frage nicht übel, obwohl sie in letzter Zeit an fast allem Anstoß nahm. „Ja, jeden Tag“, bestätigte sie.

Und damit viel zu früh, dachte sie, während sie die Tüte mit den Vitaminen einsteckte, die ihre Gynäkologin ihr zusätzlich verschrieben hatte, weil sie immer noch anämisch war. Die Schwangerschaft raubte ihr viel Kraft.

Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, diese Babys zu behalten, die nicht ihre waren, die plötzlich zu ihrer alleinigen Verantwortung geworden waren. Sie wusste nicht, ob sie ihnen so viel Liebe schenken konnte, wie sie verdienten.

„Auf Wiedersehen“, murmelte Stephanie und wandte sich vom Ladentisch ab.

Die Tür glitt auf, als sie sich dem Ausgang näherte. Ein Schwall drückend heißer Luft strömte ihr entgegen. Sie seufzte, als sie hinaus in die sengende Sonne von Kalifornien trat.

Es hatte alles so leicht gewirkt, viel einfacher als die meisten Vereinbarungen mit Leihmüttern. Ihr Bruder Matthew war Anwalt und hatte auf der Ausfertigung von Dokumenten bestanden, obwohl sie selbst es nicht für nötig erachtet hatte. Sie hatte es aus Zuneigung zu Holly getan, die ihr näher gestanden hatte als eine Schwester, wesentlich näher als ihr eigener Vater.

Sie selbst war sogar auf die Idee gekommen. Trotz ihres sehnlichen Kinderwunsches hatten Holly und Brett sie verschonen wollen und zunächst heftig protestiert. Doch Stephanie war es gelungen, sie zu überzeugen, dass sie ihnen herzlich gern ihren Traum von einem eigenen Kind erfüllte.

Doch aus dem einen Kind waren zwei geworden, wie sich bald herausgestellt hatte. Die Prozedur hatte nur zwei Anläufe erfordert. Stephanie war die Fruchtbarkeit in Person. Aber das wusste sie schon lange. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie und Sebastian hatten damals nur eine einzige Nacht miteinander verbracht, und doch sie war von ihm schwanger geworden.

Er hatte nie von dem Kind erfahren, das sie kurz nach ihrer Trennung verloren hatte. Anscheinend war es ihr nicht vergönnt, irgendetwas von ihm zu behalten.

Außer den Erinnerungen, die sie nicht abschütteln konnte, so sehr sie sich auch bemühte. Doch er war kein Teil ihres Lebens mehr, schon seit sieben Jahren nicht.

Die elternlosen Babys hingegen gehörten zu ihr. Verdammt, warum musste das Leben so kompliziert sein? Warum konnte nicht zur Abwechslung einmal alles glattgehen? War das zu viel verlangt?

Sie hob sich die Haare im Nacken hoch, als sie aus dem Schatten der Markise vor der Apotheke trat und sich auf den Parkplatz wagte. Der Asphalt glühte förmlich.

Ebenso wie ich, sinnierte Stephanie. Sie hatte Hitze nie gut vertragen, und seit der Schwangerschaft war es doppelt so schlimm.

Seufzend blickte sie sich um und versuchte, sich zu erinnern, wo sie ihren Wagen mit der rettenden Klimaanlage abgestellt hatte.

Stephanie Yarbourough.

Ihr Anblick traf ihn wie ein Hieb.

Sie war nicht die letzte Person, die er zu sehen erwartet hatte. Schließlich war Bedford ihr Heimatort, ebenso wie seiner. Aber er hatte nicht erwartet, sie so zu sehen. Ihr Bauch wölbte sich deutlich unter dem blau-weiß geblümten Kleid hervor.

Stephanie trug das Kind eines anderen Mannes.

Warum auch nicht?, fragte er sich mürrisch. Sie hatte das Recht, ihr eigenes Leben zu führen. Gerade deshalb hatte er Bedford vor sieben Jahren verlassen. Damit sie das Leben führen konnte, das ihr bestimmt war, mit jemandem ihrer eigenen Klasse. Mit jemandem, der wusste, welche Gabel für welchen Gang benutzt wurde, welche Worte in welcher Situation angemessen waren. Mit jemandem, dessen sie sich nie schämen musste, der ihr bieten konnte, was er ihr nicht bieten konnte.

Deshalb war er fortgegangen. Doch in all der Zeit, die vergangen war, hatte er nie die Möglichkeit erwogen, dass sie sich einem anderen Mann hingeben könnte.

Du wolltest sie ganz für dich allein, dachte er spöttisch, trotz deiner so genannten „edlen Absichten“. Doch das beruhte nicht auf Eitelkeit oder Stolz. Vielmehr hatte er sie geliebt und sich erhofft, dass sie ihn ebenso liebte. Das bewies, wie naiv der wilde, aus ärmlichen Verhältnissen stammende Junge gewesen war.

Sebastian hielt abrupt an und beugte sich über das Lenkrad vor, um einen besseren Blick auf sie zu erhaschen. In seiner Erinnerung war Stephanie ewig zwanzig, ewig unschuldig geblieben.

Er erwog, den Anblick einfach zu verdrängen und weiterzufahren. Schließlich war er nicht nach Bedford zurückgekehrt, um dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Er war zurückgekommen, weil er gebraucht wurde.

Fahr weiter, ermahnte er sich, sie hat dich nicht gesehen.

Er hörte jedoch nicht auf die innere Stimme. Stattdessen schaltete er den Motor ab und stieg aus. „Stevi?“

Stephanie erstarrte, als sie die Stimme über den Lärm der vorüberfahrenden Autos und dem Krach auf dem Parkplatz hörte. Trotz der sengenden Hitze zuckten eisige Schauer wie Blitze über ihren Rücken. Sie redete sich ein, dass sie sich seine Stimme nur eingebildet hatte, wie Hunderte Male zuvor, seit er gegangen war.

Nur eine Person auf der ganzen Welt nannte sie Stevi. Und diese Person war vor sieben Jahren aus ihrem Leben verschwunden.

Plötzlich fühlten sich ihre Gliedmaßen schwer wie Blei an. Steif drehte sie sich um – um sich zu beweisen, dass sie sich die Stimme nur eingebildet hatte.

Ihre Blicke begegneten sich. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und schlug dann so schnell, dass ihr schwindelte.

Als Verteidigungsmechanismus stieg Zorn auf, abrupt und heftig. Das Leben war unfair. Was suchte Sebastian Caine hier? Und außerdem hätte er nicht so verdammt gut aussehen dürfen.

Sein Gesicht war schlanker und gebräunter, als sie es erinnerte. Die Miene des wilden, bösen Jungen – wie ihr Vater es stets genannt hatte – schien inzwischen für immer eingemeißelt zu sein. Dadurch sah er noch attraktiver aus als damals, noch sinnlicher.

Stephanie stand wie angewurzelt da. Ihr Wagen, ihr Zustand, alles war vergessen außer dem Mann, der plötzlich ohne Vorwarnung erneut in ihrem Leben aufgetaucht war. Genau, wie er verschwunden war.

Wäre das Leben fair, hätte es ihn dicker, hässlich, kahlköpfig oder grauhaarig werden lassen. Doch sein lockiges Haar war noch immer kastanienbraun und dicht.

Als er zu ihr trat, wirkte das Spiel seiner Muskeln so geschmeidig wie bei einem Jaguar, der sich an seine Beute heranpirscht.

Außer, dass es nichts zu pirschen gab. Es sei denn, Jaguare pirschen sich an hochschwangere Frauen heran, verspottete sie sich selbst. Sie hatte das Gefühl, in den letzten Sekunden hundert Pfund zugenommen zu haben.

Doch was machte das schon? Er hatte sie nicht gewollt, als sie gertenschlank wie ein Model und bereit gewesen war, für ihn alles aufzugeben. Sie hatte ihm deutlich gesagt, dass sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt wäre, dass für sie nur wichtig war, bei ihm zu sein.

Doch sie hatte ihm offensichtlich nicht genug bedeutet.

Stephanie suchte fieberhaft nach geeigneten Worten, obwohl sie gleichzeitig nach ihrem Wagen Ausschau hielt, um eiligst zu entfliehen. Warum vergaß sie ständig, wo sie geparkt hatte? Und warum ausgerechnet jetzt?

Was sollte sie als Erstes sagen, wenn sie nach sieben Jahren den Mann wieder sah, der ihr das Herz gebrochen und ihre Träume vernichtet hatte? Sollte sie toben oder ihn ignorieren?

Vielleicht lag es daran, dass eine anständige Lady nicht fallen gelassen wurde wie eine heiße Kartoffel. Eine anständige Lady schüttete nicht ihr Herz aus und verriet einem Mann nicht, dass sie ihn liebte. Doch zwischen Stephanie und Sebastian hatte es nie Geheimnisse gegeben. Außer einem einzigen: dem Grund, aus dem er sie verlassen hatte.

Dort stand ihr Auto, im nächsten Gang. Da sie es nicht erreichen konnte, ohne an ihm vorbeizugehen, bot sie all das Training auf, dem ihr Vater sie jahrelang unterzogen hatte – damit er sich ihrer nie schämen musste. Gekonnt legte sie ein bedeutungsloses, kühles Lächeln auf. „Hallo, Sebastian. Wie geht es dir?“

Die Kälte in ihrer Stimme traf ihn wie ein Eisberg. Er hätte weiterfahren sollen. Aber er musste sie sich einfach aus der Nähe ansehen, obwohl sie nun zu einem anderen Mann gehörte.

Ihm blieb keine andere Wahl. Er war nicht stark genug und hatte seit seiner Ankunft am Vortag nicht die Zeit gehabt, sein Schutzschild gegen die einzige Frau zu verstärken, die er je geliebt hatte. Er wollte ihr nur noch ein letztes Mal in die Augen schauen.

„Es geht mir gut.“ Er war nie redselig gewesen und wusste, dass seine Antwort steif klang. Spontan nahm er ihre Hand in dem Drang, sie zu berühren. „Du siehst gut aus.“ Sein Blick glitt zu ihrem dicken Bauch, und er zwang sich zu lächeln. „Ich glaube, ‚blühend‘ ist der richtige Ausdruck.“

„Das liegt an der Hitze“, entgegnete sie beiläufig. Wie ein Soldat straffte sie die Schultern. „Bist du zu Besuch hier?“

Das vage Lächeln auf seinen Lippen wurde rätselhaft. „Es ist etwas komplizierter.“ Er spürte die alten Sehnsüchte in sich aufsteigen, als wären sie nie verblasst. Doch er hatte kein Recht, so für sie zu empfinden. Über ihren Kopf hinweg erblickte er ein kleines Straßencafé mit einem halben Dutzend Tischen auf dem Bürgersteig. Neu, dachte er. Alles war neu, außer seinen Gefühlen für Stephanie.

Lass es gut sein und verabschiede dich, redete er sich selbst zu. „Vielleicht sollten wir uns in den Schatten setzen und eine Tasse Kaffee trinken – im Gedenken an alte Zeiten und …“

Es gibt kein Gedenken an alte Zeiten, wollte sie kontern. Stattdessen blickte sie ihn kalt an und entzog ihm abrupt die Hand. „Ich glaube nicht, dass es klug wäre.“

Nun, was hatte er anderes erwartet? Trotzdem drohte Enttäuschung ihm die mühsam aufgebaute Fassung zu rauben. „Ich verstehe. Eifersüchtiger Ehemann, wie?“

Mit ihren tiefblauen Augen, in denen er sich so gern verloren hatte, warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du hast vor langer Zeit das Recht verloren, solche Fragen zu stellen, Sebastian.“

Damit wandte sie sich ab in dem Wissen, dass sie andernfalls etwas Dummes getan hätte. Zum Beispiel, sich in seine Arme zu werfen. Oder zu fragen, warum er ihr derart wehgetan hatte.

Aber in den sieben Jahren hatte er es für nötig gehalten, ihr zu schreiben, sie anzurufen, irgendwie Kontakt zu ihr aufzunehmen und ihr sein Verhalten zu erklären. Sie beabsichtigte nicht, sich jetzt herabzulassen und ihn danach zu fragen. Außerdem kannte sie den Grund. Ihr Vater hatte mit Enterbung gedroht, und ohne ihr Geld lag Sebastian nicht genug an ihr.

Mit hoch erhobenem Kopf ging Stephanie so würdevoll wie möglich zu ihrem Wagen. Es hatte keinen Sinn, stehen zu bleiben und mit ihm zu reden. Es hätte nur dazu geführt, dass er ihre Gefühle durchschaute, die sie dummerweise immer noch für ihn hegte, sosehr sie es auch zu verbergen suchte.

Benommen blickte er ihr nach, sah sie in das Auto steigen und hörte, wie sie den Motor anließ. Wie im Traum registrierte er Marke, Farbe und Kennzeichen.

Es hat alles keinen Sinn, sagte er sich. Er war rein zufällig durch diese Einkaufsstraße gefahren. Auf dem Beifahrersitz des alten Wagens, mit dem er den ganzen Weg aus Seattle gekommen war, lagen einige Videofilme, die seine Mutter sich gewünscht hatte. Wenn er nicht weiterfuhr, würden die durch Hitze noch ruiniert werden.

Verdammt, aber das Wiedersehen hatte ihn aufgewühlt. Derartige Aufregungen konnte er nicht gebrauchen. Sein Leben war hektisch genug verlaufen. Nun musste er viele Dinge regeln. Aber er würde einen Weg finden, die Begegnung zu verkraften. Es brauchte nur etwas Zeit.

Als er die Fahrertür öffnete, hörte er hinter sich das Quietschen von Reifen. Instinktiv wirbelte er herum. Ein schwarzer Lieferwagen versuchte, Stephanie auszuweichen, die gerade aus der Parklücke fuhr. Das Manöver verlief nicht erfolgreich. Die Motorhaube prallte gegen ihren linken vorderen Kotflügel und brachte sie ins Schleudern.

Sie ist verletzt, schoss es ihm durch den Kopf.

Automatisch griff er nach seinem Arztkoffer und rannte über den Parkplatz, noch bevor ihm der Unfall vollends bewusst wurde.

2. KAPITEL

Der Krach des Aufpralls hatte Schaulustige angezogen, die einen großen Kreis um die beiden verbeulten, ineinander verkeilten Fahrzeuge bildeten.

Erschüttert, aber offensichtlich unverletzt stieg der etwa vierzigjährige Fahrer des Lieferwagens aus. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er sah, dass sich auf dem Fahrersitz des anderen, viel kleineren Autos nichts rührte. „Ich habe sie nicht gesehen!“, rief er. „Ich schwöre, dass ich sie nicht sehen konnte!“

Unter den Umstehenden erhob sich eine Debatte über die Schuldfrage, als Sebastian sich einen Weg durch die Menge bahnte und dabei seinen Arztkoffer als Schild benutzte.

„Lassen Sie mich durch“, verlangte er. „Ich bin Arzt.“ Mit größter Willenskraft zwang er sich, rein professionell auf die Situation zu reagieren. Er durfte seine Angst nicht übermächtig werden lassen, damit seine Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigt wurde.

Ihm gefiel nicht, was er sah. Stephanies Augen waren geschlossen, als er die Fahrertür aufriss. Aus einer Platzwunde an der Stirn strömte Blut und verklebte ihr blondes Haar. Der Gedanke an innere Verletzungen ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Stephanie, kannst du mich hören?“, rief er.

Die Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne, zog sie aus einem tiefen, finsteren Abgrund herauf. Ihre Lider fühlten sich schwer an, als sie die Augen zu öffnen versuchte. Es kostete sie große Mühe, ihm zu antworten. Ein stechender Schmerz raubte ihr den Atem.

„Du schreist doch“, brachte sie rau hervor. „Warum sollte ich dich nicht hören können?“

Erleichterung überwältigte ihn. Zumindest war sie bei Bewusstsein. Er hockte sich neben sie, prüfte ihre Pupillen und sah keine nennenswerte Erweiterung. „Weißt du, welcher Tag heute ist?“

Jemand schien mit einem Amboss auf ihren Kopf zu hämmern. Sie griff zu der schmerzenden Stelle und spürte etwas Klebriges an ihren Fingern.

„Der drittschlimmste Tag meines Lebens.“ Sie spürte, dass Sebastian ihr die Hand von der Stirn zog. „Oder vielleicht der zweitschlimmste“, räumte sie ein.

Er gestattete sich nicht, über ihre Bemerkung nachzudenken, und konzentrierte sich völlig auf seine Arbeit. Mit geschickten, sicheren Bewegungen untersuchte er die Wunde an ihrer Stirn, die glücklicherweise nur oberflächlich war, und prüfte dann ihre Gliedmaßen auf Knochenbrüche. Er fand keine.

Es kostete Stephanie Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Ihr schwindelte immer wieder. Nur undeutlich spürte sie seine forschenden Hände. „Ein verdammt schlechter Zeitpunkt, mich zu begrapschen, Sebastian“, murmelte sie matt. „Es gibt Zeugen.“

Flüchtig begegnete er ihrem Blick. Einen Moment lang fühlte er sich Jahre zurückversetzt in eine andere Zeit, als derartige Neckereien ihre Gefühle zueinander ausgedrückt hatten. „Ich prüfe nur, ob du dir etwas gebrochen hast“, versicherte er ihr. „Es scheint aber nicht der Fall zu sein.“

„Falsch, Sherlock“, murmelte sie. „Ich glaube, meine Fruchtblase ist geplatzt.“

„Bist du schon am Termin?“

„Eigentlich erst in zwei Wochen.“

Sie stützte sich auf das Lenkrad und versuchte, sich aus dem Auto zu wuchten. Sebastian ergriff ihre Arme und zog sie vom Sitz. Ihre Knie gaben nach, und sie wäre zu Boden gesunken, hätte er sie nicht aufgefangen.

Ihr Herz hämmerte, und sie nahm die Leute um sie herum nicht mehr wahr. Plötzlich fühlte sie sich zurückversetzt in eine Zeit ihres Lebens, in der sie nur ihn gehabt und sich an ihn um Hilfe gewandt hatte.

„Sebastian, ich glaube, sie kommen.“

„Sie?“

Stephanie nickte und bereute es sogleich, da ihr Kopf augenblicklich heftiger schmerzte. „Ich kriege Zwillinge.“

Er blickte über die Schulter und wandte sich an eine ältere Frau, die direkt hinter ihm stand. „Rufen Sie den Notruf an“, wies er sie an. „Wir brauchen einen Krankenwagen.“

„Wir brauchen viel mehr“, stöhnte Stephanie und klammerte sich an ihn. „Sie kommen wirklich.“

Sebastian wusste, dass Mütter bei der ersten Geburt dazu neigten, in Panik zu geraten. Zudem hatte der Unfall ihr einen Schrecken eingejagt und die Fassung geraubt. „Es wird noch dauern“, entgegnete er zuversichtlich. „Die Wehen können gerade erst eingesetzt haben.“

„Hast du eine Ahnung! Sie haben heute früh angefangen.“ Eigentlich hatte sie längst ihre Ärztin anrufen wollen – gleich nach dem Apothekenbesuch, den sie am Vortag vergessen hatte. In letzter Zeit entfielen ihr viele Dinge. Alles war durcheinandergeraten, seit sie von dem Autounfall erfahren hatte, der ihr die besten Freunde und den ungeborenen Kindern die Eltern genommen hatte.

Nun erübrigte sich der Anruf offensichtlich. Der Stärke und Abfolge der Wehen nach zu urteilen, kamen die Babys, lange bevor Dr. Pollack eintreffen konnte.

Ihr wurde bewusst, dass Sebastian sie etwas gefragt hatte. „Wie bitte?“

„Ich möchte wissen, in welchem Abstand sie kommen“, wiederholte er mit erhobener Stimme. „Die Wehen, meine ich.“

„Warum?“ Verwirrt blickte sie ihn an. „Willst du etwa Wasser aufsetzen?“, fragte sie spöttisch. Vor Schmerz und Zorn wollte sie einfach irgendjemanden angreifen, und Sebastian war der geeignetste Kandidat dafür.

„Ich bin Arzt“, entgegnete er ruhig, während er überlegte, ob er sie einfach selbst ins nächste Krankenhaus fahren sollte. „Gynäkologe.“

Die Neuigkeit verblüffte sie dermaßen, dass sie kurzfristig ihre Schmerzen vergaß. Ihr heimlicher Stolz war stärker, als der Zorn und die Trauer der vergangenen Jahre. Ihr Vater hatte stets gehöhnt, dass Sebastian sein Ziel niemals erreichen würde. „Du hast es also doch geschafft.“

Er blickte ihr in die Augen. Sie hatte immer an ihn geglaubt – sie und seine Mutter. „Ja.“

Unvermittelt sank sie in sich zusammen. Eine besonders starke Wehe raubte ihr die Kraft. Er hob sie auf die Arme und blickte sich um.

Die Frau, die er angewiesen hatte, den Rettungswagen zu rufen, hielt ihr Handy hoch. „Sie kommen.“

„Gut.“ Mit etwas Glück traf die Ambulanz rechtzeitig ein, aber allmählich bezweifelte er das.

Eine junge Rothaarige in engen Jeans und noch engerem Top winkte ihm zu. „Hier, Sie können sie in meinen Wagen bringen.“ Sie eilte zum Heck eines hellblauen Lieferwagens und öffnete die Doppeltür. „Die Ladefläche ist sogar mit dickem Teppichboden ausgelegt.“

Die Umstehenden machten bereitwillig Platz, als Sebastian zu dem Fahrzeug eilte. Gerade hatte er Stephanie auf die Ladefläche gelegt, als sie ihm stöhnend die Fingernägel in den Arm grub.

„Wenn du mir den Arm abreißt, kann ich ihn nicht einsetzen, um dir zu helfen“, warnte er und brachte dabei ein schiefes Lächeln zustande. Er hockte sich neben sie und blickte zur Tür. „Danke“, sagte er zu der Besitzerin des Kleinlasters. „Wollen Sie reinkommen?“

Ihr Gesicht wurde bleich unter dem kühnen Make-up. Sie wich zurück. „Lieber nicht. Ich warte auf die Sanitäter und sage ihnen, wo Sie sind.“ Sie schloss die Türen gegen die neugierigen Blicke der Leute, die sich nicht entfernt hatten.

Stephanie war allein mit Sebastian. Allein in einem fremden Lieferwagen. Allein mit einer schmerzlichen Vergangenheit und einer Gegenwart, die sie körperlich zu zerreißen drohte. „Wie kommst du auf die Idee, dass ich mir von dir helfen lasse?“, brachte sie keuchend hervor.

Starrsinnig wie eh und je, dachte er und versuchte, die Woge der Zuneigung zu ignorieren, die aus dem Nichts in ihm aufwallte. „Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast, Stevi.“ Er zog sie hoch und lehnte sie mit dem Rücken an die Seitenwand. „Es sei denn, du willst Abenteurerin spielen. Dann bringe ich dich zum nächsten Weizenfeld, und du kannst sehen, wie du allein klarkommst.“

Schweiß durchnässte ihre Haare und ihr Kleid. „Du hast einen verdammt schwarzen Humor.“

„Ich weiß. Aber momentan ist er eher verloren gegangen.“ Er blickte sich in dem Van um und entdeckte nichts, außer einem Korb mit Konserven. „Bist du sicher, dass es Zwillinge sind?“

„Ganz sicher.“

Er sah sie erblassen und die Hände zu Fäusten ballen. „Wieder eine Wehe?“

Sie nickte mühsam und biss die Zähne zusammen. Erschöpft bereitete sie sich auf die nächste Wehe vor. Ihr blieb nicht mal eine Minute.

„Schon wieder?“, fragte er ungläubig. Die schnellste Geburt, die er je erlebt hatte, hatte drei Stunden gedauert. Diese schien in weniger als drei Minuten abzulaufen.

Stephanies Lippen waren trocken und rissig. Niemand hatte sie gewarnt, dass es so furchtbar werden würde. Und niemand hatte ihr gesagt, dass sie in einem brütend heißen Fahrzeug auf einem Parkplatz gebären würde, versorgt von einem Mann, den sie eigentlich nicht mehr hätte lieben sollen. „Sehr scharfsinnig“, murmelte sie matt.

Vergeblich lauschte Sebastian der Sirene des Krankenwagens, der zu spät eintreffen würde. Er schlug den Saum ihres Kleides zurück. Eine rasche Untersuchung bestätigte seine Befürchtung. „Der Muttermund ist voll geöffnet.“

Nicht schreien, dachte sie verzweifelt. „Sag mir … etwas, was … ich … noch nicht … weiß.“

Er warf einen flüchtigen Blick in ihr Gesicht. Wie würde sie reagieren, wenn er sie beim Wort nähme? Wenn er ihr sagte, dass er sie trotz aller Bemühungen, sie zu vergessen, immer noch liebte und vermutlich bis zum Ende seiner Tage lieben würde?

Es hatte jedoch keinen Sinn, ihr das anzuvertrauen. Damit musste er allein fertig werden. „Ich konnte nie etwas vor dir verbergen“, murmelte er. Erneut blickte er sich um nach einer Decke oder irgendetwas, in das er die Neugeborenen einwickeln konnte. Es war nichts da.

„Sebastian!“, keuchte sie, umklammerte seinen Arm und bog den Rücken durch.

Er war schrecklich für ihn, sie so leiden zu sehen und nichts tun zu können. „Es wird alles gut, Stevi“, versicherte er und strich ihr zärtlich die feuchten Haare aus der Stirn. „Ich verspreche es.“

„Das will ich … schriftlich.“ Es war keine schöne Art, ein Baby zu bekommen – auf einem Parkplatz, ohne saubere Laken. Zwei Babys, korrigierte sie sich, und noch dazu verwaiste.

Aber ich werde immer für sie da sein, schwor sie sich im Stillen. Sie wollte ihnen all die Liebe schenken, die sie niemals jemand anderem hatte schenken dürfen.

„Tut mir leid, aber ich fürchte, damit kann ich momentan nicht dienen. Du wirst dich auf mein Wort verlassen müssen.“

Keuchend blickte sie ihn an. Sein Wort. Als ob sie seinem Wort glauben konnte! Er hatte sie schon mal belogen. „Wohl kaum“, flüsterte sie.

Mit ihren Fingernägeln kratzte sie am Blech der Seitenwände entlang, als sie vergeblich nach etwas suchte, an das sie sich klammern konnte. Fieberhaft überlegte er, was er ihr geben konnte. Seine Brieftasche fiel ihm ein. Er holte sie hervor und wickelte sie in sein Taschentuch. „Hier, beiß darauf.“

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie ihn für verrückt erklärt. Doch sie brauchte etwas, was ihr half, den Schmerz abzuleiten. Sie nahm die Brieftasche und vergrub die Zähne darin, gerade als eine weitere Wehe einsetzte. Die schlimmste bis jetzt.

Sebastian hörte sie verhalten wimmern. Es war typisch für sie, dass sie sich bemühte, sich zusammenzureißen. Manche Dinge änderten sich anscheinend nie. Sie hatte es stets verabscheut, Schwäche zu zeigen. „Bald, Stevi, bald ist es vorbei“, versprach er.

Sie nahm die Brieftasche aus dem Mund und keuchte. „Nicht bald. Ich will … es hinter mich bringen … jetzt sofort. Warum … dauert es so lange?“

Lange ist ein relativer Begriff, dachte er. Für ihn verlief diese Geburt geradezu in Rekordzeit. „Ich sehe einen Kopf. Ich zähle bis drei, und dann musst du pressen. Hast du verstanden?“ Er blickte auf und sah sie nicken. „Eins, zwei …“

Stephanie stemmte die Fersen gegen den Boden, bäumte sich auf und presste.

„Drei“, vollendete Sebastian dennoch. Er sah, dass ihr Gesicht rot anlief. „Prima, du kannst aufhören.“

Wie ein geplatzter Ballon sank sie in sich zusammen. Sie keuchte, nicht weil es zur Atemtechnik gehörte, sondern weil sie sich fühlte, als hätte sie in zehn Minuten einen zehn Meilen langen Marathonlauf absolviert. „Ich verstehe … allmählich, warum … man es … Wehen nennt.“

Er verspürte den Drang, sie in den Arm zu nehmen, sie zu trösten. Aber das war nicht seine Aufgabe. Diese Rolle gebührte ihrem Ehemann, der eigentlich bei ihr hätte sein sollen.

Der Anfall von Eifersucht kam unerwartet, war unangemessen und unprofessionell, aber er kam trotzdem, glühend und heftig. Er zwang sich, ganz als Arzt zu denken. „Du machst das großartig, Stevi. Jetzt musst du wieder pressen. Aber warte dieses Mal wirklich, bis ich ‚drei‘ sage.“

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Sie wurde von Schmerzen zerrissen, und er verlangte, dass sie wie ein Schoßhund Befehle befolgte. Als die nächste Wehe kam, presste sie, noch bevor er bis zwei gezählt hatte.

„Es kommt, Stevi.“

„Das … weiß ich … längst.“

„Jetzt press noch mal.“ Um sie von den Schmerzen abzulenken, fragte er: „Weißt du, was es wird?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es sollte eine Überraschung sein.“

„Pressen, Stevi“, verlangte er erneut.

„Das tu ich doch!“, konterte sie aufgebracht.

Im nächsten Augenblick glitt das Baby in seine Hände. Unzählige Gefühle stiegen in ihm auf, die nur sehr entfernt denen ähnelten, die er für gewöhnlich verspürte, wenn er das Wunder einer Geburt miterlebte. Er betrachtete den neuen Erdenbürger. „Soll es eine Überraschung bleiben?“, fragte er dann.

„Nein. Was … ist es?“

„Ein Mädchen.“

Er hörte Stephanie nach Atem ringen. Das zweite Baby war unterwegs. Er zog sich das Hemd aus und wickelte das Neugeborene hinein. Dann leerte er hastig den Korb mit den Konservendosen und legte es hinein. „Dann wollen mir mal sehen, ob sie einen Bruder oder eine Schwester kriegt.“

„Du hast gut reden“, murrte Stephanie. „Himmel, ich glaube … ich sterbe.“

„Nicht während meiner Schicht“, widersprach er.

Hoffentlich ist dieses Mal Verlass auf seine Worte, schoss es ihr durch den Kopf.

„Gut so, Stevi“, lobte Sebastian. „Nur noch ein bisschen mehr. Wir haben es fast geschafft.“

„Wir?“ Sie öffnete die Augen und blickte ihn finster an. „Willst du vielleicht an meiner Stelle weitermachen?“

„Lieber nicht. Du machst es viel zu gut. Aber jetzt hör auf, Zeit zu schinden, und streng dich an.“

Niemals hätte er zu einer seiner Patientinnen auf so forsche Weise gesprochen. Aber Stephanie leistete immer mehr, wenn sie angestachelt wurde. Also forderte er sie heraus.

Er sah einen Anflug von Zorn in ihren Augen. Wie sehr hatte er sie vermisst! Ihr melodisches Lachen ebenso wie ihre erhobene Stimme während ihrer Wortgefechte. Sie war in jeder Situation wundervoll.

Entschieden verdrängte er diese Gedanken, die er nicht länger hegen durfte. Sie war jetzt die Frau eines anderen Mannes, und die Vergangenheit musste Vergangenheit bleiben.

Zu spät, dachte er, als eine Sirene ertönte. Denn das zweite Baby war fast da. „Du kannst ruhig schreien“, versicherte er mit einem Blick in ihr vor Anstrengung gerötetes Gesicht. „Es hilft wirklich.“

Sie biss jedoch die Zähne zusammen und schüttelte entschieden den Kopf.

„Da ist es“, verkündete er kurz darauf aufgeregt und gleichzeitig erleichtert.

„Was …?“ Stephanie hatte nicht genug Kraft, um die Frage zu beenden.

„Ein Junge, Stevi. Von jedem eins. Du und dein Mann, ihr könnt euch sehr glücklich schätzen“, erwiderte er und verspürte dabei einen stechenden Schmerz.

Vor lauter Erschöpfung hörte Stephanie kaum, was er sagte. Sie wusste nur, dass sie eine Tochter und einen Sohn hatte. War sie ihnen gewachsen? War sie fähig, ihnen alle Bedürfnisse zu erfüllen, ihnen das perfekt Leben zu bieten, das sie bei Holly und Brett erwartet hätte?

Ich versuche es, schwor sie im Stillen den beiden Personen, die nicht mehr da waren, und den beiden, die erst seit wenigen Minuten auf der Welt weilten.

Sie befeuchtete sich die trockenen, rissigen Lippen. „Kann ich …?“

Erneut erahnte er ihre Frage. „Sofort. Ich muss nur die Nabelschnur durchtrennen, und dann kannst du sie beide halten, wenn dir danach ist. Sie sind aber nicht ganz sauber“, warnte er, obwohl er wusste, dass sie sich nicht daran störte.

Trotz der Bemühungen ihres Vaters und ihrer kultivierten Herkunft hatte sie sich nie geziert. Ihre ungekünstelte Art war eine der Eigenschaften, die ihn am meisten an ihr faszinierten.

Plötzlich wurden die Türen des Lieferwagens aufgerissen. Gleißender Sonnenschein fiel herein. Geistesgegenwärtig zog er ihren Kleidersaum hinab, bevor er sich umdrehte.

„Alles in Ordnung hier drinnen?“, fragte ein älterer Mann in dunkelblauer Uniform, während er einstieg.

„Sie kommen gerade rechtzeitig, um die Dame ins Krankenhaus zu bringen“, erwiderte Sebastian und trat widerstrebend zur Seite.

Es war Zeit für ihn, sich zurückzuziehen, auch wenn er eigentlich bleiben wollte. Aber gerade deswegen musste er gehen. Da die Sanitäter eingetroffen waren, gab es keinen Grund mehr zu bleiben. Außer seinem Verlangen. Doch dieses Verlangen hatte hier nichts zu suchen. Stephanie war Ehefrau und jetzt auch Mutter.

Das Baby in seinen Armen strampelte. Seine Brust war wie zugeschnürt. Es hätte sein Kind sein können. Stephanie hätte seine Frau sein können. Wenn er nicht so verdammt edel gehandelt hätte.

„Ja, so sieht es aus“, meinte der Sanitäter lakonisch. „Und Sie sehen so aus, als könnten Sie ein Hemd gebrauchen.“

Sebastian blickte an sich hinab. Er hatte ganz vergessen, dass er sich das Hemd ausgezogen und das erste Baby hineingewickelt hatte. „Stimmt, allerdings.“

„Wir haben bestimmt etwas zum Überziehen im Krankenwagen für Sie.“ Mit einem Blick auf den geöffneten Arztkoffer lobte er: „Sie haben großartige Arbeit geleistet, Doc. Wir haben nur fünfzehn Minuten gebraucht.“ Er grinste Stephanie an. „Sie sind offensichtlich eine schnelle Lady.“

Ein jüngerer Sanitäter stieg ein und deutete zu dem Baby auf Sebastians Arm. „Ich übernehme es.“

„Es sind zwei“, entgegnete Sebastian und deutete zu dem Korb hinüber. Als er es übergab, wurde ihm bewusst, dass er in seiner jungen Karriere fast hundert Babys zur Welt gebracht, aber für keines so viel empfunden hatte wie für dieses.

Aber er hatte auch keine der Mütter geliebt, so wie Stephanie. Früher mal, rief er sich ins Bewusstsein.

„Es sind zwei Babys, Murphy“, rief der zweite Sanitäter dem Fahrer des Krankenwagens zu. „Ruf im Bedford General an, und sag Bescheid.“

„Harris Memorial“, korrigierte Stephanie. Es erleichterte sie, dass sie inzwischen genug Luft hatte, um mehrere zusammenhängende Wörter zu sagen. „Meine Ärztin ist im Harris Memorial.“

„Es tut mir leid“, wandte der ältere Sanitäter ein, „aber wir müssen Sie in das nächstgelegene Krankenhaus bringen. Ich bin nicht befugt, willkürlich ein anderes auszusuchen.“

„Ich gehöre zur Belegschaft des Harris Memorial“, warf Sebastian ein. „Ich werde allen Papierkram erledigen, der nötig ist, damit sie dort aufgenommen wird.“

Es entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte sich zwar im Harris Memorial beworben, aber bisher noch keine Antwort erhalten. Doch er wollte Stephanie unnötige weitere Aufregungen ersparen.

„Na gut, Sie sind der Doc“, räumte der Sanitäter ein. „Das bedeutet vermutlich, dass Sie mit der Mutter im Krankenwagen mitfahren.“

Sebastian zögerte. Eigentlich hatte er beabsichtigt, wieder aus ihrem Leben zu verschwinden und mit den Videos für seine Mutter nach Hause zu fahren. Doch nach seiner Behauptung blieb ihm kaum eine Wahl.

„Ja, sicher“, stimmte er zu und vermied es dabei, Stephanie anzusehen.

Applaus ertönte, als er aus dem Lieferwagen stieg. Die Leute, die sich ursprünglich am Unfallort versammelt hatten, einschließlich des Fahrers des schwarzen Lieferwagens, waren offensichtlich allesamt geblieben.

„Was ist es?“, rief jemand.

„Ein Mädchen und ein Junge.“

Plötzlich tauchte ein etwas ungepflegter Mann Ende dreißig mit einem abgegriffenen Notizbuch in der Hand sowie gezücktem Bleistift auf. „Kann ich Ihren Namen haben?“ Als Sebastian ihn verwundert anblickte, fügte er hinzu: „Ich bin von der ‚Bedford World News‘, der lokalen Wochenzeitung. ‚Zwillinge erblicken Licht der Welt auf Parkplatz vor Apotheke‘.“ Er grinste zufrieden über die aus dem Stegreif formulierte Schlagzeile. „Das ist ein menschlich sehr ansprechendes Thema, meinen Sie nicht?“

Sebastian lag eine Absage auf der Zunge. Er wollte weder sein noch Stephanies Privatleben preisgeben. Doch es stand ihm nicht zu, sie zu beschützen, und er war durch seinen Doktortitel nicht länger Privatperson. Nun musste er der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, Tag und Nacht, auch in seiner Freizeit.

Mit einer gewissen Resignation nannte er dem Mann seinen Namen und erklärte, dass die Patientin ihm ihren nicht gesagt hatte – was gewissermaßen der Wahrheit entsprach.

Während der Reporter ihn mit Fragen bombardierte, wurde Stephanie auf einer Trage in den Krankenwagen verfrachtet, und ebenso die Babys, die inzwischen in blütenweiße Decken gewickelt waren.

„Es wird Zeit, Doc!“, rief einer der Sanitäter.

Sebastian atmete erleichtert auf. „Ich komme schon. Tut mir leid, aber ich muss gehen“, sagte er zu dem Reporter und stieg hastig in den Krankenwagen.

„He, warten Sie. Ich brauche Details.“

„Vielleicht später“, tröstete Sebastian, und schon wurde die Tür geschlossen.

Er wandte sich an Stephanie und stellte fest, dass sie eingeschlafen war. Leise setzte er sich zu ihr und widerstand dem Drang, ihre Hand zu nehmen. Sobald sie im Krankenhaus aufgenommen war, wollte er sich zurückziehen – bevor ihr Mann auftauchte.

„Hier, Doc, das ist alles, was wir haben.“ Der ältere Sanitäter reichte ihm ein blaues Hemd, das seinem eigenen ein wenig ähnelte.

Sebastian nahm es entgegen und zog es an. „Danke.“

„Ich fürchte, Ihr Hemd ist ruiniert. Es sei denn, Sie haben eine Frau, die Wunder vollbringt.“

„Nein. Keine Frau, keine Wunder.“ Er blickte hinab auf Stephanies Gesicht und dachte an das letzte Mal, als er sie schlafend gesehen hatte.

Das einzige Mal, korrigierte er sich mit einem wehmütigen Lächeln. Er hatte nicht beabsichtigt, dass die Dinge in jener Nacht außer Kontrolle gerieten, aber eines hatte zum anderen geführt, und sie hatten miteinander geschlafen. Ihm stockte der Atem, als er sich an all die Einzelheiten erinnerte, die er seit sieben Jahren verdrängt hatte.

Verdrängt oder nicht, diese eine wundervolle Nacht der unschuldigen, reinen Liebe hatte ihn all die langen, einsamen Jahre überstehen lassen – und ihn gleichermaßen gequält.

3. KAPITEL

Es gab keinen Grund für Sebastian, länger im Krankenhaus zu bleiben. Eigentlich hätte er gar nicht erst erscheinen müssen. Denn Stephanie hatte getreu ihrer Art lange vor dem Fälligkeitsdatum ihre Einweisung in die Wege geleitet.

Es überraschte ihn, dass sie unter ihrem Mädchennamen angemeldet war. Aber andererseits hatte sie immer großen Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt, und daher war es typisch für sie, ihren Namen behalten zu haben.

Da es für Sebastian nichts weiter zu tun gab, machte er sich auf den Weg zu den Telefonzellen, um sich ein Taxi zu seinem Auto zu rufen, das er auf dem Parkplatz hatte stehen lassen. Als eine Durchsage über Lautsprecher ertönte, achtete er zunächst nicht darauf, denn es war nicht die Erste seit seiner Ankunft. Dann drang ihm der Name ins Bewusstsein. Sein Name.

„Dr. Caine, bitte im Schwesternzimmer im fünften Stock melden.“

Es musste sich um einen anderen Dr. Caine handeln. Der Name war schließlich nicht selten.

„Dr. Sebastian Caine“, dröhnte die Stimme, „bitte im Schwesternzimmer im fünften Stock melden.“

Aus Sorge, dass mit Stephanie etwas nicht in Ordnung sein könnte, eilte er zurück zu den Fahrstühlen und wartete ungeduldig auf das Eintreffen einer Kabine. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er den fünften Stock erreichte.

Mit langen Schritten erreichte er das Schwesternzimmer. „Ich bin Dr. Caine“, meldete er sich bei einer Schwester, die gerade aus der Tür kam. „Ich wurde ausgerufen. Ist etwas mit Mrs. Yarbourough? Die Frau, die gerade mit Zwillingen eingeliefert wurde.“

„Mit Stephanie ist alles in Ordnung, Doktor. Es könnte ihr nicht besser gehen.“

Sebastian drehte sich zu der zierlichen Blondine in einem weißen Kittel um, die zu ihm trat und ihm mit einem warmen Lächeln die Hand reichte.

„Ich bin Sheila Pollack, Stephanies Ärztin.“ Sie musterte ihn eingehend, während sie seine Hand schüttelte. Er wirkte sehr sympathisch, äußerst kompetent, und in seinen Augen lag etwas, das an Besorgnis grenzte. Offensichtlich war er nicht nur beruflich engagiert. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie hervorragende Arbeit geleistet haben.“

Sebastian atmete erleichtert auf. Da es ihm stets unangenehm war, gelobt zu werden, tat er es mit einem Achselzucken ab. „Sie hat es leicht gemacht.“

Sheila lachte. Ihr Blick wirkte vertraulich, obwohl sie sich nicht kannten. Doch sie fühlte sich ihm durch Stephanie verbunden. „Eigentlich macht sie gar nichts leicht.“

Er lächelte. „Ich fürchte, das trifft zu. Nun, Dr. Pollack, wenn sonst nichts mehr anliegt …“

„Oh doch“, unterbrach sie ihn. „Stephanie hat nach Ihnen verlangt.“

Nervös atmete Sebastian tief durch, bevor er die Tür öffnete und das Krankenzimmer betrat. Insgeheim hatte er trotz des Aufrufs gehofft, dass Stephanie schlief und er sich aus der Affäre ziehen konnte.

Sie war jedoch wach, und er wurde ein Stück tiefer in die Sache hineingezogen.

„Na?“, sagte er, und es klang hohl angesichts ihrer gemeinsamen Vorgeschichte und der jüngsten Ereignisse.

Sie hatte nicht gedacht, dass er tatsächlich kommen würde. Nun, da er da war, wusste sie nicht, was sie sagen sollte oder warum sie ihn überhaupt hatte rufen lassen. Sie betätigte die Fernbedienung am Bett, und das Kopfende hob sich, bis sie auf seiner Augenhöhe war. „Hallo.“

Er deutete mit dem Kopf zum Korridor. „Ich bin deiner Ärztin begegnet. Sie hat gesagt, dass du mich sehen wolltest.“

Stille folgte seinen Worten, hüllte sie beide ein. Hunderte von Fragen wirbelten ihr durch den Kopf, Hunderte von Vorwürfen und Beschuldigungen. Aber sie wusste, wie sinnlos es war, die alten Dinge aufzuwärmen. Nichts ließ sich regeln durch Gerede über die Vergangenheit. Was geschehen war, war nicht zu ändern.

Er hatte seine Wahl vor sieben Jahren getroffen, nachdem ihr Vater ihm klargemacht hatte, dass sie und das Familienvermögen kein Pauschalarrangement waren. Ihr Vater hatte ihr sehr eindringlich zu verstehen gegeben, dass Sebastian sie verlassen hatte, weil sie andernfalls keinen Cent geerbt hätte. Vielleicht herrschte daher die tiefe Kluft zwischen ihr und ihrem Vater.

Sebastian wartete höflich darauf, dass sie etwas sagte. Manieren waren sehr wichtig in der Welt, aus der sie stammte. „Ich hatte keine Gelegenheit, dir für deine Hilfe zu danken“, erklärte sie schließlich.

Er schob die Hände in die Hosentaschen. Sein Doktortitel und die langen, harten Jahre des Studiums schienen auf wundersame Weise von ihm abzufallen. Einen Moment lang war er wieder der siebzehnjährige Sebastian Caine aus armseligen Verhältnissen, der hoffnungslos an dem Versuch scheiterte, ein Gespräch mit der Tochter eines der bekanntesten Anwälte im Staate zu eröffnen. Auch wenn sie die Schwester seines Freundes war, hatte ihr Anblick ihm einfach die Sprache verschlagen.

Ähnlich wie jetzt.

Damals hatte er nur auf sein herausforderndes Benehmen zurückgreifen können und auf eine Anziehungskraft, die ihm förmlich den Atem geraubt hatte.

Nun jedoch war dieser Anfall von Unsicherheit töricht. Er hatte es weit gebracht seitdem und etwas aus seinem Leben gemacht, anstatt es mit Aushilfsjobs zu vergeuden, wie ihr Vater ihm prophezeit hatte.

In gewisser Weise hatte er es wohl ihrem Vater zu verdanken, dass er Arzt geworden war. Es war die Erinnerung an Carlton Yarbouroughs überheblich grinsendes Gesicht, die ihn angespornt hatte, sich einer Herausforderung nach der anderen zu stellen. Seine Entschlossenheit, es dem hochnäsigen Schuft zu beweisen, hatte ihm die Kraft verliehen, gleichzeitig in zwei Jobs zu arbeiten und das Medizinstudium zu absolvieren.

Seltsam, wie sich die Dinge manchmal entwickelten. Ausgerechnet der Mann, der ihn hasste, hatte ihn angespornt, sein Ziel zu erreichen.

Sebastian trat einen Schritt weiter in den Raum, einen Schritt näher an Stephanies Bett. „Ich bin Arzt. Wenn ich zufällig über eine gebärende Frau stolpere, ist es meine Pflicht zu helfen. Das steht lang und breit im hippokratischen Eid.“

Sie lächelte unwillkürlich. „Immer noch diese gekonnte Ausdrucksweise?“

Er zuckte die Achseln und wandte den Blick ab. Sie hatte gerade Zwillinge zur Welt gebracht und hätte in keiner Weise verlockend aussehen dürfen. Warum aber sah sie trotzdem reizvoll aus? „Na ja, du kannst nicht viel erwarten von einem Jungen aus ärmlichen Verhältnissen, oder?“

Betroffen blickte sie ihn an. Er war stets ein grüblerischer Mensch gewesen, aber nie derart zynisch. Wann war er so bitter geworden? „Ich habe es immer getan“, sagte sie leise. Sie hatte großartige Dinge von ihm erwartet, immer an ihn geglaubt. Gerade deshalb hatte es sie derart mitgenommen, dass er sie ohne ein Wort der Erklärung verlassen hatte.

Er lachte kurz auf. Sie lügt gut, dachte er. Wären sie zusammengeblieben, wäre es so gekommen, wie ihr Vater prophezeit hatte. Ihre Lebensfreude wäre durch Entbehrungen zerstört worden. „Nun, damit hättest du allein auf weiter Flur gestanden.“

„Das glaube ich nicht.“

Sebastian musterte sie und spürte die alten Gefühle in ihm aufsteigen, die ihm Haltung und Kraft raubten. Er wollte sich nicht wieder von ihren großen blauen Augen betören lassen, wollte nicht ihre Lippen Worte formen sehen und sich wünschen, dass er sie mit seinen eigenen zum Schweigen bringen könnte.

Langsam trat er zurück zur Tür. „Ich muss gehen.“ Er dachte an die Besorgung, der es zu verdanken war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. „Auf meinem Sitz liegen Videofilme, die sich vermutlich inzwischen in der Hitze kringeln. Es freut mich, dass es dir gut geht.“

Er ging, bevor sie ihm sagen konnte, wie leid es ihr tat, dass für ihn offensichtlich nicht dasselbe galt.

Wann war er nach Bedford zurückgekehrt? Wie lange war er durch die Straßen gefahren, über die Wege spaziert, ohne sie wissen zu lassen, dass er zurück war?

Einsamkeit hüllte sie ein. Plötzlich fühlte Stephanie sich sehr, sehr müde. Sie sank zurück in die Kissen, ließ das Kopfteil hinunter und schloss die Augen.

„Ist die Videothek nach Seattle verlegt worden?“ Er vernahm Geraldine Caines spöttische Stimme, sobald er das Haus betrat.

Sebastian drehte sich zur Wohnzimmertür um und sah sie kommen. Trauer und Zorn beschlichen ihn, als er beobachtete, wie schwer sie sich auf den Stock stützen musste. Unwillkürlich dachte er zurück an die lebenslustige, energiereiche Frau von früher, die in seiner Kindheit seine Freude am Sport ermutigt hatte und mit ihm zusammen gejoggt war.

Nun schien von jener Frau nur noch ihr strahlendes Lächeln und das Funkeln in ihren Augen übrig zu sein. Doch momentan wirkte sie besorgt, und das war seine Schuld. Er wusste, wie sehr sie sich bemühte, sich ihre Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Eine gute Mutter zu sein, das bedeutete für sie, ihre eigenen Bedürfnisse und Ängste zurückzusetzen. Er hatte stets an erster Stelle gestanden. Sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, als er vor sieben Jahren das Elternhaus verlassen hatte. Sie hatte ihm nur versichert, dass sie immer für ihn da sein würde. Sie war einzigartig. Und deshalb war er zurückgekehrt, als sie ihn jetzt brauchte.

„Entschuldige. Ich hätte anrufen sollen.“

„Du bist einunddreißig Jahre alt, Sebastian. Du brauchst deine Mutter nicht über jeden deiner Schritte zu informieren.“ Dann lächelte sie und hielt Daumen und Zeigefinger mit einem kleinen Abstand hoch. „Na ja, ein klitzekleiner Anruf wäre vielleicht angebracht gewesen.“

Sie ging voraus in die Küche, denn sie wusste, dass er gerne eine Tasse Kaffee trank. Bereits mit elf Jahren hatte er eine Vorliebe für das starke Getränk entwickelt, als er nach der Schule in das Restaurant gekommen war und dort seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Als sie ihre wachsende Neugier nicht länger beherrschen konnte, wandte sie sich von der Kaffeemaschine ab. „Also, was hat dich so lange aufgehalten?“, fragte sie. „Hast du einen alten Freund getroffen? Hat dich eine Woge der Nostalgie zur Universität geführt?“ Sie füllte die zwei Tassen, die bereits auf dem Küchentresen standen.

Er setzte sich auf einen Hocker und zog eine Tasse zu sich heran. „Ersteres.“

„Ach ja?“ Geraldine schenkte sich Milch in ihren Kaffee und fragte sich, ob es ihr wirklich so schlecht gelang, unbeteiligt zu wirken, wie sie glaubte. „Wen denn?“ Sebastian blickte ihr in die Augen, und da wusste sie es, ohne dass er ein Wort sagen musste. Ihr Herz wurde ein wenig schwer. „Wie war sie?“

Er nahm einen großen Schluck, lachte dann leise und schüttelte ungläubig den Kopf. „Weißt du, du hättest dein Talent, Gedanken zu lesen, nicht brachliegen lassen sollen.“

Fältchen bildeten sich um ihre Augenwinkel, als sie ihn anlächelte, diesen ernsten Jungen, der sich zu einem so ernsten Mann entwickelt hatte. „Ich fürchte, es klappt nur bei dir. Die Nachfrage nach Müttern, die auf dem Marktplatz Enthüllungen über ihre eigenen Kinder verkünden, ist nicht besonders groß.“

„Es sei denn, es ist die Mutter einer Berühmtheit.“

Geraldine stellte ihre Tasse ab. „Oh, aber das bin ich.“ Sie schlang einen Arm um ihn und drückte ihn flüchtig an sich. „Ich bin die Mutter eines aufstrebenden Arztes, der seine gut gehende Praxis aufgegeben hat, um an die Seite der Nervensäge von seiner kränkelnden Mutter zu eilen.“

Er beugte sich zu ihr vor und küsste ihr Haar. „Du warst nie eine Nervensäge“, korrigierte er grinsend, „eher ein Quälgeist.“

Sie legte eine tadelnde Miene auf. „He, ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf.“

Er leerte seine Tasse und schenkte sich nach. „Du hast doch damit angefangen.“

Sie merkte, dass er aufgewühlt war. Er trank immer viel Kaffee, wenn er aufgeregt war, und das regte ihn noch mehr auf. „Als deine Mutter kann ich anfangen, womit ich will.“ Dann wurde sie ernst. „Also, du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie war sie?“

So verdammt hübsch wie früher, schoss es ihm durch den Kopf. „Kurz vor der Entbindung.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie schon so weit ist“, murmelte Geraldine.

„War“, korrigierte Sebastian. „Ich habe Geburtshilfe geleistet. Zwei gesunde Babys, ein Junge und ein Mädchen, geboren auf dem Parkplatz vor der Videothek.“

Sie runzelte die Stirn. „Direkt auf dem Parkplatz?“

„Genau gesagt, in einem Lieferwagen, den eine junge Frau zur Verfügung gestellt hat.“

Geraldine schüttelte den Kopf. „Ich lasse dich für ein paar Minuten aus den Augen, und du spielst gleich den Helden.“ Nachdenklich nahm sie einen Schluck Kaffee. „Ich frage mich, wie ihr Vater zu alldem steht.“

„Das ist mir doch egal“, entgegnete er schroff. Doch dann siegte seine Neugier. „Warum sollte er was dagegen haben? Billigt er ihren Ehemann nicht?“ Na ja, dachte er, wahrscheinlich ist Carltons Ansicht nach keiner gut genug für seine Tochter oder seinen Sohn. Ob Matthew je geheiratet hat?, fragte er sich.

„Wahrscheinlich hätte er es nicht getan, wenn es einen gäbe.“

Verblüfft starrte er sie an. „Willst du damit sagen, dass sie nicht verheiratet ist?“

Mit einem liebevollen Lächeln zauste sie ihm die Haare. „Immer noch ganz schön auf Draht.“

Sebastian strich sich die Haare wieder zurecht. Er hatte keinen Ring an Stephanies Hand gesehen, war aber davon ausgegangen, dass ihre Finger zu sehr angeschwollen waren, um einen zu tragen, wie es im letzten Stadium der Schwangerschaft häufig geschah. „Woher willst du wissen, dass sie nicht verheiratet ist?“

Sie zog einen Teller mit frisch gebackenem Rührkuchen heran und brach ein Stück ab. „Glaubst du etwa, dass ich die Frau aus den Augen verliere, die meinem Sohn das Herz gebrochen hat? Wegen der er die Stadt verlassen hat?“

„Ich bin nicht Stephanies wegen weggegangen“, protestierte er mit einem scharfen Blick.

„Du hattest eine Zulassung für die Universität von Bedford, einer der besten medizinischen Fakultäten im Westen. Du hattest ein Stipendium und warst entschlossen anzufangen, und dann hast du plötzlich allem den Rücken gekehrt und bist fast bis nach Kanada gezogen. Das nenne ich weggehen.“

Er zuckte die Achseln. „Ich hielt es für an der Zeit.“

„Das stimmt nicht. Du bist abgehauen.“ Sie berührte seine Wange, und dann lächelte sie verklärt.

Verwundert zog er die Augenbrauen hoch. „Was ist denn?“

„Ich habe mir nur gerade vorgestellt, dass ich dich so wie früher auf den Schoß nehme und tröste.“ Es zuckte um ihre Mundwinkel. Sie holte ein Messer hervor, schnitt ein Stück Kuchen ab und schob es ihm hin. „Komisch, ich hatte immer gehofft, dass du und Stephanie mir einen Enkel schenken würdet, damit ich meine Muttergefühle noch ein paar Jahre schamlos ausleben kann. Und jetzt hat sie …“ Sie seufzte. „Es kommt wohl nie so, wie man es erwartet.“

„Anscheinend nicht.“

Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln. Sie deutete zu den beiden Videofilmen, die er auf den Tresen gelegt hatte. „Also, welchen gucken wir zuerst an?“

Er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie ihn schonen wollte.

Es gab zahlreiche Dinge, die Sebastian zu erledigen hatte. Als Erstes musste er sich mit Ärzten in der Umgebung in Verbindung setzen. Er musste in eine Arztpraxis einsteigen, und zwar bald, wenn er im Harris Memorial angenommen werden wollte.

Es ging nicht nur um Geld für seinen Lebensunterhalt oder für die Rückzahlung der Studienbeihilfe. Er brauchte vor allem Beschäftigung. Müßiggang lag ihm einfach nicht.

Sein Leben lang hatte er geschuftet. Bereits mit sieben Jahren hatte er Zeitungen ausgetragen und bei den Nachbarn Gelegenheitsjobs ausgeführt, um ein bisschen Geld nach Hause bringen zu können und seine Mutter ein wenig zu entlasten. Materielle Dinge, die er sich wünschte, hatte er sich stets selbst verdient. Für alles Wesentliche hatte seine Mutter gesorgt, vor allem für ein liebevolles Zuhause.

Das war einer der Aspekte, der ihn zu Beginn zu Stephanie hingezogen hatte. Finanziell gesehen besaß sie zwar viel, aber ihr Familienleben war wesentlich unglücklicher als sein eigenes. Von der Mutter in früher Kindheit verlassen, war sie bei einem Vater aufgewachsen, der sich nicht für sie interessierte, und bei einem älteren Bruder, der sie zwar gern hatte, aber kaum Zeit für sie fand.

Sebastian hatte sich zuerst mit Matthew angefreundet und sich in Stephanie bei der ersten Begegnung verliebt. Da sie ihm in kürzester Zeit sehr wichtig geworden war, hatte er sie mit nach Hause gebracht. Und zu seiner Freude war sie unter der liebevollen Aufnahme seiner Mutter aufgeblüht wie eine durstige Blume im Regen.

In seiner Naivität hatte er fest daran geglaubt, dass die Dinge nur noch besser werden konnten.

Verdammt, dachte er, es hat keinen Sinn, die alten Geschichten aufzuwärmen. Er quälte sich nur damit. Warum also war er auf dem Weg ins Krankenhaus, um Stephanie zu besuchen? Was hatte das für einen Sinn?

Er fuhr auf den Parkplatz, der recht voll war, da die Besuchszeit bereits begonnen hatte. Hastig stieg er aus, bevor er umdrehen und nach Hause zurückfahren konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ihr Vater gerade bei ihr, der entweder seine Enkelkinder sehen oder Stephanie kritisieren wollte, weil sie Schande über die Familie gebracht hatte.

Doch statt umzudrehen, ging Sebastian zielstrebig weiter zu den Fahrstühlen und wappnete sich für eine Konfrontation.

„Dr. Caine?“

Sebastian drehte sich um und sah Dr. Pollack mit einem freundlichen Lächeln näher kommen.

„Ich dachte mir doch, dass Sie es sind. Wollen Sie nach Ihrer Patientin sehen?“

„Keine Sorge, ich will sie Ihnen nicht wegnehmen. Ich kenne sie von früher.“

Ein mitfühlender Ausdruck trat auf ihr Gesicht. „Ja, richtig. Stephanie hat mir erzählt, dass Sie hier aufgewachsen sind. Was hat Sie hierher zurückgeführt? Sind Sie auf Besuch?“

„Wahrscheinlich werde ich länger bleiben.“

Nachdenklich musterte Sheila ihn. Als sich die Tür eines Fahrstuhls öffnete, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Haben Sie eine Minute Zeit für mich?“

Sebastian zögerte nur kurz. Er hatte es nicht eilig, zu Stephanie zu kommen, wenn sie in Gesellschaft ihres Vaters war. „Worum geht es denn?“

„Hin und wieder gebe ich einem Impuls nach“, gestand Sheila. Aus einem Impuls heraus hatte sie vor einigen Jahren einen nächtlichen Strandspaziergang mit einem gut aussehenden Fremden unternommen, der neun Monate später ihr Ehemann geworden war, kurz bevor ihr Kind der Liebe das Licht der Welt erblickt hatte. Seitdem hielt sie Spontaneität für eine gute Sache.

„Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz.“

Sheila lachte. „Mein Mann wirft mir immer vor, dass ich zu unbedacht drauflos plappere und die Leute damit verwirre. Sagen Sie, Dr. Caine, haben Sie zufällig vor, in eine Arztpraxis einzusteigen?“

Er glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“

Sheila versuchte, ihre sich überschlagenden Gedanken zu ordnen, damit er ihnen folgen konnte. „Ich weiß nicht, ob irgendetwas in der Luft liegt oder ob es am neuen Jahrtausend liegt, aber jedenfalls hatte ich nie so viel zu tun wie in letzter Zeit“, erklärte sie. „Ständig habe ich eine Menge schwangerer Patientinnen. Wenn mein Mann und meine Kinder mich weiterhin persönlich und nicht nur von Fotos kennen sollen, brauche ich Hilfe. Oder ich muss neue Patientinnen abweisen, und das möchte ich eigentlich nicht tun. Wenn Sie also vorhaben, sich wieder in Bedford niederzulassen, möchte ich gern mit Ihnen über die Möglichkeit sprechen, Sie als Partner anzunehmen.“

Seine Miene verriet ihr nicht, ob ihr Angebot ihn reizte oder ob er nach einem höflichen Weg suchte, es abzulehnen. Sie suchte in ihren Taschen. „Ich weiß, dass ich irgendwo eine Visitenkarte habe.“ Schließlich zog sie eine heraus und gab sie ihm. „Meine Praxis befindet sich in dem Haus gegenüber. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich an.“

Der Lautsprecher ertönte, und ihr Name wurde zusammen mit zwei weiteren aufgerufen. Sie warf Sebastian ein Lächeln zu. „Sehen Sie, was ich meine?“ Flüchtig berührte sie seinen Arm zum Abschied, und einen Moment später verschwand ihre schlanke Gestalt um die nächste Ecke.

Es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, den Fahrstuhl zu rufen. Dann blickte er auf die elfenbeinfarbene Karte in seiner Hand. Er fragte sich, ob sie vielleicht ein Wink des Schicksals war. So wie die zufällige Begegnung mit Stephanie.

Obwohl er zurückgekehrt war, um sich um seine Mutter zu kümmern, hatte er bisher nicht endgültig entschieden, wie es weitergehen sollte. Sollte er sie zu sich nach Seattle holen? Oder sollte er sich wieder hier niederlassen und ein neues Leben aufbauen? Zumindest für seine Mutter wäre die zweite Lösung leichter.

Was ihn selbst anging, war er sich nicht sicher. Er steckte die Visitenkarte in die Tasche und beschloss, später darüber nachzudenken, wenn sein Kopf klarer war.

4. KAPITEL

Als Sebastian an die Tür klopfte, hörte er gedämpfte Stimmen aus dem Zimmer dringen. Vorstellungen von einer Begegnung mit Stephanies Vater kehrten zurück.

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich zurückzuziehen und die Blumen für Stephanie im Schwesternzimmer abzugeben. Es war nicht nötig, sie persönlich zu überreichen. Außerdem legte er keinen gesteigerten Weg auf eine Begegnung mit Yarbourough.

Du willst also den Schwanz einziehen und weglaufen?, spottete eine innere Stimme.

Er war nicht gekommen, um Carlton zu sehen, sondern Stephanie. Und vielleicht, um seine Neugier zu befriedigen, welcher Mann ihr derart den Kopf verdreht hatte, dass sie mit ihm Kinder in die Welt setzte, ohne ihn zu heiraten. Obwohl sie sich stets bemüht hatte, die Rolle der rebellischen Tochter zu spielen, um ihren Vater zu reizen, gab es gewisse Dinge, die sie nie tun würde. Ein Kind zu bekommen, bevor sie verheiratet war, gehörte dazu – oder zumindest hatte er das geglaubt.

Hatte sie sich derart geändert?

Und dann kam ihm ein ernüchternder Gedanke. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Mann, dem die Stimme gehörte, nicht ihr Vater, sondern der Vater ihrer Babys.

Sebastian wandte sich gerade zum Gehen, als er Stephanie rufen hörte: „Herein!“ Etwas in ihrer Stimme zwang ihn, gegen seine Vernunft zu handeln. Er öffnete die Tür und trat ein.

Es war weder ihr Vater noch ein Fremder, der neben ihrem Bett stand und ihre Hand hielt. Es war Matthew, ihr älterer Bruder.

Der Mann, der mal Sebastians bester Freund gewesen war.

Die Atmosphäre in dem kleinen, engen Raum war angespannt, als die drei einander anblickten.

„Matt“, murmelte Sebastian und nickte steif mit dem Kopf. Worte irrten in seinem Kopf herum, aber er brachte keine Silbe heraus. Es gab so viel zu sagen, dass er nichts sagte.

„Sebastian“, sagte Matthew formell und nickte ebenso steif.

„Und ich bin Stephanie“, verkündete sie im Singsang wie die Moderatorin einer Kindersendung im Fernsehen. Beide Männer blickten sie an. „Jetzt, da wir uns alle bekannt gemacht haben, liebe Jungen und Mädchen, wollen wir Spaß haben.“

Sebastian lachte kurz auf. Der Seitenhieb war natürlich angebracht. Sie verhielten sich wie Kinder. Sie kannten sich seit Jahren, und vor langer Zeit hatten sie sich Geheimnisse und Träume anvertraut. „Hört mal, wenn ich störe …“ Zögernd trat er einen Schritt zurück an die Tür.

Matthew blickte Stephanie fragend an. Er war bereit zu bleiben, wenn sie ihn brauchte, obwohl er zu einem Termin in seiner Anwaltskanzlei erwartet wurde.

Der gute alte Matthew, dachte sie amüsiert und drückte seine Hand, die auf ihrer Schulter lag. Erst nachdem er die zwanzig überschritten hatte, war er endlich zu dem großen Bruder geworden, den sie sich stets gewünscht hatte. Doch nun konnte sie ihre eigenen Schlachten schlagen. „Schon gut, Matt.“

„Wenn du sicher bist …“ Er beugte sich über sie und küsste ihre Stirn. „Wir sehen uns später. Vielleicht kann ich Vater überzeugen …“

„Mach dir keine Mühe. Offensichtlich will er nicht kommen.“

Mehr als seine Anwaltskarriere hatten ihn die Jahre in seinem Vaterhaus die Vorzüge gelehrt, Frieden zu stiften. „Er ist nur starrsinnig, Stef, das weißt du.“

Sie lächelte. „Bis später, Matt.“

Auf dem Weg zur Tür nickte er Sebastian mit reservierter Miene zu, so als wären sie Fremde.

Sebastian trat näher an das Bett. „Kommt es nur mir so vor, oder ist die Temperatur hier drinnen gerade um zehn Grad gesunken?“

Seine Stimme klang wie damals, als sie sich stundenlang zu unterhalten pflegten. Doch sie wollte sich nicht von Erinnerungen an vergangene Zeiten täuschen lassen. Sie musste auf der Hut bleiben. Niemand sollte ihr je wieder so wehtun, wie er es getan hatte. „Du kannst es ihm nicht verdenken. Von seinem Standpunkt aus hast du uns beide verlassen, ihn genauso wie mich.“ Bedachtsam strich sie über die Bettdecke. „Und Matthew war immer mein Beschützer.“

Ihre Worte weckten seine Schuldgefühle. Er hatte die Brücken völlig hinter sich abgebrochen und war nur mit seiner Mutter in Verbindung geblieben. Sie hatte ihn mehrmals besucht, doch er hatte stets Ausreden gefunden, um nicht nach Bedford zurückzukehren. Nach einer Weile hatte sie aufgehört, ihn darum zu bitten.

Aber im Grunde vermisste er Matthews Freundschaft beinahe ebenso, wie er Stephanie vermisst hatte. „Es ist nett, jemanden zu haben, der sich um einen kümmert.“

„Ja.“ Sie deutete zu dem Strauß in seiner Hand. „Hast du den nur als Requisite mitgebracht, oder wolltest du ihn mir irgendwann geben, bevor du wieder gehst?“

Verständnislos blickte er von ihrem Gesicht hinab zu seinen Händen. Er hatte die Blumen völlig vergessen und hielt sie ihr jetzt verlegen hin. „Ich dachte mir, dir gefallen Blumen. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich meine Grenzen überschreite.“

Stephanie hob den Strauß und atmete tief den Duft ein. Die letzten Blumen, die sie von ihm bekommen hatte, waren winzige Wildblumen gewesen, gemischt mit Löwenzahn. Und er hatte sie für sie gepflückt. Entschieden verdrängte sie die zärtlichen Gefühle, die in ihr hochkamen. „Unter dem Waschbecken steht eine Vase.“

Sie beobachtete ihn, als er sich abwandte, und erinnerte sich, wie sie seinen Rücken gestreichelt, wie stark er unter ihren Händen gewirkt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass nichts ihr wehtun konnte, solange sie bei ihm war. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der ihr Schmerzen zufügte. „Was meinst du mit Grenzen überschreiten?“ Sie heftete den Blick wieder auf die Blumen.

Er fand die Vase und füllte sie mit Wasser. „Vielleicht gefällt es deiner besseren Hälfte nicht, dass du Blumen von einem alten Freund bekommst.“

„Bist du das? Ein alter Freund?“

Mit der Vase in der Hand drehte Sebastian sich zu ihr um. „Ja, das bin ich.“

Ihr lag auf der Zunge zu fragen, wie er sich einen Freund nennen konnte, nachdem er ohne ein Wort verschwunden war, während sie bereit gewesen wäre, mit ihm überall hinzugehen. Aber die Frage hätte ihm gezeigt, wie tief die Wunde war. Daher zuckte sie achtlos die Schultern. „Wenn du meinst.“

Ihre Finger berührten sich, als er ihr die Blumen abnahm. Eine Sekunde lang hielt er ihren Blick gefangen. Dann wandte er sich ab aus Angst, dass sie zu viel sehen, dass er sich und seine Gefühle verraten könnte.

„Ja, das meine ich.“ Er stellte die Vase auf ein Regal neben dem Bett, trat zurück und gab vor, die Blumen zu mustern. Es war wesentlich sicher, als Stephanie anzusehen. „Bist du sicher, dass es keine Probleme hervorruft?“

Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete. „Mit wem?“

„Deiner besseren Hälfte“, wiederholte er, und der Ausdruck gefiel ihm noch weniger als beim ersten Mal. Noch weniger gefiel ihm, dass er in ihrem Leben nichts mehr zu sagen hatte.

„Es gibt keine bessere Hälfte.“

Er fragte sich, wie sehr sie sich in den vergangenen Jahren geändert hatte. Er selbst hatte sich beträchtlich geändert, war weniger zornig und dafür toleranter geworden. Aber manche Dinge waren geblieben. Wie seine Gefühle für sie. „Dann war es nur flüchtig?“

„Was?“

Verzweiflung stieg in ihm auf. Er schob die Hände tief in die Taschen, stieß auf Sheilas Karte und verknickte sie. Er hatte nicht einmal das Recht, sich nach ihrem Privatleben zu erkundigen. „Die Verbindung oder wie immer du das nennen willst, was zu dem gestrigen Vorfall im Lieferwagen geführt hat“, sagte er dennoch. „Du warst schwanger, und soweit ich weiß, ist bisher nur eine unbefleckte Empfängnis bekannt.“

War es Eifersucht, was sie in seinen Augen sah? Aber wie konnte er eifersüchtig sein, wenn er sie verlassen hatte? Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. „Das schon, aber seitdem haben viele künstliche Befruchtungen stattgefunden.“

„Künstlich …“ Seine Stimme verklang, und er starrte sie verständnislos an. „Warum solltest du so etwas tun?“

„Du hast kein Recht mehr, mir solche Fragen zu stellen.“ Sie hatte die Absicht, es dabei bewenden zu lassen. Doch etwas in ihr weigerte sich. Etwas, das ihn einst von ganzem Herzen geliebt hatte. Außerdem hatte er ein Recht, von Holly und Brett zu erfahren. Früher einmal waren sie auch seine Freunde gewesen. „Es sind nicht meine Babys. Sie gehören Holly und Brett.“

„Holly und Brett? Was haben die denn damit zu tun?“

Sie spürte Tränen in ihre Augen steigen. „Sie konnten keine Kinder kriegen. Also habe ich mich angeboten.“

„Du bist eine Leihmutter?“, konstatierte er verblüfft.

„Wieso überrascht dich das so? Dachtest du, ich wäre nicht dazu fähig?“

„Das ist es nicht. Es fällt mir nur schwer, mir vorzustellen, dass du so etwas tust, etwas so …“

„Selbstloses?“, warf sie ein. „Die Menschen ändern sich.“ Sie blickte ihn bedeutungsvoll an. „Manchmal ändern sie sich sogar gewaltig.“

Er konnte nicht widersprechen. „Und wo sind Holly und Brett? Ich hätte gedacht, dass sie herkommen, sobald sie von der Geburt erfahren. Warum sind sie nicht hier?“

„Weil sie nirgendwo sein können.“

Verwirrt blickte er sie an und sah Tränen in ihren Augen schimmern. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort.

„Sie hatten vor drei Wochen einen schweren Autounfall. Brett ist noch an der Unfallstelle gestorben. Holly hat so lange durchgehalten, dass ich sie im Krankenhaus besuchen konnte. Sie hat mich schwören lassen, dass ich mich um die Babys kümmere. Dass ich sie nicht Bretts Mutter überlasse, dass ich ihre Mutter werde.“

Und Stephanie hatte ihrer sterbenden Freundin ihr Wort gegeben.

„Holly und Brett sind tot?“

„Das habe ich doch gesagt.“ Stephanie strich sich über das Gesicht und holte tief Luft. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht so anfauchen. Ich bin nervlich wohl ziemlich am Ende.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass man in einem fremden Lieferwagen mit Unterstützung des Exgeliebten Zwillinge zur Welt bringt. Es fällt mir immer noch etwas schwer, das zu verarbeiten.“ Sie wandte den Blick ab und rang um Beherrschung.

Er unterdrückte den Drang, sie in die Arme zu nehmen. Auch wenn es niemanden sonst in ihrem Leben gab, stand es ihm nicht mehr zu, sie zu umarmen, sie zu trösten.

Sebastian trat an das Fenster und blickte hinaus zu den Segelbooten, die im Hafen vor Anker lagen. „Und was hast du jetzt vor?“

Er sprach die Frage aus, die sie sich seit dem Unfall selbst ständig stellte. Matthew hatte sie immer wieder gedrängt, die Babys zur Adoption freizugeben. Dennoch wusste sie tief im Innern von Anfang an, welchen Weg sie einschlagen wollte. „Was ich Holly versprochen habe. Ich werde mich um die Kinder kümmern, sie aufziehen wie meine eigenen und dafür sorgen, dass sie wissen, wie sehr sie erwünscht sind.“

Er wusste, sie bezog sich auf den Umstand, dass sie von ihren Eltern niemals diese Art der bedingungslosen Liebe erfahren hatte. Ihre Mutter war Carltons zweite Frau gewesen und viel mehr interessiert an ihrer Wohltätigkeitsarbeit, ihren Klubs und ihrem Image als an ihrer Tochter. Stephanie war nicht geplant gewesen und von ihrem Vater ungewollt, weil sie sich nicht als zweiter Sohn erwiesen hatte. Wenn Matthew nicht wäre, der eigentlich ihr Halbbruder war, hätte sie niemals irgendeine Zuneigung in ihrem gefühlskalten Elternhaus erfahren.

Er dachte daran, was seine eigene Mutter hatte ertragen müssen. Zugegeben, die Zeiten hatten sich inzwischen geändert, und eine ledige Mutter war nicht mehr so verpönt wie damals, aber ein gewisser Makel haftete ihr immer noch an.

„Bist du wirklich sicher, dass du das auf dich nehmen willst? Selbst heutzutage ist es noch schwer, ganz allein ein Baby aufzuziehen, ganz zu schweigen von zweien.“

„Frauen tun das schon seit Urzeiten.“

Er drehte sich zu ihr um. „Ja, das stimmt wohl.“ Ein Anflug von Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, als er erneut an seine Mutter dachte. „Aber du stammst schließlich nicht gerade aus armseligen Verhältnissen.“

Zorn spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. „Wenn du damit auf die Tatsache anspielst, dass mein Vater, der brillante Staranwalt, Geld wie Heu hat, das hat nichts mit meinem Leben zu tun. Falls dir das kleine Geplänkel mit Matthew entgangen sein sollte, mein Vater und ich stehen nicht gerade auf gutem Fuße miteinander.“ Das Nachthemd rutschte ihr von der Schulter, und sie zog es ungehalten wieder hoch. „Auf gar keinem Fuß, um genau zu sein.“

Sie seufzte und blickte ihn vielsagend an. „Trotz der Tatsache, dass sich mein Leben nicht so wie erwartet entwickelt hat, habe ich schließlich die Kraft gefunden, ihm deutlich zu sagen, was ich von ihm halte. Ich bin schon vor geraumer Zeit aus dem Familienanwesen ausgezogen.“ Ein ironisches Lächeln trat auf ihre Lippen. „Allerdings hat das Geld von meiner Großmutter geholfen, mich über Wasser zu halten, während ich versucht habe, mich selbst zu finden.“

Er wusste, dass es eine hoffnungslos abgedroschene Phrase war, aber er dachte unwillkürlich, wie wundervoll sie aussah, wenn sie zornig war. „Und? Hast du dich selbst gefunden?“

„Allerdings“, erklärte sie stolz. „Die Suche hat mich gar nicht so weit weggeführt. Ich habe etwas aus mir gemacht. Ich habe meine eigene Firma für Webdesign begründet, und ich bin gut darin. Ich habe nur eine Weile gebraucht, um alle Scherben zusammenzufügen.“ Die Scherben, die er hinterlassen hatte – und auch der Verlust seines Babys. „Aber jetzt sag du mir mal, was dich eigentlich hergeführt hat.“

„Du bist gewissermaßen meine Patientin. Ich wollte nach dir sehen. Außerdem sind wir Freunde.“

„Du wirfst ständig mit diesem Wort um dich, und dabei weißt du gar nicht, was es bedeutet.“

„Diesen Zustand möchte ich ändern.“

„Ach ja?“

Er hörte Zynismus in ihrer Stimme, den er nicht von ihr gewohnt war. Trotz der gemeinen Behandlung durch ihre Eltern, trotz ihres Hintergrunds als armes, reiches Mädchen hatte sie immer Optimismus ausgestrahlt. Manchmal hatte sie sich großspurig gegeben, aber immer lebenslustig. Er wusste, dass er zumindest teilweise für die Veränderung in ihr verantwortlich war.

Er war nicht stolz darauf, aber es war unumgänglich gewesen. Es war der einzige Punkt, in dem er und ihr Vater je übereingestimmt hatten. Sebastian wusste, dass er nicht gut für sie war, dass er sie hinabgezogen hätte. „Ja, das würde ich gern“, bestätigte er und nahm ihre Hand.

Sie zog ihre Hand zurück, so als hätte sie sich verbrannt. „Und wie genau soll das aussehen?“

„Dass sich keiner von uns abwendet, wenn wir uns begegnen.“

Stephanie atmete tief durch. „Du wirst mir etwas Zeit lassen müssen.“

„Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich gehe nirgendwo hin. Ich bleibe in Bedford.“

„Für wie lange?“

„Unbegrenzt.“

Stephanie ermahnte ihr Herz, nicht höher zu schlagen, aber es gehorchte ihr nicht.

5. KAPITEL

Sebastian hatte es getan. Er hatte sich langfristig verpflichtet.

Angesichts der angegriffenen Gesundheit seiner Mutter blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Ihre krankhafte Muskelschwäche mit den gnadenlosen, unvorhersehbaren Attacken verschlimmerte sich zusehends und war schwer genug zu ertragen, auch ohne dass sie nach fünfunddreißig Jahren am selben Ort entwurzelt wurde. Momentan war ihr Zustand stabil, doch das konnte er ihr nicht antun. All ihre Freunde waren in Bedford. Vor allem aber befand sich dort ihr Lebenswerk, in das sie harte Arbeit und extreme Hingabe investiert hatte.

Autor

Marie Ferrarella
<p>Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...
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