Bianca Exklusiv Band 361

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KLEINE INSEL – GROSSE SEHNSUCHT von ANN ROTH
Mit ihrem kleinen Sohn zieht Emmy nach Halo Island – und lernt dort den attraktiven Architekten Mac kennen. Schon träumt Emmy von einem Happy End, da gesteht Mac: Er wird die Insel verlassen, sobald er sein aktuelles Bauprojekt abgeschlossen hat!

BLEIB FÜR IMMER BEI MIR von JAN HUDSON
Gabe Burrell ist so fasziniert von der selbstbewussten Belle, dass er sie spontan auf sein Anwesen einlädt. Aber während sie bald alles ist, was er will, besteht sie beharrlich auf ihrer Unabhängigkeit. Was kann er nur tun, um ihr Herz zu gewinnen?

AMOR TRÄGT EIN ROSA KLEIDCHEN von MARIE FERRARELLA
Ginny will endlich eine Mami! Und sie weiß genau, wie die sein soll: Lieb wie die junge Köchin Danni. Daddy zum Lachen bringen wie Danni. Ihn küssen – so wie Danni. Auch wenn Ginny erst vier ist, kann sie eins und eins zusammenzählen …


  • Erscheinungstag 28.04.2023
  • Bandnummer 361
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516709
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ann Roth, Jan Hudson, Marie Ferrarella

BIANCA EXKLUSIV BAND 361

1. KAPITEL

Die Scheibenwischer konnten den strömenden Regen kaum bewältigen. Emmy Logan drosselte das Tempo und umfasste das Lenkrad fester. Ihr Auto hatte schon einige Jahre auf dem Buckel – mit dem Anhänger war es noch schwerer zu handhaben als gewöhnlich. Die zweispurige Treeline Road lag einsam und verlassen da. Ohne die Häuser, die vereinzelt durch den Wald zu beiden Straßenseiten lugten, hätte man sich ganz allein auf der Welt wähnen können. Doch so trüb und düster es an diesem dritten Januar auch sein mochte, für Emmy bedeutete es den vielversprechenden Beginn eines neuen Jahres und eines neuen Abschnitts in ihrem Leben.

„Ist es auf Halo Island nicht wunderschön?“, fragte sie und warf einen besorgten Blick zu ihrem elfjährigen Sohn.

Jesse zuckte die schmalen Schultern. „Es regnet und ist kalt und hier gibt’s überhaupt keine Läden.“

„Wir sind hier im pazifischen Nordwesten. Da muss man damit rechnen, dass es im Januar regnet. Und vergiss nicht, dass es keine Großstadt wie Oakland ist, sondern ein kleiner Ort mit nicht mal zweitausend Einwohnern. Die meisten Geschäfte sind im Ortskern. Und der ist gar nicht weit von hier. Sobald wir uns eingerichtet haben, gehe ich mit dir hin.“

Die Lage auf dem Land war einer der Gründe, weshalb Emmy sich für Halo Island entschieden hatte. Das erste Mal war sie im November zu einem Vorstellungsgespräch in der Stadtbibliothek hergekommen. Auf Anhieb hatte sie sich in den Ort und seine freundlichen Bewohner verliebt.

Weit wichtiger war ihr, dass Welten zwischen diesem beschaulichen Städtchen und Tyrell Barker lagen, dem Leader einer Straßengang namens Street Kings. Der hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihren ohne Vater aufwachsenden kleinen Sohn zu rekrutieren.

Seit Jesse sich mit Tyrell und dessen Kumpeln angefreundet hatte, war er aggressiv und richtiggehend schwer erziehbar. Seine Schulnoten hatten gelitten und er war mehrfach zum Schulrektor zitiert worden. Weder durch gutes Zureden oder Drohungen noch durch Bestechungsversuche war es ihr gelungen, ihn dazu zu bewegen, sich manierlicher zu benehmen.

Der letzte Tropfen, der für Emmy das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, war eine Pistole, die Tyrell ihrem Sohn zugeschanzt hatte. Das hatte sie rein zufällig erfahren, als sie ein Telefongespräch belauschte. Danach war ihr nur noch ein Umzug als letzter Ausweg geblieben. Sie hoffte sehr, dass Jesse auf Halo Island die Gang bald vergessen würde und sich mit anständigen Kids anfreundete, die ihn wieder auf den richtigen Pfad brachten.

Er gähnte herzhaft, und das wunderte sie gar nicht. Sie waren schon lange unterwegs. Fast neunhundert Meilen mit dem Auto von Oakland nach Anacortes, dann die Wartezeit im Hafen und schließlich die Fahrt mit der Fähre, die fast eine Stunde brauchte, um nach Halo Island überzusetzen. Somit waren sie seit zwei Tagen unterwegs und hatten nicht einmal den Jahreswechsel gefeiert.

„Sind wir immer noch nicht da?“, fragte Jesse missmutig.

„Der Beach Cove Way – unsere Straße – müsste gleich links abzweigen. Also halt die Augen offen.“

Jesse spähte durch die Windschutzscheibe und deutete zu einem grünen Straßenschild in einigen Hundert Yards Entfernung. „Vielleicht ist es da.“

„Ja, das muss es sein.“ Emmy trat auf die Bremse. Einen Moment später konnte sie das Schild lesen, unter dem eine weiß lackierte Blechmöwe baumelte. „Mensch, du findest die wichtigen Dinge immer so schnell. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.“

„Irgendwas“, murmelte er, doch seine Laune hob sich merklich.

Sie bog in die schmale, gewundene Straße ab. Zwischen hohen Fichten waren mehrere bezaubernd aussehende Häuschen zu erkennen. Die meisten standen den Winter über bis zur Sommersaison leer. Das wusste Emmy von ihren Vermietern, den Rutherfords, die derzeit noch die einzigen Bewohner waren.

Hinter der nächsten Wegbiegung tauchte das Meer zwischen den Bäumen auf. Kurz darauf, fast am Ende der Sackgasse, lag das gesuchte Cottage.

„Das ist unser neues Zuhause!“ Emmy bog in die kurze Kiesauffahrt ein und stellte den Motor ab. Da es nach wie vor heftig regnete, schlug sie vor: „Lass uns noch eine Weile hier drinnen sitzen bleiben. Vielleicht lässt der Sturm ja nach.“

Während der Regen auf das Autodach prasselte, musterte Jesse schweigend das hübsche weiße Cottage, den kleinen Garten, den Strand und das Meer dahinter.

„Was hältst du davon?“, fragte sie.

„Es ist ganz okay, aber ich wär trotzdem lieber bei meinen Freunden in Oakland.“

Die Mitglieder einer Gang zählten in ihren Augen kaum als Freunde, aber sie verkniff sich die Bemerkung, um ihren Sohn nicht zu ärgern. Sie war fest entschlossen, ihm den Übergang so angenehm wie möglich zu machen. „Ich vermisse meine Freunde auch, aber ich werde neue finden. Genau wie du.“

„Was, wenn ich das gar nicht will?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. „Die einzigen Leute, die ich brauche, sind in Oakland. Ich will nach Hause!“

„Das Leben in Oakland liegt hinter uns“, entgegnete sie entschieden. „Jetzt ist Halo Island unser Zuhause. Wir wohnen praktisch am Strand. Ich finde das ziemlich cool.“

„Vielleicht für die Ferien. Aber ich will nicht hier leben.“

„Ich habe eine wundervolle Anstellung in der Stadtbibliothek. Hier ist es längst nicht so teuer wie in Oakland. Also müssen wir uns nicht so viele Sorgen wegen des Geldes machen. Das heißt, dass ich dir wahrscheinlich alles kaufen kann, was du brauchst.“ Sie musste trotzdem weiterhin gut haushalten, denn der Umzug hatte ihre Ersparnisse größtenteils verschlungen.

„Das ist gut“, meinte Jesse, aber irgendetwas bedrückte ihn ganz offensichtlich immer noch.

„Was hast du denn?“

„Was ist, wenn mein Dad mich sucht?“

Der sehnsüchtige Ausdruck auf seinem Gesicht ging Emmy an die Nieren. „Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Er ist jetzt seit sechs Jahren verschwunden und hat nicht ein einziges Mal von sich hören lassen.“

„Aber wenn er’s sich anders überlegt?“

„Er weiß doch, wie er Grandma oder Grandpa erreichen kann. Beide haben unsere Adresse. Mach dir bitte nicht allzu große Hoffnungen.“

„Ich hasse ihn!“

Auch Emmy war nicht gut auf Chas zu sprechen. Sie fragte sich, was sie jemals an ihrem Exmann gefunden hatte. Von Anfang an hatte er sie doch betrogen und nur geheiratet, weil sie schwanger gewesen war.

Aber sie blieb hartnäckig bei ihm, weil sie sich so sehr nach einer Familie mit einem liebevollen Ehemann an ihrer Seite sehnte. Eine Paartherapie hatte ihnen über etliche Jahre hinweggeholfen, aber er war eine rastlose Seele geblieben – er glaubte, ohne jegliche Sorgen oder die Übernahme von Verantwortung durchs Leben gehen zu können. Jedenfalls hatte ihm nie der Sinn nach Ehe und Kindern gestanden.

Und so hatte er eines schönen Nachmittags die Scheidung eingereicht, das gemeinsame Bankkonto leer geräumt und die Flucht ergriffen. Emmy war praktisch mittellos mit einem fünfjährigen Kind zurückgeblieben. Ein Anwalt hatte sämtliche Formalitäten geregelt – von Chas fehlte seither jede Spur. Die Alimente, die er schuldete, waren inzwischen astronomisch hoch. Seine Weigerung, Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen, wirkte besonders niederschmetternd. Sie hatte schon viel zu viel Zeit damit zugebracht, ihren Exmann zu verfluchen.

Eine Weile nach der Scheidung war sie mit Männern ausgegangen, weil sie noch immer von einem liebevollen Lebensgefährten geträumt hätte. Nach Hause hatte sie nie jemanden mitgebracht, damit Jesse sich keine Hoffnungen machte, falls nichts dabei herauskam. Tatsächlich war es nie zu einer festen Beziehung gekommen, und nach etwa einem Jahr hatte sie die Suche aufgegeben.

Sie glaubte nicht länger an ein Happy End. Nun richtete sie ihren Blick auf ihren Sohn und dessen Wohlergehen. Er und ihr Beruf füllten ihr Leben aus, und das musste reichen.

Da der Sturm unvermindert anhielt, knöpfte Emmy sich den Mantel zu. „Es sieht nicht so aus, als ob der Regen bald nachlässt, und ich will unser Haus endlich von innen sehen.“ Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und öffnete die Autotür. „Mach die Jacke zu, und dann laufen wir zu den Rutherfords und holen den Schlüssel.“ Sie kannte ihre Vermieter bisher nur vom Telefon, aber sie wusste, dass sie gleich gegenüber wohnten.

Während sie durch das nasse braune Gras sprinteten, kicherte Jesse unverhofft. Ein fröhliches Geräusch, das trotz des schlechten Wetters ansteckend wirkte.

Das Haus der Rutherfords war etwa doppelt so groß wie das Cottage und sah wunderschön aus. Auf der großen gedeckten Veranda putzten Emmy und Jesse sich die Schuhe an der Fußmatte ab.

Sie nahm sich die Kapuze ab, strich sich über das nasse Gesicht und atmete tief ein. „Riech doch bloß mal den Ozean!“

Er schnupperte. Als sie klingelte, öffnete sich Sekunden später die Tür. Eine pummelige Frau Anfang sechzig im Sweatshirt und einem geblümten Rock begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln.

„Ihr müsst Emmy und Jesse sein. Ich bin Melinda Rutherford. Willkommen auf Halo Island und mitten im schlimmsten Regen seit Monaten. Bitte kommen Sie doch rein. Wir müssen uns für das Chaos entschuldigen. Wir sind gerade dabei, unsere Küche zu renovieren.“

Sie betraten ein großes unaufgeräumtes Wohnzimmer.

Ein grauhaariger Mann in Flanellhemd und Jeans mit Hosenträgern begrüßte sie ebenso herzlich lächelnd. „Ich bin Tom Rutherford. Schön, dass Sie es schließlich geschafft haben. Sieht aus, als wären Sie ein bisschen nass geworden!? Aber keine Sorge, von Ende April bis Oktober oder so regnet es kaum. Bis dahin machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihnen Schwimmhäute an Händen und Füßen wachsen.“ Er zwinkerte Jesse zu. „Wie alt bist du, mein Junge?“

„Elf.“

„Demnach gehst du in die fünfte Klasse, oder?“

„Ja.“ Am Montag war sein erster Tag in der Halo Island School, auf die alle Kinder von der Vorschule bis zur Highschool gingen.

„Dann kommst du in Mrs. Hatchers Klasse. Sie ist echt nett. Eine gute Lehrerin – und hübsch dazu. Sie wird dir gefallen.“

„Ja, sie war mir sehr sympathisch, als ich mit ihr telefoniert habe“, warf Emmy ein. Sie wandte sich an Jesse. „Ist es nicht toll, so viel Gutes über deine neue Lehrerin zu hören?“

Er nickte stumm und sah sich mit großen Augen um. Auf dem Küchentisch, auf sämtlichen Stühlen und allen anderen Oberflächen stapelten sich Geschirr, Kochbücher, Elektrogeräte und diverse Küchenutensilien.

„Ich fürchte, so wird es hier noch die nächsten sechs Wochen aussehen.“ Melinda seufzte. „So lange wird diese Renovierung nämlich dauern.“

„Wenn sich keine Probleme ergeben.“ Tom hakte die Daumen hinter seine Hosenträger. „Ich schätze eher, es werden zwei oder sogar drei Monate.“

„Vergiss nicht, dass Mac sein Flugticket schon gekauft hat. Er wird ganz bestimmt rechtzeitig fertig.“

„Mac ist unser Bauunternehmer“, erklärte Tom. „Sobald er hier bei uns fertig ist, reist er für einige Monate nach Europa. Im nächsten Sommer geht er in Seattle aufs College.“

Er scheint vielleicht noch etwas jung für so ein riesiges Projekt zu sein, dachte Emmy.

„Wir wollen die Küche um etliche Meter vergrößern“, eröffnete Melinda. „Da unsere Kinder aus dem Haus sind und nicht mal mehr auf der Insel leben, brauchen wir nicht mehr so viel Rasenfläche. Ich koche wahnsinnig gern, und wir schaffen uns ganz moderne Geräte an und richten eine geräumige Essecke ein.“ Sie rieb sich die Hände. „Wenn alles fertig ist, laden wir Sie zum Dinner ein.“

„Oh, ich freue mich schon darauf.“ Das freundliche Paar schien Emmy der Himmel geschickt zu haben. Sie malte sich sogleich aus, dass sie sich miteinander anfreundeten und Jesse richtiggehende Ersatzgroßeltern bekam. Die Eltern von Chas waren nämlich tot und ihre eigenen kamen höchst selten zu Besuch, seit sie geschieden war. „Aber vorher lade ich Sie ein, sobald ich drüben eingerichtet bin!“

„Das wäre schön.“ Tom schaute zur Uhr, als ein Auto in seine Einfahrt bog. „Das wird Mac sein. Er fängt am Montag mit der Arbeit an und will noch mal die Pläne durchgehen.“

„Dann verschwinden wir jetzt lieber“, sagte Emmy. „Wenn Sie uns den Schlüssel geben …“

„Den habe ich schon zur Hand.“ Tom holte ihn aus der Hosentasche und reichte ihn ihr. „Ich komme nachher vorbei und helfe Ihnen, Ihre Sachen ins Haus zu bringen.“

Da das Cottage möbliert vermietet wurde, gab es nicht viel auszuladen. Lediglich Koffer und Kartons, gerahmte Bilder und Jesses Poster sowie ein paar Kleinmöbel. Da Emmy es gewohnt war, allein klarzukommen, schüttelte sie den Kopf. „Nein, danke, es ist nichts besonders Schweres dabei. Wir schaffen das schon.“

„Aha, Sie sind von der unabhängigen Sorte.“ Er schmunzelte. „Falls Sie es sich anders überlegen, sagen Sie mir einfach Bescheid.“

„Bleiben Sie doch noch einen Moment. Dann können Sie Mac gleich kennenlernen“, schlug Melinda vor. „Da er hier in den nächsten sechs Wochen ständig ein und aus gehen wird, laufen Sie sich früher oder später sowieso über den Weg.“

Sekunden später klopfte es an die Haustür.

Der Mann, der eintrat, war wider Erwarten kein Teenager, sondern offensichtlich in Emmys Alter – um die dreißig. Er war groß und kräftig gebaut, mit hoher Stirn und gerader Nase, markantem Kinn und dunklem, lockigem Haar, das einen Schnitt gut vertragen hätte. Er trug locker sitzende verblichene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine Jeansjacke, die seine breiten Schultern betonte.

Er sah mit einem Wort umwerfend aus.

„Mac Struthers – dies ist Emmy Logan mit ihrem Sohn Jesse, unsere neuen Mieter.“

Jesse nickte zur Begrüßung, sagte aber nichts. Trotzdem spürte Emmy, dass er beeindruckt war. Kein Wunder! Schließlich begegnet man nicht alle Tage einem Mann mit einer solch starken Ausstrahlung.

Der Bauunternehmer, der eine schwarze Ledermappe unter dem Arm hielt, wandte sich an Emmy und ließ den Blick flüchtig über ihre Gestalt wandern. „Freut mich.“

Sie brachte ein gelassenes Lächeln zustande – ganz im Widerspruch zu ihren flatternden Nerven. „Hallo.“

Er trat zu ihr, indem er eindrucksvoll vor ihr aufragte. Sein Händedruck war fest und warm und seine lebhaften blauen Augen … Mit brennenden Wangen wandte sie sich ab.

Als Nächstes reichte er ihrem Sohn die Hand. „Freut mich, mein Junge.“

Ganz ernst, als ob er auch wie ein Mann handeln wollte, schüttelte Jesse ihm die Hand. „Mich auch, Mr. Struthers.“

Mr. Struthers war mein Vater. Mich nennen alle nur Mac.“

Total verzaubert und verwirrt über die ausgeprägte Wirkung dieses Mannes auf ihr seelisches Gleichgewicht, legte Emmy eine Hand auf Jesses Schulter. „Zeit für uns zu gehen. Es hat mich sehr gefreut, Sie alle kennenzulernen. Auf Wiedersehen.“

Eine Stunde später, als Mac das Haus der Rutherfords verließ, hatte der Regen aufgehört. Nur noch das Tröpfeln von Wasser aus den Ästen der Bäume war zu hören, als er in die frische Luft hinaustrat. Er hielt auf der Veranda inne und machte sich letzte Notizen über die Dinge, die er bis Montag zu erledigen hatte. Materialien besorgen, den Van beladen …

Das Lachen einer Frau, glockenhell und leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, unterbrach seine Gedanken. Das Kichern eines Jungen folgte. Die Geräusche wirkten ansteckend, sodass Mac schmunzelte. Die Veranda war aufs Wasser ausgerichtet, und Fichten versperrten die Sicht auf die Frau und das Kind. Doch wenn er den Kopf ein wenig in die Richtung drehte, den Hals reckte und durch die Zweige spähte, konnte er sie sehen, ohne bemerkt zu werden.

Er beobachtete, wie Emmy einen Karton aus dem Anhänger hob und an Jesse übergab, bevor sie die nächste Kiste auslud.

Sie war ein Hingucker, und er betrachtete sie ausgiebig. Ihr hellblondes glattes Haar reichte ihr bis an die Schultern und umspielte ihre zarten Gesichtszüge. Eine kurze Winterjacke und enge Jeans brachten lange, schlanke Beine und einen wohlgerundeten Po zur Geltung. Er stellte sie sich in knappen engen Shorts vor. Oder noch besser in einem seidigen Tanga … Sein Körper regte sich.

Entschieden rief Mac sich zur Räson. Eine alleinerziehende Mutter mit einem kleinen Sohn? Nein, danke! Er hatte bereits Kinder aufgezogen – seine Brüder. Die Zwillinge waren nämlich erst zehn Jahre alt gewesen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Er selbst hatte mit knapp achtzehn kurz vor dem Abschluss der Highschool gestanden und wollte quer durch Europa reisen und danach Architektur studieren. Der Unfall hatte seine großen Pläne gründlich durchkreuzt.

Anstatt wie seine Freunde den Sommer nach dem Schulabschluss zu faulenzen, anschließend aufs College zu gehen und sich mit hübschen Kommilitoninnen zu vergnügen, hatte er auf seine Brüder aufgepasst, auf dem Bau gearbeitet und den Haushalt geführt. Keine leichte Aufgabe, aber er hatte Ian und Brian acht Jahre durch die Schulzeit geleitet.

Danach hatte er seine eigene Renovierungsfirma gegründet. Mit den Geschäftseinnahmen und dem Erlös aus dem Verkauf ihres Elternhauses waren die Kosten für die College-Ausbildung der Zwillinge abgedeckt worden. In den Sommerferien hatten sie für ihn gearbeitet und sich dadurch ein Taschengeld verdient. Sie hatten die Baubranche von der Pike auf kennengelernt und im vergangenen Dezember ihren Schulabschluss gemeistert.

Mac war verdammt stolz auf sie und konnte sich nun endlich mit seinen eigenen Ambitionen befassen. Endlich, im reifen Alter von dreißig, war er an der Reihe. Sobald die Küche der Rutherfords fertiggestellt war, wollte er für ein paar Monate durch Europa tingeln. Ohne festen Terminplan und ohne Verantwortlichkeiten. Völlig unabhängig sein und dorthin gehen, wohin es ihn gerade ziehen mochte – wie er es sich immer erträumt hatte.

Er plante, erst zurückzukehren, kurz bevor das Semester an der Universität von Washington anfing. Dort wollte er den Bachelor im Bauwesen machen. Wenn er sich richtig ins Zeug legte und viele Kurse besuchte, war das Studium in drei Jahren zu schaffen. Während seiner Abwesenheit wollten seine Brüder die Firma weiterführen und somit seine Ausbildung finanzieren – genau so, wie er es für sie getan hatte. Diesmal sollte ihn nichts davon abhalten, sein Berufsziel zu verwirklichen.

„Ich bin müde!“, hörte er Jesse sagen.

„Ich weiß“, erwiderte Emmy. „Lass uns trotzdem schnell die letzten Kartons reintragen, bevor es wieder zu regnen anfängt. Anschließend bringen wir den Anhänger zurück. Wenn wir es vor fünf schaffen, sparen wir Geld. Und dann holen wir uns was zum Dinner und ruhen uns aus.“

„Ich will aber jetzt chillen.“

„Es ist doch gar nicht mehr so viel zu tun. Wenn wir uns zusammenreißen, sind wir im Nu fertig. Dann kannst du abhängen.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

„Bitte! Nur noch ein bisschen.“

„Nein. Ich habe keine Lust mehr.“

„Komm schon, Jess, ich brauche deine Hilfe wirklich.“

„Nei-ein!“

Mac musterte den trotzigen Jungen, der eindeutig eine feste Hand brauchte. Dies schien Emmy – ihrer bittenden Stimme und Miene nach zu urteilen – allerdings nicht zu begreifen.

„Was braucht es, um dich umzustimmen?“, fragte sie in sanftem Ton. „Ein riesiges Eis? Ein neues T-Shirt?“

Jesse schnaubte und schüttelte den Kopf. „Du kannst mich nicht zu was zwingen, was ich nicht will. Du kannst mich zu gar nichts zwingen!“ Trotzig reckte er das Kinn vor. „Ich hasse es hier. Ich will wieder nach Hause – nach Oakland und zu meinen Freunden.“

Sie seufzte laut. „Wir haben schon oft genug darüber diskutiert. Wir gehen nicht zurück. Unser Zuhause ist jetzt hier.“

„Meins nicht. Ich wollte überhaupt nicht umziehen und mir wird es hier nie gefallen. Ich will wieder zurück!“, wiederholte er und betonte dabei jedes einzelne Wort.

„Wenn du Halo Island nur eine Chance gibst, weiß ich genau …“

„Du weißt überhaupt nichts. Hier ist es total öde und das bist du auch. Ich hasse dich! Du kannst mich mal!“

Schockiert und verletzt zuckte Emmy zurück. „Was hast du da gesagt?“

„Dass ich dich hasse und dass du mich mal kannst.“

Damit hat der Junge eindeutig seine Grenzen überschritten, durchfuhr es Mac. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, stürmte er von der Veranda hinunter.

Jesses hitzige Worte versetzten Emmy einen Stich ins Herz. Entsetzt und auch ein wenig verängstigt legte sie ihre strengste Miene auf. Doch ihr Sohn starrte sie völlig unbeeindruckt und trotzig an. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn wohl nicht länger beeinflussen konnte.

Oh mein Gott, was soll ich jetzt tun?

Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung. Sie wandte den Kopf und sah Mac mit zusammengepressten Lippen durch den Garten marschieren.

Unter seinem strengen Blick gab Jesse prompt seine harte Pose auf und wurde plötzlich wieder zu einem kleinen Jungen, der verlegen mit den Füßen scharrte.

Mac blieb keinen Meter vor ihm stehen, die großen Hände in die Hüften gestemmt. „Kein Junge sollte so mit seiner Mutter reden!“, verkündete er mit leiser, aber autoritärer Stimme. Sein Atem bildete weiße Wolken in der Kälte. „Du entschuldigst dich sofort.“

Zu Emmys Verwunderung murmelte ihr rebellischer Sohn: „Tut mir leid.“

Sie nickte stumm.

„So ist’s schon besser.“ Macs Miene erhellte sich. „Und jetzt tu, worum deine Mutter dich gebeten hat, und hilf ihr mit den Kartons.“

Jesse gehorchte auf der Stelle.

Einerseits erleichterte es sie, dass sie wieder auf seine Hilfe zählen konnte. Andererseits war es ihr peinlich, dass Mac das respektlose Verhalten ihr gegenüber miterlebt hatte. Außerdem machte es sie wütend, dass dieser Mann, den sie nicht wirklich kannte, ihrem Kind vorschrieb, wie es sich zu benehmen hatte.

Sie wartete, bis Jesse im Haus verschwunden war, bevor sie Mac anfuhr: „Was bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind?“

Verdutzt hob er die Hände in einer beschwichtigenden Geste. „He, ich wollte nur helfen. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Kindern. Wenn man sie nicht rechtzeitig zwingt zu spuren, steht man später auf verlorenem Posten.“

Wahrscheinlich hat er recht, dachte Emmy. Es ist auch zu dumm – mir gelingt es einfach nicht, Jesse gutes Benehmen beizubringen. Das musste sich ändern. Aber dass dieser Fremde ihren Sohn herumkommandierte, ging dennoch eindeutig zu weit. „Sie kennen uns überhaupt nicht. Sie haben ganz gewiss kein Recht, sich in unser Leben einzumischen! Also halten Sie sich gefälligst da raus.“

Mac zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt. „Es wird nicht wieder vorkommen“, versprach er, und damit machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.

2. KAPITEL

Das ganze Wochenende über, während Emmy mit Jesse Lebensmittel einkaufte, Farbe für sein Zimmer aussuchte und Kartons auspackte, dachte sie an Mac und den Wortwechsel mit ihm. Im Nachhinein war ihr klar, dass er ihr nur helfen wollte. Und es funktionierte auch. Jesse benahm sich seit der Auseinandersetzung viel besser.

Und wie hatte sie es Mac gedankt? Mit einem Wutausbruch! Immer wieder sah sie vor sich, wie er sich mit verletztem Gesichtsausdruck zurückgezogen hatte. Ihr unhöfliches Verhalten belastete sie so sehr, dass sie selbst spätabends, wenn sie erschöpft ins Bett fiel, nicht einschlafen konnte.

Am Montagmorgen hatte sie die Selbstvorwürfe satt und fasste einen Beschluss. Sobald Mac bei den Rutherfords auftauchte, wollte sie hinübergehen und sich entschuldigen. Der bloße Gedanke erleichterte ihr Gewissen.

Doch momentan hatte sie ganz andere Probleme. Zum Beispiel, wie sie Jesse dazu überreden konnte, zur Schule zu gehen. Mit Ausnahme des Zwischenfalls am Samstagnachmittag fürchtete sie eigentlich nicht, völlig die Kontrolle über ihn verloren zu haben. Sie waren wieder auf ihrem alten Kurs mit einem relativ harmlosen Kräftemessen zwischen Mutter und Sohn. Zum Glück akzeptierte er, dass sie das letzte Wort hatte. Aber die ständigen Auseinandersetzungen zehrten an ihren Kräften.

„Muss ich denn unbedingt hingehen?“, maulte er, den Kopf über seine leere Müslischale gebeugt.

Er war müde, genau wie sie, aber das war nicht der Grund für sein störrisches Verhalten. Weil er von Natur aus schüchtern war, fiel es ihm schwer, sich an Veränderungen anzupassen.

Emmy, die ihm an dem quadratischen Holztisch in der kleinen Küche gegenübersaß, nippte an ihrem Kaffee und versuchte, seine Ängste zu mildern. „Weißt du noch, was Mr. Rutherford gesagt hat? Mrs. Hatcher ist wirklich sehr nett.“

„Dann macht es ihr ja nichts aus, wenn ich heute nicht zur Schule komme.“

„Aber sie erwartet dich.“

„Ach, Mom, das zweite Halbjahr hat doch noch gar nicht angefangen. Wahrscheinlich wiederholen die bloß den Stoff für die Abschlussprüfungen. Ich bin mit meinem ersten Schuljahr schon fertig, also ist es total uncool, wenn ich jetzt in den Unterricht gehe.“

Das sah sie anders. Er konnte die Zeit nutzen, um sich an seine Lehrer und die Klasse zu gewöhnen und hoffentlich Freundschaften zu schließen. „Du gehst zur Schule und damit basta!“ Weil sie es hasste, so streng zu klingen, fügte sie hinzu: „Wenn du willst, fahre ich dich hin.“

„Bloß nicht!“ Er wirkte entsetzt. „Ich nehme den Bus.“

Insgeheim atmete sie erleichtert auf, weil der erste Kampf des Tages gewonnen war. Sie sah auf die Schiffsuhr aus Messing – ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem Dreißigsten, das nun die Küchenwand zierte. „Der kommt in nicht mal einer halben Stunde. Fang lieber an zu frühstücken.“

Jesse schüttete Cornflakes in seine Schale, fügte Zucker und Milch dazu.

Dass er nicht gern mit seiner Mutter gesehen werden wollte, war nichts Neues. Er wuchs heran – viel zu schnell für ihren Geschmack. Sie hatte in seinem Alter genau wie er Wert auf Unabhängigkeit gelegt und hatte trotzdem ihre Mutter gebraucht, die allerdings stets zerstreut, distanziert und allzu erpicht darauf gewesen war, ihren Nachwuchs aus dem Nest zu stoßen.

Ihr Vater war zwar liebevoller, aber nach der Scheidung an die Ostküste gezogen. Emmy, damals gerade einmal sechs Jahre alt, sah ihn seitdem nur noch wenige Male im Jahr. In letzter Zeit noch weniger als sonst, weil auf beiden Seiten das Geld zu knapp für weite Reisen war.

Jesse stürzte sich auf die Cornflakes, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. In letzter Zeit war er immer hungrig, nahm aber kein Gramm zu.

In Gedanken versunken bereitete Emmy sich eine kleinere Portion zu. Sie arbeitete hart daran, das Gegenteil ihrer Mutter zu sein. Es war ihr extrem wichtig, für ihren Sohn da zu sein, wann immer er sie brauchte – und vorsichtshalber auch dann, wenn es nicht der Fall war. Sie wollte ihm immer zuhören und in der Lage sein zu helfen.

Während sie aß, beschloss sie, Mac das alles zu erklären, damit er ihr unhöfliches Verhalten besser nachvollziehen konnte. Er muss mich ja für eine Schreckschraube halten! Bei diesem Gedanken zuckte sie einerseits unwillkürlich zusammen.

Andererseits fragte sie sich, was es sie kümmerte, wie er über sie dachte. Sie war ganz gewiss nicht an ihm interessiert.

Ach nein? Warum verbringe ich dann so viel Zeit damit, mir Gedanken über seine Meinung von mir zu machen?

Weil es ihr wichtig war, dass er und alle anderen in der Stadt sie mochten. Sie wollte sich eingliedern und die besten Voraussetzungen dafür schaffen, Wurzeln schlagen zu können.

Nach einem weiteren Blick auf die Uhr sprang sie auf. „Der Bus kommt gleich! Geh dir lieber das Gesicht waschen und die Zähne putzen.“

Während Jesse in das winzige Badezimmer verschwand, räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine und wischte die Tischplatte ab, die er mit Milch und Cornflakes bekleckert hatte. Wahrscheinlich hätte sie ihm auftragen sollen, seine Sauerei selbst zu beseitigen, aber sie wollte nicht, dass er den Bus verpasste.

Wenn man sie nicht rechtzeitig zwingt zu spuren, steht man später auf verlorenem Posten. Das hatte Mac wortwörtlich gesagt. Traf das auch auf Aufräumarbeiten im Haushalt zu? Sie nahm sich vor, Jesse an diesem Abend den Abwasch aufzubrummen.

Woher wusste Mac solche Sachen überhaupt? War er ein aufsässiges Kind gewesen? Oder vielleicht hatte er selbst Kinder. War er verheiratet? Geschieden? Das alles interessierte sie, aber danach fragen wollte sie lieber nicht. Sonst hielt er sie womöglich für übermäßig neugierig.

Jesse kam in die Küche zurück, das Gesicht gewaschen und das Haar wie viele Jungen in seinem Alter mit Gel gestylt. Zu seiner coolen Frisur trug er allerdings die scheußliche Kleidung, die Tyrell und seine Bande bevorzugten: ein schwarzes übergroßes T-Shirt mit den Symbolen der Street Kings – eine handgemalte rote Krone auf dem Vorderteil und ein roter Totenkopf mit gekreuzten Knochen auf dem Rückenteil. Seine schwarze Jeans saß so locker, dass sie jeden Moment hinunterzurutschen drohte, und seine Sneakers waren ungeschnürt.

Emmy hasste es, dass er das grauenhafte T-Shirt immer noch besaß. Ihr missfiel das gesamte Outfit, das sicherlich einen schlechten ersten Eindruck in der Schule machte. Womöglich schickte man sogar einen Brief nach Hause mit der Bitte, ihn diese Kleidungsstücke nicht mehr tragen zu lassen. Halb hoffte sie, dass es so kam.

Sie presste die Lippen zusammen, um sich davon abzuhalten, ihn zum Umziehen in sein Zimmer zurückzuschicken. Momentan wollte sie diese Auseinandersetzung nicht ausfechten, da er bereits spät dran war. Deshalb gab sie ihm schweigend das Geld für das Mittagessen.

Er steckte die drei Dollar ein und wandte sich ab. „Bye, Mom.“

„Bekomme ich keinen Kuss?“ Sie beugte sich zu ihm vor, weil er immer noch einige Zentimeter kleiner war als sie.

Er verdrehte die Augen und gab ihr einen flüchtigen Kuss.

Sie unterdrückte den Drang, ihn in die Arme zu ziehen, denn das hätte ihm gar nicht gefallen.

Er stürmte zur Tür, vorbei an dem Garderobenständer aus Walnussholz, den sie aus Oakland mitgebracht hatten.

Warum finden Kids es nur cool, ohne Jacke rumzulaufen und den ganzen Tag zu frieren? „Moment mal!“, rief Emmy ihm nach. „Wir haben Januar. Du musst dir etwas überziehen.“

Mit einem entnervten Seufzen schnappte er sich seine Bomberjacke, schlüpfte hinein und hängte sich den Rucksack über eine Schulter.

Sie lächelte. „Falls du es dir anders überlegst und ich dich nach der Schule abholen soll, dann ruf mich an. Ich bin hier und streiche dein Zimmer.“ Ihr neuer Job fing erst in einer Woche an, sodass ihr volle sieben Tage blieben, um es hübsch und gemütlich im Cottage zu machen. Und fünf Tage, um Jesse nach der Schule zu Hause zu empfangen und für ihn da zu sein, anstatt ihn in die Stadtbibliothek kommen und dort auf das Ende ihrer Schicht warten zu lassen.

„Ich komme mit dem Bus“, entschied er. Und damit stapfte er zur Tür hinaus und knallte sie hinter sich zu.

Plötzlich war es viel zu still im Cottage. Emmy kämpfte gegen eine Welle der Einsamkeit, trat an das Fenster im Wohnzimmer und spähte durch einen Spalt in den Gardinen. Schamlos spionierte sie ihren Sohn aus, der am Ende der Auffahrt stand und wartete. Sie war froh, dass sie ihm die Jacke aufgeschwatzt hatte, denn es war ein nasskalter und grauer Morgen.

Nach wenigen Augenblicken bog der Bus um die Ecke und hielt vor dem Haus an. Emmy sah mehrere Jungen und Mädchen drinnen sitzen und hoffte inständig, dass Jesse mit ihnen Freundschaft schließen konnte. „Ich wünsche dir einen schönen Tag, mein Herzblatt“, murmelte sich vor sich hin.

Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er stieg mit gestrafften statt hängenden Schultern ein. Ein gutes Zeichen, oder?

Keine fünf Sekunden nachdem der Bus davongerattert war, bog Macs weißer Van in die Auffahrt der Rutherfords ein.

Ihre Stimmung hob sich, was ihr allerdings sogleich lächerlich vorkam. Gleichzeitig graute ihr plötzlich davor, sich zu entschuldigen. Durch die Gardinen beobachtete sie, wie er ausstieg. Er trug keine Jacke, nur ein dunkles T-Shirt. Zum Glück hat Jesse ihn nicht so gesehen.

Mac nahm zwei Stufen auf einmal zur Veranda hinauf, ging zur Haustür und klopfte. Kaum war er drinnen verschwunden, da verließen die Rutherfords das Haus und fuhren fort.

Ihnen gehörte die Bootswerkstatt in der Stadt. Dass sie Rutherford Boat Repair selbst betrieben und frühmorgens dorthin aufbrachen, wusste Emmy von Melinda, die am Vortag mit einem Päckchen Kaffee als Geschenk zum Einzug und den Plänen für ihre Traumküche vorbeigekommen war. Der Umbau erforderte einen riesigen Aufwand und handwerkliches Geschick.

Mac kehrte zum Van zurück, und unwillkürlich strich Emmy sich durch das Haar. Er öffnete die Schiebetür und schleppte einen Haufen Material nach dem anderen ins Haus. Fasziniert beobachtete sie, wie sein Atem stoßweise weiße Wolken bildete und seine Armmuskeln anschwollen. Kein Wunder, dass er so stark und fit aussah. Wahrscheinlich waren auch seine Bauchmuskeln hart wie Stahl. Und selbst in den lose sitzenden Jeans war nicht zu übersehen, wie kräftig seine Schenkel waren.

Sie fasste sich an die Kehle, seufzte bewundernd und fragte sich, was Carla, ihre beste Freundin in Oakland, wohl über Mac zu sagen hätte. Sie würde sich bestimmt die Lippen lecken und sich eifrig Luft zufächeln. Welche heißblütige Frau wäre nicht angetan von diesem Mann?

Emmy konnte das Wageninnere nicht einsehen, vermutete aber, dass Mac bald mit dem Ausladen fertig wurde. Sie wollte mit ihm reden, bevor er für längere Zeit im Haus verschwand.

Nachdem sie Lippenstift aufgelegt und gleich wieder abgewischt hatte, um Mac nicht auf falsche Gedanken zu bringen, prüfte sie ihre Frisur. Dann erst schlüpfte sie in ihre Jacke, atmete zur Beruhigung tief durch und ging zur Tür des Cottages hinaus.

Die Materialien auf die Veranda zu schleppen, war harte Arbeit. Nach einem Dutzend Gängen war Mac ein wenig ins Schwitzen geraten. Doch seine Hände waren kalt und deshalb blies er seinen warmen Atem auf die Fäuste. Und dabei fragte er sich, wo seine Brüder mit dem Container blieben. Sobald sie eintrafen, wollten sie die Rückwand des Hauses aufbrechen – eine gewaltige Aufgabe, die sicherlich den ganzen Tag erforderte.

Er ging die Stufen hinunter, um seine Kreissäge zu holen, und sah Emmy auf sich zukommen. Sie hatte sich die Haare hinter die Ohren geklemmt und die Jacke bis zum Hals zugeknöpft. Dazu trug sie wieder Jeans und Stiefeletten. Sie lächelte nicht, runzelte aber auch nicht die Stirn. Dies konnte alles Mögliche bedeuten. Er dachte an ihre Auseinandersetzung und wollte es sich nicht wieder mit ihr verscherzen – deshalb legte er eine neutrale Miene auf und hielt den Mund geschlossen. Sie erreichte das Auto im selben Moment wie er.

Argwöhnisch musterte er sie.

„Äh, guten Morgen“, wünschte sie und stopfte dabei die Hände in die Jackentaschen.

„Morgen.“ Er wartete einige Sekunden – in denen er lieber sein Werkzeug ausgeladen hätte – und fragte schließlich mit hochgezogenen Augenbrauen: „Brauchen Sie etwas?“

„Ich …“ Sie senkte den Blick. „Ich bin hier, um mich für mein Verhalten neulich zu entschuldigen.“

Das kam unerwartet für ihn. „Ach, tatsächlich?“

Sie nickte. „Sie wollten nur helfen, ich weiß. Ich hätte Sie nicht anfauchen sollen.“

Sie hatte nicht nur gefaucht. Mit ihren blitzenden Augen und der furchtlosen abwehrenden Haltung hatte sie ihn an eine Bärenmutter erinnert, die ihr Junges verteidigt. Welches allerdings dringend diszipliniert gehört, dachte er. In seinen Augen war das ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung. Aber als Alleinerziehende hatte sie es zweifellos schwer. Wahrscheinlich bemühte sie sich nach Kräften. „Und ich hätte mich nicht unaufgefordert einmischen dürfen. Also: Entschuldigung angenommen.“

„Danke.“

Ihre Schultern entspannten sich deutlich. Das überraschte ihn ebenso wie die Erleichterung auf ihrem Gesicht. War ihr diese Aussöhnung so wichtig?

„Sie scheinen sich ganz gut mit Kindern auszukennen“, bemerkte Emmy. „Sie und Ihre Frau müssen selbst welche haben, oder!?“

„Ich war nie verheiratet und habe keine Kinder. Es sind auch keine geplant.“

„Oh.“

Entweder röteten sich ihre Wangen vor Kälte oder vor Verlegenheit. Interessant. Er sah ihr an, dass ihr weitere Fragen durch den Kopf gingen. „Was möchten Sie noch wissen?“

„Wie es kommt, dass ein Single ohne Kinder so viel über praktische Erziehung weiß.“ Sie stopfte die Hände tiefer in die Taschen. „Nicht dass es mich was angeht.“

Aus irgendeinem Grund fand Mac es niedlich, dass sie nervös wirkte. Das soll einer verstehen!? „Das ist kein Geheimnis. Ich habe meine beiden kleinen Brüder aufgezogen. Unsere Eltern sind nämlich gestorben, als sie zehn waren. Ich will also keine eigenen Kinder, weil ich Daddy schon mit achtzehn gespielt habe.“

„Sie haben sich ganz allein um zwei Brüder gekümmert?“ Sie blickte ihn verblüfft an. „Ich bin schon dreißig und es fällt mir schwer, mit einem einzigen Kind klarzukommen. Sie dagegen waren praktisch selbst noch ein Junge! Wie in aller Welt haben Sie das denn geschafft?“

„Indem ich ganz schnell erwachsen geworden bin. Wir haben Geld von der Versicherung bekommen und konnten damit das Haus abbezahlen. Das war hilfreich.“ Trotzdem war es ein Kampf gewesen, seine Brüder mit Essen, Kleidung und Schulbedarf zu versorgen. Ganz zu schweigen davon, sie auf dem rechten Weg zu halten.

„Es braucht mehr als Geld, um Kinder aufzuziehen. Das kann nicht leicht gewesen sein.“

Er sah Mitgefühl auf ihrem Gesicht. Das war wiederum nichts Neues für ihn. Im Laufe der Jahre waren ihm viele Mitleidsbekundungen zu Ohren gekommen, bei denen es sich nur um Lippenbekenntnisse gehandelt hatte. Emmys Anteilnahme dagegen schien von Herzen zu kommen. Vielleicht lag es daran, dass sie als alleinerziehende Mutter selbst vor großen Herausforderungen stand. „Ganz genau, es war manchmal ganz schön hart.“

„Deswegen haben Sie bis jetzt mit dem College gewartet.“

Er nickte. „Das Sommersemester fängt Mitte Juni an. Vorher reise ich quer durch Europa und dann gehe ich nach Seattle.“

„Den Job an den Nagel zu hängen und einfach durch die Lande zu ziehen, das klingt wundervoll.“

Zum ersten Mal sah Mac sie aufrichtig lächeln. Das und ihre plötzlich funkelnden Augen erhellten seinen düsteren Morgen. „Wem sagen Sie das!“ Er grinste. „Aber ich kündige nicht. Ich nehme mir nur ein paar Jahre frei. Wenn ich das Examen in der Tasche habe, komme ich zurück. Während ich weg bin, werden meine kleinen Brüder – Brian und Ian – das Geschäft führen.“

Die beiden hatten es von sich aus angeboten. Er wusste, warum. Sie fühlten sich ihm verpflichtet. Und das aus gutem Grund. Trotzdem hätte er nicht eingewilligt, wenn ihnen nicht wirklich daran gelegen wäre, die Firma zu leiten. Dass beide es wollten, war ein Glücksfall für ihn, denn sie waren die besten Arbeitskräfte, die er je angeheuert hatte.

„Ich habe keine Geschwister“, stellte Emmy in einem sehnsüchtigen Tonfall fest. „Sie haben Glück!“

Sogar ohne ihr strahlendes Lächeln war sie so hübsch, dass Mac den Blick nicht abwenden konnte. Ihre Augen waren grün und wirkten warm. Vielleicht mochte sie ihn ein bisschen. Er mochte sie auch. Wenn ich nicht bald aus der Stadt verschwinden würde und sie kein Kind hätte, wäre ich ernsthaft versucht, mit ihr auszugehen.

Aber vermutlich hielt sie nach einem Ehemann Ausschau. Ein Grund mehr für ihn zu passen, denn er war es leid, ewig für alles verantwortlich zu sein. Noch sechs Wochen, bis er frei und ungebunden durch die Weltgeschichte ziehen konnte. Deshalb wollte er nichts weiter als ein freundliches Gespräch mit einer Frau führen, die zufällig auffallend hübsch war.

„Nicht unbedingt. Brüder können manchmal richtige Nervensägen sein“, entgegnete er und blickte dabei zum Himmel.

„Trotzdem. Ich wette, dass Sie nie einsam sind. Ich habe mir immer ein Geschwisterchen für Jesse gewünscht, aber es hat nicht geklappt.“

„Wo ist denn sein Dad?“, fragte Mac aus reiner Neugier – nicht etwa, weil es ihn gekümmert hätte.

„Weg.“ Emmys Augen verloren den Glanz. „Jesse war fünf, als Chas die Scheidung eingereicht, das Bankkonto geplündert und sich aus dem Staub gemacht hat. Er ist nicht mal aufgetaucht, um die Scheidungspapiere zu unterzeichnen, sondern hat alles von seinem Anwalt erledigen lassen. Sie wollen gar nicht wissen, wie viel er mir inzwischen an Alimenten schuldet.“

Zweifellos eine horrende Summe. „So ein Idiot!“ Kein Wunder, dass der Junge so schwierig war. Weder er noch seine Mutter hatten es leicht im Leben.

„Das ist er, aber Jesse und ich kommen trotzdem klar“, entgegnete sie mit vorgerecktem Kinn.

Mac erkannte, dass es ihr nicht leichtfiel, Hilfe anzunehmen. Das konnte er nachvollziehen, denn ihm erging es ebenso. „Da wir gerade von Jesse reden – ich habe gesehen, dass er vorhin den Schulbus genommen hat.“ Was er über das Gangsta-Outfit des Jungen dachte, behielt er lieber für sich, weil er nicht wollte, dass Emmy wieder böse auf ihn wurde.

„Ja, heute ist sein erster Schultag. Er braucht immer ein bisschen, um sich auf neue Situationen einzustellen, und ist deshalb ziemlich nervös. Ich habe ihm angeboten, ihn mit dem Auto hinzufahren, aber er wollte lieber den Bus nehmen.“ Das Lächeln, das Mac so gefiel, zuckte um ihre Lippen. „Das ist typisch für meinen Jess – immer unabhängig bleiben. Ich hoffe, dass ihm die Schule und seine Lehrerin gefallen. Tom Rutherford hat nur Gutes über Mrs. Hatcher zu sagen gehabt.“

Mac beobachtete, wie eine leichte Brise ihr Haar zerzauste und es ihr ins Gesicht wehte. Um es ihr nicht spontan aus der Stirn zu streichen, schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Ich kenne Liza. Ihr Mann ist der Besitzer von Island Air, der hiesigen Fluglinie. Letztes Jahr habe ich das obere Stockwerk ihres Hauses renoviert. Sie ist wirklich sehr nett und hilfsbereit. Nach allem, was ich gehört habe, lieben die Kids sie.“

„Das freut mich. Mein Sohn braucht teilnahmsvolle Lehrer und eine positive Schulerfahrung.“

„Hat er ein schlechtes Jahr hinter sich?“

Emmy nickte. „Oh ja. Ein älterer Junge – der Anführer einer Straßengang – hat sich mit Jesse angefreundet und ihn rekrutiert. Deswegen sind wir aus Oakland weggezogen.“

Das erklärt seinen seltsamen Aufzug, dachte Mac.

„Was Sie darüber gesagt haben, dass man Kindern schon in jungen Jahren Grenzen aufzeigen muss, stimmt vollkommen. Und ich schwöre, dass ich …“

Sie verstummte abrupt, als eine Autohupe ertönte. Macs Brüder waren eingetroffen und stellten ihren glänzenden schwarzen Truck in einigen Metern Entfernung ab. Der schäbige rote Abschleppwagen, der ihnen folgte, rumpelte weiter und schob einen Container rückwärts in die Auffahrt.

Durch die Unterhaltung mit Emmy hatte Mac seine Arbeit total vergessen. Was bewies, wie sehr er an diesem Morgen neben der Spur war. Vergeblich redete er sich ein, dass er nicht an Emmy interessiert war. Sie faszinierte ihn. Diese großen, ausdrucksvollen Augen, die vollen Lippen, die langen, schlanken Beine … Sein Körper spannte sich. Jetzt reicht’s aber!

Seine Brüder stiegen aus ihrem Wagen, knallten die Türen zu und holten Werkzeug von der Ladefläche. Währenddessen stellte der Abschlepper den Container ab und rollte von der Auffahrt.

„Sieht ganz so aus, als ob Ihre Unterstützung eingetroffen ist“, bemerkte Emmy. „Sind das Ihre Brüder?“

Mac spürte, dass ihr daran gelegen war, weiter mit ihm zu plaudern. Für ihn war das Gespräch jedoch vorbei, ebenso wie sein Interesse an ihr. Zumindest hoffte er, dass es verging, sobald er sich ans Werk machte. „Ja“, antwortete er knapp.

Sein schroffer Ton brüskierte sie offensichtlich. Ihre hochgezogenen Augenbrauen verrieten dies.

Und das war gut so. Sie sollte erst gar nicht darauf hoffen, dass sie in absehbarer Zeit Freunde werden konnten.

Macs feindselige Miene und die knappe Antwort verrieten Emmy, dass er das Gespräch, das sie als durchaus angenehm empfand, abrupt für beendet erklärte. Die unverhoffte Abfuhr verwirrte sie und ging ihr nahe. Sie blickte zu den beiden Männern, die grinsend auf sie zukamen, und fragte Mac: „Runzeln Sie wegen den beiden oder wegen mir die Stirn?“

„Meine Stirn ist überhaupt nicht gerunzelt.“

Das sah sie ganz anders. Offensichtlich mochte er sie nicht und war es leid, etwas anderes vorzutäuschen. Warum sagte er ihr nicht einfach, dass er wieder an seine Arbeit gehen musste? „Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind. Ich habe auch viel zu tun. Also gehe ich jetzt.“ Sie wollte Jesses gesamtes Zimmer streichen, bevor er von der Schule nach Hause kam.

Aber sie wollte auch die Männer kennenlernen, die Mac als junger Mann unter seine Fittiche nehmen musste. Die beiden Brüder sahen fast gleich aus und ähnelten Mac auffallend, obwohl ihre Gesichter schmaler und jugendlicher waren. Beide musterten Emmy unverhohlen von Kopf bis Fuß.

Verlegen richtete sie sich auf und zog den Bauch ein, obwohl der unter der zugeknöpften Wolljacke verborgen war. „Könnten Sie mich noch Ihren Brüdern vorstellen, bevor ich gehe?“

Deren neugierige Gesichter ließen darauf schließen, dass auch sie daran interessiert waren, miteinander bekannt gemacht zu werden.

„Mir bleibt wohl kaum eine andere Wahl“, murmelte Mac, „sonst würden die beiden endlos spekulieren, wer Sie sind. Das könnte zu unangenehmen Hänseleien führen.“

„Sie machen wohl Witze!?“, entgegnete sie, obwohl sein finsteres Gesicht verriet, dass dies nicht der Fall war. „Über mich gibt es nichts zu spekulieren. Oder über uns. Wir unterhalten uns doch nur.“

Sie war stolz, wie gelassen sie klang. Mac sollte nie erfahren, dass sie sich durchaus zu ihm hingezogen fühlte. Sie war willensstark und konnte ihre Gefühle durchaus verdrängen. Sich in dem neuen Haus einzurichten, Jesse bei der Eingewöhnung zu helfen, sich in ihren neuen Job einzuarbeiten – all das sollte sie genügend ablenken. Sie wollte sich überhaupt nicht auf einen Mann einlassen und am allerwenigsten auf einen, der die Stadt bald zu verlassen gedachte. Der von Anfang an klarstellte, dass er genug von Kindern hatte. Sie hatte nichts anderes vor, als ihren Sohn großzuziehen, in ihrem Beruf zu arbeiten und ein bescheidenes, ruhiges Leben zu führen.

Sie wissen das und ich weiß das“, raunte er ihr so leise zu, dass seine Brüder es nicht hören konnten. Dann rief er ihnen entgegen: „Das wurde aber auch Zeit, dass ihr auftaucht!“

Im nächsten Moment war sie von drei großen, kräftigen und sehr gut aussehenden Männern umringt. Alle hatten himmelblaue Augen – von dichten, langen Wimpern umrahmt, um die jede Frau sie beneidet hätte. Emmy zumindest tat es sofort.

Von den dreien wirkte Mac eindeutig am attraktivsten. Seine Brüder waren noch jung und ihre Gesichter glatt. Bei ihm dagegen zeichneten sich winzige Fältchen in den Augenwinkeln und beginnende Furchen zu beiden Seiten des Mundes ab. Er sah härter, erfahrener und männlicher aus. Kurzum, er wies mehr von allem auf, was sie als reizvoll empfand.

Mit einem warnenden Blick zu seinen Brüdern sagte er: „Brian und Ian, ich möchte euch Emmy Logan vorstellen. Sie ist gerade aus Oakland hergezogen und hat das Cottage gegenüber gemietet.“

Mit ihren eins dreiundsiebzig war sie nicht gerade klein und sie hatte ewig mit fünf Kilos zu viel zu kämpfen. Doch umgeben von den Männern, die über einen Meter neunzig maßen, fühlte sie sich zierlich und sehr feminin. Vor allem unter den anerkennenden Blicken – zumindest von Brian und Ian. Macs Augen verrieten ihr nichts.

„Hallo“, sagte sie und streckte die Hand aus.

Ian, der einen präzise getrimmten Schnurr- und Spitzbart trug, schüttelte ihr die Hand mit festem Druck.

Brian folgte dem Beispiel. Er war von seinem Zwilling daran zu unterscheiden, dass seine Haare länger waren und ihm verwegen in die Stirn fielen. „Wie gefällt es Ihnen auf der Insel?“

„Bisher ausgezeichnet. Es ist alles so hübsch und ruhig und die Leute sind sehr freundlich.“

„Haarscharf beobachtet“, bestätigte Ian mit einem breiten Grinsen. „Wie lange wollen Sie bleiben?“

„Für immer, wenn alles gut geht.“

„Sie hat einen elfjährigen Sohn“, warf Mac ein. „Er heißt Jesse.“

Emmy hätte gern gewusst, was Mac dachte, aber sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.

„Ich bin mit einem Jesse aufs College gegangen. Ein guter Typ“, verkündete Ian. „Dieser Ort ist sehr kinderfreundlich. Sauberer und sicherer als Oakland, so viel steht mal fest.“

Augenzwinkernd wandte Brian sich an Mac. „Du hast ja schon erstaunlich viel über Emmy herausgefunden.“

Ian grinste. „Das Gleiche habe ich auch gerade gedacht. Ich möchte zu gern wissen …“

„Da gibt es nichts zu wissen“, unterbrach Mac. „Wie gesagt, sie wohnt gegenüber und ist gekommen, um Hallo zu sagen. Punkt.“ Er starrte zuerst seine Brüder und dann Emmy verärgert an.

Sie erwiderte den Blick ebenso verstimmt, weil ihr sein schroffes Verhalten einen Stich versetzte. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.

Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Abrupt drehte er sich zum Van um.

Brian und Ian lachten so schallend wie über einen gelungenen Witz, was Mac noch mehr zu ärgern schien. Zumindest straffte sich seine Schulterpartie.

Die beiden wurden schnell wieder ernst und verstummten. Ihre Augen funkelten jedoch weiterhin belustigt. Sie wollten ihren großen Bruder nicht noch mehr reizen, sich aber auch nicht von ihm einschüchtern lassen. Offensichtlich mochten und respektierten sie ihn sehr.

Es war nicht zu übersehen, wie gut er sie erzogen hatte. Emmy bewunderte ihn für diese Leistung, die er in so jungen Jahren vollbracht hatte. Und sie mochte ihn dafür umso mehr. Seinem abweisenden Verhalten nach zu urteilen, empfand er allerdings das genaue Gegenteil für die neue Nachbarin.

Nun, da sie sich bei ihm entschuldigt und seine Brüder kennengelernt hatte, wollte sie die Männer an die Arbeit gehen lassen und sich um ihre eigenen Vorhaben kümmern. Abgesehen von einer höflichen Begrüßung und einem Winken von Weitem sah sie keine Veranlassung mehr, künftig mit ihnen in Kontakt zu treten. Und dies konnte Mac zweifellos nur recht sein.

„Falls Sie eine Küche brauchen, um sich etwas zum Mittagessen zu kochen oder etwas zu trinken, dann kommen Sie ruhig vorbei“, bot sie trotzdem spontan an. Eigentlich hatte sie es nicht geplant, aber der Höflichkeit halber wollte sie es doch gesagt haben. Für ihr gut gemeintes Angebot erntete sie allerdings nur ein Stirnrunzeln von Mac.

„Nein, danke. Wir haben alles, was wir brauchen.“ Er nickte seinen Brüdern zu. „Packen wir’s an?“ Ohne einen Abschiedsgruß wandte er sich ab und begann, Werkzeug aus dem Van auszuladen.

Wenn das keine Abfuhr ist! Emmy ließ sich nicht anmerken, dass sie sich über seine Schroffheit ärgerte, und lächelte seine Brüder an. „Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.“

Beide bestätigten, dass sie es ebenso sahen.

„Sie sind nicht so unfreundlich wie Ihr großer Bruder. Vielleicht können Sie ihm Manieren beibringen.“ Sie blickte zu Mac und setzte ein besonders strahlendes Lächeln auf. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Meiner wird garantiert ganz wundervoll.“

Und damit wandte sie sich ab und spazierte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, ins Cottage, um Wände zu streichen.

3. KAPITEL

Mac beugte sich in den Van und griff nach der Kreissäge, um sich davor zu bewahren, Emmy hinterherzugaffen. Die Haustür ihres Cottages fiel mit einem Klicken ins Schloss. Das Geräusch war gut zu hören in der Stille, die ihrem souveränen Abgang folgte, und schien ihn geradewegs zu verspotten.

Er hatte lediglich klarstellen wollen, dass er nichts mit ihr anfangen wollte. Angesichts der Hitzewelle, die sie mit ihrer aufreizenden Ausstrahlung in ihm ausgelöst hatte, musste er ihr einfach den Kopf zurechtrücken – und vor allem sich selbst.

Indem ich mich wie ein Neandertaler benehme? Verärgert schnappte er sich die Säge und stürmte zur Veranda. Dabei fiel ihm auf, dass Brian mit grüblerischer Miene zu Emmys Haustür starrte und Ian in Gedanken versunken seinen Schnurrbart zwirbelte. „Was ist denn in euch gefahren?“

Brian grinste. „Sie hat’s dir ganz schön gegeben.“

Ian lachte. „Du hast es nicht anders verdient. Du warst echt fies zu ihr. Absolut nicht die feine Art, in der du uns erzogen hast.“

„Ganz genau. Da fragt man sich doch, warum sie dich so auf die Palme bringt …“

Weil sie mir unter die Haut geht, dachte Mac. Weil ich mir wünsche, sie näher kennenzulernen, was aber nicht sein darf. „Wir haben zu arbeiten, Leute. Bring du das rein.“ Er drückte Ian die Säge in die Hand. „Brian, du holst das restliche Zeug aus dem Van.“ Er nahm seinen Werkzeuggürtel vom Beifahrersitz, schnallte ihn um und folgte seinen Brüdern die Stufen hinauf.

Stunden später, nachdem sie die rückwärtige Hauswand in der Küche niedergerissen und durch gepolsterte Plastikfolie als Kälteschutz ersetzt hatten, nahm Brian sich Schutzbrille und Mundschutz ab und fragte: „Erklär uns wenigstens, warum du so eklig zu Emmy warst.“

„Ja, genau!“, pflichtete Ian ihm bei.

Mac nahm sich ebenfalls die Brille ab. „Ich will in sechs Wochen von hier verschwinden. Bis dahin gibt es viel zu tun und ich kann mir keine Ablenkung leisten.“

„Wieso ist das ein Grund, Emmy so anzuschnauzen?“, fragte Ian. „Zumal du sie gerade erst kennengelernt hast. Schließlich seid ihr nicht liiert und sie will dich sicher nicht gleich heiraten oder so.“

Brian gab zu bedenken: „Aber sie ist ein Hingucker und dazu auch noch nett. Vielleicht wäre er ja gern mit ihr liiert!?“

Mac stöhnte. „Ihr habt beide nur Stroh im Kopf, kann das sein!? Endlich ist für mich die Zeit gekommen, zu reisen und zu studieren – frei zu sein. Ich kann es nicht erwarten aufzubrechen. Also geht wieder an die Arbeit. Oder wollt ihr Schwachköpfe noch mehr Zeit mit Gerede verschwenden und dieses Projekt dadurch unnötig in die Länge ziehen?“

„Ich nicht.“ Brian setzte sich Brille und Mundschutz wieder auf.

„Ich auch nicht“, versicherte Ian. „Also dann, auf geht’s.“

Erleichtert schnappte Mac sich eine Brechstange und vernichtete einen Küchenschrank.

Im Badezimmer räumte Emmy den Spiegelschrank ein, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Ihr neues Zuhause war zwar bewohnbar, brauchte aber dringend Modernisierungsmaßnahmen und ein liebevolles Händchen. Da sie den Mietvertrag für mindestens ein ganzes Jahr abgeschlossen hatte, war sie fest entschlossen, das Cottage so behaglich wie möglich einzurichten. Im Falle des Badezimmers bedeutete dies einen neuen Duschvorhang und flauschige Badematten.

Während sie den Waschtisch reinigte, flogen ihre Gedanken zu Mac, obwohl sie ihn kaum kannte. Daran würde sich seinem brüsken Verhalten nach zu urteilen auch nichts ändern. Sein finsterer Blick ging ihr immer noch an die Nieren.

Sie redete sich ein, dass seine Abneigung ihr gegenüber nicht weiter schlimm war. Eigentlich konnte es ihr nur recht sein, weil sie nicht an ihm interessiert war.

Was für eine gewaltige Lüge! Sie stellte sich vor den Spiegel, band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und starrte mit gerunzelter Stirn in ihre sehnsuchtsvollen Augen. „Heute wird nicht mehr an Mac Struthers gedacht, Emmy Logan. Das ist reine Zeitverschwendung und du hast zu arbeiten, jede Menge zu arbeiten.“ Und ihr blieb nur noch wenig Zeit, um mit Jesses Zimmer bis zum Schulschluss fertig zu werden.

Nachdem sie in ein zerlumptes pinkfarbenes Sweatshirt und eine uralte Jogginghose geschlüpft war, trug sie das Radio und einen Küchenstuhl in das Kinderzimmer. Die Wände waren in einem scheußlichen Rosa gestrichen – unerträglich für jeden außer einem kleinen Mädchen, unerträglich aber vor allem für einen elfjährigen Jungen. Zum Glück hatten die Rutherfords ihr erlaubt, die Farbe nach Belieben zu ändern.

In weiser Voraussicht hatten sie nur das Allernötigste von Jesses Sachen ausgepackt – Bettzeug und einige wenige Kleidungsstücke. Seine restlichen Kartons stapelten sich immer noch im Flur.

Emmy fand einen Oldie-Sender im Radio. Gerade lief Ain’t No Sunshine – sehr passend für diesen grauen Tag, an dem sich nicht einmal ein vereinzelter Sonnenstrahl zeigte. Sie summte die Melodie mit, während sie Bett und Fußboden mit Plastikfolie auslegte. Dann holte sie die beiden Farbeimer.

Jesse hatte ein helles Metallicblau für die Decke und einen dunkleren Farbton für die Wände ausgesucht. Die Farben waren extra zusammengemixt worden und wesentlich teurer, als Emmy eingeplant hatte. Doch ihrem Sohn eine Freude zu machen und ihm zu helfen, sich in der neuen Umgebung einzuleben, war ihr wichtiger als ein paar Dollar mehr oder weniger. Sie musste eben ein bisschen länger damit warten, das restliche Haus zu streichen.

Wenige Minuten später stand sie auf dem Stuhl und rollte eine dicke Schicht Farbe auf die Decke. Über Kopf zu arbeiten, war anstrengend. Schon bald taten ihr Arme und Nacken weh. Zum Glück war der Raum relativ klein. Trotzdem schien es eine Ewigkeit zu dauern.

Als die Decke fertig war, wirkte das Zimmer bereits freundlicher. Emmy streckte ihren verspannten Rücken. Eine Pause wäre ihr lieb gewesen, aber es war schon fast Mittag und es blieb noch so viel zu tun. Sie schaffte gerade noch eine Wand, bevor ihr leerer Magen protestierte.

„Schon gut!“, murmelte sie vor sich hin. Zeit zum Mittagessen. Außerdem waren die Ausdünstungen der Farbe beinahe unerträglich. Am liebsten hätte sie alle Fenster aufgerissen. Da es draußen aber so kalt und feucht war, hätte es die Trocknung der Wände erheblich verzögert. Also blieben die Fenster geschlossen.

Möglicherweise musste Jesse eben in ihrem Zimmer übernachten. Der Junge brauchte ausreichend Schlaf, um nicht übermüdet in die Schule zu kommen. Dies bedeutete wiederum, dass sie mit dem alten Sofa im Wohnzimmer vorliebnehmen musste und starke Rückenschmerzen vorprogrammiert waren.

In der Küche wusch Emmy sich die Hände und machte sich ein Sandwich mit Erdnussbutter und Honig. Sie aß schnell. Als sie gerade den Tisch abwischte, klopfte es an die Tür.

Wer kann das denn sein? Mac? Dass sie es hoffte, war eine einzige Schande, weil er nicht an einer näheren Bekanntschaft interessiert schien und sie es besser auch nicht sein sollte.

Ihr blieb keine Zeit, das Haar zu richten oder sich umzuziehen. Also strich sie nur ihren Pulli glatt und ging öffnen.

Nicht Mac, sondern Brian stand auf der Schwelle. Emmy verbarg ihre Enttäuschung hinter einer freundlichen Miene. „Hallo.“

„Hi.“ Sein Gesicht war schmutzig. Er grinste und sah dabei jünger aus als seine zweiundzwanzig Jahre. „Wir mussten das Wasser abstellen. Und weil Sie gesagt haben, dass wir rüberkommen können, falls wir etwas brauchen …“ Er hielt zwei Literflaschen hoch. „Darf ich die für Ian und mich auffüllen?“

Für Mac nicht? wunderte sich Emmy, während sie die Haustür weiter aufzog. „Aber natürlich. Kommen Sie rein.“

„Danke.“ Er putzte sich die Stiefel an der Fußmatte ab, trat ein und blickte sich um. Von seinem Standort im Wohnzimmer aus konnte er die Küche und den Flur einsehen, der zu den Schlafzimmern führte. „Hübsches kleines Häuschen.“ Er schnupperte. „Ich rieche Farbe.“

„Weil ich gerade Jesses Zimmer streiche. Momentan ist es rosa.“ Sie rümpfte die Nase.

„Und Sie machen Blau daraus?“ Es zuckte um seine Mundwinkel. „Toller Farbton, aber soll ich ehrlich sein? Ich finde Sie hübscher mit blondem Haar. Sie sollten sich was aufsetzen, wenn Sie streichen.“

Sie fasste sich an de...

Autor

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Die preisgekrönte Autorin Ann Roth arbeitet nach ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre zunächst in einer Bank und in einer Unternehmensberatung. Dieses Leben gab sie auf, als sie anfing zu schreiben. 1999 gewann Ann den angesehenen Golden Heart Award für bisher unveröffentlichte Autoren in der Kategorie „beste zeitgenössischen Serie“. Seitdem hat sie...
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Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Fort Knox, wo ihr Mann eine Weile stationiert war, hat Jan ihr ganzes Leben lang in Texas gelebt. Eine ihrer frühesten Erinnerungen ist, wie sie abends, bereits im Pyjama, im Dorfladen ihrer Großeltern saß und den Geschichten lauschte, die die Erwachsenen erzählten. Geschichten und...
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