Bianca Exklusiv Band 340

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SAG MIR, DASS ES LIEBE IST von JUDY DUARTE
Bei der Zusammenarbeit mit Trenton Whittaker kommt Priscilla dem sexy Privatdetektiv näher. Doch er behauptet, dass in seinem Leben kein Platz für Liebe ist!

VERLIEB DICH NICHT IN EINEN COP von JAN HUDSON
Traurig muss Kelly erkennen, dass Cole wohl nur eine kurze Affäre im Sinn hat. Oder warum plant der sexy Cop, ihren Heimatort so schnell wie möglich wieder zu verlassen?

WENN EINE HOCHZEITSPLANERIN HEIRATET von VICTORIA PADE
Der attraktive Dane Camden könnte Mr. Perfect für die süße Hochzeitsplanerin Vonni sein! Charmant, großzügig – aber leider überzeugter Junggeselle …


  • Erscheinungstag 10.09.2021
  • Bandnummer 340
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501187
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Judy Duarte, Jan Hudson, Victoria Pade

BIANCA EXKLUSIV BAND 340

PROLOG

Die Treppe knarrte, und Priscilla öffnete die Augen. Es war dunkel. Ein großer Mann trug sie die Stufen hinunter.

„Daddy?“

„Pst, meine Kleine. Es ist alles gut. Ich habe dich auf dem Arm.“

Nur das Snoopy-Nachtlicht wies ihnen den Weg.

„Wohin gehen wir?“

Er strich ihr übers Haar. „Schlaf weiter, Honey. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich passe auf dich auf.“

Priscilla legte den Kopf an die Brust ihres Vaters und rieb die Wange am weichen Flanell seines Hemds. Sie spürte seinen kräftigen Herzschlag. Und sie merkte auch, wie er humpelte, als sie die Treppe hinter sich ließen und die Haustür ansteuerten.

Sie gähnte. „Ich bin so müde, Daddy.“

„Ich weiß, mein Schatz.“

Priscilla mochte nicht aufstehen. Sie wollte zurück in ihr Bett und unter die warme Decke mit den lustigen Hunden darauf.

Als sie nach draußen kamen und ihr Vater leise die Haustür schloss, strich die Nachtluft ihr kühl über das Gesicht und die nackten Zehen.

Irgendwo schrie eine Eule, und in einem der Nachbargärten bellte ein Hund.

„Mir ist kalt, Daddy. Und es ist so dunkel.“

„Es wird alles gut, Honey. Nur Geduld.“ Er trug sie die Einfahrt hinunter bis zum Straßenrand, wo er seinen Wagen geparkt hatte.

Der Motor lief, und dank der Heizung war es im Innern warm und gemütlich.

„Ich habe eine Wolldecke und ein Kissen für dich mitgebracht“, sagte er. „Versuch doch einfach, wieder zu schlafen. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.“

„Wohin fahren wir denn?“, fragte sie und krabbelte auf den Beifahrersitz.

„An einen Ort, wo wir glücklich sind“, sagte er nur. Dann stieg er ein und zog die Tür zu.

Priscilla sah über die Schulter durch die Rückscheibe. Das Haus war kaum zu erkennen, aber dann ging in einem der Fenster oben ein Licht an.

„Wo ist Mom?“, fragte sie. „Warum kommt sie nicht mit?“

„Schlaf jetzt, Honey. Wir rufen sie morgen früh an, damit du mit ihr sprechen kannst.“

Sie fuhren die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch, aber sie hielten nicht an, um ihre Mutter anzurufen.

Und sie sprachen auch nie wieder über sie.

1. KAPITEL

Zweiundzwanzig Jahre später

Priscilla Richards war nicht in Partylaune, aber sie hielt ein volles Glas Champagner in der Hand und tat, was man von ihr erwartete – sie lächelte freundlich und unterhielt sich angeregt.

Byron Van Zandt, der Investmentbanker, hatte keine Kosten gescheut, um die Beförderung seiner Tochter Sylvia gebührend zu feiern. Er hatte sogar einen Geiger von den Philharmonikern engagiert. Kein Wunder, dass alle Anwesenden sich bestens amüsierten.

Fast alle.

Priscilla war kurz davor, sich beim Gastgeber für die Einladung zu bedanken und zu gehen.

Sylvia und sie hatten sich an der Brown University kennengelernt, wo sie beide Literaturwissenschaft studierten. Nach dem Abschluss hatten sie ihre Traumjobs bei Sunshine Valley Books gefunden, einem kleinen, aber erfolgreichen Verlag, der auf Kinderbücher spezialisiert war.

Sie waren nicht nur Kolleginnen, sondern auch gute Freundinnen, daher war Priscilla hier, obwohl sie viel lieber zu Hause geblieben wäre.

„Hey.“ Mit einem halb vollen Glas kam Sylvia auf sie zu. „Endlich bist du gekommen!“

„Das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.“ Priscilla lächelte matt. „Glückwunsch zur Beförderung.“

„Ich hoffe, das ist nicht dein erstes Glas.“

Doch. Sie nickte.

„Trink, so viel du willst, Priscilla. Du kannst ja hier schlafen.“

„Danke, aber ich muss nach Brooklyn zurück.“

Sylvia musterte sie aufmerksam. „Langsam mache ich mir Sorgen um dich.“

„Ich schaffe das schon. Wirklich.“

Sylvia schien nicht überzeugt zu sein, denn sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß, du hast deinen Vater vergöttert, Priscilla. Dass du um ihn trauerst, ist ganz normal. Aber ich finde es schrecklich, wie deprimiert du bist. Vielleicht solltest du mit einem Arzt reden und dir etwas verschreiben lassen. Oder noch besser, du besorgst dir einen Termin bei einem Fachmann, bei einem Geistlichen oder Therapeuten.“

Es war nicht die Trauer, die Priscilla so aus der Fassung gebracht hatte. Sie legte einen Arm um Sylvia und drückte sie an sich. „Danke für den Tipp. Aber vor allem muss ich mich aufraffen und die Sachen meines Vaters sichten. Danach wird es mir besser gehen.“

„Heißt das, du kommst bald wieder zur Arbeit? Seit du im Urlaub bist, habe ich niemanden mehr zum Tratschen. Und dabei bin ich sicher, dass die neue Empfangssekretärin mit Larry aus der Marketingabteilung schläft.“

„Sylvia, du hast noch nie getratscht.“

„Nur mit dir.“ Sylvia trank einen Schluck Champagner. „Wann kommst du endlich wieder?“

Bis gestern Abend hatte Priscilla vorgehabt, am Montagmorgen zurück im Büro zu sein. Jetzt war sie nicht mehr sicher. „Vielleicht warte ich noch eine Woche.“

Ihre Freundin schnalzte mit der Zunge. „Ach, Priscilla. Bleib eine Weile bei mir. Du verkriechst dich schon viel zu lange zu Hause. Wir können Fondant machen und Eis essen. Danach fühle ich mich immer besser. Außerdem können wir uns meine komplette Sammlung von Hugh-Grant-DVDs ansehen.“

„Danke, Sylvia. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, dann bin ich gern dabei. Aber keine Hugh-Grant-Filme mehr.“

„Wie wäre es mit Mel Gibson?“

„Nur wenn er einen weißen Cowboyhut trägt. Ich stehe auf den John-Wayne-Typ.“ Auf jemanden, der sie nicht an ihren Vater erinnerte.

„Mmh. Mel mit Cowboyhut. Mal sehen, was sich machen lässt.“ Sylvia lachte leise, wurde jedoch sofort wieder ernst. „Musst du denn die Sachen deines Vaters sofort durchgehen? Hat das nicht noch ein paar Wochen Zeit?“

„Nein, leider nicht.“ Priscilla brauchte endlich Antworten auf die Fragen, die sie noch nicht auszusprechen gewagt hatte.

„Es muss ein Trost für dich sein, dass dein Vater nicht mehr leidet“, meinte Sylvia.

Vor ein paar Monaten hatte Priscilla sich freigenommen, um ihn zu pflegen. „Ja, wenigstens das“, seufzte sie. „Er ist jetzt an einem besseren Ort.“

„Und bei deiner Mutter.“

Priscilla nickte. Clinton Richards war nach dem Tod seiner Frau vor zwanzig Jahren zutiefst erschüttert gewesen. Er hatte nie wieder geheiratet, sondern sich ganz seiner Tochter gewidmet. Als Priscilla an der Brown University angenommen wurde, zog er sogar nach Providence, Rhode Island, um in ihrer Nähe zu sein. Und als sie den Job bei Sunshine Valley Books bekam, zog er erneut um – nach New York. Als selbstständiger Webdesigner hatte er zu Hause gearbeitet und war daher flexibler als andere Väter gewesen.

Priscilla hakte sich bei Sylvia ein und ging mit ihr zur Haustür. „Es ist eine tolle Party, Sylvia, aber ich muss nach Hause“, sagte sie.

„Nein, das musst du nicht.“ Ihre Freundin hob das fast leere Glas. „Trink noch einen Schluck.“

„Lieber nicht. Seit ein paar Tagen habe ich Magenschmerzen.“ Zumindest seit gestern Nacht. Seit sie nach dem beunruhigenden Albtraum um zwei Uhr morgens schweißgebadet aufgewacht war. Und es war noch schlimmer geworden, nachdem sie ins Schlafzimmer ihres Vaters gegangen und in seiner Truhe gewühlt hatte.

„Wahrscheinlich liegt es am Stress“, sagte Sylvia.

„Das glaube ich auch.“ Aber es war mehr als das.

Priscilla ahnte, was es war. Der sanftmütige Witwer hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Ein Geheimnis, das Priscilla unbedingt lüften wollte. Würde es ihr besser gehen, wenn sie sich Sylvia anvertraute? Vielleicht, obwohl jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Sie wollte ihrer Freundin nicht die Stimmung verderben. Doch dann atmete sie tief durch. „Ich hatte in der letzten Nacht einen schrecklichen Traum.“

„Einen Albtraum? Die können ziemlich beunruhigend sein.“

„Oh ja. Genau wie verdrängte Erinnerungen. Und ich glaube, darum ging es.“

Sylvia stellte ihr Glas auf das Tablett eines aufmerksamen Kellners und konzentrierte sich ganz auf Priscilla. „Wie meinst du das?“

Sie war nicht sicher. Zuerst war da nur eine Rastlosigkeit gewesen. Dann ein vager Eindruck aus verschiedenen Bildern und Wahrnehmungen. Was war alles im Traum vorgekommen? Ein zweistöckiges Haus. Der Duft von Vanille und Gewürzen. Gutenachtgeschichten. Laute Stimmen und Tränen. Ein Marmortisch, der zu Boden krachte.

Der Rest des Traums schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr, und Priscilla versuchte, ihn abzuschütteln. „Als ich aufwachte, war ich so unruhig, dass ich in das Zimmer meines Vaters gegangen bin und in die alte Truhe meines Vaters geguckt habe.“

„Was hast du gefunden?“

„Hinweise darauf, dass mein Name vielleicht gar nicht Priscilla Richards ist.“

„Wow.“ Sylvia legte die Stirn in Falten und sah ihre Freundin ungläubig an. „Bist du sicher?“

„Nein, aber bevor ich dieser Sache nicht auf den Grund gegangen bin, kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Wenn ich bloß wüsste, wo ich mit meinen Nachforschungen anfangen soll.“

Sylvia schwieg einen Moment, dann erhellte sich ihr Gesicht. „Warte hier.“

„Wohin willst du?“

Wortlos eilte Sylvia davon, wich nur knapp einer Kellnerin mit einem Tablett voller Häppchen aus und verschwand im Arbeitszimmer ihres Vaters.

Sylvia kann ja so dramatisch sein, dachte Priscilla, blieb jedoch wie ein gehorsames Kind an der Haustür stehen.

Sekunden später kam Sylvia zurück und drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. „Das ist die Firma, von der mein Vater seine Mitarbeiter überprüfen lässt, bevor er sie einstellt.“

Priscilla überflog die Karte.

Garcia und Partner

Diskrete Ermittlungen

Niederlassungen in Chicago, Los Angeles und Manhattan

Trenton J. Whittaker

„Es ist eine überaus angesehene Detektei“, sagte Sylvia. „Natürlich ist sie nicht billig. Aber ich leihe dir gern, was du brauchst.“

„Danke. Aber mein Vater hatte einige Ersparnisse und war gut versichert. Ich komme schon zurecht.“

„Übrigens bin ich diesem Trenton Whittaker schon begegnet.“ Sylvia lächelte. „Vorgestern, im Büro meines Vaters. Ein toller Typ. Aus den Südstaaten, mit sanfter Stimme und so sexy, dass man dahinschmelzen könnte.“

Priscilla schüttelte den Kopf. „Wenn ich einen Privatdetektiv engagiere, dann ganz sicher nicht wegen seines Aussehens oder seiner Stimme.“

„Mit Garcia und Partnern machst du nichts falsch. Die sind eine Spitzenfirma. Und wenn der Detektiv dann auch noch ein attraktiver Single ist, wo liegt das Problem? Dein Liebesleben könnte eine Vitaminspritze gebrauchen. Und glaub mir, Priscilla, der Typ ist wirklich aufregend. Wenn ich nicht mit Warren zusammen wäre, hätte ich ihn mir selbst geschnappt.“

Priscilla hatte kein Interesse, einen Mann zu finden. Für eine glückliche Zukunft gab es in ihrer Vergangenheit zu viele ungelöste Rätsel. Sie steckte die Karte ein und reichte Sylvia ihr fast volles Champagnerglas.

„Nochmals herzliche Glückwünsche zur Beförderung. Und danke für die Einladung.“

„Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken.“ Sylvia stellte das Glas ab. „Du bist wirklich meine beste Freundin.“

„Und du meine.“ Priscilla umarmte sie.

„Hey, mir ist gerade etwas eingefallen.“

Priscilla drehte sich zu ihr um. „Was denn?“

„Erinnerst du dich an das Buch für junge Erwachsene, das du vor einer Weile betreut hast? Das über den Cowboy beim Rodeo?“

Es war gut geschrieben, mit lebendigen Schilderungen und einer sympathischen Hauptfigur.

Priscilla nickte. „Was ist damit?“

„Du hast mir gesagt, dass du dir vorstellen könntest, mit so einem Cowboy in den Sonnenuntergang zu reiten.“

„Ach ja? Das hatte nichts zu bedeuten.“ Es war nur eine träumerische Bemerkung gewesen. Schließlich liebte Priscilla New York und war dort aufgeblüht. Sogar die Hektik und der Trubel gefielen ihr. Allein schon deshalb kam ein Cowboy als Lover nicht in Frage.

„Ich habe doch gesehen, wie deine Augen leuchteten, als du die Hand auf den Buchumschlag gelegt hast. Du hast den Cowboy auf dem Foto praktisch gestreichelt. Dein Herz hat gesprochen, Priscilla. Und ich habe den idealen Mann für dich gefunden.“

„Was redest du da? Ein Mann ist wirklich das Letzte, was ich zurzeit brauche.“

„Wie wäre es mit einem Privatdetektiv, der in Manhattan lebt, aber wie ein Südstaatler spricht? Ein Mann, den sie den Cowboy nennen.“

„Cowboy“ Whittaker saß an seinem Schreibtisch im New Yorker Büro von Garcia und Partnern, mit dem Rücken zu dem beeindruckenden Ausblick auf das Empire State Building.

Er hatte gerade mit einer Klientin telefoniert, einer allein erziehenden Mutter, die sich bei ihm bedanken wollte, weil ihr gerade zum ersten Mal die Unterhaltszahlungen überwiesen worden waren. Der Cowboy hatte ihren Exmann gefunden, nachdem dieser mit einem Off-Broadway-Showgirl durchgebrannt war. Jetzt wurde sein Gehalt gepfändet, und der Mann musste endlich für seine Kinder aufkommen.

Zahlungsunwillige Väter waren am schlimmsten.

Nicht, dass der Cowboy auf dem Gebiet Experte war. Er hatte zu viel gearbeitet, um eine eigene Familie zu gründen. Aber wenigstens hatte er immer genug Geld gehabt.

Dann seufzte er laut. Er konnte es kaum abwarten, wieder einen Auftrag zu übernehmen und das zu tun, was er am besten konnte – ahnungslosen Mitmenschen mit seiner ungezwungenen Art Geheimnisse zu entlocken.

Sein texanischer Akzent ließ die Leute oft glauben, dass er ein Hinterwäldler war, und so kam es, dass sie ihm Dinge erzählten, die kein anderer Privatdetektiv ihnen jemals entlocken würde. Also nutzte er es aus und trug manchmal besonders dick auf.

Ja, er liebte seinen Beruf.

Was er nicht liebte, war die Büroarbeit.

Aber bis Rico Garcia, sein Chef und Freund, aus den Flitterwochen auf Tahiti zurückkehrte, war Trent an den Schreibtisch gefesselt.

Zum Glück würde Rico morgen Abend wieder in der Stadt sein.

Er überflog gerade den Bericht eines Mitarbeiters, als die Sprechanlage summte.

Margie, die Sekretärin, wollte ihm wahrscheinlich mitteilen, dass sein Fünfzehn-Uhr-Termin eingetroffen war – jemand, dem er von Byron Van Zandt empfohlen worden war.

Er drückte auf den blinkenden Knopf. „Ja, Margie?“

„Priscilla Richards ist hier.“

„Danke, schick sie herein.“ Er klappte die Akte zu und schob sie zur Seite.

Als die Tür aufging, stand er auf – was zu den tadellosen Umgangsformen gehörte, die seine Mutter ihm eingeimpft hatte.

Margie ging zur Seite. Eine attraktive, etwa einssechzig große Rothaarige in einem konservativen cremefarbenen Kostüm betrat den Raum. Das lockige Haar hatte sie zu einem strengen Zopf geflochten. Sie trug nur einen Hauch von Lippenstift und Mascara. Mehr Make-up brauchte sie nicht.

Manche Frauen sahen toll aus, wenn sie abends loszogen, glichen beim Aufwachen jedoch eher einer Vogelscheuche. Trent war sicher, dass seine Besucherin auch morgens vor dem Aufstehen gut aussah. Am liebsten hätte er es selbst herausgefunden, aber leider stand er nicht auf elegante Frauen aus gutem Haus. Nicht mehr, seit seine Mutter versuchte, ihn mit einer Debütantin nach der anderen zu verkuppeln. Er hatte sich in der feinen Gesellschaft von Dallas nie wohl gefühlt und zog auch jetzt noch lebenslustige Mädchen vor, die jeden Spaß mitmachten.

Aber nur, wenn er nicht im Dienst war. Mit Klientinnen fing er nichts an, aber manchmal flirtete er mit ihnen – weil es das Leben interessant machte.

Trotzdem weckte diese junge Dame seine Neugier. Vielleicht lag es an den roten Locken oder an den großen blauen Augen, die einen Mann um den Verstand bringen konnten. Doch die Art, wie sie den Riemen ihrer Umhängetasche umklammerte, verriet ihm, dass sie wahrscheinlich sofort die Flucht ergreifen würde, sobald er unsachlich wurde.

Schade. Trent fand es immer gut, wenn Frauen sich in seiner Gegenwart entspannten und lockerer wurden. Er ging um den Schreibtisch herum und legte eine Hand auf den Ledersessel, der für Besucher reserviert war und ihnen einen spektakulären Blick auf die City bot. „Nehmen Sie Platz, Ma’am.“

„Danke, Mr. Whittaker.“

Er lächelte charmant. „Lassen Sie doch die Förmlichkeiten. Zu Hause in Dallas heiße ich Trent und hier in Manhattan Cowboy. Sie haben die Wahl.“

Sie räusperte sich. Offenbar war sie nervös, was ihn noch neugieriger machte.

Er setzte sich. Der Sessel knarrte unter seinem Gewicht. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin nicht sicher, womit ich anfangen soll. Das ist alles so neu für mich.“

Was für eine Stimme, dachte Trent. Ein sanftes, sexy Schnurren. Doch sofort zügelte er seine Fantasie und konzentrierte sich auf den Job. „Warum fangen Sie nicht einfach ganz von vorn an?“

Sie lehnte sich zurück, wirkte aber noch immer verkrampft. „Vor ein paar Tagen hatte ich einen beunruhigenden Traum.“ Sie holte tief Luft und stieß sie langsam aus. „Aber er war so echt, dass es vermutlich um eine verdrängte Erinnerung ging. Ich bin um zwei Uhr morgens aus dem Schlaf geschreckt. Mein Herz raste, und ich hatte Angst.“

„Wovon haben Sie geträumt?“

„Als ich ungefähr drei war, hat mein Vater mich mitten in der Nacht zu seinem Pick-up getragen und ist mit mir durch die Kleinstadt in Iowa gefahren, in der ich aufgewachsen bin.“

„Viele Leute fahren vor Sonnenaufgang los“, sagte er. „Dann sind die Straßen noch frei.“

„Ja, aber mein Vater hat mir auf dem Weg aus dem Haus dauernd gesagt, dass ich ruhig sein soll. Und dass alles gut werden würde.“

„Erinnern Sie sich konkret daran? Oder haben Sie es nur geträumt?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht beides. Jedenfalls bin ich noch gestern Nacht ins Schlafzimmer meines Vaters gegangen und habe seine Sachen durchgesehen. Das hatte ich bis dahin immer wieder hinausgeschoben.“

Trent vermutete, dass sie dabei etwas entdeckt hatte, was ihren Verdacht bestätigte. Er konnte es nur hoffen, denn er brauchte mehr Informationen, bevor er für sie aktiv werden konnte.

„Mein Vater hatte eine alte Truhe aus Zedernholz, die er im Werkunterricht in der Highschool gebaut hatte. Darin verstaute er seine Sachen. Zum Beispiel eine Armee-Uniform oder ein Pfadfinderhemd mit all seinen Abzeichen. Und seine Entlassungspapiere vom Militär.“

„Und?“

„Sein richtiger Name lautete nicht Clinton Richards, sondern Clifford Richard Epperson. Und ich brauche jemanden, der für mich herausfindet, warum er seinen Namen geändert hat.“

„Ist das alles?“

Ja. Nein. Priscilla war nicht sicher.

„Nun ja, da ist noch etwas. Auch wenn es vielleicht nichts zu bedeuten hat“, sagte sie und musterte ihn unauffällig. Mr. Whittaker – Cowboy – war groß, mindestens einsachtzig. Sein hellbraunes Haar war modisch zerzaust, aber das kam vermutlich von dem weißen Cowboyhut, der auf der anderen Seite des riesigen Mahagoni-Schreibtisches lag. Seine Augen glänzten wie Bernstein im Sonnenschein. Und seine Stimme hatte etwas ungemein Verführerisches. Kein Zweifel, Sylvia hatte recht. So sexy, dass man dahinschmelzen könnte.

„Und was ist es?“

Hastig wandte sie den Blick ab. „Wie bitte?“

„Sie sagten, da sei noch etwas, was ich wissen sollte.“

„Oh. Ja. Ich war so … in meine Erinnerungen vertieft.“ Wieder räusperte sie sich.

„Lassen Sie sich ruhig Zeit.“

„Mein Vater ist an Krebs gestorben. Es war ziemlich hart, auch wenn das Hospiz uns geholfen hat. Kurz bevor er ins Koma fiel, habe ich an seinem Bett gesessen und ihm gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Was für ein Glück ich hatte, ihn als Vater zu haben. Und dass ich ihn gehen lasse, damit er meine Mutter wiedersehen kann.“

Trent schwieg, also fuhr sie fort.

„Mein Vater nahm meine Hand und sagte etwas über meine Mutter. Aber er war kaum zu verstehen. Nur ‚Es tut mir leid‘ und ‚Gott möge mir verzeihen‘ habe ich genau gehört. Ich nahm an, dass er damit sagen wollte, wie leid es ihm tat, dass er mich allein ließ. Dass er seinen Frieden mit Gott schließen wollte, um in den Himmel zu kommen.“

„Aber jetzt sind Sie nicht mehr so sicher?“

Nein. „Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll“, gestand Priscilla. „Zunächst will ich wissen, warum er seinen Namen geändert hat. Das scheint mir der Schlüssel zu sein.“ Sie nahm einen vergilbten Umschlag aus der Tasche. Er enthielt die Entlassungspapiere ihres Vaters und ihre Geburtsurkunde, auf der als Eltern Clinton und Jezzie Richards eingetragen waren. „Sehen Sie? Die Namen passen nicht.“

„Wann ist Ihr Vater gestorben?“

„Am 4. Juli.“

Trent warf einen Blick auf die Unterlagen. „Es dürfte nicht allzu schwierig sein, das herauszufinden.“

„Gut. Es ist höchste Zeit, dass ich wieder arbeite und mein Leben in die Hand nehme. Aber wenn ich nicht mehr über die Vergangenheit weiß, kann ich nicht in die Zukunft blicken.“ Und ohne Antworten auf die quälenden Fragen würde sie sich nicht auf die Bücher konzentrieren können. Auf die Geschichten, die Kindern das Herz wärmen sollten. Nicht, solange ihre eigene Kindheit so verwirrend war.

Auf dem College hatte sie versucht, ihre Erinnerungen zu ordnen.

Die Jahre, die sie mit ihrem Vater in Iowa gelebt hatte, waren glücklich gewesen.

Doch die Zeit danach war verschwommen. Hin und wieder sah sie ein Bild vor sich. Oder ein Geräusch. Ein großes weißes Haus mit einer knarrenden Treppe. Das Nachtlicht, Snoopy mit einem abgebrochenen Ohr. Eine Schaukel unter einer alten Eiche. Eine gesichtslose dunkelhaarige Frau, die Kekse mit bunten Streuseln backte.

„Wo kann ich Sie erreichen?“, fragte Trent.

Priscilla holte eine Visitenkarte und einen Füllfederhalter heraus und schrieb ihre private Telefonnummer auf die Rückseite, bevor sie sie ihm reichte.

Er betrachtete die Karte. Links oben befand sich die Kinderzeichnung einer Sonne, rechts unten die eines Baums.

„Sunshine Valley Books“, las er. „Priscilla Richards, Lektorin.“

„Wir verlegen Kinderbücher.“

Er lächelte. „Knapp daneben.“

„Knapp daneben? Wie meinen Sie das?“

„Ich hätte auf Bibliothekarin getippt.“

Sie lächelte. Auch Sylvia hatte richtig getippt. Cowboy Whittaker war ein Charmeur. Und wahrscheinlich ein ungebundener Junggeselle, der jede Frau, der er begegnete, am liebsten gleich zum Essen ausführen wollte. Und anschließend ins Bett.

Priscilla hatte absolut kein Interesse, sich in die lange Liste seiner Eroberungen einzureihen. Aber das hieß nicht, dass sie seine Nähe nicht genießen durfte. „Wissen Sie“, begann sie und stand auf. „Ich mag Ihren Akzent. Er ist …“ Sie verstummte. Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie ihn sexy fand. „Ihre Stimme klingt sehr angenehm.“

„Was Sie nicht sagen. Ich finde Ihre Stimme auch sehr reizvoll.“ Er lächelte jungenhaft. „Sie ist unglaublich erotisch.“

Priscilla schluckte.

Flirtete er etwa mit ihr? Oder machte er sich über sie lustig?

Er folgte ihr zur Tür und tastete nach der Klinke. „Margie hat mit Ihnen wohl über das Honorar gesprochen.“

Sie nickte. „Ja. Ich habe auch schon eine Anzahlung geleistet.“

„Es dürfte nicht mehr als ein paar Tage dauern, bis ich Ihnen eine Antwort liefern kann. Danach sehen wir weiter.“

„Danke.“

Er hielt ihr die Tür auf.

Beim Durchgehen warf sie einen Blick über die Schulter. Der Anblick war wirklich spektakulär.

Und damit meinte sie nicht den aus seinem Fenster.

Er lächelte. „Ich rufe Sie an.“

Priscilla wusste, dass er von seinem Auftrag sprach. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es wohl wäre, auf einen privaten Anruf von ihm zu warten.

Das war albern. Der Mann konnte sich vermutlich nicht vor Frauen retten, die um seine Aufmerksamkeit wetteiferten. Und sie hatte nicht vor, mit irgendjemandem in den Sonnenuntergang zu reiten.

Jedenfalls nicht, bevor sie das Geheimnis ihres Vaters aufgedeckt hatte.

2. KAPITEL

Trent drehte seinen Schreibtischsessel nach hinten und betrachtete das in der Abendsonne liegende Manhattan.

Dieser Tag gefiel ihm immer weniger.

Erst hatte seine Mutter angerufen und darauf bestanden, dass er in zwei Wochen nach Hause kam. Er sollte unbedingt an der exklusiven Dinnerparty teilnehmen, mit der sie die Wahlkampagne seines Schwagers einläuten wollte. Der Mann kandidierte für das Abgeordnetenhaus in Washington.

Das war ein Pflichttermin für alle Whittakers. Und einer, vor dem Trent sich als schwarzes Schaf der Familie lieber drücken würde.

Er war der jüngste Sohn einer durch Öl reich gewordenen Familie und schon als Rebell zur Welt gekommen, und seit dem ersten Tag hatte seine Mutter ihn zu zähmen versucht. Aber Trent hatte sich nach Kräften gewehrt.

Schließlich gab seine Mutter auf, doch das hinderte sie nicht daran, ihn mit jeder „passenden“ Debütantin verkuppeln zu wollen. Sie schien noch immer zu hoffen, dass die richtige Frau ihn zur Besinnung bringen würde.

Trent interessierte sich für keine von ihnen. Im Gegenteil, er gewöhnte sich an, Begleiterinnen mit nach Hause zu bringen, die in den Augen seiner Mutter alles andere als standesgemäß waren.

Nicht, dass er eine nichts ahnende Freundin dazu missbrauchte, seiner Mutter eine Lektion zu erteilen. Seine angeblichen „Dates“ wussten ganz genau, worauf sie sich einließen. Er weihte sie jedes Mal ein, und sie kleideten sich entsprechend. Das gehörte alles zum Spiel.

Elena Cruz, das letzte Mädchen, hatte alle schockiert. Kein Wunder, Stiletto-Absätze, schwarzer Minirock, Nabelring und auf den Bauch geklebte Tätowierungen wurden auf dem Whittaker-Anwesen eher selten gesichtet.

Später bei einem Bier hatten Elena und Trent über die Reaktion seiner Mutter herzlich gelacht.

Aber zwischen ihm und Virginia Whittaker ging es um weit mehr als nur Rebellion.

Seit fünfzehn Jahren herrschte zwischen ihnen ein kalter Krieg. Der hatte begonnen, als sie unerwartet ins Wohnzimmer gekommen war und ihn und Jenny Dugan bei einem Zungenkuss erwischt hatte. Sie hatte die arme Fünfzehnjährige verächtlich behandelt und damit eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die letztlich zum Tod des Mädchens geführt hatten. Jedenfalls hatte Trent es so gesehen und seiner Mutter niemals verziehen.

Nicht, dass sie ihn darum gebeten hatte. Vielleicht war er ihr deshalb noch immer ein Dorn im Auge.

Mittlerweile herrschte zwischen ihnen ein angespannter Waffenstillstand. Und das lag daran, dass er irgendwann spontan nach New York geflogen war. Dort hatte er Rico kennengelernt und als Ermittler in dessen Detektei angefangen.

Seitdem war das Familienleben zwar nicht unbedingt harmonischer, aber wesentlich friedlicher.

Trent sah auf den Kalender. Für den 23. Juli war nichts eingetragen, also würde er nach Dallas fliegen und das Wochenende auf dem Anwesen verbringen – seiner Schwester wegen.

Aber es war nicht nur der Anruf seiner Mutter gewesen, der ihm diesen Tag verdorben hatte. Gerade eben hatte er etwas herausgefunden, was das Leben seiner neuesten Klientin gründlich auf den Kopf stellen würde. Er freute sich wirklich nicht darauf, es ihr zu erzählen. Zunächst hatte er Priscilla Richards telefonisch informieren wollen, um sich ihre Tränen zu ersparen. Aber das wäre feige. Nein, er musste sich mit ihr treffen, auch wenn ihm davor graute.

„Hey“, ertönte eine vertraute Stimme von der offenen Bürotür her.

Trent drehte sich um und lächelte. Er brauchte seinen Chef nicht zu fragen, wie die Flitterwochen gewesen waren. Rico strahlte übers ganze Gesicht. Kein Zweifel, der Mann war bis über beide Ohren in seine junge Frau verliebt. „Höchste Zeit, dass du wieder hier bist, alter Junge.“

„Ich dachte mir, ich sehe gleich mal nach, ob meine rechte Hand die Firma schon in den Ruin getrieben hat.“ Rico ging zum Schreibtisch. „Wie läuft es denn?“

„Bisher ganz gut.“

Rico musterte ihn kurz. „Du bist nicht der Typ, der den Ausblick genießt. Was ist los?“

„Nur die nächste Einladung von zu Hause.“ Trent zuckte mit den Schultern. „Außerdem muss ich einer sympathischen Klientin eine schlechte Nachricht überbringen.“

„Kenne ich sie?“

„Nein, sie ist neu. Byron Van Zandt hat ihr uns empfohlen.“

„Wo ist das Problem? Im Umgang mit Frauen bist du doch ein Ass.“

Trent schnaubte. „In diesem Fall nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil sie nicht zu den Frauen gehört, bei denen ich meinen Charme einsetze. Das ist alles.“

Priscilla war vielleicht nicht so wohlhabend und prominent wie die Singles unter den oberen Zehntausend von Dallas, aber sie würde gut zu ihnen passen. Sie gehörte zu den Frauen, denen ihr Ruf wichtig war und die nur mit Männern ausgingen, die sie mit auf die High-Society-Veranstaltungen schleifen konnten. Und Trent wollte verdammt sein, bevor er sich jemals wieder Situationen aussetzte, vor denen er nach New York geflüchtet war.

Rico ließ sich in den Besuchersessel fallen. „Klingt nach einer alten Schrulle oder nach Daddys Liebling. Zu welcher Sorte gehört sie?“

Trent lachte. „Sie ist nicht alt. Und wenn sie sich etwas natürlicher geben würde, könnte sie mir direkt gefallen. Aber mein Bauch sagt mir, dass sie für einen Mann wie mich viel zu nett ist. Und ich stehe nicht auf nette Mädchen, wie du weißt.“

„Ja. Wie gut, dass sie nicht dein Typ ist, was? Sonst hättest du jetzt ein echtes Problem. Schließlich gehst du nie mit Klientinnen aus.“

„Genau.“ Trent war nicht sicher, wieso ausgerechnet diese Klientin sein Mitgefühl geweckt hatte.

„Was macht dir denn bei diesem Fall Sorgen?“, fragte Rico.

„Wenn ich das wüsste. Ich habe einfach nur das Gefühl, dass sie zusammenbrechen könnte. Und ich bin denkbar ungeeignet, jemanden zu trösten.“

„Wie kommst du darauf, dass sie so emotional reagieren wird?“

„Sie hat gerade ihren geliebten Vater verloren, und ich muss ihr schonend beibringen, dass er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hat.“

Sein Chef lehnte sich zurück. „Was hast du herausgefunden?“

„In Texas liegen zwei Haftbefehle gegen ihn vor.“

„Weswegen?“

„Einer wegen Körperverletzung. Der andere wegen Entführung.“

Priscilla saß im Schlafzimmer ihres Vaters auf dem Fußboden und legte seine Kleidungsstücke in einen Karton für die Heilsarmee.

Der Raum roch immer noch nach ihm. Old Spice und Pfeifentabak, aber auch Medizin, die sie daran erinnerte, wie sehr er zuletzt gelitten hatte.

Die Aktenschränke hatte sie schon gesichtet. Sie hatte alte Steuererklärungen, bezahlte Rechnungen und den Kraftfahrzeugbrief für den Ford Taurus gefunden, den er vor fast sieben Jahren gekauft hatte. Außerdem ihre Geburtsurkunde, die sie Trent gegeben hatte, sowie ihren Impfausweis und alte Zeugnisse.

Kein Trauschein.

Nichts aus ihrer Kindheit.

Aber das war zu erwarten gewesen. Das durch eine schadhafte Stromleitung verursachte Feuer hatte ihre Mutter getötet und das hundert Jahre alte Haus, in dem sie gelebt hatten, dem Erdboden gleichgemacht. Der gesamte Besitz der Familie, einschließlich der Fotos und Erinnerungsstücke, war den Flammen zum Opfer gefallen.

Nur die Truhe ihres Vaters hatte das Feuer überstanden. In jener kalten Nacht, in der er und Priscilla Texas für immer verlassen hatten, war sie auf der Ladefläche des Pick-ups mit nach Iowa gekommen.

Priscilla legte die Hand auf das polierte Zedernholz. Ihr Vater hatte es sorgfältig geschliffen und lackiert, bevor er die Truhe ihrer Mutter für ihre Aussteuer geschenkt hatte. Vorsichtig hob sie den Deckel an und zog die grüne Armee-Uniform heraus.

Vor vielen Jahren hatte sie ihren Vater einmal dabei überrascht, wie er in die Truhe sah. Er zuckte zurück, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Seine Augen waren rot und feucht gewesen, und er hatte hastig das Hemd zusammengeknüllt und wieder in die Truhe gestopft.

„Wie wäre es mit einem Eis?“, hatte er schnell gefragt, um das Thema zu wechseln.

Verwirrt wollte sie mit ihm über die Vergangenheit, seine Trauer und den Tod ihrer Mutter reden. Doch wann immer sie Texas oder seine verstorbene Frau erwähnte, verfinsterte sich seine Miene, und Priscilla spürte, dass sie in einer Wunde rührte, die nie verheilt war. Also schwieg sie, ließ das Vergangene ruhen und ging mit ihm Eis essen.

Und jetzt, nach seinem Tod, wusste sie kaum etwas über den Mann, der er wirklich gewesen war. Ihr Blick fiel auf die losen Fäden an dem Hemd auf der linken Brustseite.

Hatte er ein Namensschild entfernt, um seine wahre Identität vor ihr zu verbergen? Und falls ja, warum hatte er die Uniform nicht einfach weggeworfen?

Priscilla legte es zur Seite, nahm das Pfadfinder-Shirt heraus und betrachtete die Abzeichen. Bogenschießen. Schwimmen. Zelten. Kanufahren. Erste Hilfe. Die Truhe enthielt noch andere Gegenstände – einen Baseball-Handschuh, einen Football mit den Unterschriften seiner Mannschaftskameraden, ein Schweizer Armeemesser, ein Buch über Jagen und Camping. Offenbar war ihr Vater in seiner Jugend sehr sportlich gewesen.

Der Mann, den sie gekannt hatte, war ein stiller, zurückhaltender Mensch gewesen. Ein Bücherwurm, der das Haus nur verließ, um die Zeitung zu holen. Sie hatte es auf seine Behinderung zurückgeführt, eine alte Beinverletzung aus der Militärzeit. Jetzt dachte sie daran, dass er nie Sportübertragungen im Fernsehen verfolgt, sondern sich nur für sie, seine Bücher und den Computer interessiert hatte.

Das passte alles nicht zusammen.

Wer war ihr Vater gewesen?

Und noch wichtiger, wer war seine Tochter?

Priscilla würde nicht ruhen, bis diese Fragen beantwortet waren.

Als sie die Truhe ausgeleert hatte, starrte sie auf die pinkfarbene Tapete, die den Boden bedeckte. Eine Ecke war nach oben gebogen.

Sie wollte sie glatt streichen und streifte dabei mit den Fingern etwas, das darunterlag.

Eine Karte?

Sie hob die Tapete an. Zum Vorschein kam ein Foto. Es zeigte ihren Vater in einer Uniform, auf deren Brusttasche deutlich der Name „Epperson“ zu erkennen war. Er stand neben einem jungen Mädchen mit kurzen Haaren und einem hinreißenden Lächeln.

War das ihre Mutter?

Priscilla erinnerte sich nicht mehr an viel, aber sie wusste, dass ihre Mutter eine große, kräftige Frau gewesen war und dass sie es als Kind nicht geschafft hatte, die Arme um ihre Taille zu schlingen.

Aber das Mädchen auf dem Foto war zierlich.

Sie drehte es um.

Keine Namen. Kein Datum.

Bevor sie genauer hinsehen konnte, läutete es an der Tür.

Vermutlich war es Mrs. Hendrix mit einem neuen Auflauf. Die alte Witwe war einsam und hatte ihr in den letzten Monaten beigestanden. Priscilla wischte sich den Staub von den Händen, ging zur Haustür und sah durch den Spion.

Es war nicht Mrs. Hendrix, sondern Mr. Whittaker – der Mann, den sie Cowboy nannten.

Ihr Herz schlug schneller, und sie holte tief Luft, bevor sie die Tür öffnete.

Er nahm den Hut ab und lächelte.

Sie versuchte, ihr Erstaunen zu überspielen, und lächelte zurück. „Hi.“

„Ich war in der Gegend und dachte mir, ich komme vorbei, um mit Ihnen zu reden.“

„Ich …“ Sie zeigte nach hinten. „Ich sichte gerade die Sachen meines Vaters.“

„Komme ich ungelegen?“

Im Gegenteil. Im Moment lebte sie ohnehin mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. „Nein. Kommen Sie doch herein.“

Der große Mann betrat das Wohnzimmer, und sofort nahm sie sein Aftershave wahr – ein unaufdringlicher, angenehmer Duft. Er trug ausgeblichene Jeans, ein Hemd und eine Lederjacke. Dann nahm er den Hut ab und sah dabei aus, als wäre er gerade aus einem Saloon auf die Hauptstraße von Dodge City gekommen. Unwillkürlich tastete Priscilla nach ihrer Frisur.

Er sah sich um. Sein Blick wanderte von den Kartons für die Heilsarmee zu den noch geschlossenen Vorhängen. „Ich hätte wohl erst anrufen sollen“, sagte er.

„Kein Problem. Ich bin meistens zu Hause. Wenigstens zurzeit.“ Sie zog das Gummiband vom Pferdeschwanz und strich mit den Fingern durchs Haar.

Als er sie ansah, ließ sie die Hände sinken. „Haben Sie etwas über meinen Vater herausgefunden?“

„Ja“, sagte er ernst. „Es sind noch weitere Nachforschungen erforderlich, aber in welchem Umfang – das liegt ganz bei Ihnen.“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Gehen wir spazieren.“

Spazieren? „Sie wollen nicht hier reden?“

Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich bin gern an der frischen Luft.“

Einige Minuten später wartete er, bis sie die Haustür abgeschlossen hatte, dann steuerten sie den Park des Viertels an.

„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Priscilla.

„Ihr Vater wurde als Clifford Richard Epperson geboren und hat seinen Namen niemals amtlich in Clinton Richards ändern lassen.“

„Also heiße ich eigentlich Priscilla Epperson?“

„Richtig.“

„Was ist mit der Geburtsurkunde, die ich Ihnen gegeben habe? Die lautet auf Richards.“

„Die Urkunde ist eine gute Kopie, aber gefälscht.“

Priscilla stockte der Atem. Ihr Leben basierte auf Lügen. Sie wartete darauf, dass Trent weitersprach. Als er es nicht tat, brach sie das angespannte Schweigen. „Was haben Sie sonst noch erfahren?“

„Ihr Vater ist in Cotton Creek, Texas, zur Welt gekommen und aufgewachsen. Dort haben er und Ihre Mutter bis nach Ihrer Geburt gelebt.“

„Von dem Ort habe ich noch nie gehört. Er hat immer gesagt, wir hätten in einem Kaff etwa zwei Stunden Autofahrt von Austin entfernt gewohnt.“

„Cotton Creek liegt viel näher an Austin.“

Oh Gott. Ihr Vater hatte sie angelogen. Sie schwankte zwischen Wut und Enttäuschung. „Warum hat er seinen Namen geändert? Steckte er in Schwierigkeiten?“, fragte sie.

Trent berührte sie am Rücken und führte sie zu einer Parkbank im Schatten. „Setzen wir uns.“

Priscilla wollte nicht sitzen, sondern hören, was ihr Vater ihr noch alles verheimlicht hatte. Sie hatte das Gefühl, als wollte Trent es ihr langsam und schonend beibringen. Dafür war sie ihm dankbar, aber sie war zäher, als er glaubte.

„Setzen Sie sich“, sagte er.

Wie das brave Kind, das sie immer gewesen war, gehorchte Priscilla. Das Kind, das verzweifelt versucht hatte, dem Vater das Leben zu erleichtern. Dem Vater, der seine Tochter angelogen hatte.

„Was wissen Sie über Ihre Mutter?“, fragte Trent.

„Nicht viel. Sie und mein Vater waren schon auf der Highschool zusammen. Und sie starb, als ich drei war. Ihr Name war Jezzie. Aber vielleicht stimmt das auch nicht.“

„In Ihrer echten Geburtsurkunde ist eine Rebecca Mae Epperson als seine Ehefrau eingetragen.“

Jetzt war Priscilla froh, dass sie saß. „Sind Sie sicher?“

„Ja. Und Rebecca Mae Epperson lebt noch immer in Cotton Creek.“

Seine Worte trafen sie wie ein Faustschlag, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprechen konnte.

„Meine Mutter lebt?“, brachte sie schließlich heraus. „Was ist mit dem Feuer?“

„Von einem Feuer weiß ich nichts. Aber Ihr Vater wurde beschuldigt, ein Kind entführt zu haben, ohne dass ihm das Sorgerecht zugesprochen worden war.“

Großer Gott. Der Puls hämmerte in ihren Ohren. Obwohl sie am liebsten protestiert und Trent beschimpft hätte und anschließend einfach nach Hause gerannt wäre, war sie überzeugt, dass er die Wahrheit sagte.

„Er hat mir erzählt, dass meine Mutter zu Hause blieb, um auf die Möbelpacker zu warten. Sobald alles erledigt wäre, sollte sie nach Rapid City fliegen. Dorthin wollten wir umziehen. Aber am Abend vor ihrer Abreise hat er angeblich einen Anruf bekommen. Er sagte, es habe ein Feuer gegeben, und sie sei darin umgekommen.“

Das alles war eine einzige Lüge gewesen.

Eine Träne lief ihr über die Wange, und mit zitternden Fingern wischte Priscilla sie fort. Ihre Unterlippe zitterte, und sie biss darauf, um nicht völlig die Fassung zu verlieren.

Es war zu viel. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Hilflos sah sie Trent an. „Und nun? Wie machen wir weiter?“

Wie machen wir weiter? Wir? Trent wusste es nicht. Aber Priscilla sah ihn an, als hätte er sämtliche Antworten parat. „Das kommt darauf an“, erwiderte er.

„Worauf?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie blinzelte heftig.

„Ob Sie mit Ihrer Mutter Kontakt aufnehmen wollen.“

„Ich muss es wohl, aber …“ Sie seufzte. „Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Was soll ich tun? Einfach bei ihr auftauchen und verkünden, dass ich ihre verschollene Tochter bin?“

„Sie könnten ihre Nummer ermitteln, sie anrufen und ihr sagen, dass Sie leben.“

„Und dann?“

Hilfe suchend sah sie ihm ins Gesicht. Genau das hatte er befürchtet. Dass sie sich auf ihn verließ und er nicht wusste, was er tun sollte.

Er dachte an Jenny, und wie er versagt hatte, als sie ihn brauchte. Er wollte davonlaufen, nicht nur vor der Erinnerung, sondern auch vor dieser Situation. Er war kein sehr emotionaler Mensch und hasste es, wenn jemand ihm sein Herz ausschüttete.

Außerdem war dieser Fall abgeschlossen. Trent hatte herausgefunden, wer ihr Vater wirklich gewesen war. Jetzt konnten ihre Freunde sich um sie kümmern. Wahrscheinlich gab es darunter einige, die auf dem Gebiet wesentlich begabter waren als er.

Doch dann fiel sein Blick in ihre Augen. Es waren die ausdrucksvollsten, die er je gesehen hatte. Ihr Blau erinnerte ihn an Kornblumen.

„Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein Bier aus“, sagte Trent, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er stand auf und streckte die Hand aus.

Sie ergriff sie und ließ sich aufhelfen. „Eigentlich trinke ich keinen Alkohol, aber heute könnte ich ein Glas Wein gebrauchen.“ Sie ließ seine Hand wieder los.

Ihr Haar flatterte im Wind, und ein blumiger Duft stieg ihm in die Nase. Flieder, nahm er an.

Was immer es war, es gefiel ihm.

Etwas zu sehr.

Für einen Mann, der eben noch in sein Büro hatte flüchten wollen, fiel es ihm allzu leicht, mit der hübschen Rothaarigen durch den Park zu schlendern. „Sie müssen heute noch nichts entscheiden.“

„Nein. Es gibt vieles zu bedenken.“ Sie sah zu ihm hoch, und in ihrem herzförmigen Gesicht spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle.

Wahrscheinlich war sie wütend auf ihren Vater. Verletzt. Verwirrt. Und sicher suchte sie Trost.

Hoffentlich nicht bei ihm. Mit Gefühlen umzugehen war nie seine Stärke gewesen. Und dann war da noch Jenny. Als sie eine starke Schulter benötigt hatte …

Verdammt. Ein zweites Mal wollte er das nicht durchmachen.

Doch als er vorhin Priscillas Haus betreten hatte, waren ihm die geschlossenen Vorhänge und der muffige Geruch aufgefallen. Er hatte sie dort herausholen wollen. Aus dem Mausoleum in den Sonnenschein.

Sie jetzt zurückzubringen, kam nicht in Frage. Nicht bevor er sicher war, dass sie allein zurechtkommen würde.

Beim Gehen berührte ihre Schulter seinen Arm, als wären sie schon lange befreundet. Wie Jenny damals, dachte er. Auch sie hatte ihn immer wieder berührt und an seinem Ärmel gezupft. Die Erinnerung ernüchterte ihn.

„Wo ist die nächste Bar?“, fragte er, als sie den Park verließen.

„‚Riley’s‘ ist nur ein paar Blocks entfernt.“

„Gut.“ Trent würde ihr ein Glas Wein oder auch zwei spendieren und vorschlagen, dass sie entweder Rebecca Epperson in Texas oder eine gute Freundin hier in New York anrief. Vielleicht würde sie für eine Weile vergessen, dass ihr Vater sie belogen hatte, und die Mutter besuchen, die sie nie kennengelernt hatte.

Dann würde Trent sich beruhigt zurückziehen können. Er und das schlechte Gewissen, das immer wieder auftauchte und ihn daran erinnerte, dass es nicht seine Mutter gewesen war, die Jennys Tod verursacht hatte.

Sondern er.

In einer dunklen Ecke von „Riley’s“ – einer kleinen Bar, die um drei Uhr nachmittags fast leer war – saß Priscilla Trent gegenüber und nippte an ihrem Weißwein, während er einen Schluck Bier nahm.

„Sie sind zwar ein Leichtgewicht“, sagte er und zeigte mit dem Kinn auf ihr fast volles Glas. „Trotzdem werden Sie mehr davon trinken müssen, wenn Sie diesen Tag etwas erträglicher machen wollen.“

Sie rollte eine Ecke ihrer Serviette auf, bevor sie den Kopf hob und Trent ins Gesicht sah. „Ich habe nicht vor, meine Probleme in Alkohol zu ertränken, falls Sie das meinen.“

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen.“ Er lächelte aufmunternd. „Keine Angst, ich will Sie nicht betrunken machen. Ich habe nämlich keine Lust, Sie nach Hause zu tragen.“

„Es hörte sich aber so an.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie wollten, dass ich mit einem Schnaps anfange. Und danach hätte ich unter dem Tisch gelegen. Ich bin keine harten Sachen gewohnt, und außer einem halben Bagel zum Frühstück habe ich heute noch nichts gegessen.“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. „Ich wollte Ihnen nur helfen.“

Sich zu betrinken war keine Lösung. Trotzdem war sie ihm dafür dankbar, dass er versucht hatte, sie auf andere Gedanken zu bringen. Sie war schon als Kind zwangsläufig ziemlich unabhängig geworden. Es tat ihr gut, dass ein Mann ihr die emotionale Unterstützung anbot, die sie von ihrem Vater nie bekommen hatte.

Aus irgendeinem Grund – einem Grund, den sie erst jetzt zu begreifen begann – hatte ihr Vater sich im Laufe der letzten Jahre immer mehr von ihr zurückgezogen, auch als er noch nicht wusste, wie krank er war. Er arbeitete als Webdesigner von zu Hause aus. Auf die Weise konnte er den direkten Kontakt mit seinen Kunden und der Außenwelt vermeiden. Mit der Zeit wurde er zum Einsiedler, was Priscilla große Sorgen bereitete.

Solange sie denken konnte, hatte sie sich gezwungen gefühlt, auf ihn aufzupassen und ihn zu beschützen. Dass es außer ihr niemanden gab, mit dem er reden konnte, hatte sie sehr belastet und überfordert. „Ich habe meinen Vater geliebt“, gab sie unvermittelt zu. „Aber das heißt nicht, dass ich jetzt nicht wütend auf ihn bin.“

Trent nickte nur langsam und nachdenklich, als würde er sie voll und ganz verstehen.

„Vor einer Woche habe ich um ihn getrauert und gedacht, es würde irgendwann besser werden. Aber ich bin nicht sicher, ob ich je vergessen kann, dass er mich belogen hat.“

„Es muss schwer sein, zu erfahren, dass ein geliebter Mensch nicht der war, für den man ihn gehalten hat.“

Ihre Blicke trafen sich. „Ist Ihnen das jemals passiert?“, fragte sie leise.

„Man hat zwar schon versucht, mich zu betrügen und zu hintergehen, aber so etwas? Nein, das habe ich noch nicht erlebt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Sie Licht am Ende des Tunnels sehen werden, wenn Sie erst mit Ihrer Mutter gesprochen haben.“

Priscilla konnte es nur hoffen. Sie nahm einen Schluck Wein. Er tat gut. Langsam gewöhnte sie sich an den Geschmack. „Es ist schwer zu verstehen, was mein Vater meiner Mutter angetan hat. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ihn dazu getrieben hat. Und wie sehr es ihr wehgetan haben muss“, sagte sie.

Trent nahm noch einen Schluck Bier, ließ sie jedoch nicht aus den Augen. Er schien sich ganz auf sie, auf ihren inneren Kampf zu konzentrieren. Dafür war sie ihm dankbarer, als er jemals wissen würde.

Nach kurzem Zögern griff er in die Tasche und holte sein Handy heraus. „Fragen wir doch mal aus reiner Neugier, ob es in Cotton Creek eine Rebecca Epperson gibt. Wie ich gehört habe, soll es eine ziemlich kleine Stadt sein.“

Er rief die Auskunft an.

Kein Glück.

Also ließ er sich mit der dortigen Handelskammer verbinden. Die Frau, die sich meldete, schien ziemlich gesprächig zu sein, denn es dauerte einen Moment, bis seine Frage beantwortet wurde. Danach zog er einen Stift aus der Innentasche seiner Lederjacke und schrieb eine Nummer auf den trockenen Rand seiner feuchten Serviette.

Er beendete das Gespräch und sah Priscilla an. „Sie hat mir vorgeschlagen, es in der ‚Lone Oak Bar‘ zu versuchen.“

„Warum?“ Hatte der Egoismus ihres Vaters ihre Mutter etwa dazu gebracht, sich in den Alkohol zu flüchten? War sie inzwischen Stammgast in den Bars von Cotton Creek?

„Die Frau, mit der ich gesprochen habe, ist dort aufgewachsen und behauptet, jeden Einwohner zu kennen. Sie hat erzählt, dass der Laden Rebecca Epperson gehört.“

In Priscillas Träumen war ihre Mutter immer eine gemütliche, Kekse backende und Quilts nähende Frau gewesen. Jetzt sollte sie eine Geschäftsfrau sein? Noch dazu eine Barbesitzerin? Sie leerte das Glas und spürte, wie sie müde wurde. Der Wein wirkte entspannend, und sie war froh darüber.

Es gab so viele ungelüftete Geheimnisse, und die Suche nach der Wahrheit hatte gerade erst begonnen.

Trent schob ihr seine Serviette hin und legte das Handy daneben. Sie brauchte nur danach zu greifen. Das klang so einfach, war es jedoch nicht.

„Ich finde es seltsam, meine Mutter zum ersten Mal ausgerechnet aus einer Bar anzurufen“, sagte sie.

„Warum denn? Sie wird sich auch in einer Bar melden.“

„Das macht es noch schlimmer.“ Sie strich am Stiel des Glases hinab. „Außerdem, wenn ich mit ihr spreche, will ich es direkt von Angesicht zu Angesicht tun.“

Sie sah Trent an. Wie würde er reagieren, wenn sie ihn bat, sie zu begleiten – als Teil seines Jobs?

Vielleicht konnten sie ein paar Tage in Cotton Creek bleiben, sich unauffällig in der Bar umhören und erst einmal einen Eindruck von der Frau gewinnen. Schließlich konnte es durchaus sein, dass ihr Vater einen guten Grund gehabt hatte, ihre Mutter zu verlassen.

Was würden sie in Texas noch alles herausfinden? Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Ich möchte, dass Sie mich nach Cotton Creek begleiten.“

„Ich?“

Er zuckte zusammen, und sie fühlte seine Wärme und Muskeln. Ihr Herz schlug schneller. Hastig zog sie die Hand weg. „Natürlich bezahle ich Sie für Ihre Zeit. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Wer weiß, was mich dort erwartet? Was, wenn meine Mutter ein unsympathischer Mensch ist? Wenn hinter dieser Geschichte viel mehr steckt, als wir beide uns bisher zusammengereimt haben? Wenn mein Vater mich nur schützen wollte?“

„Wovor denn?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht war meine Mutter gewalttätig.“

„Erinnern Sie sich daran, dass sie Ihnen wehgetan hat?“

„Nein. Aber ich erinnere mich an kaum etwas. Ich weiß nicht mal mehr, wie sie ausgesehen hat.“

Er winkte dem Barkeeper.

„Was tun Sie?“, fragte sie.

„Ich bestelle Ihnen noch ein Glas Wein.“

Priscilla wollte widersprechen, doch dann seufzte sie nur. Warum nicht? Sie brauchte es ja nicht auszutrinken. Zusammen mit dem Wein und seinem zweiten Bier bekamen sie eine kleine Schüssel mit Nüssen serviert.

„Eigentlich sollte ich nichts mehr trinken“, sagte sie. „Aber der Wein hilft tatsächlich. Und er schmeckt mir sogar.“

„Gut.“ Er nahm sich eine Hand voll Nüsse und steckte sie in den Mund.

„Fahren Sie mit mir nach Texas?“, fragte sie bittend. „Ich habe das Gefühl, dass ich Ihr Wissen und Ihre Erfahrung brauchen werde.“

„Was ist mit Ihrer Freundin, Byron Van Zandts Tochter?“

„Sylvia? Die ist gerade befördert worden und kann keinen Urlaub nehmen. Außerdem wäre mir ein Detektiv lieber. Jemand, der notfalls ein paar unauffällige Nachforschungen anstellen kann.“

„Ich …“ Verdammt. Warum zauderte er? Es war nur ein Job. Keine große Sache.

Außerdem interessierte ihn, warum ihr Vater die Stadt verlassen und den Namen gewechselt hatte. Priscilla hatte recht. Es gab noch viel zu tun.

Eine Dienstreise mit einer attraktiven, blauäugigen Frau mit roten Haaren und einer Schlafzimmerstimme?

Wenn sie keine Klientin wäre, würde er es als Urlaub ansehen. Vielleicht sogar als Gelegenheit für ein flüchtiges Abenteuer.

Aber das kam nicht in Frage.

„Es wären nur ein paar Tage“, fügte sie hinzu und legte die Hand wieder auf seinen Arm. Ihm wurde warm, und der Rebell in ihm erwachte zum Leben.

„Einverstanden. Ich begleite Sie“, sagte er, bevor er es sich anders überlegen konnte. Dann rief er im Büro an und bat Margie, für seine Klientin und ihn einen Flug nach San Antonio zu buchen. Für morgen früh.

Er griff in die Schüssel, schob sich eine Hand voll Nüsse in den Mund und beobachtete, wie Priscilla ihre Cashewnüsse aß. Einzeln.

Sie saßen ein paar Minuten schweigend da, bis sein Handy läutete. Es war Margie, die ihnen Plätze reserviert hatte, aber nachfragen wollte, bevor sie fest buchte.

„Morgen Vormittag um zehn? Von Newark?“, fragte er Priscilla.

„Ist mir recht.“ Sie lehnte sich zurück und nahm einen kräftigen Schluck Wein.

„Ich habe dir einen Wagen reserviert“, fuhr die Sekretärin fort. „Einen SUV. Oder möchtest du lieber ein Luxusmodell?“

„Dieses Mal nicht“, erwiderte Trent. Wenn er in Cotton Creek vor Rebeccas Bar hielt, wollte er nicht auffallen.

„Bei der Unterkunft versuche ich noch, etwas Geeignetes zu finden. In einer Kleinstadt dürfte es schwierig sein. Bisher habe ich nur eine Frühstückspension aufgetrieben. Wäre das okay für dich?“

„Ja, das reicht mir vollkommen.“ Er dankte ihr und beendete das Gespräch.

Priscilla stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. „Wissen Sie, wo der Waschraum ist?“

Er sah sich um und zeigte auf das Schild an der Wand.

Als sie den Stuhl zurückschob und aufstand, gaben ihre Knie nach, und sie musste sich festhalten. Ihre Augen wurden groß, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Ups.“

Nach nur einem Glas Wein? Trent warf einen Blick auf ihr zweites Glas. Sie hatte auch das geleert. Kein Zweifel, die Nüsse waren verdammt salzig. Er hatte gehofft, dass der Alkohol sie entspannen würde, aber er hatte sie nicht betrunken machen wollen.

Die Frauen, mit denen er sonst unterwegs war, fingen meistens mit etwas Hochprozentigem an. Priscilla war anders. Er hätte es wissen müssen. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte. „Ich will mir nur das Gesicht waschen.“

Dann ging sie davon. Täuschte er sich, oder schwankte sie tatsächlich?

Verdammt. Eine emotionale Frau war schon anstrengend genug, musste er jetzt auch noch eine ertragen, die zu tief ins Glas geguckt hatte?

Priscilla griff nach hinten und zupfte an der blauen Baumwollbluse, damit sie ordentlich an ihrem runden Po anlag. Sie war eine sehr attraktive Frau. Liebend gern würde er wissen, wie sie sich benehmen würde, wenn der Wein ihr die Hemmungen genommen hatte.

Aber was dann?

Sie war eine Klientin. Und verletzlich.

Trent nahm einen Schluck Bier. Schluss damit, dachte er.

Sie hatte heute einen harten Schlag verkraften müssen. Er konnte sie schlecht allein lassen, inmitten all der Kartons, die sie für die Heilsarmee gepackt hatte. Inmitten der Erinnerungen an ihren Vater. Und der Geheimnisse.

Der verstorbene Clifford Epperson mochte sie und ihre Mutter getäuscht haben, aber Priscilla hatte ihn geliebt und trauerte um ihn.

Nein, Trent konnte sie nicht einfach nach Hause bringen, damit sie sich dort mit den Dämonen der Vergangenheit einschloss. Nicht über Nacht.

Er sah zum Tresen. Sie kam zurück.

Ihre Schritte waren unsicher, und sie hatte Schlagseite nach links.

Sie lächelte ihn an und setzte sich.

Dann beugte sie sich vor. Ihre Augen blitzten schelmisch. „Mir ist ein Missgeschick passiert.“

Ein Missgeschick? Im Waschraum? Das konnte eine Menge bedeuten, und er war nicht sicher, ob er es hören wollte.

„Ich habe auf den falschen Knopf gedrückt“, sagte sie, und an ihren Mundwinkeln kamen zwei Grübchen zum Vorschein.

Hatte sie die falsche Spülung betätigt? Er hatte noch immer keine Ahnung, was sie meinte. „Was ist passiert?“

„Der Automat. In dem gibt es alles Mögliche. Ich wollte mir Pfefferminz kaufen, damit meine Nachbarn den Alkohol nicht riechen.“ Sie drückte ihm ein Stanniolpäckchen in die Hand. „Damit können Sie wahrscheinlich mehr anfangen als ich.“

Trent warf einen Blick darauf und war da nicht so sicher. Er konnte sich kaum vorstellen, dass eine seiner Liebhaberinnen sich für ein neongrünes Kondom begeistern würde. Er hob den Kopf. Priscilla wirkte belustigt. Ihre beherrschte Fassade zeigte die ersten Risse.

„Kommen Sie“, sagte er. „Ich bringe Sie jetzt besser nach Hause. Sie können ein paar Sachen einpacken, dann kommen Sie mit mir nach Manhattan.“

„Wozu?“ Sie nippte nun an ihrem Weinglas, obwohl es leer war.

„Sie können bei mir übernachten.“

„Das geht nicht“, erwiderte sie verlegen. „Was würden Ihre Nachbarn denken?“

„Das ist mir egal. Es geht sie nichts an. Außerdem sind wir in New York City – niemanden interessiert, wer bei mir übernachtet. Sagen Sie mir nicht, dass Sie vor so etwas Angst haben.“

„Ich …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass mein Vater nie auffallen wollte. Weil er schüchtern und zurückhaltend war – das dachte ich jedenfalls. Jetzt frage ich mich, ob er nur sein Geheimnis bewahren wollte.“

„Sie wären nicht der erste Klient, der bei mir übernachtet. Meine Nachbarn sind viel z...

Autor

Judy Duarte
<p>Judy liebte es schon immer Liebesromane zu lesen, dachte aber nie daran selbst welche zu verfassen. „Englisch war das Fach in der Schule, was ich am wenigsten mochte, eine Geschichtenerzählerin war ich trotzdem immer gewesen,“ gesteht sie. Als alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, wagte Judy den Schritt zurück auf die...
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