Bianca Exklusiv Band 349

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

GARANTIERT MIT SCHÖNEN NEBENWIRKUNGEN von JENNIFER GREENE
Verlassen von ihrem Freund in der achten Schwangerschaftswoche, entscheidet sich Ginger, ihr Leben allein zu stemmen. Selbst als der höchst attraktive Ike ihr helfen will, sagt sie Nein. Aber der charmante Arzt lässt nicht locker …

STADT, LAND … LIEBE? von CHRISTINE FLYNN
Widerstrebend stellt Carter McLeod die hübsche Sophie ein – aber nur, weil seine Tochter dringend ein Kindermädchen braucht! Eigentlich passt eine Städterin wie sie nämlich nicht auf seine Ranch … oder etwa doch?

WOHIN DER STURM UNS TRÄGTvon PATRICIA THAYER
Wegen eines dunklen Familiengeheimnisses kommt Jade nach Kerry Springs zu den vermögenden Merricks. Nichts ist für sie also abwegiger, als sich unsterblich in den schweigsamen Sloan, Sohn der Dynastie, zu verlieben! Und nichts gefährlicher!


  • Erscheinungstag 27.05.2022
  • Bandnummer 349
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510561
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Greene, Christine Flynn, Patricia Thayer

BIANCA EXKLUSIV BAND 349

1. KAPITEL

Konzentriert fuhr Ginger Gautier in ihrem bis unters Dach vollgepackten Honda Civic die kurvenreiche Bergstraße hinab.

Früher, als eigensinnige, furchtlose Einundzwanzigjährige, wäre sie hier mit 130 Stundenkilometern hinuntergerauscht. Aber jetzt, mit achtundzwanzig, war sie vernünftiger geworden und konnte Risiken besser einschätzen.

Gegen ihre Vernunft sprach nur, dass sie in der achten Woche schwanger war, von einem Arzt, der ihr seine ewige Liebe erklärt und am nächsten Tag einen Verlobungsring für eine andere gekauft hatte.

Ginger hatte Hals über Kopf ihre Zelte in der Großstadt abgebrochen und ihren Arbeitsplatz aufgegeben, den sie sehr gern gehabt hatte. Auch das war sicher nicht besonders schlau gewesen. Aber ihr hitziges Temperament, das zu ihrem flammend roten Haar passte, riss sie im Leben einfach immer wieder zu spontanen Handlungen hin, ohne Rücksicht auf Verluste.

Schon oft hatten ihre Freunde und Kollegen sie damit aufgezogen, wenn sie sich vor ihrer Leidenschaft und ihren Zornausbrüchen in Sicherheit brachten. Doch was Ginger Gautier anpackte, das machte sie richtig. Und für die Menschen, die ihr wichtig waren, setzte sie sich zu hundert Prozent ein.

Sie trat ein wenig mehr aufs Gaspedal, bis die Tachonadel bei 120 hängenblieb. Vor ihr im Osten färbte der Himmel sich langsam rosa, und das Schild „Willkommen in South Carolina“ flog an ihr vorbei.

Während die Sonne über dem Horizont aufstieg, streifte Ginger ihren Pullover ab und warf ihn auf den Rücksitz zu ihrer dicken Daunenjacke. Als sie aus Chicago abgefahren war, hatte dort schon der erste Schnee in der Luft gelegen. Hier in South Carolina aber war die Luft sanft, sauber, warm … und so vertraut, dass Ginger spürte, wie ihr plötzlich Tränen in die Augen stiegen. Sie blinzelte ungeduldig.

Nach dem Tod ihrer Großmutter vor vier Jahren hätte sie viel öfter nach Hause kommen sollen. Irgendetwas hatte sie meistens davon abgehalten, vor allem, nachdem sie die Arbeitsstelle in der Krankenhausverwaltung angetreten hatte. Ihre Chefin war ein mürrischer alter Drachen gewesen, aber Ginger machte ihren Job gern, und die vielen Extrastunden hatten sie nicht gestört. Sie hatten sich nur mit der Zeit angehäuft.

Zu Thanksgiving, Weihnachten und Ostern war sie heimgefahren und hatte ihren Großvater mindestens einmal pro Woche angerufen.

Das war nicht genug gewesen. Schuldbewusst krampfte sich ihr Magen zusammen. Telefonieren war schön und gut, aber sie hätte öfter herkommen müssen. Dann hätte sie viel früher gemerkt, dass ihr Großvater sie brauchte.

Die Landschaft flog vorüber, eine weitere Stunde verstrich, dann noch eine. Die 1500 Kilometer am Steuer waren anstrengend gewesen. Ginger hatte x-mal haltgemacht, getankt, etwas zu essen gekauft, ein bisschen geschlafen und sich die Beine vertreten, aber jetzt zog sich das letzte Wegstück wie Kaugummi.

Endlich tauchte vor ihr das Schild der Gautier-Teeplantage auf und weckte ihre Lebensgeister wieder. Nach einer letzten Kurve führte eine lange Auffahrt unter riesigen alten Eichen hindurch zu dem weißen Herrenhaus.

Eine großzügige Veranda zog sich rings um das Erdgeschoss, mit Schaukelstühlen und gemütlichen Kissen. Ginger stieg aus ihrem Civic und eilte zum Haus. Fürs Erste ließ sie alles Gepäck im Wagen; sie wollte nur ihren Großvater sehen.

Als sie die zwei Stufen zur vorderen Veranda hochgesprungen war, erblickte sie vor der Eingangstür einen riesigen Hund. Er versperrte ihr in voller Länge ausgestreckt den Weg. Vorsichtig trat sie näher. Das Tier mit dem rot-grauen Fell, den endlos langen Hängeohren und dem zerknautschten Gesicht wirkte nicht bedrohlich. Aber es lag da so unbeweglich, dass man nicht einmal wusste, ob es lebte.

„Hey“, sagte Ginger freundlich. Nichts rührte sich. Sie versuchte es etwas lauter: „Hallo, was machst du denn hier?“

Sekundenlang öffnete sich ein Auge, dann ertönte ein asthmatisches Schnaufen, und das große Tier fiel in seinen Tiefschlaf zurück.

Der Gedanke, dass Cashner Gautier sich diesen Hund zugelegt haben könnte, war so absurd wie die Vorstellung, er würde neuerdings die Republikaner wählen. Doch der Hund schien sich hier völlig zu Hause zu fühlen.

„Gut“, sagte Ginger entschlossen. „Lass mich jetzt einfach hier durch, ja?“

Keine Reaktion. Sie holte tief Luft, drehte den runden Knauf, zog die Tür auf, so weit es ging, und stieg vorsichtig über das reglose Tier hinweg.

„Gramps! Cornelius! Ich bin’s!“, rief sie laut.

Der alte Cornelius lebte auf der Plantage, seit Ginger denken konnte. Er hatte schon immer für ihre Großeltern gearbeitet. Als Kind war sie zu ihm gelaufen, wenn ihr ein Puppenschuh ins Klo gefallen war, oder später, wenn sie jemanden brauchte, der sie zu einer Party fuhr. Cornelius kümmerte sich darum, wenn Handwerker gebraucht wurden, überwachte die Gartenarbeiter, brachte Medikamente von der Apotheke oder holte Gäste vom Flughafen ab.

Ginger lauschte, während sie langsam durchs Erdgeschoss ging. Keine Antwort. Das große Herrenhaus war vor vielen Jahren erbaut worden, in einer Zeit, als das Wohnzimmer noch Salon hieß. Der riesige Raum lag nach Osten, und helles Sonnenlicht fiel in diesem Augenblick herein. Das Klavier ihrer Großmutter, die unzähligen edlen Möbel, Gemälde, Teppiche waren noch dieselben. Aber Ginger wurde immer unruhiger. Der Raum war so staubig, dass man Namen auf die Tischplatten schreiben konnte. Und im Vorbeigehen sah sie Krümel und halbvolle Gläser, die hier anscheinend schon sehr lange standen.

Ein bisschen Dreck schadet niemandem, hatte ihre Großmutter immer gesagt. Es gab Wichtigeres im Leben. Aber das hier war mehr als ein bisschen Durcheinander.

Ginger eilte an der dunklen Holztreppe vorbei und kam durch das Esszimmer. Hier befanden sich in den Vitrinen eine museumsreife Sammlung von Teekannen sowie die komplette Geschichte der Gautier-Tees in Teedosen. Manche davon waren über hundert Jahre alt.

Sie lief durch den Raum, den ihr Großvater das „Sonnenzimmer“ nannte. Hier mischte, testete und kreuzte er Teepflanzen, seit sie denken konnte. Das Haus war immer erfüllt gewesen von Teeduft, dem vertrauten Surren der großen Deckenventilatoren, von Bücherregalen und viel Blau, der Lieblingsfarbe ihrer Großmutter.

‚Kurz vor der Küche hörte Ginger endlich Stimmen.

Die Küche war riesig, mit Fenstern nach Süden und Westen. An heißen Sommernachmittagen fiel die Sonne hier heißer als Lava auf die alte geflieste Küchentheke. Ein Teekessel mitten auf dem Tisch erfüllte den Raum mit dem Duft von Darjeeling und Pfefferminze.

Geschirr türmte sich auf der Theke und der Wasserhahn im Spülbecken tropfte. Staub, Krümel und zahllose Flecken waren auf dem schönen alten Parkettboden eingetrocknet.

Ginger stellte das alles im Bruchteil einer Sekunde fest. Und sie bemerkte auch den Fremden, der mit Cashner am Tisch saß.

Aber da erblickte ihr Großvater sie, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich ein wenig wacklig. Er strahlte. „Ginger! Wie schön! Du kommst spät. Ich habe mir schon langsam Sorgen gemacht. Aber du siehst großartig aus. Komm, lass dich umarmen!“

Seine Bemerkung über ihr spätes Kommen irritierte Ginger. Sie hatte die weite Strecke beinahe in Rekordzeit zurückgelegt, er konnte doch gar nicht früher mit ihr gerechnet haben!

Sie schob die leise Sorge beiseite und umarmte ihren Großvater innig. Etwas stimmte nicht. Ihr Großvater war nie groß und kräftig gewesen, aber jetzt konnte sie die Knochen unter seinem Hemd fühlen, und die Hose schlotterte ihm um die Beine. Sein Blick aus den strahlend blauen Augen wirkte seltsam unbestimmt.

Sein Lächeln hingegen war echt, genauso wie seine Umarmung. Sein Gesicht schien faltiger und durchsichtiger geworden zu sein. An seinem Kinn glänzten weiße Stoppeln, als hätte er sich nicht rasiert. Dabei hatte Cashner Gautier sein Leben lang darauf geachtet, jeden Tag auf Gottes Erden frisch rasiert zu begrüßen.

Endlich nahm Ginger auch den unbekannten Besucher genauer ins Visier. Der Mann war keiner von Cashner Gautiers alten Kumpeln, er konnte höchstens ein paar Jahre älter sein als sie selbst.

Sein dunkelblondes Haar war verwuschelt, er trug seine Sneakers auf eine lässige Art, dazu leicht verblichene Chinos und ein schwarzes T-Shirt. Entweder war er zu faul, um sich zu rasieren, oder er ließ sich gerade halbherzig einen Bart wachsen.

Die Schultern des Mannes waren so breit und stark, als könnte er mühelos Baumstämme spazierentragen. Er war braun gebrannt, was einen faszinierenden Kontrast zu seinen unglaublich hellen, blauen Augen bildete. Jetzt erhob er sich langsam und stand gelassen in seiner ganzen beeindruckenden Größe vor ihr.

Ginger schluckte. Er war eindeutig ein Mann, nach dem Frauen sich auf der Straße umdrehten. Nicht, dass das im Augenblick eine Rolle spielte. Kein Mann auf der Welt konnte zurzeit auch nur den leisesten Funken Interesse in ihr wecken. Sie stellte nur nüchtern Tatsachen fest.

„Sie müssen Ginger sein“, sagte der Fremde ruhig, mit einer Stimme, die sie an dunklen Zucker und edlen Whisky erinnerte.

„Ach, ja, Schatz“, bemerkte ihr Großvater. „Das habe ich ganz vergessen … Das ist Ike. Er ist …“

„Mir ist schon klar, wer er ist, Gramps.“ Das musste der Mann sein, von dem ihr Großvater ihr am Telefon erzählt hatte! Der Kerl, der versuchte, Cashner dazu zu bringen, irgendwelche Papiere zu unterschreiben. Der Gangster, der ihm sein Land wegnehmen wollte.

„Sie sind der Mann, der meinen Großvater derzeit berät, nicht wahr?“, sprach sie ihn direkt an. „Und das da draußen auf der Vordertreppe ist Ihr Hund, richtig?“

„Pansy, ja.“

„Pansy“, wiederholte sie. Stiefmütterchen. Fast hätte Ginger laut aufgelacht, so absurd war der Name für dieses Riesenungetüm von Hund. Aber ihr war nicht nach Lachen zumute. Sie durchbohrte den Besucher mit dem Blick. „Wenn Sie jetzt bitte Ihren Hund nehmen und gehen würden!“

„Aber Liebes!“ Ihr Großvater warf ihr einen schockierten Blick zu.

Sie drückte beruhigend seine Hand, während sie den Fremden weiter finster musterte. „Schon gut, Gramps. Alles wird gut. Ich bin ja jetzt da.“ Den letzten Satz sagte sie betont laut, damit er dem Unbekannten nicht entgehen konnte. Dann wandte sie sich dem Mann zu: „Von nun an kümmere ich mich um meinen Großvater, und wir brauchen niemanden mehr, der sich einmischt. Auf Wiedersehen!“

„Schatz, das ist Ike …“

„Ja, das habe ich verstanden.“ Ihr Zorn über den Schuft, der einen hilflosen alten Mann über den Tisch zu ziehen versuchte, war noch nicht verraucht. „Es ist mir egal, ob Sie Judas oder Sam oder sonst wie heißen. Danke für Ihren Besuch.“

Der Besucher hätte wenigstens erschrocken oder verlegen aussehen können! Stattdessen schien er eher belustigt zu sein. Er grinste nicht direkt, aber seine Mundwinkel gingen leicht nach oben. „Ich fürchte, dass wir beide uns hier auf dem falschen Fuß erwischt haben.“

„Allerdings“, gab sie zurück.

„Vielleicht werden Sie Ihre Meinung über mich noch ändern. Ich nehme Ihnen das heute nicht übel, versprochen. Ich bin sehr froh, dass Sie jetzt da sind. Für Ihren Großvater sind Sie sein Ein und Alles.“

Ginger schüttelte nur abwehrend den Kopf. Mit Süßholzraspeln konnte man bei ihr nicht landen.

Der Besucher war schon auf dem Weg zur Haustür und rief seinen Hund. Das lethargische, eben noch wie im Koma liegende Tier sprang mit einem Satz auf die Pfoten und jaulte einmal freudig. Schwanzwedelnd und glücklich zu ihm aufschauend tappte Pansy hinter ihrem Herrchen her.

„Auf Wiedersehen!“, sagte Ginger energisch, während sie die Tür hinter den beiden zuzog und hörbar den Riegel vorschob.

Sie drehte sich um und sah, wie ihr Großvater mit wackligen Schritten auf sie zukam.

„Mein Schatz, was ist bloß in dich gefahren? Das war doch Ike.“

„Das weiß ich ja. Du hast mir schon gesagt, wie er heißt.“

„Ike MacKinnon. Mein Arzt. Der Ike, Liebes.“

Zum zweiten Mal seit ihrer Ankunft hatte Ginger das beunruhigende Gefühl, dass etwas Merkwürdiges im Blick ihres Großvaters lag.

„Er kann wohl kein guter Arzt sein, wenn er sich nicht mal anständige Schuhe und einen Friseur leisten kann“, scherzte sie.

Als ihr Großvater nicht lachte, sondern sie nur weiter verwirrt ansah, zögerte sie. Natürlich war die Situation eher peinlich. Na gut, sie hatte nicht gleich begriffen, dass der Mann Cashners Arzt war. Aber woher sollte sie das auch wissen?

„Gramps, wo ist Cornelius?“, fragte sie, um von etwas anderem zu reden.

„Ich weiß nicht, bei der Bank, glaube ich.“ Ihr Großvater streckte haltsuchend eine Hand nach der Wand hinter sich aus und lehnte sich an. Er runzelte immer noch die Stirn. „Ich verstehe nicht, was du heute hast. Ike ist ein netter Mann. Du mochtest ihn doch immer, Rachel.“

Ginger stockte der Atem. Rachel war der Name ihrer Großmutter …

„Gramps“, sagte sie sanft. „Ich bin’s. Ginger.“

„Natürlich“, gab Cashner zurück. „Das weiß ich doch, sei nicht albern. Komm nächstes Mal vom Friseur nicht so spät, ja?“

Ginger lächelte ihn an und sagte: „Ist gut, mein Lieber“, als würde alles irgendeinen Sinn ergeben.

Sie überredete Cashner dazu, sich in einen der Schaukelstühle auf der Veranda zu setzen. Dort nickte er ein, noch bevor er die Füße hochgelegt hatte. Dann wandte Ginger sich ihrem randvoll gepackten Auto zu.

Die zahllosen Tragetaschen und Kartons waren nicht schwer. Im Augenblick hatte sie zwar die Gedanken an ihre Schwangerschaft vorerst in den Hintergrund geschoben, aber instinktiv hatte sie beim Einpacken nichts zu schwer beladen. Das hieß natürlich, dass sie jetzt hundertmal die Treppen auf und ab laufen musste, bis sie ihre Habseligkeiten in ihr altes Kinderzimmer am Ende des oberen Flurs gebracht hatte.

Als sie die letzte Tasche aus dem Auto geholt hatte, glich ihr einstiges Kinderzimmer einem Weihnachtsbasar. Sie öffnete weit die Fenster, sog die frische Luft ein und sank auf das Bett. Sie war zu müde zum Nachdenken. Und sie fürchtete sich auch davor.

Im letzten Monat war ihr Leben in Scherben zerfallen, und irgendwie war sie selbst daran schuld. Sie hatte sich in den falschen Mann verliebt, hatte keine Arbeit mehr, war schwanger, ohne konkrete Pläne, wie es weitergehen sollte … und dann war der Hilferuf ihres Großvaters eingetroffen.

Sie würde schon mit allem klarkommen, es blieb ihr ja gar keine Wahl.

Als Erstes war ihr Großvater an der Reihe, er hatte Vorrang. Leider beschlich Ginger immer stärker der Verdacht, dass ein Großteil seiner Schwierigkeiten mit seiner geistigen Verfassung zusammenhing.

Und wenn ihr jemand über den Zustand ihres Großvaters Genaueres sagen konnte, dann wohl leider ausgerechnet dieser seltsame Arzt.

2. KAPITEL

Gähnend stieg Ike MacKinnon die Treppe hinunter in die Küche, und sein Hund folgte ihm auf den Fersen. Pansy hatte ihn geweckt und wollte hinausgelassen werden. Ike öffnete die Tür zum Garten und wartete, bis sie zurückkam.

Dann warf er einen Blick in den Kühlschrank und schüttelte den Kopf. Er hatte wieder vergessen, die Hintertür abzuschließen. Ein fremder weißer Topf leuchtete ihm aus dem obersten Fach entgegen, mit einem Gruß von Maybelle Charles. Auf der Theke lag ein Stück Kuchen, Pecan Pie, der sicher von Joelle Simmons stammte, die fünf Häuser weiter wohnte. Auf der Veranda stand ein Korb voll mit späten Pfirsichen. Das musste Babs gewesen sein.

Die ganze Stadt kümmerte sich um den armen, alleinstehenden jungen Doktor. Vor allem die unverheirateten Frauen waren davon überzeugt, dass er eine Frau brauchte, die dafür sorgte, dass er ordentlich aß.

Das hatte sofort begonnen, als Ike vor drei Jahren hier die Praxis des alten Doktor Brady übernommen hatte – zum Kummer seiner Eltern, die beide angesehene Herzchirurgen waren und schon mit ansehen mussten, wie seine Geschwister andere Wege eingeschlagen hatten. Ike hatte die Tradition fortgeführt und war Arzt geworden, aber er war glücklich als Hausarzt hier auf dem weiten Land, wo die Leute froh waren, dass es ihn gab.

Leider musste Ike den Frauen ihre mit Namen versehenen Töpfe und Schüsseln immer auch zurückbringen. Und dann kam er nicht so leicht wieder davon. Er musste auf einen Kaffee oder einen Drink bleiben, Interesse heucheln, ein wenig flirten … Weil es ihm schwerfiel, unfreundlich zu sein, spielte er das Spiel meistens mit. Bis eines Tages der riesige Hund an seiner Tür erschienen war und ihn adoptiert hatte. Seitdem war es deutlich einfacher geworden, die meisten Besuche kurz zu halten.

Sein gemütliches Haus mitten im Städtchen war sehr einfach aufgeteilt: Oben wohnte er, und unten war die Praxis. In der Praxis hatte die sechzigjährige Ruby alles im Griff. Sie hatte einen Hang zum Kommandieren, aber Ike hätte sich keine bessere Hilfe wünschen können. Ruby konnte einen ganzen Kleinstaat regieren, ohne ins Schwitzen zu kommen.

Ike holte sich einen Becher Kaffee, die Zeitung und schlenderte hinaus auf die verglaste hintere Veranda. Der Morgen war seine liebste Tageszeit, und dienstags vereinbarte er gewöhnlich erst Termine ab 10 Uhr. Ruby würde ihn rufen, wenn sie da war.

Als er die Zeitung ausgelesen hatte und sich einen zweiten Becher Kaffee holen wollte, hörte er draußen im Vorzimmer Rubys Stimme und ihre energischen Schritte. Sie kam zu ihm, ihre füllige Gestalt wie immer in bunte Gewänder gehüllt, mit entsprechendem Lippenstift, Schuhen und Ohrringen in Pink.

„Da ist eine Frau, die Sie sprechen will, Doc. Ginger Gautier, die Enkelin von Cashner Gautier. Um zehn haben Sie …“

Ike warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun. „Schicken Sie sie her, ja?“

Ruby zog die Augenbrauen hoch. „Hierher? Nicht ins Sprechzimmer?“

Er schüttelte den Kopf. Ginger Gautier war keine Patientin, und er konnte sich ja denken, warum sie kam: Sie wollte sich für den Rauswurf vor zwei Tagen entschuldigen.

Kaum war Ruby wieder fort, hörte er eilige, leichte Schritte. Durch die offene Tür sah er, wie Ginger über Pansy hinwegstieg und zu ihm heraus auf die stille hintere Veranda kam. Sie sah hinreißend aus. Ihre wilde, dunkelrote Lockenpracht hatte sie mit einem dicken Band zusammengebunden. An ihren Ohren und am Handgelenk baumelte Silberschmuck. Heute trug sie Grün: eine dunkelgrüne Bluse, pastellgrüne Hosen. Ihre Augen waren tiefblau wie stürmische Bergseen. Sie hatte die typische Haut der Rothaarigen, hell, rein, klar, mit ein paar Sommersprossen, und trug außer Lipgloss keinerlei Make-up. Sie war zierlich, immer in Bewegung und strahlte eine erfrischende Energie und Leidenschaft aus. Ike grinste in Gedanken daran, wie sie ihn vor die Tür gesetzt hatte. Sogar ihren Ärger fand er entwaffnend.

„Ich habe gehofft, dass Sie kommen“, sagte er lächelnd, als Ginger vor ihm stand. „Möchten Sie einen Kaffee?“

Sie nickte. „Schwarz bitte.“ Sie wies auf Pansy. „Rührt sich dieser Hund überhaupt nie vom Fleck?“

„Wenig. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie im Tiefschlaf. Außer sie hört das Wort ‚Futter‘.“ Er wies Ginger zu einem weißen Schaukelstuhl, trat in die Küche und kam mit zwei Bechern Kaffee wieder. „Wie geht es Cashner heute?“

„Er ist froh und glücklich.“ Ginger schmiegte die Finger an den Kaffeebecher. „Im Gegensatz zu mir. Er hat mir einen Heidenschreck eingejagt. Was ist los mit ihm? Bitte sagen Sie es mir.“

Ike nickte bedächtig. „Ich bin froh, dass Sie jetzt bei ihm sind. Er hat es mir immer erzählt, wenn Sie angerufen haben. Sie sind sein Ein und Alles.“ Er räusperte sich. „Er ist stets guter Dinge. Beklagt sich nie. Macht Witze, erzählt Geschichten, spricht von der Teeplantage. Andere Leute merken meistens gar nichts.“

„Er hat mir gesagt …“ Sie zögerte. „Er hat mir gesagt, dass sein Arzt versucht, ihm sein Land wegzunehmen und ihn wegbringen will. Er sagt, der Doc stecke hinter einer Verschwörung.“

„Ja. Das bin ich wohl, der böse Doc. In den letzten Monaten habe ich versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er vielleicht anderswo, wo er mehr Hilfe hätte, besser aufgehoben wäre.“

„Mein Großvater will keine Hilfe. Er glaubt, er braucht keine.“

„Ich weiß.“

„Heute Nacht habe ich ihn draußen im Garten gefunden. Er saß um ein Uhr morgens im nassen Gras, in seinem feinsten Anzug.“

Ike verzog mitfühlend das Gesicht.

„Er sagt Ginger zu mir, und eine Minute später nennt er mich Rachel. Rachel war meine Großmutter. Manchmal bin ich für ihn auch Loretta. Haben Sie eine Ahnung, wer Loretta ist?“

Ike schüttelte den Kopf.

„Gestern haben sie den ganzen Nachmittag Karten gespielt. Cornelius ist genauso durcheinander wie mein Großvater. Niemand macht sauber. Cornelius scheint hin und wieder Essen zu kochen. Wenn er es nicht gerade vergisst …“ Plötzlich ertönten Stimmen im Haus, und Ginger fragte schnell: „Haben Sie einen Patienten? Ich weiß, ich hätte anrufen sollen, bevor ich einfach vorbeikomme.“

„Es ist noch niemand da. Keine Sorge, Ruby sagt mir dann schon Bescheid.“

Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Hören Sie, Doc …“

„Ike“, verbesserte Ike sanft. „Ich bin der Arzt Ihres Großvaters, nicht Ihrer.“

Ginger sprudelte los: dass es doch einfach nicht sein konnte, dass ihr Großvater sich in so kurzer Zeit so verändert hatte. Im Juni war sie noch da gewesen! Sie stellte Ike Fragen und redete selbst gleich weiter, erklärte, dass sie natürlich alle Untersuchungen und Therapien bezahlen würde, und beschwor ihn, alles nur Menschenmögliche für ihren Großvater zu tun.

„Ginger“, sagte Ike beruhigend. Er hatte sie beim Reden beobachtet. Sie war aufgeregt, und das war ja nur verständlich, wenn man plötzlich erkennen musste, dass es mit der Gesundheit eines geliebten Menschen bergab ging.

Aber da war noch etwas. Er hatte gesehen, wie sie einen Schluck Kaffee nahm und den Becher sofort wieder zurückstellte. Als sie eintraf, hatte sie frisch gerötete Wangen gehabt, aber die Farbe war zusehends verschwunden. Jetzt war ihr Gesicht auffallend bleich.

„Ja“, fuhr er fort. „Ich habe Cashner Medikamente verschrieben, die bei vielen Leuten helfen. Es gibt in diesem Fall kein Wunderheilmittel. Ich habe ihn zu Untersuchungen nach Greenville zu zwei Spezialisten geschickt, die ich gut kenne. Er wurde gründlich durchgecheckt. Es besteht kein Zweifel daran, was er hat.“

„Sagen Sie es nicht“, warnte Ginger plötzlich angespannt.

Er verstand. Sie war noch nicht bereit, die Worte Alzheimer oder Demenz zu hören.

„Gut, sagen wir: es ist das Alter“, erklärte er geduldig.

„So alt ist er doch gar nicht!“

Ike nickte. „Es kann sein, dass er vor einer Weile ein paar kleinere Schlaganfälle hatte. Er nimmt Mittel gegen Bluthochdruck. Aber ich weiß nicht, ob er immer daran denkt. Ich habe ihm eine Tabelle geschrieben, in der er alles abhaken muss, und ich habe auch Cornelius gebeten, mit aufzupassen. Aber manchmal …“

Ruby erschien in der Tür. „Doc, Mr. Robards ist da.“

Bevor Ike etwas entgegnen konnte, war Ginger schon hastig aufgesprungen. Konnte sie es nicht erwarten, von ihm wegzukommen?

Sie war jetzt endgültig kalkweiß im Gesicht – und im nächsten Augenblick kippte sie auch schon um. Ike konnte sie gerade noch auffangen, schützend eine Hand um ihren Kopf legen und sie langsam zu Boden gleiten lassen.

Ruby trat fassungslos näher und beugte sich über die ausgestreckte Gestalt auf dem harten Bretterboden der Veranda. Gleich darauf schob sich auch noch Pansy durch die Tür. Sie liebte es, wenn etwas los war. Sie drängte ihre Hängebacken unter Ikes Arm hindurch, und ein langer Speichelfaden tropfte fast in Gingers Haar.

„Pansy! Ruby! Sie braucht Luft. Und ich brauche Platz hier. Ruby, ein feuchtes Tuch und das Blutdruckmessgerät bitte.“

Ruby lief hinaus, und Ike schob Pansy beiseite.

Ginger kam bereits wieder zu sich. Sie schlug die Augen auf und machte eine Bewegung, als wollte sie sich aufrichten.

„Es ist alles in Ordnung, Ginger. Bleiben Sie einfach noch einen Augenblick liegen.“

Sie hatte kein Fieber, das erkannte Ike auch ohne Thermometer. Ihr Gesicht nahm schon wieder normale Farbe an. Er fuhr ihr vorsichtig mit den Händen durchs Haar, um zu ertasten, ob sie irgendwelche Beulen oder Schwellungen hatte. Ob vielleicht eine Verletzung hinter dem Ohnmachtsanfall steckte. Er legte zwei Finger an ihre Halsschlagader.

Unwillkürlich registrierte er, wie ihre Brüste sich rasch hoben und senkten. Ihre Weichheit. Den Duft ihrer Haut, kein Blumenparfüm, dafür war sie nicht der Typ. Ein frecher, zitroniger Hauch, der perfekt zu ihr passte.

Ruby eilte mit dem Blutdruckmessgerät herbei. Ike maß und stellte, wie erwartet, einen sehr niedrigen Blutdruck fest. Er fühlte noch einmal ihren Puls und sah ihr aufmerksam ins Gesicht. Der Puls wurde langsam wieder normal. Da trafen sich ihre Blicke, und Ginger Gautiers Puls schoss in ungeahnte Höhen.

Dasselbe empfand auch Ike plötzlich in ihrer Gegenwart. Er nahm seine Hand fort.

„Wenn Sie mich noch brauchen …“, bemerkte Ruby.

„Nein, danke. Geben Sie Mr. Robards etwas zum Lesen und sagen Sie ihm, dass ich in ein paar Minuten bei ihm bin“, sagte er, ohne den Blick von Ginger Gautier zu nehmen.

Er kannte unzählige Frauen, aber wenige strahlten in allem, was sie taten, so eine Leidenschaft aus. Sie faszinierte ihn.

Jetzt strich sie sich über die Stirn, murmelte etwas und versuchte sich endgültig aufzusetzen.

Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. „Machen Sie langsam.“

„Mir geht es gut.“

„Mhm. Sie sind schwanger, nicht wahr?“ Er fragte als Arzt, aber er wartete ganz und gar nicht ärztlich neutral auf die Antwort. Das geschah ihm normalerweise nie. Aber diese Frau hatte ihn gepackt.

Ihre sinnlichen blauen Augen wurden abrupt kalt und abweisend. Sie errötete leicht. „Wie um Himmels willen kommen Sie darauf?!“

Er hatte einfach geraten, aus einem Bauchgefühl heraus. Erst ihre Reaktion verriet ihm, dass er richtiglag. Langsam antwortete er: „Nur ein paar Indizien. Sie scheinen absolut gesund und fit. Sie wollten einen Kaffee, aber nach dem ersten Schluck haben Sie sich an den Magen gegriffen. Dann sind Sie aus heiterem Himmel umgekippt.“

Jetzt schüttelte sie seine Hand ab und rappelte sich endgültig auf.

„Sagen Sie es mir bitte, falls Sie Diabetikerin sind. Nehmen Sie Vitamine? Haben Sie schon etwas gegen die Übelkeit?“

Daran, wie Ginger nun die Hände in die Hüften stemmte und ihn anfunkelte, erkannte Ike, dass er zu weit gegangen war.

„Ich möchte eines klarstellen: Sie sind der Arzt meines Großvaters, nicht meiner“, erklärte sie heftig.

Er erhob sich ebenfalls. „Ich habe verstanden.“

„Mein Privatleben geht Sie gar nichts an.“

„Selbstverständlich“, sagte er noch einmal. „Aber wenn Sie keine Vitamine nehmen …“

„Niemand hat gesagt, dass ich schwanger bin. Wie kommen Sie bloß darauf.“

„Also gibt es auch keinen Mann?“, schob er schnell nach, solange sie noch mit ihm redete.

„Richtig. Es gibt keinen“, schoss sie zurück.

„Die Frage hat mich beschäftigt“, gestand er einfach.

Fassungslos starrte Ginger Gautier ihn an und schnappte nach Luft. Wortlos kehrte sie ihm den Rücken, stieg über den Hund hinweg, riss die Tür auf und eilte den Flur entlang.

Ruby steckte ihren Kopf aus dem Behandlungszimmer und zog ihn rasch wieder ein, als Ginger an ihr vorbeistürmte.

Ike sah ihr nach, bis die Haustür hinter ihr zufiel.

Im nächsten Moment steckte Ruby ihren Kopf wieder heraus und blickte Ike mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Fragen Sie mich nicht, was das war“, sagte er kopfschüttelnd.

Aber Ginger Gautier ließ ihn nicht mehr los. Er war es gewöhnt, von den Frauen der Gegend angehimmelt zu werden, die ihn mit Essen, Aufmerksamkeiten und Gott weiß welchen diskreten und indiskreten Angeboten verfolgten. Es war herrlich, zur Abwechslung einer solchen Kratzbürste zu begegnen. Er seufzte, wusch sich die Hände und versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Ginger Gautier steckte in Schwierigkeiten. Und die plötzlich in ihm aufgetauchten Gefühle für diese Frau drohten ihn selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Das war sonnenklar.

Aber Ike spürte immer noch ein leises Kribbeln und hatte ein albernes Lächeln auf den Lippen, als er das Behandlungszimmer betrat und Rupert Robards begrüßte.

Rupert hatte Probleme mit der Prostata. Nach ihm kam eine ältere Dame mit einem Knoten am Steißbein, gefolgt von einer jungen Mutter mit einem Virus und, als letzter an diesem Morgen, ein Sechzehnjähriger mit Schmerztränen in den Augen und einem Angelhaken, der sich tief in sein Handgelenk gebohrt hatte.

Für den Rest des Vormittags gab es keinen Platz mehr für irgendwelche romantischen Gedanken.

Und trotzdem war Cashner Gautiers Enkelin irgendwo in Ikes Hinterkopf ständig anwesend.

Ginger hatte ihren Wagen vor der Praxis geparkt, aber nachdem sie hinausgestürmt war, ignorierte sie das Auto und lief zu Fuß weiter durch die Stadt. Die Bewegung und die frische Luft taten ihr gut. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen.

Dieser Mann hatte sie nun zweimal hintereinander dazu gebracht, die Beherrschung zu verlieren.

Normalerweise hatte sie ihre Impulsivität Außenstehenden gegenüber ganz gut im Griff. Natürlich konnte sie diese Schwäche nie lange verbergen. Aber irgendwie hatte Ike MacKinnon auf Anhieb ihre schlimmsten Eigenschaften an die Oberfläche gebracht.

Es konnte daran liegen, dass er ein Arzt war. Ein sehr gut aussehender, ungeheuer anziehender Arzt. All ihre inneren Alarmglocken schrillten, wenn sie in seiner Gegenwart jede Faser ihres Körpers spürte.

Mit weit ausholenden Schritten eilte Ginger durch die Straßen, die sie wie ihre Westentasche kannte. Das kleine Städtchen Sweet Valley war noch immer so lebendig und voller kleiner Läden und Cafés wie eh und je.

Ginger hatte ihr Leben in Chicago so abrupt beendet und war so Hals über Kopf hierher zurückgekehrt, dass sie erst einmal ein paar Dinge wie Shampoo und ihre Lieblingszahnpasta besorgen musste.

Was ihren Großvater betraf, hatte ihr Besuch bei Ike MacKinnon sie ganz und gar nicht beruhigt. Sie musste herausfinden, was sonst noch alles schieflief, und wie es generell um Cashner Gautiers Angelegenheiten stand.

In Gedanken versunken sah sie hoch und entdeckte ganz in der Nähe das Schild der Anwaltskanzlei: Louella Meachams, Esq. Die Anwältin ihres Großvaters! Ginger musste ihr ein- oder zweimal begegnet sein, aber sie wusste nur noch den Namen. So spontan hatte die Anwältin sicher keine Zeit für sie, aber sie konnte vielleicht wenigstens mit ihr einen Termin vereinbaren.

Das altmodische Treppenhaus war dunkel und stickig, steile Stufen führten zu der oben gelegenen Kanzlei. Ginger spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Zum Teil, weil sie schon immer eine leicht klaustrophobische Ader gehabt hatte, zum Teil, weil sie eigentlich dringend etwas essen musste. Sie hatte vorgehabt, irgendwo in der Stadt zu frühstücken, aber ihr spektakulärer Knockout in der Artzpraxis hatte ihr fürs Erste den Appetit verdorben.

Oben angekommen stand sie vor einer altmodischen Eichentür mit einem glänzenden Messingschild. Sie drehte den Türknauf, ohne anzuklopfen, denn sie dachte, sie würde zunächst in einem Vorraum landen. Doch plötzlich stand sie schon direkt vor dem Schreibtisch der Anwältin.

„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte eigentlich nur einen Termin mit Mrs. Meachams.“

Zum zweiten Mal an diesem Morgen verschwamm die Welt ringsum in Grüntönen und alles begann sich um sie herum zu drehen. „Ich bin Ginger Gautier, die Enkelin von Cashner Gautier, von der Teeplantage.“

Sie hörte noch Louella Meachams heisere, überraschte Stimme wie aus endloser Ferne. Danach wurde alles schwarz.

3. KAPITEL

Als der letzte Patient dieses Morgens anrief und absagte, meldete Ruby das ihrem Chef mit einem inbrünstigen „Halleluja!“

Ike lächelte noch darüber, als die Haustür schon ins Schloss fiel: Ruby gönnte sich gern ein ausgiebiges Mittagessen, wenn sie die seltene Gelegenheit dazu bekam.

Dann kehrten seine Gedanken zu Ginger zurück. Er würde sie sicher bald wiedersehen. Sie musste sich einfach wieder bei ihm blicken lassen, wenn sie mehr über den Zustand ihres Großvaters erfahren wollte. Ike hatte den alten Mann ebenfalls in sein Herz geschlossen, und jemand musste bald eine Entscheidung treffen, bevor seine Situation sich weiter verschlimmerte.

Trotzdem hätte er nie damit gerechnet, dass er so bald schon wieder von Ginger hören würde, als jetzt der Anruf von Louella Meachams kam. Die Anwältin war eine seiner schwierigsten Patientinnen, und mit ihrer rauen Art machte Louella es einem nicht leicht. Aber die Leute in der Stadt vertrauten ihr, und Ike vertraute ihr ebenfalls.

„Sagen Sie nicht, Sie sind mit einem Patienten beschäftigt, Ike MacKinnon“, legte Louella ohne Einleitung los. „Es ist mir egal, ob Sie fünfzig Leute in Ihrem Wartezimmer haben. In meinem Büro liegt eine Frau auf dem Boden, sie ist einfach umgekippt. Kommen Sie schnell her und tun Sie was.“

„In drei Minuten bin ich bei Ihnen“, gab Ike ruhig zurück. „Kennen Sie die Frau? Was ist passiert?“

„Sie heißt Ginger Gautier, Cashners Enkelin. Sie hat mich zu Tode erschreckt!“

Ike kannte Louella gut. Wenn sie geglaubt hätte, dass es sich um einen echten Notfall handelte, dann hätte sie den Krankenwagen gerufen. Also nahm er sich die Zeit, zog Laufschuhe an, warf eine Jacke über und schrieb Ruby noch schnell einen Zettel. Dann joggte er los.

Zu Fuß war er schneller als mit dem Auto: Die Kanzlei der Anwältin lag nur drei Straßen weiter, und er konnte Abkürzungen und Schleichwege nehmen. Pansy stieß ein gewaltiges Klagegeheul aus, als er ohne sie loslief, aber manchmal konnte sie eben einfach nicht mit.

Fünf Minuten später war Ike bei der Anwaltskanzlei und eilte die Stufen in den ersten Stock hinauf. Als er den Knauf zu Louellas Büro drehte, schien etwas Schweres die Tür zu blockieren. „Louella, ich bin’s, MacKinnon“, sagte er, während er anklopfte.

Louella öffnete ihm. Offenbar hatte sie innen direkt an der Tür gestanden. „Sie gibt keine Ruhe“, bemerkte sie entnervt. „Sie will ständig aufstehen, das dumme Ding. Ich habe ihr gesagt, sie geht nirgends hin, ehe Sie sie nicht durchgecheckt haben.“

„Ich habe ihr schon tausend Mal erklärt, dass es mir wieder gut geht.“ Gingers Stimme kam vom Boden her, aber sie klang wach und energisch. Louella musste ihr das Schlimmste angedroht haben, falls sie aufstand, bevor der Arzt eintraf.

Ike kauerte sich bei Ginger nieder und ging das Übliche durch. Er maß ihren Puls und ihre Temperatur, prüfte, ob sie mit den Augen folgen konnte und ob sie geschwollene Lymphdrüsen hatte. Jedes Mal, wenn er sie berührte, erschauerte sie.

Er selbst empfand etwas Ähnliches. Und er nutzte die Situation ein wenig aus, indem er ihr beim Aufstehen half. Als er sie immer noch weiter festhielt, schoss sie ihm einen scharfen Blick aus ihren unglaublich blauen Augen zu, der eindeutig sagte: Hände weg, sofort.

Draußen entging ihm nicht, wie sie oben an der Treppe innehielt und schluckte. Sie schien doch noch etwas wacklig auf den Beinen. Sicherheitshalber legte er wieder einen Arm um sie.

„Nicht nötig“, sagte Ginger gereizt.

Als sie unten ankamen, hatte er kaum die Tür aufgestoßen, da stürmte Ginger schon an ihm vorbei nach draußen.

Ike erwischte sie gerade noch am Handgelenk. „Halt! Wir ergreifen jetzt eine medizinische Sofortmaßnahme.“

„Was soll das?“, fragte sie empört.

Stumm zog Ike sie einfach mit sich, und zu seiner Überraschung ließ Ginger es mit sich geschehen.

Direkt an der Ecke lag sein Lieblingsimbiss, das New York Deli. Zur Mittagszeit war es dort stets rappelvoll, aber für den Doktor hatte der Besitzer immer einen Platz. Ike aß öfter hier, denn das Essen war wirklich gut.

Ginger protestierte schwach darüber, dass sie wie ein Schaf durch die Gegend getrieben wurde, aber als sie die Speisekarte in den Händen hielt, verstummte sie.

Als Erstes nahm sie sich schnell drei Essiggurken. Dann verschlang sie ein Corned Beef auf Brot, dazu Pommes frites und Krautsalat. Und da sie auf ihrem leeren Teller jeden Krümel aufpickte, schloss Ike daraus, dass sie immer noch Hunger hatte. Und er bestellte noch einen Nachtisch: Apfelkuchen mit Schlagsahne.

Während Ginger mit Essen beschäftigt war, nutzte Ike die Gelegenheit und bemerkte leichthin: „Ich schätze, noch vor den Abendnachrichten wird die ganze Stadt wissen, dass Sie heute Morgen zweimal ohnmächtig geworden sind, dass wir beide zusammen Mittag essen, und wahrscheinlich wird man darüber spekulieren, ob wir auch miteinander schlafen.“

Ginger ließ prompt ihre Gabel fallen und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Aber er sah keinen Ärger darin, nur vorsichtige Belustigung. „Hey, flirten Sie immer mit fremden schwangeren Frauen?“

„Nein, nicht immer. Also eigentlich: nie“, entgegnete er lächelnd. „Ich finde Ihre Situation nur recht ungewöhnlich. Sie kommen in die alte Heimat zurück, um sich um Ihren alten Großvater zu kümmern. Und das ganz allein. Sollte es einen Mann in Ihrem Leben geben, dann muss er ein echter Mistkerl sein, dass er Sie so sich selbst überlässt.“

„Eine beeindruckende Analyse“, bemerkte sie ironisch.

„Ich nehme also an, dass mich keiner daran hindern wird, mich ein bisschen um Sie zu kümmern“, fuhr er todernst fort, aber sie sah das lustige Funkeln in seinen Augen.

Jetzt musste Ginger gegen ihren Willen doch lachen. „Ich habe Sie aus dem Haus geworfen, Sie angebrüllt und bin zweimal vor Ihnen in Ohnmacht gefallen. Zickiger kann man sich doch gar nicht aufführen! Die meisten Männer hätten längst das Weite gesucht.“

„Ich bin Arzt“, entgegnete er achselzuckend.

Sie neckten sich noch ein wenig, und irgendwann sah Ginger auf die Uhr an der Wand. Er folgte ihrem Blick und erkannte, wie spät es schon war: Seit zehn Minuten wartete sein erster Patient dieses Nachmittags auf ihn. Ruby würde ihn gleich sehr ungnädig empfangen.

Auch Ginger sagte: „Ich muss zurück zu meinem Großvater.“

Ike legte das Geld auf den Tisch und schob Ginger sanft zur Tür, vorbei an vereinzelten Rufen wie „Hallo, Doc!“ und „Ginger, schön, dass du wieder da bist!“, die sie aufhalten wollten.

Draußen hatte der Himmel sich mit dicken Wolken überzogen, ein kühler Wind wirbelte Papier und Blätter auf. Der Wind kündigte Regen an, und die strahlende Sonne war verschwunden.

„Ich weiß, wo Ihr Wagen steht“, bemerkte Ike lächelnd.

Während sie nebeneinander hereilten, redeten sie nicht mehr viel. Gingers rasche kurze Schritte fühlten sich neben seinen ausholenden, langen Schritten vertraut und natürlich an, genauso wie ihre Gestalt neben seiner. Viel zu schnell waren sie wieder vor seinem Haus.

Ginger suchte in ihrer Umhängetasche nach ihrem Autoschlüssel, dann hatte sie ihn gefunden, hob den Kopf und sah Ike stirnrunzelnd an.

Was bedeutete dieser Gesichtsausdruck?

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in beide Hände und – küsste ihn. Ein leichter Kuss, nur die Berührung ihrer Lippen, doch die Wirkung auf Ike war anders als alles, was er bis dahin empfunden hatte. Ein elektrischer Schock.

Ginger stand vor ihm und sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Ihre Schlüssel fielen zu Boden, und er hob sie auf.

Als er wieder ruhiger atmen konnte, fragte er: „Kannst du mir erklären, warum du das getan hast?“

„Manchmal tue ich verrückte Dinge. Auch wenn ich sie hinterher bereue.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das war eine großartige Eingebung.“ Und bevor sie darauf noch etwas sagen konnte, was den Zauber zerstörte, bemerkte er: „Ich komme mindestens zweimal die Woche bei deinem Großvater vorbei. Wir tun beide so, als käme ich nicht wegen seiner Gesundheit, sondern zum Teetrinken. Ich will damit nur sagen … wir sehen uns bald wieder.“ Nicht bald genug, dachte er gleichzeitig. Sein Herz raste.

In dem Augenblick, als Ginger den Wagen in ihre Einfahrt lenkte, brach der Regen los. Zuerst war es nur ein Tröpfeln, aber als sie die vordere Veranda erreichte, zuckte ein Blitz über den Himmel, und ferner Donner grollte.

Drinnen im Haus rief sie: „Gramps? Ich bin wieder da!“

Im Dämmerlicht erschien das Erdgeschoss noch düsterer, und Staub und Vernachlässigung traten noch stärker hervor. Aber sie hörte Stimmen und Gelächter aus der Küche.

Im Türrahmen blieb sie mit verschränkten Armen stehen und betrachtete lächelnd das Bild. Die beiden alten Männer saßen am Küchentisch und spielten Karten. Es sah nach Canasta aus. Geld lag auf dem Tisch, Karten verteilten sich überall. Seit dem Morgen hatte sich auf der Ablage neben der Spüle noch mehr schmutziges Geschirr angesammelt, aber die beiden amüsierten sich bestens.

Ginger beugte sich hinunter und gab ihrem Großvater einen Kuss. Seine Augen waren klar und strahlten. „Du warst den ganzen Tag weg, Kleines. Du hast hoffentlich einen Haufen Geld ausgegeben und dir einen schönen Tag gegönnt!“

„Ja“, sagte sie lächelnd. Dabei vergrub sie die Erinnerung an ihre beiden Ohnmachtsanfälle und ihre Begegnungen mit Ike MacKinnon irgendwo ganz hinten im Hinterkopf.

Cornelius lächelte auch. Er war kleiner als Ginger und hatte asiatische, schwarze und vielleicht auch indianische Vorfahren in seiner Familie. Niemand im Städtchen sah so aus wie er. Ginger wusste nicht recht, wer hier wen unter seine Fittiche genommen hatte, aber Cornelius und Cashner waren etwa gleich alt und unzertrennlich. Keiner von beiden hatte je gelernt, ein Glas in die Spülmaschine zu stellen. Keiner gehorchte irgendjemandem auf der Welt. Und beide konnten einen düsteren Nachmittag verscheuchen, indem sie Karten spielten und sich köstlich dabei amüsierten.

„Ich lege mich kurz ein bisschen hin“, erklärte Ginger.

„Ja, ja, geh nur, geh“, winkten die beiden alten Männer ab. Im nächsten Moment kicherte Cornelius zufrieden über eine Karte, die er ausspielte, und er und Cashner beschimpften und bedrohten sich lautstark und genüsslich.

Erst als ihr Kopf oben in ihrem Zimmer auf das Kissen sank, merkte Ginger, wie erschöpft sie war.

Als sie die Augen wieder aufschlug, zeigte die Uhr nach vier. Sie duschte schnell, lief hinunter und fand ihre beiden Schützlinge inzwischen auf der vorderen Veranda. Dort saßen sie in Schaukelstühlen, tranken Tee und diskutierten über ein Baseballspiel.

Cornelius erblickte Ginger als Erster und erhob sich. „Wir dachten, du wachst wohl erst morgen wieder auf, du hast so müde ausgesehen.“

„Ich war etwas müde, aber jetzt geht es mir prima.“

Cornelius nickte. „Ich mach mich mal auf in die Küche, da kocht schon irgendwas. Ich weiß nicht mehr, was ich da alles aufgesetzt habe, aber in einer Stunde ist es wohl etwa fertig.“

Ginger lächelte ihn an. Sie wollte ihm gleich in die Küche folgen und ihm helfen, aber erst wollte sie den Augenblick mit ihrem Großvater noch nutzen. Sein Blick war klar und wach. Sie zog sich einen Stuhl zu ihm und setzte sich.

„Gramps, all die letzten Jahre hat sich hier doch Amos Hawthorne um das Land und den Betrieb gekümmert. Aber ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“

„Weil er nicht mehr hier ist. Ich musste ihn rausschmeißen. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war.“

Ginger schluckte. „Wer kümmert sich denn jetzt um den Tee? Den Laden? Das Land?“

„Na, ich, Schatz. Und Cornelius. Den Laden haben wir zugemacht, nachdem …“ Ihr Großvater runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht mehr genau, wann. Vor einer Weile.“

„Und wer pflegt den Garten, mäht den Rasen, schneidet die Bäume?“

„Also, da haben Cornelius und ich eine Theorie. Wir brauchen ein paar Ziegen.“

„Ziegen“, wiederholte Ginger ratlos.

„Jawohl. Wir haben eine Menge Land, auf dem nur Gras wächst. Ziegen lieben Gras. Das würde uns keinen Penny kosten. Die Ziegen könnten das Gras fressen, und wir sparen das Geld für den Traktor, für Benzin, und das alles.“

Ginger spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. „Es gibt hier zurzeit also niemanden, der das Land in Ordnung hält?“

„Wir finden beide, dass Ziegen das erledigen könnten. Findest du nicht, das hört sich großartig an, Liebes?“

„Oh, ja“, stimmte sie ihm mühsam lächelnd zu. „Gramps, weißt du, wer letztes Jahr deine Steuererklärung gemacht hat? Hast du einen Buchhalter in der Stadt?“

„Wieso, Schatz? All diese Dinge hat doch schon immer deine Grandma erledigt. Warum stellst du solche Fragen? Komm, lass uns lieber Karten spielen. Oder hol die Schachtel mit dem Backgammon raus. Und nach dem Abendessen könnten wir noch ein bisschen spazieren gehen.“

Ginger sah ein, dass es sinnlos war, ihm weitere Fragen zu stellen. Bis jetzt hatte eine Antwort sie mehr erschreckt als die andere. Niemand schien sich um die anfallenden Arbeiten auf dem Gut zu kümmern, weder um die Teepflanzungen, noch um den Haushalt. Ihr Gramps schien in der Vorstellung zu leben, dass ihre Großmutter noch lebte. Die ganze Situation war schlimmer, als sie gedacht hatte.

Vielleicht sollte sie einfach noch einmal in Ohnmacht fallen? Damit hatte sie an diesem Tag schon zweimal alles vorübergehend ausgeblendet. Nur würde das todsicher in der nächsten Sekunde Ike MacKinnon wieder auf den Plan rufen. Er schien einen unfehlbaren Riecher dafür zu haben, wann sie in Nöten war oder sich gerade in einer peinlichen Lage befand.

Sie versuchte immer noch zu begreifen, was in sie gefahren war, als sie ihn geküsst hatte. Ein Arzt war für viele Frauen der Ehemann ihrer Träume. Aber Ginger hatte die ernüchternde Wirklichkeit am eigenen Leib erfahren. Ärzte setzten unweigerlich ihre Arbeit an die erste Stelle, und sie spielten nur nach ihren eigenen Regeln.

Ike MacKinnon jedenfalls spielte nur nach seinen eigenen Regeln, so viel war sicher. Sich von ihm fernzuhalten war das einzig Vernünftige.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen war Ginger früh wieder auf den Beinen und voller Energie. Sie hatte die beiden alten Männer zum Hausputz eingespannt und ihnen Mikrofasertücher um die Schuhe gebunden. Damit sollten die beiden durchs Erdgeschoss schlurfen. Das war nicht die eleganteste Art, die edlen Holzdielen zu polieren, aber es erfüllte seinen Zweck.

Ginger ging daran, die Küche aufzuräumen. Als ihr die ersten Mehlmotten entgegenflatterten, warf sie ihr Programm für diesen Tag über den Haufen. Sie begann sofort, alles aus den Schränken auszuräumen. Sie zog alte Gummihandschuhe an, rührte sich eine Mischung aus starker Seife und Desinfektionsmittel zusammen und fand irgendwo eine brauchbare Bürste.

Einen Teil der Schränke hatte sie schon komplett geleert, da wurde sie vom lauten Rattern eines Motors unterbrochen. Ein Rasenmäher! Sie spähte aus dem Fenster, dann lief sie nach draußen. Ein völlig fremder Mann zog dort auf einem grünen Rasenmäher-Traktor Schleifen.

Sie rannte ihm hinterher, der Fahrer wurde auf sie aufmerksam und sie konnte ihn genauer betrachten. Es war ein älterer Schwarzer mit grauem, dichtem Haar und offenem Blick.

Er hielt und stellte den Motor ab, als er sie sah.

„Ich verstehe nicht ganz“, begann Ginger. „Wer sind Sie und was machen Sie da?“

„Ich bin Jed, Ma’am.“ Seine Stimme war ruhig und freundlich.

„Sie arbeiten nicht für meinen Großvater“, stellte sie halb fragend fest.

„Nein, Ma’am. Ich bin im Ruhestand, arbeite gar nicht mehr.“

Dann rang er sich zu einer etwas ausführlicheren Erklärung durch: „Ich arbeite nicht mehr regelmäßig, aber ich bin noch fit genug, und Zeit habe ich auch. Der Doc hat mein Enkelkind auf die Welt geholt, obwohl er im Voraus wusste, dass wir ihn nicht bezahlen können. Also zahle ich es auf diese Weise ab. Ich erledige Arbeiten, die er für mich findet. Keine Sorge, ich kontrolliere Öl und Benzin und die Schneidmesser, wenn ich den Mäher zurückstelle. Ich kenne mich mit Traktoren aus.“

Ginger wusste nicht, was sie sagen sollte, und als sie nicht schnell genug reagierte, tippte der Mann nur höflich an seine Baseballkappe und startete wieder seinen lauten Motor.

Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt und rang mit sich, ob sie Ike MacKinnon sofort anrufen und zur Rede stellen sollte, oder … lieber warten. Warten schien vernünftiger, denn er war jetzt sicher mit seinen Patienten beschäftigt. Also ging sie zurück Richtung Küche. Beim Putzen konnte sie außerdem in Ruhe überlegen, was genau sie Ike MacKinnon sagen wollte.

Drinnen schaute sie bei Cashner und Cornelius nach dem Rechten. Sie hatten das Radio aufgedreht, und durchs Erdgeschoss dröhnte Rock and Roll aus den 50er Jahren. Aber die beiden schlurften gemächlich durch die Räume, zumindest bis sie Ginger erblickten und sich über ihr hartes Los beschwerten. Ginger brühte eine frische Kanne Tee für sie alle auf, dann schickte sie die Männer zurück an die Arbeit und beugte sich wieder über ihren Putzeimer.

Gerade steckte sie mit dem Kopf unter dem Spülbecken, als sie die Haustürklingel hörte. Einmal, zweimal, dreimal. Sie rappelte sich auf und streifte ihre Gummihandschuhe ab, während sie zur Tür lief.

Draußen stand eine kräftige Frau in einem alten Baumwollkleid, das dünne braune Haar hatte sie zu einem schmucklosen Knoten hinten zusammengebunden.

„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte die Besucherin schroff zur Begrüßung. „Sie sind Cashners Enkelin, Ginger Gautier. Ich bin Ihre neue Köchin.“

Ginger runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht ganz. Wir haben keine Köchin.“

„Na, jetzt haben Sie eine. Ich mache keinen Tofu, das sag ich Ihnen gleich. Und auch keine Sushi. Wenn Sie so neumodische Sachen wollen, dann brauchen Sie jemand anderen.“

Ginger öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber die Frau war verblüffend streitlustig. Ohne auf eine Einladung zu warten, kam die Besucherin herein und marschierte den Gang entlang zur Küche.

„Warten Sie! Ich weiß ja überhaupt nicht, wer Sie sind.“

„Ich bin Sarah. Ihre Großmutter und ich haben manchmal bei Kirchenfesten zusammen ausgeholfen. Eine feine Dame, Ihre Großmutter.“

Als Sarah die Küche erreicht hatte, wandte sie sich mit angewidertem Gesichtsausdruck um. „In dieser Küche kann man ja nicht kochen.“

Ginger hob ergeben die Arme. „Das hätte ich Ihnen sagen können. Wenn Sie das etwas angehen würde. Oder wenn Sie gefragt hätten.“

Sarah ignorierte sie, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. „Ich hab drei Kinder zu Hause. Also kann ich nicht zu festen Zeiten kommen. Ich koche jeden Tag irgendwas und stelle es Ihnen hin. Ich koche gut. Hat sich noch keiner über mein Essen beschwert.“

„Das glaube ich Ihnen gern. Aber wenn ich eine Köchin suchen würde …“

Sarah reckte kampflustig ihr Kinn. „Ich schulde dem Doc was. Er kümmert sich seit fast drei Jahren um meine Kinder. Ich habe ihn bezahlt, wenn ich konnte, aber ich hatte nie eine Stelle lange genug. Als alle drei gleichzeitig krank waren, hat er mir nicht mal eine Rechnung geschickt. Hat es nie wieder erwähnt. Aber hier sieht es wirklich aus wie im Schweinestall.“

Alles, was die Frau sagte, klang ärgerlich. Ginger hatte kaum ein Wort sagen können, aber ihr wurde allmählich klar, dass Sarah wohl einfach immer so redete. Und was die Küche betraf, hatte sie natürlich recht.

Das Chaos war auf dem Höhepunkt. Schubladen standen weit offen zum Trocknen, wo sie sie ausgewaschen hatte. Auf dem Boden glänzten Wasserpfützen, und der Putzeimer stand mitten im Weg. Berge von Konservendosen aus den Schränken lagen überall herum. Die Geschirrspülmaschine rauschte und gluckerte. Der Tisch war übersät mit Rollen von Papier, das Ginger später in den Schränken auslegen wollte.

„Heute Nachmittag bring ich ein Abendessen vorbei“, erklärte Sarah. „Und eine Liste, was für Gerichte ich koche. Die Zutaten müssen Sie besorgen. Das mach ich nicht.“

Ginger massierte sich mechanisch die Schläfen. Langsam wurde alles ein bisschen viel. „Natürlich kaufen Sie nicht für mich ein …“

„Aber ich schreibe Ihnen genau auf, was ich brauche. Für die Abendessen. Was Sie morgens und mittags essen, ist nicht meine Sache.“

„Warten Sie …“

Aber Sarah ignorierte sie, brummelte noch irgendetwas Abschätziges und marschierte einfach wieder zur Haustür hinaus, genauso schnell und wütend, wie sie gekommen war.

Ginger sah ihr fassungslos hinterher. Zwei Begegnungen der dritten Art an einem Vormittag! Was war hier los? Normale Menschen verhielten sich doch nicht so.

Es war, als hätte eine unsichtbare Macht sowohl Jed als auch Sarah angewiesen, jede Widerrede von Ginger zu ignorieren.

Diese unsichtbare Macht hatte einen Namen. Ike. Und genau das war das Problem. Aber darum kümmerte sie sich später!

Ginger kehrte dem Chaos in der Küche den Rücken und ging ihre beiden Männer suchen. Cashner und Cornelius hatten sich unauffällig in die Schaukelstühle auf der Veranda geflüchtet. Das nahm sie ihnen nicht übel, die beiden hatten genug geschafft für heute. Ginger schmierte ein paar Brote und brachte das Tablett für ein improvisiertes Mittagessen hinaus. Danach steuerte sie wieder die Küche an.

Ihr Rücken tat weh, ihre Finger und Hände waren müde vom Schrubben und Reiben. Ihre Schultern und Arme beschwerten sich über die stundenlange Anstrengung.

Aber es blieb nur noch ein allerletzter Schrank, dann hatte sie es geschafft.

Sie griff zur Bürste und kletterte zum x-ten Mal an diesem Tag auf ihre Küchentheke. Da hörte sie ein Klopfen an der Haustür. Das konnte doch nicht wahr sein!

Diesmal wappnete sie sich. Sie stieg wieder hinunter und hörte schon, wie ihre beiden Männer auf der Veranda den Besuch freudig begrüßen. Natürlich kannte sie die Stimme des Besuchers nur zu gut.

Im ersten Moment wollte sie ins Bad hasten und sich ein wenig in Form bringen, aber wozu? Ike MacKinnon hatte sie schon im allerschlimmsten Zustand gesehen. Zweimal. Und es war ja nicht so, dass sie den Mann beeindrucken wollte. Also trug Ginger erhobenen Hauptes ihre Gummihandschuhe vor sich her und lief barfuß, mit zerzaustem Haar und fleckigem Gesicht zur Tür.

Ike war natürlich in Begleitung seines sabbernden Ungetüms von Hund. Pansy hatte sich schon mitten auf der Veranda ausgestreckt.

Ihr Herrchen trug ein farbloses, leicht zerschlissenes T-Shirt, ein Paar abgetragene Shorts und uralte Schuhe. Auch heute hatte er sich offenbar nicht rasiert.

Und trotzdem verspürte Ginger ein Kribbeln von den Fußzehen aufsteigen und ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht lag es daran, wie Ike sie jetzt ansah. Als empfände er etwas Ähnliches.

Cashner und Cornelius in ihren Schaukelstühlen wollten von ihm wissen, warum er gekommen war.

„Ich wollte Ginger sehen“, sagte er trocken. „Es kann sein, dass sie ein Hühnchen mit mir zu rupfen hat. Dann bringe ich es lieber schnell hinter mich.“

„Wieso denn?“, fragte Cornelius verblüfft.

„Ja, wieso denn nur?“, wiederholte Ginger ironisch.

„Ich hätte dich vielleicht erst fragen sollen, bevor ich dir Hilfe ins Haus schicke“, begann Ike vorsichtig.

„Stimmt, du hättest mich fragen können. Andererseits wusstest du ja, dass ich Hilfe brauchte.“

Ike schien ein wenig verwirrt. Vielleicht hatte er ihren ruhigen, freundlichen Tonfall nicht erwartet. So hatte er sie ja bisher nicht oft gehört.

„Ich wusste, dass du Hilfe gebrauchen konntest“, stimmte er zu. „Und ich hatte Patienten, die mich auf ihre Art bezahlen wollten. Also hielt ich das für eine gute Idee. So hat jeder etwas davon.“

„Ja“, sagte Ginger, „außer, dass es bevormundend und arrogant war. Du hast mich gar nicht erst gefragt. Du hast einfach selbst entschieden, was am besten für mich ist. Genauso wie du glaubst, am besten zu wissen, was für meinen Großvater gut ist. Hat dich denn hier irgendjemand gebeten, den lieben Gott zu spielen?“ Sie war beim Reden immer lauter geworden. Sie konnte sich einfach nicht bremsen.

„Autsch“, sagte Ike.

Ginger würdigte ihn keiner Antwort mehr, lief ins Haus zurück und ließ die Eingangstür geräuschvoll zufallen.

Ike zuckte zusammen, als die Tür knallte, dann fuhr er sich fassungslos durch das wuschelige Haar.

„Was in aller Welt haben Sie gemacht, um sie so auf die Palme zu bringen?“, wollte Cornelius wissen.

Cashner begann wieder in seinem Stuhl zu schaukeln. „Sie geht ab wie eine Rakete, da braucht es nicht viel. So war sie schon immer. Aber sie beruhigt sich auch schnell. An Ihrer Stelle würde ich ihr einfach erst mal aus dem Weg gehen, Doc.“

Cornelius schüttelte den Kopf. „Hören Sie nicht auf ihn, Doc. Wenn Sie sie jetzt schmoren lassen, kocht sie später über, wenn Sie weg sind. Dann sitzen wir hier und müssen es ausbaden.“

„Ich glaube, du hast recht“, stimmte Cashner zu. „Ike, am besten gehen Sie ihr wohl doch hinterher. Wir bleiben hier draußen, wir halten uns da ganz raus.“

Die beiden alten Männer wirkten zur Abwechslung völlig klar im Kopf, und das freute Ike. Er nickte ihnen zu, murmelte: „Pansy, du bleibst hier“, und steuerte die Küche an.

Dort fand er Ginger, barfuß, oben auf der Theke stehend. Offenbar wollte sie gerade den obersten Hängeschrank ausräumen. Zwei leere Flaschen Tequila standen in der Spüle, und Ginger beugte sich mit einer dritten Flasche in der Hand hinunter. Als sie Ike in der Tür erblickte, machte sie eine heftige Bewegung und geriet ins Wanken.

Er sprang blitzschnell vor, um sie am Fallen zu hindern. Als er nah genug war und die Arme hob, um sie aufzufangen, zuckte Ginger zurück, wich einer Berührung aus und sagte schroff: „Ich falle nicht. Du hast mich nur erschreckt.“

„Du mich auch. Aber vielleicht lag es nur an den Alkoholschwaden hier. Ich sehe, du magst keinen Tequila?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Ginger. Sie hatte sich wieder gefangen. „Denn ich trinke nichts aus Flaschen, in denen Würmer schwimmen. Vor Jahren hat ein Arbeiter auf der Teeplantage uns am Ende jeder Saison eine Flasche mit dieser merkwürdigen Delikatesse geschenkt. Sie haben sich angesammelt. Grandma und ich haben sie immer ignoriert, weil wir uns einig waren über den Wurm in der Tequila-Flasche: eine absurde Tradition.“

Sie schwiegen beide einen Augenblick, dann sagte Ginger abrupt: „Wenn du gekommen bist, weil du noch einmal einen Kuss möchtest, vergiss es.“

„Wie kommst du darauf, dass ich dich küssen will? Du hast einen schwarzen Fleck im Gesicht, deine Knie sind aufgescheuert und dein Haar steht ab wie Putzwolle“, neckte Ike.

„Du willst noch einen Kuss“, stellte sie nüchtern fest. „Obwohl ich keine Ahnung habe, wieso. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, mein Leben liegt in Scherben. Dir ist doch klar, dass das nirgends hinführen würde.“

Ja, es war ihm klar. Oder vielleicht auch nicht. Das Problem ging tiefer. Er war mit seinem ruhigen Leben in Sweet Valley die ganzen letzten Jahre zufrieden gewesen, jedenfalls hatte er das geglaubt, bis Ginger ihm über den Weg gelaufen war. So verrückt es war, er fühlte sich nach einer zweiminütigen Auseinandersetzung mit ihr lebendiger als in den ganzen Jahren ohne sie.

Ginger verscheuchte die Spannung, die plötzlich in der Luft hing, mit einer entschiedenen Handbewegung. „Möchtest du etwas trinken?“

„Was hast du denn anzubieten, außer altem Tequila mit Wurm?“

„Machst du Witze?“ Sie verdrehte die Augen. „Du befindest dich auf einer Teeplantage. Tee ist das Einzige, das hier morgens, mittags und abends serviert wird.“

„Ja, wie wäre es dann mit … einer Tasse Tee?“

Endlich sprang sie von der Theke herunter und piekte ihm unerwartet einen Finger in den Bauch. „Du bist nicht so lustig, wie du glaubst.“

„Aber du lächelst.“

„Vielleicht, weil ich ein bisschen durchgedreht bin.“

Manche Gewohnheiten waren Ginger sichtlich in Fleisch und Blut übergegangen. Ike beobachtete, wie sie mit leichter Hand die richtige Kanne nahm, das Wasser auf die exakt richtige Temperatur brachte, schlafwandlerisch einen köstlichen Tee wählte, an den Blättern roch, abmaß und wartete, während der Tee zog.

„Frag mich nicht nach Sahne oder Zucker. Das sind Sünden in diesem Haus. Für den richtigen Tee braucht man nichts dazu.“

Ike nickte. „Cashner hat mir einst fast den Kopf abgerissen, als ich nach Zucker fragte. Er hat mir einen Fünfundvierzigminutenvortrag über Tee gehalten. Den Fehler mache ich nie wieder.“

„Oh, ein Mann, der lernfähig ist. Wer hätte das gedacht?“, rief Ginger lachend.

Er verzog das Gesicht und sah ihr stumm dabei zu, wie sie zwei zur Teekanne passende Tassen herausholte.

„Da wir schon von Männern reden“, bemerkte er dann beiläufig. „Weiß der Mann in deinem Leben davon? Von deiner Schwangerschaft?“

Ginger verzog das Gesicht. „Und ich dachte gerade, wir würden uns zur Abwechslung mal einfach nett unterhalten.“ Sie reichte ihm eine gefüllte Teetasse.

„Du hast es ihm also nicht gesagt. Aber bestimmt hast du eine gewisse Vorstellung davon, wie er reagieren wird.“

Ginger goss sich gerade ebenfalls Tee ein, aber nun setzte sie die Tasse abrupt ab. „Das reicht. Raus. Auf Wiedersehen! Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein bisschen mit dir über meinen Großvater zu reden. Aber jetzt nicht. Ein andermal.“

„Gut“, stimmte Ike zu. „Genug geredet.“

Im nächsten Moment hatte er seine Tasse abgesetzt und Ginger an sich gezogen. Sie hatte nicht damit gerechnet.

Auch Ike hatte gar nicht vorgehabt, sie zu küssen, als er gekommen war. Bis Ginger es erwähnt hatte. Seither hatte er an nichts anderes mehr denken können.

Sie war schwierig und reizbar. Sie war schwanger von einem anderen. Sie hatte einen Haufen Probleme am Hals, und womöglich hatte sie gar nicht vor, länger in Sweet Valley zu bleiben als nötig.

Aber rückhaltlos erwiderte sie seinen Kuss, er roch den Duft ihrer Haut, schmeckte ihre weichen Lippen und versank in einem wilden Strudel, als Ginger seine Schultern umklammerte, sich an ihm festhielt und leise stöhnte. Sie genoss es ebenso wie er, kein Zweifel. Bis sie plötzlich zurückschreckte und ihn groß ansah. „Ike, ich höre Trommeln.“

„Ich auch“, murmelte Ike.

„Nein, ich höre wirklich Trommeln.“

Das brachte ihn zu sich, und er seufzte tief. „Dann ist es mein Handy. Und ich fürchte, es ist Tildey.“ Jetzt war er wieder nüchtern.

Als Ginger ihn fragend ansah, erklärte er: „Sie ist neunundzwanzig. Zwei Wochen über die Zeit mit ihrem dritten Baby. Sie hat eine Hebamme, der sie nicht traut. Heute Morgen rief sie an, um mir zu sagen, dass sie in den Wehen liegt. Und dass die Hebamme schon da ist. Ich muss hin“, sagte er zögernd. „Nächstes Mal reden wir ernsthaft über Cashner, versprochen.“ Dann fiel ihm noch etwas ein. „Könnte ich Pansy bis später hierlassen? Dann muss ich sie nicht erst nach Hause bringen, und zu den Leuten kann ich sie nicht mitnehmen.“

„Ike, ich weiß nicht …“

„Ich bin zurück, so schnell ich kann.“

Ginger nickte nur.

Leider erwies sich die Hebamme tatsächlich als ziemlich unfähig. Tildey und ihr Baby waren in Schwierigkeiten. Ihre beiden anderen kleinen Kinder waren sich selbst überlassen und liefen verängstigt und weinend durch die Wohnung. Der Ehemann hatte sich offenbar in die nächste Bar verdrückt, als die Wehen begannen, und sich dann nicht mehr blicken lassen.

Bis Ike endlich zu den Gautiers zurückfahren konnte, war es nach Mitternacht. Das Wetter hatte sich gewandelt, der Himmel war voller dicker Wolken, Blitze zuckten, Donner grollte und der Wind heulte. Als Ike aus dem Wagen stieg und zur vorderen Veranda eilte, erwischte ihn ein kräftiger Regenguss. Es war sicher niemand mehr wach, und er wollte auch niemanden wecken. Er musste nur Pansy holen, die vermutlich auf der Veranda auf ihn wartete.

Doch Pansy war nicht auf der Veranda. Sie war nirgends zu sehen.

Ike trat einen Schritt zurück und blickte sich um. Im ersten Stock oben, im letzten Fenster, sah er einen sanften gelben Lichtschein.

5. KAPITEL

Das Abendessen war ein Festschmaus gewesen. Ginger hatte Sarah im Haus weder gehört noch gesehen. Sie hatte nur das köstliche Essen vorgefunden, als sie nach ihrer Putzaktion ein wenig draußen gewesen war und irgendwann wieder in die Küche schaute. An einem großen Topf hing ein Zettel mit Anweisungen. Hühnchen in einer fantastischen Käsesoße füllte eine große Pfanne, gebratene kleine Kartoffeln lagen in einer zweiten. Ein frisch gebackenes, noch warmes Baguette lag auf der Theke, neben dem Hinweis, dass sie die Bohnen nicht zu lange kochen sollte.

Cashner aß, als wäre es sein letztes Mahl.

Cornelius, der selten zum Abendessen blieb, nahm sich noch einmal nach.

Es gab nur zwei Probleme. Eines war, dass Cashner sie ständig Rachel nannte. Und das andere war der Hund.

Autor

Jennifer Greene

Seit 1980 hat die US-amerikanische Schriftstellerin Jennifer Greene über 85 Liebesromane veröffentlicht, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Unter dem Pseudonym Jennifer Greene schreibt die Autorin Jill Alison Hart seit 1986 ihre Romane. Ihre ersten Romane wurden 1980 unter dem Namen Jessica Massey herausgegeben, das Pseudonym Jeanne Grant benutzte...

Mehr erfahren
Christine Flynn
Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...
Mehr erfahren
Patricia Thayer
Als zweites von acht Kindern wurde Patricia Thayer in Muncie, Indiana geboren. Sie besuchte die Ball State University und wenig später ging sie in den Westen. Orange County in Kalifornien wurde für viele Jahre ihre Heimat. Sie genoss dort nicht nur das warme Klima, sondern auch die Gesellschaft und Unterstützung...
Mehr erfahren