Bianca Exklusiv Band 376

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LIEBESBRIEFE NACH LONDON von CHRISTYNE BUTLER

„Du bist mein Vater!“ Schockiert hört Liam die Worte der 15-jährigen Casey. Doch ein Blick auf Caseys wunderschöne Mutter Missy verrät ihm, dass das Mädchen nicht lügt: Ihre Affäre damals hatte Folgen! Hat Missy seine Liebesbriefe nach London deshalb nie beantwortet?

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DENN DEIN HERZ WEISS MEHR ALS DU von VICTORIA PADE

Eigentlich hat Derek ein Faible für verhängnisvolle Affären. Dennoch weicht er der warmherzigen Gia nicht von der Seite, als sie Hilfe braucht, um Freunde zu retten. Und plötzlich begreift er, was gefährlicher ist, als immer an die Falschen zu geraten: Das Herz für die Richtige zu öffnen.


  • Erscheinungstag 22.06.2024
  • Bandnummer 376
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523370
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christyne Butler, Stella Bagwell, Victoria Pade

BIANCA EXKLUSIV BAND 376

1. KAPITEL

„Ihr Lügner! Ihr habt mir versprochen, mich zu Liam Murphy zu bringen und nicht, mir die Rückseite irgendeines dämlichen Stalls zu zeigen!“

Als die heiße Augustmorgenbrise die mädchenhafte Stimme zu Liam herübertrug, versetzte ihm der britische Akzent einen Stich. Die Erwähnung seines Namens lenkte ihn von seinem geschäftlichen Telefonat ab.

Eigentlich hätte er sich längst an das britische Englisch gewöhnt haben müssen.

Das seit zwanzig Jahren bestehende Familienunternehmen Murphy Mountain Log Homes in Destiny, Wyoming, hatte nämlich kürzlich einen wichtigen Auftrag im Vereinigten Königreich an Land gezogen, den Bau eines gigantischen Blockhauses für einen berühmten schottischen Schauspieler. Als Geschäftsführer verbrachte Liam viel Zeit am Telefon und bei Meetings mit Menschen, die das Englisch der Queen sprachen.

Was nichts daran änderte, dass ihm bei dem Klang einer sanften weiblichen englischen Stimme jedes Mal nostalgische Erinnerungen kamen.

An eine Zeit, als er noch das Gefühl gehabt hatte, dass ihm die ganze Welt offenstand.

Aber das war leider eine Ewigkeit her.

„Spinnt ihr jetzt total?“, riss ihn die Stimme des Mädchens aus seinen Erinnerungen. „Nie im Leben!“

Das Mädchen hörte sich aufgebracht an, doch in ihrer Stimme schwang auch Angst mit. Liam wusste nicht genau, was da ablief, konnte es sich aber gut vorstellen.

Er beendete das Gespräch, steckte sein Handy ein und ging hinter den Stall.

Das erste Rodeo in Destiny war gerade in vollem Gang, überall auf dem Gelände standen Wohnmobile und Pferdeanhänger herum. Viele Menschen hatten hart daran gearbeitet, alles zu organisieren. Liams Firma war der Hauptsponsor, und obwohl das Event nur einen Tag dauerte, hatte das Preisgeld für den Sieger zahlreiche Teilnehmer und Fans angezogen.

Das Letzte, was Destiny jetzt gebrauchen konnte, war Ärger.

Liam sah das Trio, als er um die Ecke bog. Zwei Cowboys in Jeans, karierten Hemden und Stetsons hatten ein junges Mädchen in die Mitte genommen. Das Alter der jungen Männer war schwer einzuschätzen, doch sie war eindeutig jünger als achtzehn. Das machte das Sixpack Bier, das einer der Cowboys dabeihatte, umso bedenklicher. Und es war noch nicht mal Mittag.

„Komm schon, lass uns in unserem Wohnmobil ein Bier zischen.“ Einer der Cowboys legte dem Mädchen einen Arm um die Taille. „Danach suchen wir diesen Murphy für dich.“

„Nicht nötig“, sagte Liam betont freundlich und schlenderte auf die Gruppe zu. „Ich bin schon da.“

Die jungen Leute drehten sich ruckartig zu ihm um. Auf den Gesichtern der beiden Cowboys spiegelte sich Überraschung wider, auf dem des Mädchens Erleichterung.

Die dunkelblauen Augen kamen Liam sofort bekannt vor, genauso wie vorhin die Stimme. „Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragte Liam. „Habt ihr Fragen zum Rodeo?“

Der eine Cowboy ließ das junge Mädchen los, die verwirrt zwischen dem Rodeoprogramm in seiner Hand und Liam hin- und hersah. Sie hatte es so gefaltet, dass Liams Foto ganz oben lag.

Liam und seine fünf Brüder waren alle mit Pferden aufgewachsen und hatten schon als Kinder bei Rodeos mitgeritten, doch nur Liam war mit achtzehn Jahren Profireiter geworden. In seinen ersten beiden Jahren hatte er zu den fünf besten des Landes gehört – bis eine Schulterverletzung in der dritten Saison seine Karriere beendet hatte.

Das war inzwischen dreizehn Jahre her.

„Hallo, Mr. Murphy. Wir haben gerade nach Ihnen gesucht“, erklärte er jüngere der beiden Cowboys.

Aha, jetzt war er also auf einmal Mr. Murphy. „Ist das dein Bier?“ Liam zeigte auf das Sixpack. „Du bist doch bestimmt noch keine einundzwanzig.“

„Ich … also …“

„Das ist meins“, schaltete der ältere Cowboy sich ein. „Er trägt es für mich.“ Er lockerte kurz seine linke Hand, bevor er sich breitbeinig vor Liam aufbaute. „Wir wollten gerade zurück zu unserem Wohnmobil.“

Liam erwiderte seinen Blick gelassen. Er war vierunddreißig und hatte keine Lust, sich mit einem Jungen zu prügeln, der mehr als zehn Jahre jünger war als er. „Dann würde ich vorschlagen, dass du es ihm wieder abnimmst. Um Missverständnissen vorzubeugen.“

Der Cowboy versuchte, Liam niederzustarren, gab es jedoch irgendwann auf. Demonstrativ griff er nach dem Alkohol und schlug dem Jüngeren auf eine Schulter. „Komm, Bro, lass uns hier verschwinden.“

Liam sah den beiden jungen Männern hinterher und nahm sich vor, den Sheriff über den Vorfall zu informieren, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren mit blauen und pinkfarbenen Strähnen richtete. „Alles okay mit dir?“, erkundigte er sich. „Haben die beiden dich belästigt?“

Das Mädchen musterte Liam vom Stetson bis hin zu seinen Cowboystiefeln, bevor sie den Blick wieder auf sein Gesicht richtete. „Sind das wirklich Sie?“

Das Foto in ihrem Programm stammte noch aus Liams erster Saison. „Ja, aber es ist schon alt.“ Sein Blick fiel auf eine kleine Reisetasche im Gras. Er hob sie hoch. „Ist das deine?“

„Ja. Danke.“

Liam fragte sich, warum das Mädchen wohl nach ihm suchte. Abgesehen von dem schrill gefärbten Haar, dem dunklen Augen-Make-up und dem Nasenpiercing war sie sehr hübsch. Sie trug hautenge Jeans und dazu ein schwarzes T-Shirt mit einem pinkfarbenen Totenkopf. Die braunen Lederstiefel mit türkisfarbener Stickerei sahen nagelneu aus. Kein Wunder, dass sie humpelte, als sie auf ihn zukam. „Hast du die erst heute gekauft?“

Sie nickte und senkte den Blick zu seinen Füßen. „Sieht man sofort, oder? Meine Füße tun schrecklich weh.“

Ihr Akzent versetzte ihm wieder einen schmerzhaften Stich. „Der Verkäufer hätte dir Socken geben sollen.“

„Wollte er auch.“ Sie zuckte die Achseln. „Aber ich hatte schon welche an. Sehen Sie?“

Auf einem Fuß balancierend versuchte sie den Stiefel am anderen Fuß abzustreifen, verzog jedoch vor Schmerz das Gesicht.

„Ich glaube, wir sollten dich erst mal zum Erste-Hilfe-Zelt bringen“, sagte Liam. „Schaffst du es bis dahin?“

„Bleibt mir denn etwas anderes übrig?“ Gereizt riss sie ihm die Reisetasche aus der Hand und drehte sich um. „Das war das letzte Mal, das ich auf einen amerikanischen Cowboy gehört habe! Alles Verrückte!“

„Nicht alle.“ Liam schlenderte neben ihr über den Rasen, belustigt über ihren plötzlichen Stimmungswechsel. Sie erinnerte ihn an seine Nichte Abby, die vor ein paar Wochen sechzehn geworden war. Sein älterer Bruder hatte alle Hände voll mit ihr zu tun, ganz zu schweigen von den Zwillingen Luke und Logan, die ein paar Jahre jünger waren. „Du solltest gut aufpassen, mit wem du dich einlässt.“

„Ach, echt? Himmel, Sie klingen genau wie meine … autsch!“ Sie stolperte über einen Stein, fing sich jedoch wieder. „Verdammt, tat das weh!“

„Darf ich dir einen weiteren Vorschlag machen?“

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und fuhr sich mit einem Handrücken über die Augen, bevor sie ihn aufsässig anfunkelte. „Klar, warum nicht?“

Als Liam die Tränen in ihren Augen sah, zog sein Herz sich schmerzlich zusammen. „Wie wär’s, wenn ich dich hinbringe? Je eher sich jemand deinen Fuß ansieht, desto besser geht es dir wieder.“

„Hinbringen?“ Sie zog die Augenbrauen auf eine Art und Weise zusammen, die Liam seltsam vertraut war. „Sie meinen, Sie wollen mich tragen?“, fragte sie, bevor er darüber nachdenken konnte, an wen sie ihn erinnerte.

„Genau. Natürlich nur, wenn dir das recht ist.“

Sie presste ihre Reisetasche an die Brust und musterte ihn skeptisch.

Verdammt, vielleicht war das hier doch keine gute Idee. Immer mehr Menschen bevölkerten das Gelände. Liam waren schon ein paar neugierige Blicke aufgefallen. Klatsch war in der Kleinstadt Destiny ein beliebter Zeitvertreib, und die Murphys schienen immer jede Menge Gesprächsstoff zu liefern, ob sie wollten oder nicht.

Die ganze Stadt redete noch über Liams Bruder Devlin, der im Juni mit seiner neuen Freundin nach London gezogen war, obwohl er sie erst wenige Monate kannte.

Und vor drei Wochen hatten Liam und Nolan an einer Junggesellenauktion teilgenommen, die Geld für das Sommerlager zusammenkriegen sollte. Dass die hübsche Staatsanwältin von Laramie bei Liam den Zuschlag bekommen hatte, war der Lokalzeitung immerhin eine Schlagzeile wert gewesen. Gut, dass die Presse keinen Wind von ihrem Date letzte Woche bekommen hatte, das zwar nett, aber nicht besonders aufregend gewesen war.

„Okay.“ Das Mädchen zuckte mit einer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit die Achseln, die Liam an seine Nichte erinnerte. Ihre Reaktion amüsierte ihn so, dass er die neugierigen Blicke der Passanten vergaß und sie hochhob.

Sie hielt ihre Tasche mit einer Hand fest und schlang Liam den anderen Arm um den Hals. „Wiege ich viel?“, fragte sie, als er sie zum Zelt trug.

Liam unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Ganz egal, wie alt Frauen wurden, sie hörten nie damit auf, Fangfragen zu stellen. „Natürlich nicht. Ich wette, du wiegst keine hundert Pfund.“

„Achtundvierzig Kilo.“

„Siehst du? Ich hatte recht.“

Nach wenigen Minuten kam er beim Zelt an und setzte das Mädchen auf einen leeren Stuhl. Während einer der Helfer die Blasen an ihren Füßen versorgte, nutzte Liam die Zeit, sie eingehender zu betrachten. Er war inzwischen davon überzeugt, dass er sie schon mal irgendwo gesehen hatte, aber wo? War sie vielleicht eine Freundin seiner Nichte oder die Tochter einer seiner Angestellten? Bei dem Akzent war das allerdings eher unwahrscheinlich.

„Warum sehen Sie mich so an?“

Liam blinzelte überrascht. „Sorry. Du hast mir noch gar nicht erzählt, warum du mich suchst.“

Das Mädchen zog sich wieder die Stiefel an, diesmal über ein dickes Paar Socken, und blickte sich im Zelt um. Sie waren ungestört. „Komm ich Ihnen eigentlich bekannt vor?“

„Du …“ Er verstummte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie auf ein Ja von ihm hoffte, aber er hatte immer noch keine Ahnung, wer sie war. „Nicht wirklich.“

Dramatisch aufseufzend wühlte sie in ihrer Reisetasche herum und förderte ein Handy zutage. „Der dämliche Akku ist fast leer, aber vielleicht …“ Ihre Finger flogen über eine lange Reihe Fotos, bevor sie ihm das Handy reichte.

„Wie wär’s mit ihr?“, fragte sie. „Kommt sie Ihnen bekannt vor?“

Der Anblick des Fotos verschlug Liam den Atem. Er verkrampfte sich von Kopf bis Fuß.

Zügel anziehen, Füße fest ran und immer hübsch oben bleiben.

Das war seit Teenagerzeiten Liams persönliches Rodeo-Mantra. Er schärfte es sich jedes Mal ein, wenn er wieder auf ein wildes Pferd stieg.

Die meisten Leute glaubten, dass es beim Rodeo nur darum ging, sich nicht abwerfen zu lassen, aber da war viel mehr zu berücksichtigen. Rodeo war ein perfekt choreografierter Tanz, bei dem der Reiter sich synchron zu jeder Drehung und jedem Sprung des Pferdes bewegte, ohne das Tier oder sich selbst berühren zu dürfen.

Beim Anblick von Missy Ellington – seiner ganz persönlichen Herzensbrecherin – schoss ihm dieses Mantra wieder durch den Kopf.

Sie war während seines letzten Highschooljahres Austauschschülerin aus London gewesen. Er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, genau wie sie sich in ihn. Sie waren unzertrennlich gewesen, bis ihre Beziehung kurz nach der Abschlussprüfung mit einem hässlichen Streit über ihre Zukunftspläne geendet hatte. Pläne, über die sie nie zuvor gesprochen hatten, Pläne, die sich als sehr unterschiedlich herausgestellt hatten.

Liam hatte ein paar sehr dumme Sachen zu ihr gesagt, und als Reaktion darauf war Missy nach London zurückgeflogen.

Er hatte sie nie wiedergesehen oder mit ihr gesprochen. Manchmal, wenn er einen alten sentimentalen Countrysong hörte, musste er wieder an sie denken. Genauso, wenn ihm der Hauch eines Pfirsichparfums in die Nase stieg … oder er eine weibliche Stimme mit einem britischen Akzent hörte. Liam hatte es bisher niemandem gegenüber zugegeben, doch Missy war die Liebe seines Lebens gewesen. Zumindest damals.

Auf dem Foto sah sie fast genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung. Langes blondes Haar, helle Porzellanhaut, sanfte blaue Augen. Sie lächelte, wenn auch nicht in die Kamera. Sie hatte den Blick auf ein kleines Baby in ihren Armen gerichtet.

„Das Foto wurde im April vor fünfzehn Jahren gemacht.“ Das Mädchen drehte das Handy zu sich herum. In diesem Augenblick lächelte es genauso wie die Frau auf dem Foto. Wie Missy. „Ich war damals erst zwei Wochen alt.“

Vor fünfzehn Jahren …

Die Monate und Jahre flossen in Liams Kopf zu einem wirren Chaos zusammen. Er hatte plötzlich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren … beziehungsweise vom Pferd geworfen zu werden.

„Missy …“ Liams Stimme brach. Er räusperte sich heiser. „Missy Ellington ist deine Mutter?“

„Klar.“ Das Mädchen hob den Blick zu ihm und sah ihn ernst an. „Und du bist mein Vater.“

Verdammt! Er sah immer noch gut aus!

Missy Dobbs hatte eigentlich damit gerechnet, dass Liam Murphy sich nach sechzehn Jahren verändert hatte, aber nein, er war sogar noch attraktiver als der Junge, der ihr vor all den Jahren das Herz gebrochen hatte.

Sie holte tief Luft. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und würde jetzt dabeibleiben, ganz egal, wie viel Angst sie auch hatte. Sie stand gerade mitten im Flughafengetümmel und wartete auf den Flug zu dem Ort, mit dem sie vor sechzehn Jahren eigentlich für immer abgeschlossen hatte.

Destiny, Wyoming.

Ihre Hände krampften sich um ihr Tablet, als sie wieder Liams Foto auf der Website der Firma seiner Familie betrachtete und versuchte, es mit dem wilden und verrückten Cowboy in Einklang zu bringen, den sie als Teenager gekannt hatte. Auf dem Foto wirkte er ernst und seriös, doch seine Brille mit dem dunklen Rahmen konnte das Funkeln in seinen Augen nicht verbergen. Er trug das Haar kürzer als früher, nur ein paar Strähnen fielen ihm etwas verwegen in die Stirn.

Ihr früherer Freund hatte Karriere gemacht. Er war inzwischen Geschäftsführer seines Familienunternehmens, doch das überraschte sie nicht. In Liam hatte schon immer mehr gesteckt als ein Rodeo-Star, auch wenn es mit achtzehn sein sehnlichster Traum gewesen war, durch die USA zu reisen und Rodeos zu gewinnen.

Ein Traum, der zu ihrer Trennung geführt hatte.

Missy war danach zurück nach Hause geflogen und hatte einen unseligen One-Night-Stand mit ihrem Exfreund gehabt. Das Ganze hatte zu einer Ehe geführt, weil man ihr erzählt hatte, dass er der Vater ihres Kindes war.

Erst jetzt, nach vielen Jahren, wusste sie die Wahrheit.

Liam Murphy war der Vater ihrer Tochter.

Was für ein Durcheinander!

Bisher hatte Missy noch nicht mit Casey darüber gesprochen, weil sie beruflich nach Los Angeles musste und keine Zeit mehr für ein so wichtiges Gespräch gehabt hatte. Stattdessen hatte sie sich heftig mit ihrer Mutter gestritten, die anscheinend die ganze Zeit über die Wahrheit gewusst hatte.

Das Ganze war vor zwei Wochen passiert.

Inzwischen, am Freitag, hatte sie ihren Job am Filmset erledigt. Casey würde am Montag in die USA nachkommen, damit sie beide einen längeren Urlaub machen konnten. Was hieß, dass Missy nur ein Wochenende blieb, um nach Destiny zu fliegen, an Liams Tür zu klopfen und ihm mitzuteilen, dass er eine Tochter hatte.

Als sie ihr Handy in ihrer Handtasche klingeln hörte, holte sie es rasch raus, kannte jedoch die Nummer auf dem Display nicht. Hoffentlich war das nicht jemand vom Set, der ihre Urlaubspläne durchkreuzen wollte. „Hallo?“

„Mom, ich bin’s, Casey.“

Wie ertappt knallte Missy den Deckel ihres Tablets mit Liams Foto zu. „Ach hallo, Liebes. Warum rufst du nicht von deinem Handy aus an?“

„Der Akku ist leer. Ich lade es gerade auf.“

Aus dem Flughafenlautsprecher dröhnte eine Durchsage. Missy senkte den Kopf, um das Geräusch so gut wie möglich auszublenden. Sie überschlug die Zeitdifferenz zwischen Kalifornien und London. „Bist du zu Hause? Du musst allmählich anfangen zu packen.“

„Also … nicht wirklich.“

Diese Worte, gepaart mit Caseys nervösem Tonfall, ließen bei Missy sämtliche Alarmglocken schrillen. „Packen macht an einem Freitagabend vielleicht keinen Spaß, aber du kannst nicht bis zur letzten Sekunde warten …“

Casey schnitt ihr mitten im Satz das Wort ab. „Mom, ich brauche mir keine Gedanken mehr über das Packen zu machen, weil ich schon hier bin.“

Hier? In Los Angeles?

Missy sah sich hektisch nach einem Übersichtsplan um. „Was meinst du damit, hier? Bist du am Flughafen in Los Angeles?“

„Nein, in Wyoming.“

Was?!

Missy hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr jetzt endgültig die Kontrolle über ihr Leben entglitt. Sie ließ sich auf den unbequemen Sitzplatz neben sich fallen.

„Mom? Hast du mich verstanden?“, fragte Casey. „Mom?“

„Wie hast du … warum bist du …?“, stammelte Missy. „Warum zum Teufel bist du nach Wyoming geflogen? Und dann auch noch allein?“

„Ich sollte doch auch allein nach L. A. fliegen, oder? Außerdem reise ich ja nicht zum ersten Mal allein!“

Stimmt, seit ein paar Jahren begleitete Casey ihre Mutter während der Schulferien zu Filmsets, aber das waren alles Europaflüge ohne Umstieg. „Ja, aber warum …“ Missys Herz setzte einen Schlag aus, als ihr die Wahrheit dämmerte. „Warum bist du in …?“

„Was glaubst du denn? Ich habe gehört, wie du dich vor deinem Flug nach Kalifornien mit Grandma gestritten hast. Wegen des Testergebnisses, das du in Grandpas Schreibtisch gefunden hast. Ich kann einfach nicht fassen, dass sie dir das angetan haben! Uns beiden!“ Casey war so aufgebracht, dass ihre Worte sich förmlich überschlugen. „Und du hast mir bisher kein Wort davon erzählt!“

Oje, so hatte Missy sich dieses Gespräch nicht vorgestellt. „Liebes, ich …“

„Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Das ist auch nicht gerade ein geeignetes Thema für ein Gespräch zwischen Tür und Angel“, fuhr Casey fort. „Aber bei eurem Streit hast du den Namen eines Mannes und einer Stadt in Wyoming erwähnt, und nach ein bisschen Onlinerecherche habe ich beschlossen, meine Flugpläne zu ändern. Ich bin heute Morgen in Cheyenne gelandet.“

Missy versuchte, mit den Worten ihrer Tochter Schritt zu halten, doch die letzten gingen im lauten Rauschen in ihren Ohren und in der Aufforderung unter, ihr Flugzeug zu boarden. Sie suchte ihr Gepäck zusammen und stellte sich zu den anderen Passagieren in die Schlange. Die Bordkarte in ihrer Hand zitterte.

Casey war also in Wyoming. Sie wusste über Liam Bescheid.

Tu was! Tu endlich was!

Missy stand noch immer unter Schock, als sie zu ihrem Sitz in der ersten Klasse ging. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun sollte. „Okay, ich will, dass du am Flughafen auf mich wartest. Ich lande um …“

„Mom, ich bin nicht mehr in Cheyenne, sondern schon in Destiny! Und weißt du was?“, rief Casey. „Ich habe ihn gefunden.“

Destiny! Missys ungestüme Tochter war also von London zu einer kleinen ländlichen Gemeinde im Westen der USA geflogen und hatte ihren Vater gefunden.

Missy ließ sich betäubt auf ihren Sitz fallen und starrte hilflos vor sich hin.

„Mom? Bist du noch dran? Mom?

Missy musste irgendwie aus ihrer Tochter herauskriegen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Vor allem wollte sie wissen, wie Liam reagiert hatte, als Casey die Bombe hatte platzen lassen, doch leider würde sie ihr Handy gleich ausschalten müssen, und Casey hatte noch keine Ahnung, dass sie auf dem Weg nach Wyoming war.

Missy holte mehrmals tief Luft. Nach dem dritten Mal hatte sie ihre Stimme wieder halbwegs im Griff. „Liebes, wir müssen miteinander reden.“

„Das kann man wohl sagen.“

Missy keuchte erschrocken auf, als ihr die heisere sexy Stimme aus ihrer Jugendzeit ins Ohr drang. Ihr stockte der Atem, und ihr wurde von Kopf bis Fuß heiß, so verrückt das auch war. „Liam?“

Sie hörte ihn tief einatmen, bevor sich ein langes Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, in dem all die Jahre und Meilen, die sie trennten, mitzuschwingen schienen.

Missy hatte in England nie über ihn gesprochen, weder mit ihren Freundinnen noch mit ihrer Tochter, und schon gar nicht mit ihren Eltern. Manchmal kam es ihr so vor, als sei das eine Jahr ihres Lebens einer anderen Frau passiert.

„Casey sagt, du warst in den letzten Wochen in Los Angeles“, hörte sie Liam irgendwann kühl und geschäftsmäßig sagen. „Wenn du mir mitteilst, wo du bist, werde ich einen Flug nach Wyoming für dich arrangieren.“

„Ich sitze bereits im Flieger nach Cheyenne“, antwortete Missy gereizt. „Er landet um halb sechs.“

Liam schwieg wieder. Musste er die Nachricht erst mal verdauen?

„Ich werde dich abholen“, antwortete er schließlich.

Natürlich würde er das. Und da sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht hatte, wie sie von Cheyenne nach Destiny kommen wollte, konnte sie schlecht protestieren. Außerdem, je eher sie Casey wiedersah, desto besser. „Kann ich bitte noch mal mit meiner Tochter sprechen?“

Kurz darauf drang Caseys Stimme an Missys Ohr. „Was, du bist schon unterwegs? In diesem Augenblick?“

„Ja, und ich verspreche dir, dass wir über alles reden werden, sobald ich ankomme. Auch darüber, dass du einfach den Flug gewechselt hast“, fügte sie streng hinzu. „Mach Liam in der Zwischenzeit keinen Ärger.“

„Dieser Rat kommt ein bisschen spät, Mom.“ Casey seufzte melodramatisch – etwas, das sie in den letzten Jahren zur Kunstform perfektioniert hatte. „Einfach so unangemeldet hier aufzukreuzen ist Ärger genug, würde ich sagen.“

2. KAPITEL

Missy schob sich sofort nach ihrer Landung in Cheyenne einen Pfefferminzbonbon in den Mund und ging auf die Toilette. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, ordnete sie sich ihren lockeren Chignon neu und beugte sich zum Spiegel, um ihre Lippen nachzuziehen.

Sie erstarrte. War es ihr wirklich wichtig, wie sie aussah, wenn sie Liam Murphy nach all der Zeit wieder gegenübertrat?

Sie eilte nach draußen und schaltete ihr Handy ein. Keine Anrufe oder Nachrichten von ihrer Tochter oder Liam. Sie beschloss, ihre Mutter anzurufen.

Elizabeth Ellington, die immerhin klug genug war, ihre Meinung über Caseys Verhalten für sich zu behalten, beharrte darauf, keine Ahnung von den Plänen ihrer Enkelin gehabt zu haben.

Missy versprach, sich wieder zu melden, sobald sie für sich und Casey eine Unterkunft gefunden hatte.

„Miss Dobbs?“

Missy drehte sich um und sah einen Mann in einem dunklen Anzug, der ein Schild mit ihrem Namen hochhielt.

Sie war in den letzten Jahren genug gereist, um zu wissen, was das bedeutete: Liam war also doch nicht gekommen, um sie abzuholen. Jetzt hatte sie zwar mehr Zeit, sich innerlich auf das Wiedersehen mit ihm einzustellen, aber es störte sie, dass er nicht Wort gehalten hatte. „Ja?“

„Mr. Murphy wurde geschäftlich in Destiny aufgehalten. Ich soll dafür sorgen, dass Sie sicher ankommen. Mein Wagen steht draußen.“

Missy fragte sich genervt, warum Liam ihre Tochter nicht mitgeschickt hatte, der Idiot! Was hatte er sich nur dabei gedacht? Dass sie ihre Tochter schnappen und den nächstbesten Flieger zurück nehmen würde? „Würden Sie mir einen Moment Zeit lassen bitte?“, fragte sie.

Nickend trat der Mann einen Schritt zur Seite. Missy suchte sich eine ruhige Ecke und versuchte, Casey anzurufen, landete jedoch nur auf der Mailbox. Sie hinterließ die Nachricht, dass sie gut gelandet und jetzt auf dem Weg nach Destiny war. Danach probierte sie die Nummer, die ihre Tochter bei ihrem letzten Anruf hinterlassen hatte – vermutlich Liams Handynummer –, aber auch da ging niemand ran.

Da ihr anscheinend nichts anderes übrig blieb, folgte sie dem Fahrer nach draußen zu einem luxuriösen Wagen. Schon bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und befanden sich auf der Autobahn. Missy betrachtete den endlos blauen Himmel, der sich über der flachen Landschaft wölbte. Der Kontrast zu dem geschäftigen London, wo Missy ihr ganzes Leben verbracht hatte, war riesig.

Sie wusste noch, wie verloren und klein sie sich bei ihrer Ankunft in Wyoming vor all den Jahren gefühlt hatte. Beinahe wäre sie nach den Weihnachtsferien zu Hause geblieben, hatte dann jedoch beschlossen, nach Destiny zurückzukehren.

Wegen eines Jungen, für den sie schon schwärmte, seitdem sie ihn zum ersten Mal in der Eingangshalle der Schule gesehen hatte.

Liam Murphy, ein Cowboy, der seine Wochenenden mit Rodeos verbrachte, hatte sie endlich vor dem letzten langsamen Song auf dem Ball vor Weihnachten zum Tanzen aufgefordert, und sie war prompt über seine Stiefel gestolpert …

Nein!

Missy gab sich innerlich einen Ruck. Jetzt bloß keine nostalgischen Erinnerungen. Es war schon schlimm genug, dass sie in den letzten zwei Wochen ständig an Liam hatte denken müssen.

Missy versuchte erneut, ihre Tochter zu erreichen, landete jedoch wieder auf der Mailbox. Als der Wagen durch die Straßen von Destiny fuhr, steigerte sich ihre Nervosität noch. Der Ort schien sich während ihrer Abwesenheit kaum verändert zu haben. Beim Überqueren der Brücke über den Fluss, welcher der Stadt ihren Namen gab, wurde Missy bewusst, dass die Abfahrt zur Ranch und dem Firmenhauptsitz von Liams Familie nicht mehr weit war.

Sie verkrampfte sich unwillkürlich. Liam war einer von sechs Brüdern, die fast alle in der Firma arbeiteten, und inzwischen waren sie bestimmt alle verheiratet. Hoffentlich erwartete sie dort kein Empfangskomitee. Und was war mit Liams Eltern? Wohnten sie auch noch dort?

Als der Wagen in der halbrunden Auffahrt des zweistöckigen Blockhauses bremste, stand jedoch nur ein Mensch auf der sich an der Vorderseite des Hauses erstreckenden Veranda.

Liam.

Missy erkannte ihn sofort. Sie konnte den Blick gar nicht von ihm losreißen, als sie mit ihrer Handtasche aus dem Wagen stieg. Ihre bislang halbwegs erfolgreich verdrängten Erinnerungen drohten sie plötzlich zu überwältigen.

Erinnerungen an ihre erste große Liebe, ihre wundervollen und neuen Gefühle damals … und an ihren fast körperlichen Schmerz, als alles vorbei gewesen war. Wie war es nur möglich, dass diese Emotionen nach all den Jahren immer noch so präsent waren, dass sie ihr die Tränen in die Augen trieben?

Blinzelnd bereute Missy, ihre Sonnenbrille nicht aufgesetzt zu haben. Dann gab sie sich einen Ruck und ging auf das Haus zu. Sie empfand plötzlich den überwältigenden Wunsch, Casey in die Arme zu nehmen.

„Wo ist meine Tochter?“, fragte sie, als sie am Fuß der Verandatreppe ankam. Ihre Stimme klang erschreckend heiser in ihren Ohren.

Liam trat einen Schritt vor. Das Online-Foto von ihm musste erst vor Kurzem gemacht worden sein, denn er sah kein bisschen älter aus. Er trug Jeans, hatte die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt und sah unglaublich attraktiv aus.

Missys Blick fiel auf seine Cowboystiefel. Die hatte er schon früher immer getragen.

Seine Augen blitzten bei ihrem Anblick auf, doch in der untergehenden Sonne war es schwierig, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, als er sich beim Fahrer bedankte, der Missys Koffer auf den Verandastufen abstellte. Missy riss den Blick von Liam los und bedankte sich ebenfalls bei dem Mann, als er an ihr vorbei zu seinem Wagen ging.

Kurz darauf waren sie und Liam allein. Missy drehte sich wieder zu ihm um. Abgesehen davon, dass er die Arme vor der Brust verschränkt hatte, stand er noch immer so da wie vorher. Seine abweisende Körperhaltung sprach Bände.

Na schön, hier ging es in erster Linie um Casey. „Ich habe dich gefragt …“

„Ist es wahr?“, platzte er heraus, als Missy Anstalten machte, die Verandastufen hochzugehen. Sie blieb wie angewurzelt stehen. „Ist Casey meine Tochter?“

Liam hatte eigentlich nicht so schroff klingen wollen. In seiner Fantasie hatten Missy und er sich nach ihrer Ankunft hingesetzt und sich vernünftig über alles unterhalten, aber er brauchte als Erstes Gewissheit. „Ist sie meine Tochter?“, wiederholte er etwas sanfter.

Er hielt die Luft an und wartete auf Missys Antwort. Seit seinen Rodeozeiten war er nicht mehr so angespannt gewesen. Obwohl … das stimmte nicht ganz. Als Casey ihn mit der Neuigkeit überfallen hatte, dass sie seine Tochter war, hatte er etwas empfunden, das weit über alles hinausging, was er bisher auf dem Rücken eines Pferdes erlebt hatte.

Dieses Gefühl kehrte jetzt mit voller Wucht zurück – dass ihm der Ritt seines Lebens bevorstand.

„Ja“, bestätigte Missy. „Sie ist deine Tochter.“

Liam ließ die Arme sinken. Konnte er Missy trauen? Er musste zugeben, dass die Daten stimmten, und seiner Mutter war bereits aufgefallen, dass er und Casey die gleichen Augen hatten, aber es fiel ihm immer noch schwer, die verrückte Geschichte zu glauben, die Casey ihm erzählt hatte.

Wie hatte das alles nur passieren können? Und vor allem, warum?

„Ich will sie sehen. Jetzt gleich, wenn du nichts dagegen hast“, fügte Missy scharf hinzu.

„Das geht nicht.“ Als Liam bewusst wurde, wie unhöflich er gerade wieder klingen musste, bemühte er sich um einen etwas freundlicheren Tonfall. „Casey ist mit ihrer Großmutter und meiner Familie beim Rodeo. Sie wollte das Finale und die Siegerehrung mit dem Feuerwerk nicht verpassen.“

„Hm, ja. Ich erinnere mich noch an die Rodeos von damals.“ Schief lächelnd stieg Missy die Verandastufen hoch. „Da kann man als Mutter natürlich schlecht konkurrieren.“

Liam fiel wieder ein, wie oft sie ihn früher zu Rodeos begleitet hatte. Sein Herz zog sich schmerzlich zusammen. „Meine Familie ging davon aus, dass wir vermutlich erst unter vier Augen über … na ja, alles reden wollen.“

„Wir haben eine ganze Menge zu besprechen, oder?“

Liam trat zur Seite, um Missy vorbeizulassen. Ein blumiger Duft mit einem Hauch Pfirsich stieg ihm in die Nase. Verdammt, sie nahm immer noch das gleiche Parfum! Er zeigte auf eine Sitzgruppe.

Missy ging darauf zu. Sie bewegte sich genauso anmutig wie als Teenager – jahrelanger Ballettunterricht, hatte sie ihm mal erklärt. Ihr lose aufgestecktes Haar war so honigblond wie früher. Ob es auch noch genauso lang war?

Als ob sie seine Gedanken erraten hatte, schob Missy sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und hob fast königlich das Kinn, bevor sie sich setzte. Oh ja, Missy strahlte immer noch jene britische Reserviertheit aus, die es ihr damals nicht leicht gemacht hatte, Freunde zu finden.

Schon am ersten Schultag seines Abschlussjahres war sie Liam aufgefallen, so wie allen anderen Jungs auch. Sie war so ganz anders gewesen als die anderen Mädchen. Einige seiner Freunde hatten sich zum Idioten gemacht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch je mehr sie sich bemüht hatten, desto abweisender war Missy geworden. Da Liam nie Probleme gehabt hatte, Mädchen für sich zu gewinnen, hatte ihn das gereizt.

Er hatte sie ein paar Monate beobachtet und dann beschlossen, ihre eiserne Zurückhaltung zu brechen. Dank einer Wette seiner Kumpels hatte er auf dem Ball vor Weihnachten seinen ganzen Mut zusammengenommen und sie zum Tanzen aufgefordert. Zu seiner Überraschung hatte sie Ja gesagt. Sie war über seine klobigen Stiefel gestolpert, als er sie in die Arme genommen hatte, doch sie hatte nur gelacht. In diesem Augenblick war es endgültig um ihn geschehen gewesen.

„Warum siehst du mich so an?“

Ihre Frage – dieselbe wie bei ihrer Tochter vorhin – riss Liam aus seinen Erinnerungen. Er setzte sich ebenfalls. „Tut mir leid. Ich glaube, ich vergleiche dich gerade mit den Fotos, die Casey mir von dir gezeigt hat.“

Missy verdrehte die Augen. „Sie und ihr Handy. Sie muss mindestens fünfhundert Fotos da drauf haben.“

„Sie hat jedenfalls eine Menge von euch beiden.“

Lächelnd erwiderte Missy seinen Blick. „Du siehst deinem Foto übrigens auch sehr ähnlich.“

Liam brauchte einen Moment, bis er darauf kam, welches Foto sie meinte. Vermutlich das auf der Firmenwebsite, die erst diesen Sommer aktualisiert worden war. Irgendwie schmeichelte ihm die Vorstellung, dass sie ihn gegoogelt hatte. „Warst du auf unserer Website?“

„Ja. Du siehst auf dem Foto sehr businesslike aus.“ Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Hugo Boss steht dir.“

„Ich mag die Marke.“

Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während sie einander im Licht der untergehenden Sonne betrachteten. Liam fragte sich, ob sie versuchte, den Cowboy von damals in ihm wiederzuerkennen, wild, furchtlos und so ichbezogen, dass er außer seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen nichts wahrgenommen hatte.

Missy sah noch genauso aus wie früher. Älter natürlich, aber immer noch ätherisch schön. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war nicht zu übersehen.

Ihrer gemeinsamen Tochter.

Liam hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er stand auf und ging zu der antiken Anrichte, auf der dank seiner Mutter Krüge mit Tee und Wasser sowie Gläser bereitstanden. „Tut mir leid, dass ich dir noch nichts angeboten habe. Möchtest du etwas trinken?“

Missy schnaubte. „Hast du nichts Stärkeres? Ich könnte jetzt etwas Alkohol gebrauchen.“

Er warf ihr einen Blick über eine Schulter zu, bevor er die Tür der Anrichte öffnete und eine Flasche Wein und eine mit Whisky herausnahm.

Missy zeigte auf den Wein, und er schenkte ihr ein Glas ein und Whisky für sich selbst.

„Casey hat mir schon erzählt, dass sie erst vor ein paar Wochen herausgefunden hat, dass ich ihr …“ Liam verstummte und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er reichte Missy ihren Wein. „Sie war so aufgeregt, dass ich ihr nicht recht folgen konnte. Habe ich sie richtig verstanden, dass du ihr die Neuigkeit noch nicht selbst mitgeteilt hast?“

Missy legte ihr Handy auf den Tisch und senkte den Blick zu ihrem Glas. „Nein, ich hatte keine Chance mehr dazu, bevor ich beruflich nach Los Angeles musste. Ich hatte ja selbst kaum genug Zeit, alles zu verdauen. Nach all den Jahren … ich frage mich inzwischen, warum ich das Testergebnis nie hinterfragt habe …“

Das Klingeln von Liams Handy in seiner Jeanstasche unterbrach sie. Verdammt, jetzt war keine Zeit für geschäftliche Telefonate! Er stellte das Handy aus. „Casey hat erwähnt, dass sie einen Streit zwischen dir und ihrer Großmutter mit angehört hat, aber wie schon gesagt, sie war ganz aufgelöst. Ich habe ihr versprochen, dass wir sämtliche Fakten klären werden, sobald du hier bist. Das schien sie wieder zu beruhigen.“

Missy trank einen Schluck Wein. „Dann hast du sie deiner Familie also schon vorgestellt? Einfach so?“

„Ich wollte sie nicht allein auf dem Gelände herumlaufen lassen. Ich habe meiner Familie erzählt, dass sie die Tochter einer alten Highschoolfreundin ist.“ Liam trank einen Schluck Whisky, dankbar für die Wärme, die durch seine Adern strömte. „Als ich deinen Namen erwähnte, haben sie sich sofort an dich erinnert. Meine Mutter hat eins und eins zusammengezählt, nachdem ich ihr sagte, dass du auf dem Weg hierher bist.“

„Tja, und jetzt bin ich hier.“

Liam zögerte einen Moment. „Nach der jahrelangen Funkstille zwischen uns hätte ich ehrlich gesagt nie mit … mit so etwas gerechnet.“

„Kann ich gut nachvollziehen.“ Seufzend senkte Missy den Blick. „Mein Vater ist am 1. August plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben.“

„Herzliches Beileid“, antwortete Liam mechanisch. Er war überrascht, wie emotionslos Missy klang. Das Ganze war schließlich erst drei Wochen her. „War er krank?“

„Danke. Und nein, nicht wirklich, aber es war sein dritter Herzinfarkt. Nicht ganz unerwartet, da er nicht auf seine Zigarren und seinen Brandy verzichten wollte.“ Sie holte tief Luft. „Ich habe nach der Beerdigung seinen Schreibtisch aufgeräumt und stieß dabei auf eine Mappe mit dem Ergebnis des DNA-Tests, den wir nach Caseys Geburt haben machen lassen.“

„Der 12. April, eine Woche nach deinem Geburtstag.“

Überrascht blickte Missy hoch. „Stimmt.“

„Casey hat mir erzählt, wann sie geboren wurde. Ungefähr neun Monate, nachdem wir zum letzten Mal … nachdem du nach Hause zurückgekehrt bist, oder?“

„Ja.“

Liam schwieg wieder ein paar Sekunden. „Missy, warum hast du mir nie etwas erzählt?“ Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf die Knie. „Ich weiß, dass es mit uns nicht gut ausging, aber du hättest mir von deiner Schwangerschaft erzählen sollen.“

„Das wollte ich ja auch, aber ich … ich wusste nicht, ob ich das Recht dazu habe.“

„Das Recht?“, fragte er irritiert. „Wie meinst du das?“

„Ach, Liam, ich war so schrecklich durcheinander, als ich Destiny damals verließ.“ Missy stellte ihr Glas auf den Tisch, stand auf und ging zum Geländer. Mit dem Rücken zu Liam gewandt fuhr sie fort: „Du und ich hatten uns schrecklich gestritten. All meine Pläne und Träume waren geplatzt. Ich war wütend und einsam und …“

„Und?“, hakte er nach, als sie nicht weitersprach.

Ihre Schultern hoben und senkten sich, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte, die Arme fest um die Taille geschlungen. „Und ich habe eine Nacht mit meinem früheren Freund verbracht. Dem Typen, mit dem ich vor meiner Amerikareise zusammen war. Vor dir.“

Der Kentucky-Whisky brannte plötzlich in Liams Magen. „Stanley“, sagte er.

„Stanford. Er hieß Stanford Dobbs.“

Liam erinnerte sich noch vage, dass sie ihm damals von einem Studenten erzählt hatte, mit dem sie in London zusammen gewesen war. Als er denselben Namen hörte, den auch Missy und Casey trugen, trank er einen weiteren stärkenden Schluck Whisky. „Und das ist gleich nach deiner Rückkehr passiert?“

Ihr kurzes Nicken versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, so verrückt das auch war.

„In der Woche danach“, bestätigte sie leise. „Es … es war nur das eine Mal. Danach wusste ich, dass ich mich irgendwie zusammenreißen und mein Leben wieder auf die Reihe kriegen muss. Und über dich hinwegkommen.“

Liams Hand verkrampfte sich um sein Whiskyglas. Sie so ruhig darüber reden zu hören, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte, und das auch noch kurz, nachdem sie beide … nachdem sie nach England zurückgekehrt war, verletzte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und prostete ihr ironisch zu. „Tja, das war ja schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe erst kurz vor Halloween gemerkt, dass ich schwanger war.“

Allmählich fügten sich die Puzzleteilchen zu einem Bild zusammen. „Und du wusstest nicht, wer der Vater war.“

„Nein.“ Missy erwiderte wieder Liams Blick. „Ich habe einen ganzen Monat gebraucht, um Stanford die Wahrheit zu sagen … und meinen Eltern. Sie wollten natürlich, dass wir sofort heiraten, aber ich habe ihnen gesagt, dass ich mir nicht sicher bin, wer der Vater ist …“

„Das muss den guten Stan ganz schön fertiggemacht haben.“

Wieder hob sie trotzig das Kinn. „Stanford wollte mich trotzdem heiraten. Er hat gesagt, es sei ihm egal, ob das Kind von ihm sei oder nicht.“

Liam hätte sich jetzt eigentlich schäbig fühlen müssen, aber er war innerlich wie betäubt. „Das war ja sehr edelmütig von ihm.“

„Wir mussten mit dem DNA-Test bis nach Caseys Geburt warten, um mit Gewissheit sagen zu können, wer der …“

Liam sprang auf. „Du wusstest doch, dass ich vielleicht … Warum hast du mir nicht wenigstens mitgeteilt, dass ich eventuell der Vater bin?“

„Ach Liam, du warst am anderen Ende der Welt und hast deinen Traum verwirklicht, Rodeo-Reiter zu werden. Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, hast du bei deinem ersten Finale den zweiten Platz gemacht!“

Das wusste sie?

Sie schien ihm anzumerken, wie sehr ihn diese Nachricht schockierte. „Ja, ich wusste Bescheid, dank Suzy McIntyre. Das Mädchen, bei dessen Familie ich hier gewohnt habe, weißt du noch? Sie hat mir alles über dich geschrieben. Ich bekam ihren Brief gleich nach Silvester.“

„Warte, du hast einen Brief bekommen?“ Fassungslos ließ Liam sich zurück auf seinen Sessel fallen. „Von Suzy?“

„Ja. Ich war selbst total überrascht, ihn in meiner Post zu finden.“

„Und das war der einzige Brief, den du bekommen hast?“

„Glaub mir, der eine hat mir schon gereicht“, erwiderte Missy sarkastisch. Sie begann unruhig auf und ab zugehen. „Sie hat mir nicht nur ein Zeitungsfoto von dir als Rodeo-Star geschickt, sondern mir auch geschrieben, dass du und deine Frau hinterher nach Destiny ziehen wollen.“

Liam schloss gequält die Augen. Er hatte gar nicht mehr an seine damalige Dummheit gedacht. „Das hat sie dir geschrieben?“

„Ja! Sechs Monate, nachdem ich fort war!“

Missys offensichtlicher Schmerz überraschte ihn. „Die Ehe hat nicht lange gehalten, sechs oder sieben Monate. Schon im Frühjahr war alles vorbei.“

„Wie dem auch sei, ich wollte die Frischvermählten nicht stören, wenn es nicht unbedingt sein muss, also habe ich bis zur Geburt meiner Tochter gewartet.“ Missy kehrte zur Sitzgruppe zurück und nahm ihr Glas. „Als der Test ergab, dass Stanford der Vater ist … haben wir einen Monat später geheiratet.“

Die Sonne war inzwischen untergegangen. Grillenzirpen erfüllte die Luft. In der Ferne war ein leises Donnern zu hören, vermutlich vom Feuerwerk. Es war so dunkel auf der Veranda, dass Liam Missys Gesicht nicht deutlich erkennen konnte.

Er erhob sich wieder und zündete die Kerzen auf der Kommode an. Als er zwei davon zum Tisch brachte, fiel ihm auf, dass Missys Hand mit dem Weinglas zitterte.

„Ich war neunzehn Jahre alt, Mutter, Ehefrau … Ich habe versucht, die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen … und Standfords.“ Missy trank ihr Glas leer. „Es war nicht einfach.“

Das konnte Liam sich vorstellen. Mit neunzehn hatte er sich nur auf das Reiten und die Arbeit für seinen Vater konzentriert. Sein Pferd war für ihn das Wichtigste gewesen, wichtiger als seine sogenannte Ehe. Kein Wunder, dass sie schon bald gescheitert war.

Wie lange waren Missy und Standford verheiratet gewesen? Waren sie es noch?

Liams Blick wanderte zu Missys linker Hand. Kein Ring. „Casey hat ihren Vater heute gar nicht erwähnt.“

„Er starb bei einem Autounfall, als sie fünf war. Davor waren wir … er war beruflich viel unterwegs. Sie erinnert sich kaum noch an ihn.“

Dann hatte Missy also nicht wieder geheiratet? Liam verdrängte seine Neugier. „Du wolltest mir gerade vom Testergebnis erzählen. Ich nehme an, du meinst das, das Stanford als Vater ausweist?“

„Ja, aber was ich in einer dunklen Ecke des Schreibtisches fand, waren zwei Ergebnisse“, erklärte Missy und griff nach ihrer Ledertasche. Sie hielt sie ins Kerzenlicht und wühlte darin herum, bis sie ein paar Papiere gefunden hatte. Sie reichte sie Liam. „Das, von dem mein Vater mir damals erzählt hat, und das echte Ergebnis. Das schließt Standford als Vater aus. Und das lässt nur einen Schluss zu – dass du Caseys Vater bist.“

Liam griff nach den Unterlagen, ohne den Blick von Missy zu lösen. „Ich vermute, das war der Anlass für den Streit mit deiner Mutter?“

„Allerdings. Sie hat zugegeben, von allem gewusst zu haben, als ich sie konfrontiert habe.“ Missy griff nach ihrem Glas, sah, dass es leer war, und stellte es wieder hin. „Wie schon gesagt, ich musste am nächsten Morgen nach Los Angeles fliegen und hatte keine Chance mehr, mit Casey zu reden. Ich habe sie auch nicht in letzter Sekunde damit überfallen und dann einfach abreisen wollen. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Offensichtlich hat sie mich und meine Mutter gehört und einfach beschlossen, die Angelegenheit selbst in die Hände zu nehmen.“

Liam nickte. Er hatte wieder einen Kloß im Hals und ertappte sich dabei, dass er Missy glaubte, so verrückt das auch war. Er war zwar immer noch wütend, aber vor allem auf ihre Eltern, weil sie ihnen so etwas angetan hatten – ihnen allen. Unfassbar, der eigenen Tochter den wahren Vater ihres Kindes zu verheimlichen, weil …

Ja, warum eigentlich? Es fiel ihm schwer, das nachzuvollziehen. Hatten sie vielleicht etwas gegen Missys Pläne gehabt, seinetwegen nach Amerika zu ziehen, um dort zu studieren? Pläne, die er mit Füßen getreten hatte, als er ihr mitgeteilt hatte, Rodeo-Reiter werden zu wollen, anstatt wie geplant nach Wyoming an die Universität zu gehen.

Und was machen wir jetzt?

„Ich wollte erst nach Destiny fliegen, um dich zu informieren und anschließend Casey alles erzählen, sobald sie nach Los Angeles nachkommt“, fuhr Missy fort. „Aber sie hat meine Pläne durchkreuzt.“

„Wer passt eigentlich auf Casey auf, wenn du verreist bist? Deine Mutter?“

Missy nickte.

„Ich nehme an, sie hatte keine Ahnung von Casey Planänderung.“ Liam stellte sein leeres Glas weg. „Weiß sie, wo ihre Enkelin jetzt steckt?“

„Natürlich. Wir haben vorhin telefoniert. Und du hast recht, sie hatte keine Ahnung. Casey hat ihr erzählt, sie sei bei Freunden.“

„In Anbetracht der Umstände wirkst du erstaunlich gefasst.“

„Das täuscht.“

„Ach, wirklich?“ Ihre britische reservierte Art nervte ihn allmählich. „Deine Tochter bucht einfach ihren Flug um, fliegt allein in ein fremdes Land, fährt per Anhalter vom Flughafen nach Destiny, und du …“

Missy riss die schönen blauen Augen auf. „Per Anhalter?“

„Ja. Es war reine Glückssache, dass ich ihr auf dem Rodeo-Gelände über den Weg gelaufen bin. Sie hätte in große Schwierigkeiten kommen können. Ich konnte sie gerade noch rechtzeitig aus einer … heiklen Situation retten.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, aber ich werde noch ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Gott sei Dank werden wir jede Menge Zeit dafür haben. Wir fliegen nämlich nächste Woche nach Hawaii, um dort Urlaub zu machen, bevor wir nach London zurückkehren.“

In Liams Kopf überstürzten sich die Gedanken. „Moment mal, du willst gleich wieder weiterfliegen?“

„Ich …“

„Du glaubst doch wohl nicht, dass du einfach hier auftauchen und mich mit der Nachricht überfallen kannst, dass ich Vater bin, und dann drei Tage später wieder verschwindest!“ Liams Wut kehrte mit voller Wucht zurück. Er sprang auf.

„Wir haben Pläne.“

„Pläne kann man ändern.“

Missy erhob sich ebenfalls, um ihm zu widersprechen, doch in diesem Augenblick fuhr eine Kolonne Autos mit Liams Familie vor.

Casey war die Erste, die ausstieg. Beim Anblick ihrer Mutter rannte sie sofort auf sie zu. „Mom!“

Missys Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Die beiden umarmten sich stürmisch. Als sie einander schließlich losließen, trat Missy einen Schritt zurück und musterte ihre Tochter besorgt. Ihr Blick fiel auf die neuen Stiefel, die Caseys ganzer Stolz waren.

Die beiden zu beobachten, versetzte Liam einen schmerzhaften Stich. Das Mädchen hier war seine Tochter, und trotzdem fühlte er sich wie ein Außenseiter.

Er räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der beiden Frauen zu erregen. „Missy, ich glaube, du kannst dich noch an meine Eltern erinnern, Alistair und Elise Murphy.“ Je eher sie die Begrüßung hinter sich brachten, desto schneller konnten sie klären, wie lange Missy und Casey bleiben würden. „Mom und Dad, das ist Caseys Mutter, Melissa Dobbs.“

Missy schüttelte seinen Eltern die Hände. „Ja, natürlich erinnere ich mich an Sie, Mr. und Mrs. Murphy. Schön, Sie wiederzusehen. Und bitte nennen Sie mich Missy.“

„Wir freuen uns auch sehr, dich wiederzusehen“, sagte Liams Mutter, bevor sie ihren Sohn verschwörerisch zuzwinkerte. Er konnte nur hoffen, dass das niemand außer ihm gesehen hatte. „Sehr sogar.“

„Und das sind zwei meiner drei Brüder, die auch hier leben.“ Liam zeigte auf die beiden Männer, die in der Nähe standen. „Nolan und Bryant. Und das da sind Nolans Söhne, Luke und Logan.“ Er drehte sich zu seinen Eltern um. „Ich nehme an, Adam ist schon nach Hause gefahren?“

„Ja, A. J. war etwas unruhig, sonst wäre er auch mitgekommen.“

„Also, es ist toll, euch alle wiederzusehen. Danke, dass ihr auf meine Tochter aufgepasst habt. Ich weiß das zu schätzen.“

„Wir haben sie gern mitgenommen.“ Elise lächelte Casey freundlich zu. „Und wir freuen uns schon darauf, sie – und dich – besser kennenzulernen.“

Missy warf ihrer Tochter und Liam einen verunsicherten Blick zu. „Also, wir sind nur ein paar Tage in der Stadt. Am Wochenende wollen Casey und ich eigentlich in Urlaub fahren …“

„Mom, das ist doch wohl nicht dein Ernst! Wir können jetzt unmöglich verreisen!“ Casey packte ihre Mutter an einem Arm. „Ich bin doch gerade erst angekommen, und du auch! Es gibt hier noch so viel zu entdecken und zu tun!“

„Casey, wir haben ein Haus gebucht …“

„Na und? Die Umstände haben sich geändert!“

Liam konnte ihr nur zustimmen, doch Missy schien die Begeisterung ihrer Tochter nicht zu teilen.

„Lasst uns ins Haus gehen, damit die drei das in Ruhe klären können“, schlug Alistair vor und ging mit seiner Frau zur Haustür. Ihre Söhne und Enkel folgten und ließen Missy, Liam und Casey allein zurück.

„Es gibt noch einen Grund, warum ihr beide bleiben müsst“, sagte Liam. „Wir müssen einen weiteren DNA-Test machen lassen.“

Die beiden Frauen drehten sich überrascht zu ihm um.

Missys blaue Augen blitzten wütend auf, doch Caseys verletzter Blick machte Liam noch mehr zu schaffen. Verdammt, was blieb ihm denn anderes übrig?

Er glaubte Missys Geschichte von dem gefälschten Testergebnis, so verrückt sie auch klang. Wer weiß, ob diese Lüge jemals aufgeflogen wäre, wenn ihr Vater nicht plötzlich gestorben wäre? Aber warum auch immer das Universum beschlossen hatte, ihn und Missy wieder zusammenzubringen, Liam wollte, dass die beiden Frauen blieben.

„Hört mal, das Dokument da sagt uns nur, dass dein Vater nicht der Erzeuger war“, erklärte Liam und zeigte auf die Papiere auf dem Tisch. „Wir sollten noch einen Test machen lassen, um hundertprozentig sicher zu sein.“

3. KAPITEL

Casey schien drauf und dran zu sein, ihrem richtigen Vater an den Kopf zu werfen, wohin er sich seinen Vorschlag stecken konnte.

Missy konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Sie war immer noch wütend wegen seiner kaum verhüllten Unterstellung, keine verantwortungsbewusste Mutter zu sein. Am liebsten würde sie ihn selbst in die Wüste schicken. „Ich glaube, er hat recht“, sagte sie jedoch stattdessen, bevor Casey etwas erwidern konnte. Sie nahm Caseys linke Hand, die zu ihrem Schreck eiskalt war. „Wir sollten wirklich einen neuen Test machen lassen. Nicht nur für Liam, Schatz, sondern auch für uns.“

Casey wirkte plötzlich bedrückt. „Warum hat Grandpa dir das nur angetan?“, fragte sie leise. „Und mir und Dad?“ Sie biss sich auf die Unterlippe und warf Liam einen entschuldigenden Blick zu. „Ich meine … du weißt schon, meinen anderen …“

„Ist schon okay“, versicherte Liam ihr rasch. „Wir sind gerade alle etwas durcheinander.“

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Schmerz ihrer Tochter machte Missy sehr zu schaffen. Warum fiel ihr erst jetzt auf, dass Casey und Liam die gleichen Augen hatten – die gleiche Form, die gleiche Farbe?

Weil ich die Lüge geglaubt habe, die mir damals aufgetischt wurde. Das verängstigte Mädchen in mir hat sich an dieses Testergebnis geklammert, voller rechtschaffener Empörung, dass dieser Mann es nicht verdient, der Vater meiner süßen kleinen Tochter zu sein.

Missy verdrängte diese plötzliche Erkenntnis. Sie war geradezu überfordert, um mit der Wahrheit umzugehen …

„Woher kennt ihr beide euch überhaupt?“, fragte Casey unvermittelt. „London und Destiny sind schließlich ganz schön weit voneinander entfernt … Moment mal! Grandma hat mal zu dir gesagt, dass es ein Fehler gewesen war, dich nach Amerika gehen zu lassen. Du warst gerade erst neunzehn geworden, als du mich bekommen hast … oh nein, jetzt sag nicht, ich bin das Ergebnis eines One-Night-Stands bei einem Urlaubstrip!“

„Nein!“, widersprachen Liam und Missy gleichzeitig.

Liam sah sie fassungslos an. „Hast du ihr nie von deinem Aufenthalt hier erzählt?“, fragte er. Seine breiten Schultern verdeckten das Verandalicht hinter ihm und hüllten sein Gesicht in dunkle Schatten, doch seine Missbilligung war deutlich zu spüren. „Oder von uns?“

Missy schüttelte den Kopf. Sein verletzter Tonfall überraschte sie. Der Mann hatte immerhin kein Jahr nach ihrer Abreise geheiratet.

„Wart ihr damals ein Paar?“, sagte Casey, deren Lebensgeister schlagartig zurückgekehrt zu sein schienen. „Du hast hier gelebt, Mom? Wie lange?“

„Ein Jahr“, antwortete Liam.

„Eher elf Monate“, korrigierte Missy ihn. „Als Austauschschülerin. Und ja, Liam und ich haben damals viel zusammen unternommen.“

„Ich würde mal sagen, ihr habt mehr getan als das, Mom. Viel mehr.“

Liam prustete los, tat jedoch so, als würde er sich räuspern, als Missy ihn wütend anfunkelte. Er legte den Kopf schief und sah sie herausfordernd an.

Missy seufzte erschöpft. Sie wollte jetzt nur noch in die Badewanne und ins Bett, aber zuerst musste sie mit ihrer Tochter reden. Allein. „Heute war ein sehr langer Tag, für uns alle. Ich brauche jetzt erst mal ein Bad, und dann müssen wir uns unterhalten. Übrigens auch über deine heimliche Reise nach Amerika.“

Ihre Tochter richtete den Blick Hilfe suchend auf Liam.

„Unter vier Augen“, fügte Missy hinzu und sah Liam trotzig an, halb und halb damit rechnend, dass er sich ihr widersetzen würde. „Falls du nichts dagegen hast!“

Er erwiderte ihren Blick ein paar Sekunden lang und nickte dann. „Wenn du das für das Beste hältst.“

Offensichtlich war seine Wut wegen ihres geplanten Urlaubs verraucht – vermutlich, weil Casey sich so dagegen sträubte. Insgesamt waren die Dinge besser gelaufen als erwartet. In Anbetracht der emotionalen Achterbahnfahrt, der Missy seit ihrer Entdeckung im Arbeitszimmer ihres Vaters ausgesetzt war, fand sie, dass sie die Situation gut gemeistert hatte.

„Liam, würdest du uns bitte ein Taxi rufen, damit wir zu einem Hotel fahren können?“

Zu ihrer Bestürzung schüttelte er den Kopf. „Ausgeschlossen, sämtliche Hotels sind wegen des Rodeos belegt. Es gibt weit und breit kein leeres Zimmer, noch nicht mal in Cheyenne.“

„Aber irgendwo müssen wir doch übernachten. Vor Montag können wir bestimmt keinen Test machen lassen.“ Missy richtete den Blick auf ihr Handy, das noch auf dem Tisch lag. „Ich werde mal recherchieren und …“

„Warum bleiben wir nicht hier? Wer wohnt zum Beispiel da drüben?“ Casey zeigte auf einige Blockhäuser in der Nähe.

„Cassalyn Dobbs!“ Peinlich berührt drehte Missy sich zu ihrer Tochter um. „Sei nicht so dreist.“

„Sie ist nicht dreist, nur neugierig.“ Liam schüttelte grinsend den Kopf. „Sorry, das sind nur Musterhäuser“, erklärte er an Casey gewandt. „Da drin gibt es zwar Strom, aber kein fließend Wasser, und da deine Mutter ein Bad möchte …“

„Wie dem auch sei, wir können auf keinen Fall hierbleiben“, fiel Missy ihm ins Wort.

„Natürlich könnt ihr das“, schaltete Elise Murphy sich von der Haustür aus ein. „Ihr seid hier mehr als willkommen.“

Hier übernachten? Bei den Murphys? Niemals!

Missy schüttelte den Kopf. „Wir wollen uns wirklich nicht aufdrängen …“

„Keine Sorge.“ Elise eilte auf sie zu. „Wir hätten euch sehr gern bei uns. Ihr könnt im Bootshaus übernachten.“

„Im Bootshaus?“, fragte Casey neugierig. „Was ist das denn?“

„Das steht am See hinter dem Haus. Über den Booten und Kanus befindet sich eine Wohnung. Sie war mal eine Art Lager, aber vor ein paar Jahren hatte ich die Idee …“

Als Missy Liams Blick begegnete, trat Elises Stimme in den Hintergrund. Das Bootshaus … ein verstecktes Refugium, wohin sie und Liam sich oft zurückgezogen hatten, wenn es ihnen im Haus der Murphys zu turbulent geworden war. Sie hatten es eines Tages nach einem regnerischen Kanuausflug entdeckt, als sie bis auf die Haut durchnässt gewesen waren und Schutz gesucht hatten.

Die Räume über den Booten waren mit alten Möbeln, Spielzeug, Kisten und Kartons voller Bücher, Kleidung und Weihnachtsschmuck vollgestopft gewesen, aber immerhin war es warm und trocken gewesen. Danach waren sie öfter dorthin zurückgekehrt. Es war einfach wundervoll gewesen, einfach nur zu zweit zu sein – weit weg von allen anderen.

Natürlich hatte die Privatsphäre zu Küssen geführt … und zu viel mehr. Dort hatten sie sich zum ersten Mal geliebt, in einer lauen mondbeschienenen Sommernacht. Sie hatten nicht genau gewusst, was sie da taten, waren sich ihrer Gefühle und Bedürfnisse jedoch sicher gewesen.

Bedürfnisse, die immer stärker geworden waren …

„Missy?“ Liams warme Hand auf ihrem linken Arm riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie ignorierte ihren beschleunigten Herzschlag und machte sich von Liam los. Gott sei Dank erzählte Elise immer noch von der Umgestaltung der Wohnung und schien nichts gemerkt zu haben. Casey hörte ihr fasziniert zu.

Nur Liam wusste offensichtlich, wie es in ihr aussah. Umso besser, dann würde er wenigsten nachvollziehen können, warum sie das großzügige Angebot seiner Mutter ablehnen musste.

„Es ist nicht fair, einfach so unangemeldet bei euch reinzuschneien. Wir wollen euch keine Unannehmlichkeiten bereiten.“

„Aber das macht ihr doch nicht. Wir hatten eigentlich Freunde von Alistair erwartet, aber sie haben in letzter Sekunde abgesagt. Die Betten im Bootshaus sind frisch bezogen und die Küchenvorräte aufgestockt.“

„Klingt toll.“ Casey sah ihre Mutter flehentlich an. „Bitte, Mom!“

Es war schon spät, und Missy war total erschöpft. Im Grunde machte eine Übernachtung im Bootshaus auch keinen Unterschied mehr. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, wir wissen eure Gastfreundschaft zu schätzen.“

Elise gab ihrem Sohn einen Schlüssel. „Kannst du die beiden hinbringen?“

Casey eilte zu Missys zwei kleinen Koffern und ihrer eigenen Reisetasche auf den Verandastufen.

„Hier, nimm du den Schlüssel und lass mich das tragen.“ Liam nahm Casey das Gepäck ab und führte sie und ihre Mutter um das Haus herum zum See, der vom Fluss gespeist wurde. Je näher sie zum Wasser kamen, desto dichter wurden die Bäume. Als das Bootshaus mit seinem vertrauten Holzsteg vor Missy auftauchte, krampfte ihr Magen sich schmerzlich zusammen.

„Wo wohnst du eigentlich?“, fragte Casey ihren Vater.

Er zeigte auf ein zweistöckiges Blockhaus zwischen den Bäumen. „Dort drüben.“

„Wow, ganz schön groß für einen allein. Ich nehme an, du bist nicht verheiratet?“

„Casey!“

„Ist schon okay.“ Liam sah Missy beruhigend an, bevor er den Blick wieder auf ihre Tochter richtete. „Richtig geraten, ich bin nicht verheiratet. Ich war es allerdings – zwei Mal sogar –, aber es hat nicht funktioniert.“

Zwei Mal? Liam hatte also nach seiner ersten Ehe noch mal geheiratet? Das war zwar nichts Ungewöhnliches, überraschte Missy aber trotzdem.

„Habe ich irgendwelche jüngeren Geschwister?“

„Nein, leider nur einen Haufen Cousins und Cousinen.“

„Schade. Ich wollte immer eine kleine Schwester.“ Casey zuckte die Achseln. „Ich bin Mom damit jahrelang auf die Nerven gegangen. Natürlich ohne jede Chance auf Erfolg; sie hatte so gut wie nie einen Mann, nachdem mein Vater gestorben war.“

Missy keuchte entsetzt auf. Die Direktheit ihrer Tochter war ihr schrecklich peinlich. „Cassalyn Elizabeth …“

„Oha, es ist kein gutes Zeichen, wenn sie mich bei meinem vollen Vornamen nennt.“ Casey war inzwischen beim Bootshaus angekommen. „Deine Mom hat gesagt, es gebe eine Außentreppe zur Wohnung. Ist das da um die Ecke?“

„Ja. Die Außenbeleuchtung müsste angehen, wenn du oben an…“ Liam verstummte, da Casey schon verschwunden war. Er und Missy hörten ihre Schritte von der Treppe widerhallen. „Geht sie mir plötzlich aus dem Weg?“<...

Autor

Christyne Butler
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Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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