Bianca Extra Band 101

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

NEUANFANG IN STARLIGHT von MICHELLE MAJOR
Nur die Zukunft zählt, schwört sich die junge Witwe Brynn. Doch die Vergangenheit holt sie viel zu schnell ein. In Gestalt des attraktiven Nick Dunlop! Damals war sie nicht gut genug für ihn, und schließlich heiratete sie einen anderen – warum flirtetNick jetzt heiß mit ihr?

FAMILIENZAUBER – DADDY INKLUSIVE von TERESA SOUTHWICK
Die Zwillinge ihrer verstorbenen Schwester bedeuten Annie alles! Doch dann steht eines Tages ein Fremder mit strahlend blauen Augen vor ihrer Tür und behauptet, er sei der Daddy der Kinder. Will Dr. Mason Blackburne ihr etwa ihre Goldschätze nehmen?

SCHNEEFLOCKENKÜSSE IN SUTTER CREEK von LAUREL GREER
Eingeschneit mit seiner Ex – Ryan weiß, wie riskant das ist. Es prickelt heiß zwischen ihm und Stella, und in einer zärtlichen Nacht schenkt er ihr seine ganze Herzenswärme. Dabei wird das Großstadt-Girl doch Sutter Creek verlassen, noch bevor der Schnee geschmolzen ist …

WENN DIE GROSSE LIEBE SIEGT von JOANNA SIMS
Ein neues Leben erhofft sich Single-Mom Rebecca, als sie von ihrer Tante ein kleines Anwesen erbt. Mitsamt einem Mieter: Shane Brand wohnt in dem Garagenhäuschen. Er ist sexy, er hilft Rebecca, wo er kann – aber ist sein erster Kuss wirklich der Auftakt zu einer neuen Liebe?


  • Erscheinungstag 21.09.2021
  • Bandnummer 101
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500418
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Major, Teresa Southwick, Laurel Greer, Joanna Sims

BIANCA EXTRA BAND 101

MICHELLE MAJOR

Neuanfang in Starlight

Nick bereut, dass er damals auf seine spießigen Eltern gehört und sich von Brynn getrennt hat! Jetzt könnte es für sie beide einen Neuanfang geben – wenn ihm die hübsche junge Witwe verzeiht …

TERESA SOUTHWICK

Familienzauber – Daddy inklusive

Zuerst ist Annie für Mason die Frau, die sich um seine kleinen Zwillinge kümmert. Doch unausweichlich sieht er sie bald anders: als die Frau, die er begehrt. Wozu es nicht hätte kommen dürfen …

LAUREL GREER

Schneeflockenküsse in Sutter Creek

Vor einem Skandal flieht Stella in ihr winterliches Heimatstädtchen – und sieht prompt Ryan wieder! Noch immer knistert es heiß zwischen ihnen. Aber kann Stella dem Herzensbrecher von einst trauen?

JOANNA SIMS

Wenn die große Liebe siegt

Kann er seine Dämonen besiegen, die ihn seit einem Auslandseinsatz quälen? Nur dann wäre Shane frei für eine Beziehung mit der wunderschönen Rebecca, die fest an das Gute im Menschen glaubt …

1. KAPITEL

Brynn Hale blickte auf ihre Armbanduhr. Sie war zu spät dran für ihr Date, eine Verabredung zum Mittagessen. Dummerweise zeigte ihr Smartphone immer noch an, dass sie hier keinen Empfang hatte.

Erneut drehte sie den Zündschlüssel um – ohne Erfolg. Nur ein mehrfaches dumpfes Klicken war zu hören.

Sie fluchte leise und hatte sofort ein schlechtes Gewissen: Schließlich hatte ihre Mutter ihr schon sehr früh im Leben erklärt, dass Fluchen alles andere als damenhaft war. Und obwohl sie es ihrer Mom in vielerlei Hinsicht nie hatte recht machen können, hatte sie wenigstens immer auf ihre Sprache geachtet. Normalerweise jedenfalls.

Aber das hier war definitiv eine Notsituation.

Plötzlich hörte sie aus der Ferne Motorengeräusche. Also fuhr endlich doch ein anderes Auto diesen einsamen Highway mitten in den Bergen entlang, auf der ihr alter Wagen liegen geblieben war. Sie hatte ihn auf dem Seitenstreifen geparkt – kurz vor der Stelle, an der die Straße bei Devil’s Landing eine scharfe Kurve machte. Dahinter lauerte der Abgrund. Brynn stieg aus und spürte die kühle Bergluft in ihrem Gesicht. Von hier aus waren es bloß zwanzig Minuten Autofahrt bis zur Kleinstadt Starlight im Bundesstaat Washington, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte: achtundzwanzig Jahre, um genau zu sein.

Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, hier hängen zu bleiben. Überhaupt hatte ihr jetziges Leben ziemlich wenig mit ihren eigentlichen Zukunftsträumen zu tun.

Trotzdem hatte sie das Beste aus allem gemacht, selbst als ein schrecklicher Schicksalsschlag sie bis ins Innerste erschüttert hatte. Genau deswegen war sie heute, an diesem kalten, feuchten Dezembertag, hierhergekommen.

Vorsichtig bewegte sie sich dicht am Auto entlang und achtete dabei genau darauf, dass sie keinen Fuß über die weiße Linie zwischen dem Seitenstreifen und dem zweispurigen Highway setzte. Schließlich hoffte sie, dass das nächste Auto sie mit in die Stadt nahm … und nicht dafür sorgte, dass sie im Krankenhaus landete.

Als sie den SUV mit Polizeilicht sah, der gerade auf sie zukam, wurde ihr flau im Magen. Nein, bitte nicht Nick! dachte sie. Warum kann nicht jemand anders in dem Wagen sitzen, warum muss es ausgerechnet der Police Chief von Starlight sein?

Am liebsten hätte sie sich hinter ihrem Auto versteckt. Aber das würde ihr auch nicht weiterhelfen. Nick würde trotzdem anhalten, um sich die Sache genauer anzusehen. Also hob sie den Arm, um ihm zuzuwinken … da blieb sie mit ihrem Stiefelabsatz an einem festgefrorenen Eisbrocken hängen. Sie schwankte, verlor das Gleichgewicht und ging mit einem Knie zu Boden, um sich gleich wieder aufzurichten. „Verdammte Axt“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihre neue schwarze Strumpfhose hatte jetzt ein Loch, und an ihren Handinnenflächen klebten lauter kleine Schottersteinchen. Gerade wollte sie sie abklopfen, da hielt auch schon der Polizeiwagen neben ihr, und die blauen und roten Lichtblitze schossen durch den trüben, grauen Wintertag.

Als Nächstes sprang Nick Dunlop aus dem Auto und lief auf sie zu. „Brynn! Ist alles in Ordnung?“

Ihr stockte der Atem, als er sie zu sich heranzog, um erst ihre Hände und dann sie selbst von oben bis unten zu inspizieren. Mit seinen warmen braunen Augen blickte er sie besorgt an – eigentlich sogar mehr als besorgt, sein Blick wirkte direkt panisch. Sie nahm einen dezenten Duft nach Zimtkaugummi und verschiedenen Gewürzen wahr … einen Duft, den sie schon immer mit ihm verbunden hatte.

Eine Flut von Erinnerungen überwältigte sie – kein schönes Gefühl.

„Hey, was ist passiert?“, wollte er wissen. „Bist du verletzt?“

Sie riss sich von ihm los. Es ärgerte sie, wie heftig sie auf seine warmen rauen Hände reagiert hatte. „Erklär mir lieber, was mit dir los ist. Wieso machst du hier so ein Drama?“

„Ein Drama also, aha.“ Er ging einen Schritt zurück und setzte die Miene eines gewissenhaften, standhaften Polizisten auf. Nick war schon immer sehr attraktiv gewesen: Er hatte volles Haar und markante Züge, und wenn er grinste, erschienen unverschämt hinreißende Grübchen in seinen Wangen.

Er war etwa acht Jahre alt gewesen, als seine Familie in die Stadt gezogen war, und von diesem Tag an hatten die Mädchen für ihn geschwärmt: erst in der Grundschule, dann auf der Highschool. Auf dem Footballplatz, hinter der Absperrung für die Zuschauerplätze, hatten sie sich ihm an den Hals geworfen … und überhaupt überall, wo sie ihn zu fassen bekamen. So nah war Brynn ihm nie gekommen: Mit ihr, seiner kumpelhaften besten Freundin, war der Mädchenschwarm nie hinter der Zuschauertribüne verschwunden. Stattdessen hatten sie in der Bibliothek zusammengesessen oder in der gemütlichen Küche seiner Mutter. Oder aber sie hatten sich zusammen im ausgebauten Keller der Familie Serien angeschaut oder Computerspiele gespielt.

Für Nick war Brynn das „nette Mädchen von nebenan“ gewesen, obwohl sie sich immer mehr gewünscht hatte. Aber mehr hatte er ihr nicht geben können oder wollen. Und dann hatte sich plötzlich ihr ganzes Leben verändert: an einem Tag kurz vor ihrem Highschool-Abschluss, an dem sie in ihrem rosa Badezimmer auf einen kleinen Stab gepinkelt hatte.

„Ist dir bewusst, wo du gerade bist?“, erkundigte er sich jetzt und blickte ins Tal hinab. Dort unten lag ihre Heimatstadt Starlight – unter den Nebelschwaden, die sich um die Berge gelegt hatten.

Sie spannte die Kiefermuskeln an. „Natürlich.“

„Auch, welches Datum wir heute haben?“

„Ja.“

„Und warum bist du dann hier, ausgerechnet heute?“

„Das geht dich nichts an.“

Er fuhr sich über das Gesicht. „Sag es mir trotzdem“, forderte er sie mit ruhiger Stimme auf. Es klang so sanft, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. „Bitte“, fügte er freundlicherweise hinzu. „Meine Fantasie geht nämlich gerade mit mir durch.“

„Inwiefern genau?“

Er blickte zu dem Teil des Schutzgeländers, das erneuert worden war. Nachdem Brynns verstorbener Ehemann es mit seinem Transporter durchbrochen hatte und etwa siebzig Meter den Abhang hinabgestürzt war … um unten mit dem Wagen in Flammen aufzugehen.

„Du glaubst doch nicht, dass ich heute hergekommen bin, um Daniel ins Jenseits zu folgen?“, sagte sie. Sie ging direkt ans Geländer und kam dann wieder zurück. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt, so wütend und fassungslos war sie. „Und ich dachte, du kennst mich.“

Er atmete hörbar aus. „Das tue ich doch auch.“

„Ich würde aber nie im Leben …“ Sie schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. „Ich kann doch Tyler nicht allein lassen. Ist dir das nicht klar?“ Ihr zehnjähriger Sohn bedeutete ihr alles. Dass jemand auch nur annehmen könnte, sie würde ihn nicht aufwachsen sehen wollen, erschütterte sie tief. Erst recht, wenn es sich dabei um Nick handelte.

„Ich weiß, Brynn, und es tut mir leid. Ich … Ich war so schockiert, als ich dich ausgerechnet hier an dieser Stelle gesehen habe … und als du auch noch hingefallen bist …“ Er klang so aufgewühlt, dass ihr ganz schwindelig wurde. Als er ihr auch noch eine Hand auf den Arm legte, musste sie sich zwingen, nicht zurückzuweichen.

„Warum genau bist du hier?“, wollte er wissen.

Sie schaute an sich hinunter, erstmals fiel ihr dabei der kleine Blutstropfen an ihrem Knie auf – an der Stelle, an der ihre Strumpfhose gerissen war. „Ich habe gleich ein Date.“

Nick schwieg, also fuhr sie fort: „Mara hat da etwas mit einem Typen aus Weatherby arrangiert. Er war letzte Woche in ihrem Café, weil er wohl beruflich in Starlight zu tun hatte.“ Ihre Freundin Mara Johnson war Inhaberin des Main Street Perk, einem beliebten kleinen Café in Starlight. „Davon wollte ich Daniel erzählen, aber irgendwie kam es mir komisch vor, dafür zu seinem Grab zu fahren. Und weil er vor seinem Tod zuallerletzt hier war, bin ich eben hierhergekommen.“

„Du hast ein Date?“ Nick sah sie an, als wäre ihr auf einmal ein zweiter Kopf gewachsen. Normalerweise trug er sein strohblondes Haar sehr kurz. Jetzt war es offenbar schon länger nicht mehr nachgeschnitten worden, eine dicke Strähne fiel ihm in die Stirn. Er war sehr breitschultrig und füllte die dunkle Uniform mit seinem muskulösen Körper so gut aus, dass die meisten Frauen sich wohl liebend gern von ihm hätten verhaften lassen.

Nicht so Brynn. „Kann es sein, dass du immer nur wiederholst, was ich gerade gesagt habe?“, bemerkte sie.

„Ich versuche nur, gerade die Situation zu verarbeiten und mich dabei etwas zu beruhigen. Du hast mir nämlich einen ordentlichen Schrecken eingejagt.“

„Ich bin eine erwachsene Frau, du brauchst dich nicht um mich zu sorgen“, erinnerte sie ihn.

An seinem Kinn zuckte ein Muskel. „Schon klar, trotzdem macht man sich als guter Freund so seine Gedanken.“

Als guter Freund also. Brynn wollte sich nicht anmerken lassen, was diese Worte in ihr auslösten. Zwischen ihnen beiden war es schon lange nicht mehr wie früher, und sie vermisste diese unbeschwerte Zeit sehr.

Jetzt ließ er sie los. „Hattest du nicht beschlossen, das mit dem Daten ein für alle Mal zu lassen?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ein kurzer Windstoß aus dem Tal fuhr durch den Kiefernwald hinter ihnen und brachte die Zweige leise zum Rascheln. „Würdest du mich wohl in die Stadt mitnehmen, Chief?“, bat sie ihn. „Ich bin schon spät dran.“

„Und was ist mit deinem Auto?“

„Die Lichtmaschine ist kaputt, darauf hat Jimmy mich schon beim letzten Ölwechsel hingewiesen. Aber irgendwie bin ich trotzdem nicht dazu gekommen, sie reparieren zu lassen. Das ist jetzt wohl wirklich fällig.“

„Du kannst so etwas nicht einfach schleifen lassen.“

„Ach, komm, Nick, halte du mir nicht auch noch einen Vortrag. Nimm mich lieber mit in die Stadt. Dann rufe ich Jimmy gleich nach dem Mittagessen an, damit er den Wagen abschleppen lässt.“

„Ich kann ihn mir ja auch mal angucken“, bot Nick an.

„Das ist doch nicht dein Problem.“

Zunächst sah es aus, als wollte er ihr widersprechen, dann nickte er nur kurz. „Okay, hol am besten alles raus, was du brauchst, und schließ das Auto ab.“

„Danke.“ Sie wandte sich dem Wagen zu, drehte sich aber abrupt wieder um. „Sag mal … Nick?“

Er grinste schief. „Ja?“

„Warum bist du eigentlich heute hier oben unterwegs?“

Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, heute vor genau fünf Monaten ist Daniel gestorben. Ich bin also praktisch aus den gleichen Gründen hier wie du, nur dass ich ihm nichts von einem Date erzählen wollte – sondern einfach nur meinen Kumpel besuchen.“

„Oh.“ Mit seiner Antwort löste er einen Wirbelsturm der Gefühle in ihr aus. Dabei dürfte sie die Erinnerung daran, dass Nick nicht nur mit ihr, sondern auch mit ihrem verstorbenen Mann eng befreundet gewesen war, nicht mehr groß erschüttern. Und trotzdem war es so.

„Und jetzt erzähl mir mal Genaueres von diesem Date“, sagte Nick. Zum Glück klang seine Stimme dabei ganz ruhig. Nie würde er zugeben, wie schrecklich er es fand, sich Brynn in den Armen eines anderen Mannes vorzustellen. Immerhin war er vor gut zehn Jahren bei ihrer Blitzhochzeit mit Daniel Hale einer der Trauzeugen gewesen. Und in den Jahren danach war es ihm sogar gelungen, mit beiden gut befreundet zu bleiben.

Seine Chancen bei Brynn hatte er sich an der Highschool komplett verspielt – indem er sich völlig selbstsüchtig und egozentrisch aufgeführt hatte. Und obwohl er seitdem vielleicht ein bisschen reifer geworden war, war ihm trotzdem klar, dass er eine Frau wie sie nicht verdiente.

Daniel allerdings auch nicht. Eben hatte Nick ihr noch gesagt, er sei wegen seines Todestages zum Devil’s Landing gekommen, diesem malerischen Aussichtspunkt mitten in den Bergen östlich der Stadt – und das war auch nicht gelogen gewesen. Allerdings hatte er das nicht etwa getan, um seinem Freund eine Ehre zu erweisen. In Nick hatte sich jede Menge Wut darüber angestaut, wie mies und achtlos Daniel seine Ehefrau Brynn behandelt hatte.

Vor der Hochzeit war er ja vielleicht gut mit Daniel befreundet gewesen – aber danach hatte der Mann ihn mit seinem Verhalten Brynn gegenüber abgestoßen. Er hatte sie in einer Tour betrogen und völlig respektlos behandelt. Nach seinem tödlichen Unfall hatte Nick neben seiner Wut auf Daniel auch noch Schuldgefühle entwickelt: eine sehr unglückliche Mischung. Hätte er Daniel vielleicht dazu bringen sollen, seine Affären aufzugeben? Und an seiner Ehe zu arbeiten?

Oder hätte er Brynn davon abhalten sollen, Daniel überhaupt erst zu heiraten?

Stattdessen hatte er sich um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert und Daniel und Brynn beide freundlich auf Abstand gehalten.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, beantwortete sie gerade seine Frage zu ihrem Lunch-Date, dabei schwang allerdings ein etwas unwirscher Unterton mit. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinter ein zartes kleines Ohr. Überhaupt war alles an ihr zart: ihr zierlicher Körperbau, ihr blasser Hautton und ihre hellblauen Augen, die von dichten dunklen Wimpern umrahmt waren. Eigentlich wirkte sie eher wie eine Märchenprinzessin als wie eine überarbeitete alleinerziehende Mutter. „Ich bin mit einem Mann zum Lunch verabredet. Vielleicht passt es ja zwischen uns. Wenn nicht …“

„Hattest du nicht mal erzählt, du würdest dich fürs Daten nicht interessieren, weil Tyler jetzt der einzige Mann in deinem Leben ist?“

Als er hörte, wie sie leise nach Luft schnappte, wurde ihm klar, dass er genau das Falsche gesagt hatte. Das war ihm bei ihr nicht zum ersten Mal passiert. „Ich wollte damit nur sagen …“, begann er.

„Ich habe das schon verstanden.“ Mit einem Finger fuhr sie über das Loch in ihrer Strumpfhose, gleich über dem Knie. „Aber wenn ich mich mit einem Mann zum Essen verabrede, stellt das meine Liebe zu meinem Sohn bestimmt nicht infrage.“

„Ich weiß. Es tut mir wirklich leid, dass ich das eben gesagt habe.“ Nick umklammerte das Lenkrad noch fester. „Ich bin leider gerade nicht ganz klar im Kopf. Du bist wirklich eine tolle Mutter. Die allerbeste auf der Welt. Da kommt einfach niemand ran. Wenn es einen Pokal dafür gäbe …“

„Jetzt reicht’s aber, Nick.“

Dann lachte sie, und er atmete erleichtert aus. Auf keinen Fall hatte er Brynn verletzen wollen; sie hatte schon so viel durchgemacht.

„Du hast ja recht, auf Maras und Parkers Hochzeit habe ich wirklich gesagt, dass ich niemanden daten möchte. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist mit der Verabredung heute. Vielleicht ist das noch viel zu früh. Andererseits haben Daniel und ich ja keine besonders glückliche Ehe geführt.“

Inzwischen waren sie in der Stadt angekommen. Als sie an einer Ampel warten mussten, drehte Nick sich zu Brynn um. „Du hast es aber verdient, glücklich zu sein.“

Jetzt lächelte sie, und er erkannte, dass es von Herzen kam. Einerseits freute er sich darüber, andererseits spürte er dabei einen Stich in der Brust. Es tat weh, sich vorzustellen, dass sie mit einem anderen zusammen glücklich wurde.

„Würdest du mich wohl am Diner rauslassen?“, fragte sie, nachdem sie lange geschwiegen hatten.

Im Diner von Starlight war immer viel los, also bekamen wahrscheinlich viele Stadtbewohner etwas von Brynns Verabredung mit … um hinterher darüber zu tratschen, dass die junge Witwe sich jetzt schon mit einem neuen Mann getroffen hatte.

„Klar.“ Mit den Fingern trommelte Nick auf die Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und versuchte dabei, möglichst unbeteiligt zu wirken.

„Na ja, Mara und Kaitlin wollen mich unbedingt verkuppeln“, fuhr Brynn fort. „Sie haben das Projekt ‚die zwölf Weihnachts-Dates‘ genannt und haben schon eine ziemlich lange Liste an Kandidaten für mich zusammengestellt.“

Nick schluckte. „Wie bitte? Dann triffst du dich demnächst mit zwölf verschiedenen Männern?“

„Ich hoffe nicht, manchmal habe ich ja kaum Zeit, mir die Zähne zu putzen. Aber warte mal … Willst du damit etwa sagen, dass ich eine Schlampe bin?“ Sie löste ihren Gurt. Gerade hatten sie vor dem Diner gehalten. „Ausgerechnet du? Du hattest in der Schule doch eine Freundin nach der anderen, im fliegenden Wechsel. Und als sich bei dir abends die halbe Cheerleadertruppe im Garten versammelt hat, weil sie wissen wollten, welche von ihnen du am heißesten findest, bist du zu mir rübergeschlichen und hast dich versteckt.“

Nick drückte sich zwei Finger an die Schläfen. „Ich war ein ganz schöner Mistkerl, oder?“

„Ich glaube fast, das bist du noch immer. Jedenfalls klingt es so.“

Fast hätte er laut aufgelacht – weil sie recht hatte. Und genau da lag sein Problem mit Brynn oder jedenfalls seinem Umgang mit ihr: Er wollte ihr ein guter Freund sein und sie unterstützen … vergriff sich aber immer wieder in der Wortwahl. Und ja, sie kannte ihn sehr gut oder hatte ihn zumindest sehr gut gekannt, besser als jeder andere Mensch.

Nach ihrer Hochzeit mit Daniel war es Nick einigermaßen gelungen, alle mehr als rein freundschaftlichen Gefühle für sie zu verdrängen. Und bis vor Kurzem war er sogar überzeugt gewesen, diese Gefühle für immer überwunden zu haben, genau wie viele andere Kindheitsträume.

Aber jetzt schien plötzlich alles anders zu sein.

Andererseits: Was für ein Quatsch. Daniels Tod änderte nichts an den Tatsachen: Nick wusste genau, dass er nicht für die Liebe gemacht war. Einmal hatte er Brynn schon verletzt, das wollte er kein zweites Mal riskieren, auf keinen Fall.

„Ich will, dass du glücklich bist“, sagte er erneut. „Und ich hoffe, dass das Date heute gut läuft … und alle anderen auch. Ganz ernsthaft.“

Sie lachte leise. „Hey, wir gehen nur kurz zusammen essen. Da passiert nicht viel.“

Wenn er das nur glauben könnte!

„Wenn du irgendetwas brauchst … oder Tyler etwas braucht …“ Nick räusperte sich. „Ich bin dein Freund, und du kannst dich auf mich immer noch verlassen.“

Ihr Blick wurde sanft. Brynn war viel stärker, als die meisten Menschen annahmen, und selbst er hatte sich lange von ihrem zarten Äußeren in die Irre führen lassen. Mit achtzehn hatte sie einen Jungen geheiratet, den sie kaum kannte, weil sie nach ihrem ersten Mal gleich schwanger von ihm geworden war. Zehn Jahre später war ihr Ehemann bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Allerdings war er nicht allein im Wagen gewesen, als er in den Abgrund gestürzt war: Auf dem Beifahrersitz hatte seine Geliebte gesessen. In einer Kleinstadt wie Starlight hatte sich das natürlich sofort herumgesprochen.

„Das gilt umgekehrt natürlich genauso“, erwiderte Brynn jetzt leise. „Du kannst dich auch gern jederzeit bei mir melden. Ich weiß ja, dass dir die Weihnachtstage manchmal ganz schön zu schaffen machen.“

Er machte eine abwehrende Handbewegung, gleichzeitig zog sich ihm der Magen zusammen. „Bei mir ist alles in Ordnung. Auf der Wache gibt es immer viel zu tun, genau so gefällt es mir auch. Für mich ist der Dezember wie jeder andere Monat.“

Sie betrachtete ihn lange und intensiv. „Bist du heute Abend auch dabei, wenn sie den großen Weihnachtsbaum erleuchten?“, wollte sie wissen.

„Ja, da habe ich Dienst“, bestätigte er. In Starlight hatte es Tradition, dass sich die Stadtbewohner alljährlich zu Beginn der Adventszeit vor dem Rathaus versammelten, während dort die Beleuchtung des großen Weihnachtsbaums eingeschaltet wurde. Dann schenkte der Frauen-Wohltätigkeitsverein Kakao aus, und ein Chor sang mit allen zusammen Weihnachtslieder.

Jedes Jahr meldete Nick sich freiwillig für das Event, weil die meisten seiner Kollegen gern mit ihren Familien teilnehmen wollten. Und er selbst? Hatte nur seine Mutter. Für einen Mann von Ende zwanzig war das etwas traurig, und er hängt das auch nicht gern an die große Glocke.

„Also bis später“, sagte Brynn und lächelte ihm zum Abschied zu.

„Du kannst mir dann ja von deinem Date erzählen.“

Sie zog die Augenbrauen hoch, nickte jedoch. „Alles klar, Nick. Witzig, bisher hatten wir das nur anders herum: dass du mir von deinen Dating-Abenteuern erzählt hast.“

„Viel Erfolg!“

Nick blieb noch mindestens eine Minute lang im Wagen sitzen, nachdem sie in dem freundlichen kleinen Lokal verschwunden war. Witzig war in etwa das letzte Wort, das ihm in den Sinn gekommen wäre, um diese Situation zu beschreiben: dass er sich später die Details über Brynns Treffen mit einem anderen Mann anhören würde.

2. KAPITEL

Abends stand Brynn mit ihrem Sohn Tyler vor dem Rathaus und ließ aus sicherer Entfernung den Blick über die Menschenmenge gleiten, die sich bereits dort versammelt hatte. Ihren Wagen hatte sie ein paar Seitenstraßen weiter geparkt. Sie war Nick unendlich dankbar dafür, dass sie überhaupt mit dem Auto hatte herkommen können: Direkt nach ihrem sterbenslangweiligen Date hatte sie in der Werkstatt angerufen. Dort hatte Jimmy sie informiert, dass Nick deswegen schon bei ihm vorbeigekommen sei. Offenbar hatte er ihn davon überzeugen können, Brynns Wagen sofort abzuschleppen und sich auch gleich um die Lichtmaschine zu kümmern. Mit seinem Einsatz hatte er ihr Zeit und Nerven gespart. Es fühlte sich wunderbar an, einmal nicht alles selbst regeln zu müssen … und wenn sie daran dachte, dass ausgerechnet Nick ihr zur Seite gestanden hatte, wurde ihr seltsam leicht zumute.

Dabei hatte Brynn ihre Teenager-Schwärmerei für Nick Dunlop längst überwunden. Immerhin hatte er sie damals sehr grob und deutlich abgewiesen … und kurz darauf war sie ungeplant von ihrem Tröster schwanger geworden: Daniel Hale, mit dem sie ihr allererstes Mal erlebt hatte. So übereilt und unüberlegt hatte sie ihr ganzes Leben nicht mehr gehandelt.

In diesem Moment nahm Tyler ihre Hand und drückte sie … und erinnerte sie daran, dass diese wenigen Minuten nicht nur Schmerz und Verzicht nach sich gezogen hatten, sondern dass dabei auch etwas Wunderbares entstanden war.

„Da hinten sind Logan und Jake“, sagte ihr Sohn und wies auf zwei Jungen, die ihnen durch die Menschenmenge zuwinkten. „Darf ich kurz hin und Hallo sagen?“

„Klar, Schatz, aber …“

Statt den Rest des Satzes abzuwarten, lief Tyler sofort zu seinen Freunden.

„… wenn sie den Baum beleuchten, bist du bitte wieder hier“, sagte Brynn und biss sich von innen auf die Wange. Ihr Sohn wurde immer älter und damit immer unabhängiger, manchmal konnte er auch ganz schön frech sein. Seit dem Tod seines Vaters vor fünf Monaten machte sich das umso stärker bemerkbar.

Früher waren sie immer als Familie hergekommen, wenn der Baum beleuchtet wurde. Danach war Daniel meistens mit einigen Arbeitskollegen in die Bar gegangen, aber während des eigentlichen Events war er immer bei ihnen geblieben. Dabei hatte er Tyler meistens auf die Schultern genommen, und ihr Sohn hatte dabei so glücklich gestrahlt, dass Brynn jedes Mal das Herz aufging. In solchen Momenten war es für sie zweitrangig, dass ihre Ehe sonst alles andere als glücklich war.

„Wie sieht’s aus, kommst du mit nach vorn, oder willst du von hier hinten aus zuschauen?“, sagte plötzlich jemand hinter ihr.

Sie drehte sich um, und dort stand Nick. Er trug immer noch seine dunkle Polizeiuniform, hatte sich allerdings eine zusätzliche Jacke als Schutz gegen die Kälte darübergezogen. Mit seinen eins neunzig war er ein ordentliches Stück größer als sie: Das war seit Ende der siebten Klasse so gewesen, als er in die Pubertät gekommen und dadurch innerhalb kürzester Zeit fast zwanzig Zentimeter gewachsen war.

Wenn sie ihn so ansah, kribbelte es sie am ganzen Körper. Sie verdrängte das Gefühl und zuckte mit den Schultern. „Ich bereite mich hier erst mal innerlich darauf vor.“

Er verzog das Gesicht. „Hui, das klingt, als würdest du gleich verhaftet.“

Sie lachte, obwohl ihr nicht danach zumute war. „Na ja, das ist unser erstes Weihnachtsfest ohne Daniel“, sagte sie.

„Stimmt.“ Er rückte näher an sie heran. „Ist alles in Ordnung?“

Diesmal klang seine Frage anders als heute Mittag am Highway – irgendwie vorsichtiger und sanfter. Aber vielleicht nahm sie sie auch anders auf, weil sie jetzt selbst in einer anderen Verfassung war, sie sich nicht mehr so wütend und verbittert fühlte. Die Adventszeit machte sie immer wehmütig: Es war so eine besinnliche Zeit, eine Zeit der Güte und eine Zeit zum Fröhlichsein. Immer wieder ließ der Dezember sie auf einen bessere Zukunft hoffen.

Dieses Jahr war sie sich allerdings unsicher, wie sie sich fühlte. Dass alles in Ordnung war, konnte sie nicht behaupten.

„Ich möchte, dass Tyler eine schöne Weihnachtszeit erlebt“, sagte sie schließlich. „Als sein Vater noch am Leben war, hatten wir immer ganz bestimmte Rituale: Zuerst haben wir unseren Baum aufgestellt; Daniel hat dabei in einer Tour geflucht. Und nachdem wir ihn fertig geschmückt hatten, hat die Katze die Anhänger wieder runtergeholt, dann wurde fleißig weitergeflucht. Am Weihnachtsmorgen gab es immer Pfannkuchen …“

„Wurde dabei auch geflucht?“

„Normalerweise nicht.“ Brynn lächelte, obwohl sich ihr bei den Erinnerungen die Kehle zuschnürte. „Jedenfalls haben wir zwar kein perfektes Familienleben geführt, aber Tyler kannte es nicht anders. Ich will, dass er glücklich ist … und ich selbst auch. Leider kann ich das schon lange nicht mehr von mir behaupten. Ich weiß nicht, wie ich das je wieder werden soll.“ Ihre Stimme versagte, und sie gab sich nicht erst die Mühe, das zu überspielen. Nick und sie sahen sich zwar kaum noch, trotzdem war er immer noch ihr bester Freund.

Er wirkte unangenehm berührt. „Ach, du findest schon einen Weg.“

Sie rollte mit den Augen. „Falls du jemals darüber nachgedacht hast, deinen Beruf aufzugeben, um Psychotherapeut zu werden – lass es lieber sein.“ Sie gab ihm einen kleinen Stoß in die Seite.

Nick lachte leise. „Hat dich dein Lunch-Date heute denn glücklich gemacht?“

„Tja … wusstest du schon, dass Bandwürmer keinen Magen haben und Nährstoffe über ihre Haut aufnehmen?“

„Ähm … nein. Das war doch wohl nicht euer Gesprächsthema beim Essen?“

„Fast ausschließlich“, erwiderte sie. „Das Adventskalender-Date, das Mara heute für mich organisiert hatte, ist Wissenschaftler und forscht offenbar über Parasiten. Er war letzte Woche auf dem Weg zu einer Konferenz in Seattle und hat kurz in Starlight haltgemacht.“

„Kein Wunder, dass man für den Mann Blind Dates organisieren muss. Wenn er sich immer so aufführt, lernt er nie eine Partnerin kennen.“

„Oje“, flüsterte Brynn. „Was sagt es dann über mich aus, dass meine Freundinnen Blind Dates für mich organisieren?“

Mit seinen haselnussbraunen Augen betrachtete er sie intensiv. „Bei dir ist das etwas anderes.“

„Alles klar.“ Sie seufzte. „Du meinst, weil ich eine armselige, trauernde, alleinerziehende Witwe bin?“

„Armselig findet dich bestimmt niemand.“

„Ich habe das Gefühl, dass mich die ganze Stadt bemitleidet“, gab sie zurück. „Das ist genauso schlimm, und genau deswegen habe ich mich hier erst mal an den Rand gestellt. Weil die Menschen nicht wissen, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen. Sie fühlen sich in meiner Gegenwart unwohl.“

„Sag doch so was nicht.“

Seine Stimme umfing sie wie eine warme Umarmung. Ja, es gab durchaus gute Gründe dafür, dass sie in den letzten Jahren einen Sicherheitsabstand zu Nick eingehalten hatte. Überhaupt war sie ihr ganzes bisheriges Leben lang Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen und hatte Probleme immer weggelächelt. Immer hatte sie es allen recht machen wollen.

Und was hatte ihr das gebracht? Nichts Gutes.

Seit Daniels Tod hatte sie sich langsam verändert. Bei seiner Beerdigung hatte es angefangen, da hatte sie sich gerade so weit im Griff gehabt, nicht in der Kirche loszuschreien und lauthals ihren verstorbenen Mann dafür zu beschimpfen, wie rücksichtslos und verletzend er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Und sich selbst dafür, wie klein sie sich bis jetzt immer gemacht hatte.

Natürlich blieb sie während der gesamten Zeremonie äußerlich ruhig, ihrem Sohn zuliebe. Der saß neben ihr und weinte leise um seinen Vater. Brynn weinte mit, Tylers wegen, und wegen ihres eigenen Schicksals. Einige Tage später war sie dann zum Devil’s Landing gefahren, an dieselbe Stelle, an der Nick sie heute angetroffen hatte. Dort stieg sie aus und ging bis zum Abhang vor, an der die orangefarbenen Verkehrshütchen und das Absperrband den Unglücksort markierten.

Genau an dieser Stelle schrie sie schließlich los: so laut und so lange, bis ihre Kehle brannte und ihre Stimme versagte. Und es fühlte sich unendlich befreiend an.

Die folgenden fünf Monate hatte Brynn damit verbracht, sich innerlich auf die Veränderungen in ihrem Leben einzustellen, und dabei eine bahnbrechende Entwicklung durchgemacht. Also kam es für sie nicht mehr infrage, einem schwierigen Gespräch auszuweichen.

„Du bist auch nicht gerade entspannt in meiner Gegenwart“, sagte sie jetzt zu Nick.

„Das stimmt nicht.“ Er atmete hörbar aus. „Wir sind doch gute Freunde, Brynn. Jedenfalls wäre ich gern wieder dein guter Freund, ich weiß bloß nicht, wie ich das anstellen soll. Zuletzt habe ich ja alles vermasselt.“

„Allerdings“, erwiderte sie und blickte in seine vor Schreck geweiteten Augen. „Na, habe ich dich jetzt schockiert?“

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Ein bisschen schon. Früher hast du mich nie mit meinen Dummheiten konfrontiert.“

„Ich habe mich eben verändert.“

„Das finde ich gut.“

Das schockierte sie wiederum. „Du hast dich früher immer darauf verlassen, dass ich für dich da war und dir nach dem Mund geredet habe.“

„Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich wie ein Anhängsel behandelt habe, und ich freue mich, dass du jetzt für dich einstehst.“ Er hob eine Hand, als wollte er sie berühren, ließ sie aber wieder sinken. Und so sehr ihr Körper sich danach sehnte – ihr Verstand sagte ihr, dass das keine gute Idee wäre.

„Ich gehe lieber auch zu den anderen rüber, bevor sie mit dem Baum anfangen“, sagte Brynn.

Er nickte. „Okay, ich bleibe hier im Hintergrund und behalte alles im Blick.“

„Bis dann!“ Sie drehte sich um, blieb dann aber abrupt stehen. „Oje, jetzt hätte ich fast vergessen, mich bei dir dafür zu bedanken, dass du dich um mein Auto gekümmert hast. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen!“

„Kein Thema. Jimmy hatte noch etwas gut bei mir.“

„Das war wirklich eine große Hilfe, vielen lieben Dank.“

„Sehr gern“, erwiderte Nick.

Sie winkte ihm noch einmal zu und lief zu der Menschenmenge hinüber, die sich vor dem Rathaus versammelt hatte.

„Hey, da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht!“

Brynn drehte sich um und erblickte ihre besten Freundinnen Kaitlin Carmody und Mara Johnson. Keine von beiden stammte ursprünglich aus Starlight, und wahrscheinlich fühlte Brynn sich genau deswegen so wohl in ihrer Gegenwart. Die zwei kannten zwar ihre Geschichte, nahmen sich aber kein Urteil dazu heraus – im Gegensatz zu so manchen anderen langjährigen Kontakten.

„Tyler ist noch da drüben bei seinen Freunden, ich gehe ihn gleich holen“, informierte sie die Freundinnen und schaute auf ihre Armbanduhr. „In ein paar Minuten geht es los. Sagt mal … warum guckt ihr mich eigentlich so komisch an?“

„Was ist mit deinem Date?“ Mara strich sich eine dicke goldbraune Haarsträhne hinter das Ohr. „Wie war’s?“

Brynn zuckte mit den Schultern. „Na ja, er steht auf Bandwürmer.“

„Wie bitte?“ Kaitlin zog eine Grimasse.

„Offenbar forscht er auf dem Gebiet und kennt kaum andere Themen“, fuhr Brynn fort. „Ich persönlich finde das nicht so sexy, darum passen wir wohl nicht zusammen. Und überhaupt halte ich diese Datinggeschichte für reine Zeitverschwendung.“

Kaitlin blickte sie ernst an und berührte dabei den Verlobungsring mit dem schönen Diamanten, den sie am linken Mittelfinger trug. „Auf der Suche nach der wahren Liebe kann man seine Zeit gar nicht verschwenden.“

„Das stimmt“, bestätigte Mara. „Und manchmal begegnet sie einem da, wo man am wenigsten damit gerechnet hätte. Du darfst auf keinen Fall aufgeben! Wir ziehen das Ding durch.“

Brynn taten schon die Wangen weh, so angestrengt bemühte sie sich, weiter zu lächeln. Sie wusste, dass ihre Freundinnen ihr nur das Beste wünschten, und dafür war sie dankbar. Beide hatten ihre große Liebe hier in Starlight gefunden, und sie hatte sich mit ihnen gefreut. Zuerst war Kaitlin mit Finn zusammengekommen, dann Mara mit Parker: ein besonders ungewöhnliches Match, nicht zuletzt, weil Parker ihren Exmann während des Scheidungsprozesses vertreten hatte.

„Jedenfalls hat Finn gestern den neuen Inhaber des Haushaltswarengeschäfts kennengelernt, er wollte einen Kredit aufnehmen. Er soll sehr sympathisch sein – und außerdem single.“ Finn leitete die älteste Bank in Starlight.

„Das ist ja hochinteressant. Hat er das etwa auf dem Formular angegeben, das er für den Kredit ausgefüllt hat?“, hakte Brynn nach. „Oder hast du ihn ausgefragt?“

Kaitlin arbeitete ebenfalls für die Bank, sie leitete den Kundendienst. „Ausfragen würde ich das jetzt nicht nennen, das klingt so respektlos“, sagte sie und rümpfte die Nase. „Wir haben uns einfach locker unterhalten. Und dabei habe ich erwähnt, dass ich eine wirklich tolle Freundin habe, die dazu genau weiß, wo man in Starlight am besten essen gehen kann.“

„Es gibt hier ja auch nur drei Restaurants, abgesehen von den Food Trucks beim Sägewerk“, gab Brynn zurück. „Und die finde ich persönlich am besten.“

„Dann verabredet euch doch beim Sägewerk.“

„Das finde ich komisch, immerhin arbeite ich da.“ Dass Brynn mit achtzehn schwanger geworden war, hatte ihre Zukunftsplanung völlig durcheinandergebracht. Eigentlich hatte sie damals vorgehabt, nach dem Highschool-Abschluss ihr Studium an der Washington State University zu beginnen. Stattdessen hatte sie sich mit ihren geschwollenen Beinen herumgeärgert … und versucht, damit zurechtzukommen, dass sie jetzt mit einem Mann verheiratet war, den sie kaum kannte. In den Folgejahren hatte sie sich in Starlight von einem Gelegenheitsjob zum nächsten gehangelt. Sie hatte nachts Büros geputzt und für Anwälte und Steuerbüros Dokumente sortiert, um sich tagsüber selbst um ihren Sohn kümmern zu können.

Niemand hatte ihr zugetraut, dass sie mit ihrer Mutterrolle gut zurechtkommen würde, und sie wollte den Leuten das Gegenteil beweisen. Als Tyler auf die Grundschule kam, fing sie dort als Vertretungslehrerin an. Außerdem engagierte sie sich als Elternvertreterin.

Bis die Brüder Parker und Josh Johnson beschlossen, das alte verlassene Sägewerk der Stadt zu einem Einkaufs- und Kulturzentrum umzugestalten – mit kleinen Läden, einem Café und kulturellen Veranstaltungen. Irgendwie war es Brynn gelungen, die zwei dazu zu überreden, sie als Marketing- und Eventmanagerin einzustellen. Ursprünglich hatte sie Kommunikation und Marketing studieren wollen; einen Plan für das alte Sägewerk zu erarbeiten war also eine riesige Herausforderung.

„Das Sägewerk ist wirklich super geworden“, sagte Mara. „Und du leistest da tolle Arbeit.“ Sie wandte sich an Kaitlin. „Wie heißt Nummer zwei eigentlich?“

„Nummer zwei?“, erkundigte sich Brynn.

„Will MacFarlane“, erwiderte Kaitlin und zwinkerte Brynn zu. „Dein zweites von zwölf Dates.“

„Ach du meine Güte, das klingt ja schrecklich. Wie ein alter Haudegen.“

„Wer weiß, vielleicht wird die Nummer zwei ja schon bald deine Nummer eins?“ Mara grinste. „Dann kannst du dich bei den anderen zehn Dates immer wieder mit ihm treffen. Mit Mr. Right.“

Einige Abende später, an einem Montag, saß Nick noch ein paar Stunden mit seinen Freunden Finn und Parker in der Bar. Die beiden wussten offenbar bestens über die Datingarrangements für Brynn Bescheid, immerhin waren sie mit ihren Freundinnen Kaitlin und Mara verheiratet. Als Nächstes sollte Brynn also auf den neuen Inhaber des Haushaltswarengeschäfts treffen. Und komischerweise gefiel Nick das gar nicht. Obwohl er sie eigentlich fest in der Friendzone eingeordnet hatte.

Schließlich verabschiedete er sich von seinen Freunden. Draußen atmete er die kühle Nachtluft so tief ein, dass sie ihm in der Lunge brannte. Der Schmerz war ihm nur recht, er lenkte ihn von dem tiefen Stich in seiner Herzgegend ab. Gerade wollte er in seinen Wagen steigen, da kletterte genau hinter ihm eine Frau aus einem parkenden Kleinwagen. „Nick Dunlap?“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Sind Sie Chief Dunlap?“

„Ja, Ma’am.“ Sein sechster Sinn versetzte ihn in Alarmbereitschaft. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Die Frau kam einen Schritt auf ihn zu, nur um wieder zu ihrem Auto hinüberzuschauen. Im Schein der Straßenlaterne entdeckte er einen Babysitz auf der Rückbank.

„Ist alles in Ordnung, Ma’am?“

„Daniel hat nur Gutes von Ihnen erzählt“, erwiderte sie und verschränkte nervös die Finger. „Er hat gesagt, dass Sie gut auf die Menschen achtgeben.“

Nick wurde immer mulmiger zumute. „Woher kennen Sie Daniel denn?“

„Ich muss dringend mit seiner Frau sprechen“, fuhr sie fort. „Brynn. Würden Sie mich wohl zu ihr bringen? Ihr ist es bestimmt lieber, wenn Sie dabei sind. Daniel meinte, Sie und Brynn seien gut miteinander befreundet. Und dass Sie auf sie aufpassen würden, nachdem …“ Sie verstummte, holte tief Luft. Sie war sehr schmal, hatte braunes Haar und zarte Gesichtszüge und sah auf eine unkonventionelle Weise hübsch aus.

„Nachdem was?“

„Er wollte sie verlassen“, brachte sie leise hervor. Es klang, als würde sie es eher zu sich selbst sagen als zu ihm. „Meinetwegen“, fügte sie hinzu, schaute sich zu ihrem Auto um und betrachtete den dunkeln Umriss auf der Rückbank. „Und wegen des Kindes.“

3. KAPITEL

Gedankenverloren rieb Brynn sich über die Brust, als sie zwei Stunden später am Esstisch saß. Kaum hatte sie angenommen, dass ihr Leben unmöglich noch weiter durcheinandergeraten könnte, da brach auch schon die nächste Hiobsbotschaft über sie herein.

Komisch nur, dass sie kaum etwas fühlte. Und das, wo sie gerade erfahren hatte, dass die Frau, die mit ihrem Mann in den Tod gestürzt war, nicht seine einzige Geliebte gewesen war. Wenn sie ihrer nächtlichen Besucherin Glauben schenken durfte, hatte Daniel vorgehabt, sich von Brynn scheiden zu lassen, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben: Francesca. Der Frau, die zum Zeitpunkt seines Todes im neunten Monat schwanger gewesen war – von ihm.

Aber Brynn spürte nur ihren gleichmäßigen Herzschlag, sonst nichts. Von dem Moment an, in dem Nick sie angerufen hatte und ihr leise und in bedauerndem Tonfall von der Frau in der Stadt erzählt hatte, hatte Brynn sich wie betäubt gefühlt. Zunächst hatte sie ihren Sohn ins Bett gebracht und war dabei dem gleichen Ablauf gefolgt wie sonst. Erst seit Kurzem schlief Tyler wieder in seinem eigenen Bett. In der Todesnacht seines Vaters war er zu Brynn unter die Decke geschlüpft, und dort hatte sie ihn auch schlafen lassen, bis er bereit war, wieder in sein Zimmer zurückzuziehen.

„Möchten Sie noch einen Tee?“, fragte sie jetzt die junge Frau, die ihr gegenübersaß.

„Wenn das nicht zu viel Aufwand ist“, erwiderte Francesca und biss sich auf die Unterlippe. „Meine Autoheizung ist kaputt, und es hat so lange gedauert, von Seattle hierherzufahren. Mir wird gar nicht so richtig warm.“

Das konnte Brynn sich lebhaft vorstellen.

„Ich komme mit und helfe dir.“ Zur gleichen Zeit wie sie stand Nick vom Tisch auf, offenbar wollte er einige Worte allein mit ihr wechseln.

In der Küche schaltete sie zunächst den Gasherd ein.

„Ich kann nicht fassen, wie gut du mit der Sache zurechtkommst“, sagte er zu ihr.

„Soll ich lieber in Tränen ausbrechen und Teller gegen die Wand schleudern – fändest du das besser?“

„Vielleicht.“ Er fuhr sich durchs Haar, das inzwischen in alle Richtungen abstand. „Ich werde ja selbst verrückt, wenn ich das alles höre. Als wäre es nicht schlimm genug, dass diese Frau da mit ihm im Auto gesessen hat.“

„Katie“, murmelte Brynn. Sie konnte sich nicht zurückhalten. „Diese Frau hieß Katie.“

„Jedenfalls können wir uns nicht mal sicher sein, dass Daniel wirklich der Vater des Babys ist“, sagte Nick. Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit – darüber, dass Brynns verstorbener Mann sie nach Strich und Faden betrogen hatte.

Ihr wiederum war das schon sehr lange klar gewesen. Jetzt schämte sie sich dafür, dass sie dieses Spiel so lange mitgespielt hatte, statt Daniel zu verlassen.

In diesem Moment pfiff der Wasserkessel. Sie nahm ihn von der Herdplatte und goss das kochende Wasser in Francescas Porzellanbecher mit dem Teebeutel, ohne dabei auf ihre zitternden Finger zu schauen. Auf der Tassenwand waren mehrere fröhliche Schneemänner abgebildet. Obwohl das Geld grundsätzlich knapp war, schaffte Brynn es immer, ihr kleines Haus festlich zu schmücken, oft mit Dingen aus Secondhandläden oder von Flohmärkten. Damit es den Anschein hatte, als wäre alles normal, selbst wenn das Gegenteil der Fall war.

„Das Baby sieht aus wie Tyler, als er vier Monate alt war – nur in weiblich“, bemerkte sie leise. „Tu doch nicht so, als wäre dir das nicht aufgefallen.“ Sie zwang sich, Nick ins Gesicht zu schauen. „Sie sieht genauso aus wie ihr Vater.“

Er atmete stockend aus. „Ich kann einfach nicht fassen, was dieser Mann dir angetan hat“, sagte er. „Und so schlecht es Francesca wohl gerade geht – ich würde sie am liebsten höchstpersönlich aus der Stadt begleiten und ihr sagen, dass sie gefälligst nie wieder zurückkommen soll. Wir können sie und ihre Probleme hier nicht auch noch gebrauchen.“

„Das Leben ist aber kein Wunschkonzert“, gab Brynn zurück. Diese Floskel hatte sich inzwischen zu ihrem Lebensmotto entwickelt.

„Wem sagst du das“, murmelte Nick.

„Sie ist ganz allein.“ Brynn nahm die Tasse hoch und konzentrierte sich darauf, wie sich die Wärme in ihren Fingern ausbreitete. „Und sie hat Angst. Da will ich sie nicht einfach sich selbst überlassen. Außerdem ist das Baby Tylers Schwester.“

„Du bist ein wirklich guter Mensch, das warst du schon immer.“ Es klang fast wie ein Vorwurf.

„Ich bin genauso ein Mensch wie alle anderen“, erwiderte sie. „Du hast Francesca übrigens auch nicht gleich weggeschickt.“

„Das wäre wohl das Beste gewesen.“

„Jetzt hör aber auf. Ich weiß, dass du das nicht so meinst. Du willst ihr doch auch helfen.“

„Nein, ich will dir helfen, Brynn. Nur deinetwegen bin ich hier.“

Es waren nur ein paar schlichte Worte, aber sie schnürten ihr die Kehle zu. Sie ging mit der Tasse in Richtung Flur, der zum Esszimmer im vorderen Bereich des Hauses führte. „Das hat Daniel zwar alles angerichtet, aber ich muss mich jetzt darum kümmern.“

„Nein, wir“, verbesserte er sie. „Wir sind nämlich erstens befreundet, und zweitens arbeite ich im öffentlichen Dienst und habe die Pflicht, Menschen in der Not zu helfen.“

„Vielen Dank“, sagte sie leise.

Im Esszimmer hatte sich Francesca inzwischen mit ihrem Baby in den Lehnstuhl in der Zimmerecke gesetzt. Und während die junge Frau vor sich hin döste, saugte die kleine Remi lautstark an ihrem Fläschchen. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass ihre Mutter eingeschlafen war.

„Die Arme“, seufzte Brynn leise. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie oft sie nachts hatte aufstehen müssen, um Tyler zu stillen.

„Sie sieht völlig erschöpft aus“, bemerkte Nick. „Es war wohl nicht leicht für sie, Mutter zu werden.“

Ihren Erzählungen nach zu urteilen war Francesca wohl ein paar Jahre jünger als Brynn und arbeitete als Kellnerin in einem Steakhaus irgendwo in einem Vorort von Seattle. Sie hatte Daniel auf einer seiner Geschäftsreisen als Versicherungsvertreter kennengelernt. Seit seiner Beförderung vor anderthalb Jahren hatten immer wieder Übernachtungstrips nach Seattle auf dem Programm gestanden. So, wie Brynn ihn kannte, hätte sie diese Reisen vielleicht hinterfragen sollen. Andererseits war sie auch ganz froh gewesen, mit Tyler dann ein paar ruhige Abende verbringen zu können – ohne die Spannung, die sonst immer zwischen ihr und Daniel in der Luft lag.

Sie stellte die Teetasse auf dem Tisch ab und ging auf Francesca und das Baby zu. Remi war knapp fünf Monate alt; nur zwei Wochen nach dem Tod ihres Vaters war sie geboren worden.

Unglaublich, wie ähnlich sie Brynns eigenem Sohn war! Und so unangenehm es wahrscheinlich für sie werden würde, Tyler die genaueren Hintergründe zu erklären: Gleichzeitig hoffte sie, dass Tyler vielleicht besser über den Verlust seines Vaters hinwegkam, wenn er erfuhr, dass er eine kleine Schwester hatte, in der auch ein Stück von Daniel steckte.

„Hey“, flüsterte sie und berührte die schlafende Frau vorsichtig am Knie.

Francesca blinzelte und sah Brynn an – mit einem Blick, in dem sich Panik und Übermüdung mischten. Dann betrachtete sie das Baby in ihren Armen und wirkte dabei direkt befremdet. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie. „Das war ein ganz schön anstrengender Tag. Ich mache mich lieber wieder auf den Weg, ich habe noch eine lange Fahrt vor mir.“

„Sie können gern hier übernachten“, bot Brynn an, ohne darüber nachzudenken.

Im Hintergrund schnappte Nick hörbar nach Luft. „Ich organisiere ihr schnell ein Zimmer im Starlight Inn“, sagte er mit seiner professionellen Polizistenstimme.

„Ach was, ich habe hier doch ein Gästezimmer, und das Bett ist schon fertig bezogen.“

„Ist das wirklich in Ordnung für Sie?“ Francesca zog Remi die Flasche aus dem Mund, und das Mädchen protestierte wimmernd.

Einen Moment lang dachte Brynn über die Frage nach, und zum ersten Mal seit Daniels Unfall kam es ihr vor, als hätte sie ihren Frieden geschlossen mit dem, was geschehen war. Vielleicht lag es ja daran, dass bald Weihnachten war, das Fest der Liebe? Jedenfalls war ihr plötzlich klar, dass sie diese einsame, völlig verängstigte Frau und ihr Baby eine Nacht lang bei sich aufnehmen wollte.

„Ja“, sagte sie also.

„Vielen Dank!“, erwiderte Francesca mit bebender Stimme und rieb sich über die Wangen. „Und es tut mir so leid, dass ich dazu beigetragen habe, dass Daniel Sie verletzt hat. Es war dumm von mir, ihm alles zu glauben.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Brynn die junge Frau. „Wenn Sie mögen, passe ich gern ein paar Minuten auf Remi auf, während Sie sich fürs Bett fertig machen? Ich glaube, wir können alle etwas Schlaf gebrauchen.“

„Ach, das klingt gut.“ Sofort reichte Francesca ihr ihre Tochter. „Wahrscheinlich braucht sie eine neue Windel.“

Das Baby krallte eine kleine Hand in Brynns Shirt, und sie seufzte. „Das kriege ich schon hin.“

Während sie Francesca das Gästezimmer und das dazugehörige Badezimmer zeigte, wich sie Nicks Blick bewusst aus. Dann ließ sie die Frau allein und ging mit dem Baby zurück ins Esszimmer, um nach der Windeltasche zu suchen.

Nick wartete dort schon auf sie. „Mach das nicht“, warnte er sie, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. „Du kennst die Frau nicht, und man lässt nicht einfach eine Fremde in seinem Haus übernachten.“

„Vielen Dank für den Hinweis“, gab Brynn zurück. „Du hast mir für heute genug geholfen. Ich rufe dich dann morgen an, okay?“

„Jetzt hör mir doch mal zu …“

„Nein, Nick, guck du dir lieber das Baby an.“ Sie wandte sich ihm frontal zu. „Remi ist Tylers Schwester, und ihrer Mutter geht es gerade nicht gut. Außerdem habe ich ein gutes Gefühl bei ihr, sie ist bloß völlig überfordert und todmüde. Das kenne ich selbst übrigens sehr gut, manchmal geht es mir heute noch so. Auf keinen Fall schicke ich sie weg.“

Nick betrachtete sie so intensiv, dass ihre Wangen zu glühen begannen. „Bevor ich nach Hause fahre, mache ich noch schnell einen Hintergrund-Check“, sagte er.

Brynn seufzte. „Ich schreibe dir eine Textnachricht, sobald wir aufgestanden sind.“

Erst sah es so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch plötzlich wurde Remi unruhig und fing an zu weinen.

„Sie braucht jetzt eine neue Windel“, erklärte Brynn.

„Okay, ruf mich bitte an, falls du irgendetwas brauchst. Egal, wann.“

„Mommy?“

Schlagartig war Brynn wach, als sie Tylers Stimme hörte. Sie streckte die Arme nach ihrem Sohn aus und warf einen Blick auf den Nachttischwecker: Es war gerade kurz nach sechs und damit viel zu früh angesichts der Tatsache, dass sie gestern Nacht bestimmt mehrere Stunden gebraucht hatte, um einzuschlafen.

„Hast du schlecht geträumt, mein Schatz?“ Sie rückte zur Seite, damit er neben ihr Platz hatte, aber er machte keine Anstalten, zu ihr auf die Matratze zu klettern.

„Ich glaube, der Weihnachtsmann war etwas früher da als sonst“, sagte er mit ernster Stimme. Er trug ein T-Shirt mit Dinosaurier-Aufdruck und eine gestreifte, inzwischen zu kurze Schlafanzughose – dabei hatte sie sie ihm vor ein paar Monaten erst gekauft. Sein dickes braunes Haar stand in alle Richtungen ab – wie jeden Morgen, wenn er frisch aus dem Bett kam.

Brynn setzte sich auf. Dass Francesca schon aufgestanden war, konnte sie sich nicht vorstellen, dafür war ihr die Frau gestern viel zu übermüdet vorgekommen. Wahrscheinlich war Tyler davon aufgewacht, dass er Remi im Gästezimmer hatte weinen hören.

Remi … Wie sollte Brynn ihrem Sohn bloß erklären, dass er eine Halbschwester hatte und dass sie und ihre Mutter jetzt in Starlight waren? Wegen dieser Fragen hatte sie gestern lange nicht einschlafen können.

„Bist du von einem Geräusch wach geworden?“, erkundigte sie sich jetzt. „Mach dir keine Gedanken, ich erkläre dir gleich …“

„Der Weihnachtsmann hat uns ein Baby gebracht“, unterbrach ihr Sohn sie. „Es liegt unter dem Baum.“

Wie bitte? Innerhalb von Sekunden war Brynn aus dem Bett geklettert, eiskalte Panik hatte sie ergriffen. „Hier hat heute jemand übernachtet.“ Sie nahm Tylers Hand und zog ihn mit sich. „Eine … na ja, eine Freundin deines Vaters eben. Sie hat ein Baby, also hat der Weihnachtsmann nichts damit zu tun. Hast du die Frau vielleicht auch gesehen? Es tut mir wirklich leid, wenn du dich erschreckt hast. Ich dachte, ich würde vor dir aufstehen und dir dann alles erklären, allerdings …“

„Nein, da liegt nur ein Baby.“ Tyler folgte ihr die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und umklammerte dabei fest ihre Finger.

„Francesca?“, rief Brynn unten laut durchs Haus.

Stille.

„Vielleicht ist sie ja im Bad oder holt nur schnell etwas aus dem Auto.“

„Nein, du bist hier die einzige Erwachsene.“

Brynn schüttelte den Kopf. Das war doch nicht möglich!

Aber da lag sie, die kleine Remi: in ihrem Babysitz unter dem Baum. Und während sie mit den Beinen strampelte, lutschte sie zufrieden an zwei Fingern. Da erblickte Brynn einen zusammengefalteten Zettel, den jemand in das Polster des Sitzes gesteckt hatte. Jetzt wurde ihr so richtig mulmig.

„Francesca?“, rief sie erneut, rechnete aber längst nicht mehr mit einer Antwort.

Als Nächstes ließ sie Tyler los und kniete sich vor dem Baum auf den Teppich. Sofort lächelte Remi sie mit ihrem pinkfarbenen kleinen Mund an und fixierte sie mit ihren großen braunen Augen. Zitternd faltete Brynn das Stück Papier auseinander und las die Nachricht, die Francesca offenbar eilig daraufgekritzelt hatte.

Brynn schnappte nach Luft. Remis Mutter hatte sich tatsächlich aus dem Staub gemacht. Ihrer Nachricht zufolge hatte sie das Haus mitten in der Nacht verlassen, weil sie sich sicher war, dass Remi es bei Brynn besser hatte als bei ihr. Francesca hatte nie Mutter werden wollen.

„Wollen wir sie nicht mal aus dem Sitz holen?“, schlug Tyler vor. „Sie dreht sich die ganze Zeit hin und her, ich glaube, sie will raus.“

„Gute Idee, Schatz“, sagte Brynn und versuchte dabei, ihre Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen. Ob Francesca sich wohl etwas antun wollte? Wann hatte sie etwa das Haus verlassen, und wie weit war sie inzwischen gekommen?

Das Baby gluckste fröhlich, als sie es aus dem Sitz hob, und strampelte mit Armen und Beinen. Und Brynns Herz hämmerte dabei so heftig, als müsste es ihr aus der Brust hüpfen.

Tyler betrachtete das kleine Mädchen lächelnd. „Wie sie wohl heißt?“

„Remi.“ Brynn wuschelte ihrem Sohn durch das zerzauste Haar. „Auf dem Zettel hier steht, dass in der Küche ein paar Fläschchen für sie sind. Komm, wir schauen mal, ob sie Hunger hat. Dann rufe ich Nick an und frage ihn, was wir tun können, um so schnell wie möglich ihre Mama wiederzufinden.“

„Ihre Mommy vermisst sie bestimmt schon ganz doll.“ Tyler ging hier voraus in die Küche. „Hat Daddy Remi eigentlich auch gekannt?“

„Nein“, erwiderte Brynn leise, dann räusperte sie sich. „Als sie geboren wurde, war dein Dad schon tot.“

Wie sollte sie das alles bloß ihrem zehnjährigen Sohn erklären? Statt sich von ungeklärten Fragen und Zweifeln überwältigen zu lassen, beschloss sie, das zu tun, was in diesem Moment gerade anfiel. Ganz oben auf der Liste stand, dass Remi gefüttert werden musste. Während Brynn auf dem Herd Wasser für die Fläschchen erhitzte, wurde ihr bewusst, wie die Zeit nur so dahinraste. Und in jeder Minute, die verstrich, war Francesca allein irgendwo da draußen … und entfernte sich entweder immer weiter von ihnen oder tat vielleicht etwas Unüberlegtes.

„Darf ich sie füttern, Mommy?“, meldete sich Tyler zu Wort, als sie gerade die Milch anrührte und in ein Fläschchen füllte.

„Klar, Großer. Komm, wir gehen wieder ins Wohnzimmer, dann kannst du dich mit ihr aufs Sofa setzen. Babys sehen zwar klein aus, aber wenn man sie eine Weile hält, können sie ganz schön schwer werden.“

„Ach was, ich bin stark.“ Tyler ging neben ihr in Richtung Wohnzimmer.

Dort nahm Brynn den Telefonhörer von der Ladestation. Sobald Tyler und Remi sicher auf dem Sofa saßen, zeigte sie ihm, wie er die Flasche halten musste, damit sich keine Luftblasen bildeten. Dann half sie ihm, den Saugaufsatz vorsichtig in den Mund des Babys zu stecken. Remi begann, gierig zu trinken.

„Sie hat ganz schön Hunger“, bemerkte Tyler lächelnd und blickte zwischen Remi und seiner Mutter hin und her. „Ich übrigens auch. Machst du mir eine Waffel?“

„Klar. Aber erst gebe ich Nick Bescheid.“ Sie beschloss, ihm doch lieber eine Textnachricht zu schreiben, damit Tyler an ihrer Stimme nicht erkannte, wie beunruhigt sie war. Also tippte sie mehrere kurze Nachrichten ein, in denen sie Nick die Lage schilderte. Sie fügte noch hinzu, dass sie auf keinen Fall vor Tyler über die Details sprechen wollte. Schließlich fotografierte sie Francescas Nachricht und schickte das Bild ebenfalls an Nick.

Nur wenige Sekunden später erkannte sie an den drei hüpfenden Punkten im Nachrichtendienst, dass Nick ihr gerade seine Antwort eintippte:

Mache mich auf den Weg.

Brynn war unendlich erleichtert und hätte am liebsten laut aufgeseufzt. Privat wollte sie Nick lieber weiter auf Abstand halten, aber seinem Urteil als Police Chief vertraute sie uneingeschränkt. Und jetzt, da sie ihn benachrichtigt hatte, konnte sie sich endlich ganz dem Baby widmen.

„Sie hat schon die halbe Flasche ausgetrunken, da sollte sie mal ein Bäuerchen machen.“ Sie streckte die Arme nach Remi aus, aber Tyler reichte ihr stattdessen die Flasche.

„Sag mir einfach, was ich jetzt machen muss.“

Brynn schossen die Tränen in die Augen. Dass Tyler sich so unbedingt um das Mädchen kümmern wollte, berührte sie tief. „Okay, du legst sie dir über die Schulter, stützt dabei ihren Kopf und klopfst ihr ganz vorsichtig auf den Rücken.“ Brynn rückte ein Stück an ihren Sohn heran, um ihm gegebenenfalls helfen zu können.

Tyler tat, was sie gesagt hatte, und kurz darauf gab Remi einen beeindruckenden Rülpser von sich. Darüber mussten beide herzlich lachen.

Wann hatte sie ihren Sohn eigentlich zuletzt lachen hören?

„Sie hat mich bespuckt.“ Tyler verzog das Gesicht, während er den Kopf zur Seite drehte und seine Schulter betrachtete.

„Das ist nicht so schlimm, das wische ich gleich schnell mit einem Handtuch weg.“

Als sie wieder aus der Küche kam, hatte Tyler das Baby schon wieder auf dem Schoß. Remi schaute mit großen Augen zu ihm hoch, als hätte sie noch nie so etwas Faszinierendes gesehen. Dann breitete sich ein zahnloses Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und Tyler erwiderte es mit einem Grinsen. „Sie ist ganz schön süß, obwohl sie mich bespuckt hat.“ Er rümpfte die Nase. „Aber sie riecht echt schlimm.“

„Wenn sie fertig getrunken hat, wechsele ich ihr mal die Windel – es sei denn, du willst das auch machen.“ Brynn zwinkerte ihm zu.

„Nein, danke.“

„Kann ich gut verstehen.“ Sie stand vom Sofa auf. „Dann mache ich dir schnell Frühstück und nehme sie dir gleich ab, okay?“

Tyler nickte und widmete sich wieder ganz dem Baby.

4. KAPITEL

Nick rief bei der Polizeiwache an und beschrieb Francescas Auto so gut es ging, dann fuhr er zu Brynn und parkte den Wagen vor ihrem Haus.

Er wünschte, er könnte die Zeit bis zum letzten Abend zurückdrehen und sich dann ganz anders verhalten. Wäre er doch bei Brynn im Haus geblieben … oder hätte sich zumindest vergewissert, ob Francesca emotional stabil war. Nie hätte er gedacht, dass die junge Frau sich einfach aus dem Staub machen würde. Jetzt hatte er das Gefühl, alle im Stich gelassen zu haben, besonders Brynn.

Schrecklich, dass sie jetzt auch noch das Baby im Haus hatte, das Daniel mit einer anderen Frau gezeugt hatte. Als hätte sie nicht schon genug durchgemacht!

Nick ging gerade die Stufen zum Eingang hoch, da öffnete Brynn ihm auch schon die Tür, das Baby auf dem Arm. Bei ihrem Anblick fühlte er sich wie im Rausch. Sie sah so wunderschön aus, wie sie da im Türrahmen stand. Ihre Haare hatte sie hinter die Ohren gestrichen wie damals auf der Highschool. Sie trug ein unförmiges T-Shirt und eine lockere Schlafanzughose, dadurch hatte er umso mehr das Gefühl, ihr in einem sehr intimen Moment zu begegnen.

„Du siehst müde aus.“ Kaum waren ihm die Worte herausgerutscht, bereute er sie schon wieder.

„Das bin ich auch. Außerdem habe ich Angst und fühle mich überfordert.“ Sie verdrehte die Augen. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich nicht noch für Sie zurechtgemacht habe, Chief, aber ich musste mich um die Kleine hier kümmern.“

„So habe ich das doch nicht gemeint.“ Er schloss die Tür und folgte Brynn ins Haus. „Und du musst dich nicht erst hübsch machen, du bist jetzt schon wunderschön.“

So war es doch besser, oder? Oder auch nicht – nach dem Blick zu urteilen, den sie ihm gerade über die Schulter zuwarf.

„Konntest du schon etwas über Francesca herausfinden?“, erkundigte sie sich.

„Noch nicht. Ich habe auf der Wache angerufen und außerdem die Kollegen benachrichtigt, die für die Highways zuständig sind. Das Jugendamt habe ich noch nicht kontaktiert, aber wenn sie nicht bald wiederauftaucht, müsste ich mich auch an das wenden.“

„Und was passiert dann mit Remi?“

Er sah Brynn dabei zu, wie sie einen Becher aus dem Schrank holte und Kaffee einschenkte. Wie schaffte sie es bloß, weiter zu funktionieren, während sie dazu noch das Baby im Arm hielt und um sie herum chaotische Zustände herrschten?

„Vielen Dank.“ Er nahm den Becher entgegen. „Sie kommt wahrscheinlich in eine Pflegefamilie – es sei denn, es gibt Verwandte, die sich um sie kümmern können. Die müssten allerdings erst mal gefunden werden.“

„Ich kenne ja nicht mal ihren Nachnamen.“ Brynn biss sich auf die Unterlippe. „Ich wünschte, ich hätte gestern Nacht ein paar Dinge anders gemacht.“

Nick trank einen großen Schluck Kaffee. „An der Vergangenheit lässt sich nichts ändern.“

Sie fixierte ihn mit ihren himmelblauen Augen. Zwischen ihnen baute sich eine fast unerträgliche Spannung auf. „Das weiß ich selbst sehr gut, das kannst du mir glauben“, sagte sie leise.

„Hi, Nick.“

Er wandte sich um und erblickte Tyler. Der Junge kam in die Küche und stellte sich neben seine Mutter.

„Hi, Tyler. Wie kommst du denn mit der Sache klar?“

„Ach, ich habe sie heute Morgen schon gefüttert und dafür gesorgt, dass sie ein Bäuerchen macht.“ Der Junge kitzelte den winzigen Fuß des Babys. „Dann hat sie mich bespuckt, aber so schlimm war das auch nicht.“

Brynn lächelte ihren Sohn an. Bei dem Anblick zog sich Nick das Herz zusammen.

„Beeindruckend“, sagte er zu dem Jungen. „Ich selbst würde mich ja nicht so gern bespucken lassen.“

Tyler zuckte mit den Schultern. „Hast du Remis Mom schon gefunden?“ Er betrachtete Nick ernst.

„Noch nicht, aber wir arbeiten daran.“

„Die Kleine kann gern so lange bei uns bleiben.“ Jetzt schaute Tyler seine Mutter an. „Oder?“

„Natürlich, wir kümmern uns um sie“, erwiderte Brynn, ohne zu zögern. „Aber es kann gut sein, dass sie Verwandte hat oder es sonst jemanden gibt, bei dem sie besser aufgehoben ist, mein Schatz.“

„Sie mag mich aber.“ Tyler zog die Augenbrauen zusammen. „Und ich mag sie auch. Ich wusste bis jetzt nicht, wie ich Babys so finde, aber heute habe ich gemerkt, dass ich sie mag. Colby Myers hat ja gerade einen kleinen Bruder gekriegt, aber der heult den ganzen Tag nur. Remi weint nicht so viel.“

„Bis jetzt nicht“, stimmte Brynn ihm zu und klang dabei so durcheinander, wie Nick selbst sich gerade fühlte.

Das Baby wiederum wirkte entspannt und fröhlich. Sie produzierte ein paar Spuckeblasen, dann griff sie nach Tyler.

„Guck mal, Mommy, sie mag mich wirklich!“

„Du bist ja auch ein toller Junge. Komm, wir legen sie im Wohnzimmer auf den Fußboden, dann kannst du ein bisschen mit ihr spielen, bevor du zur Schule musst. Ich glaube, wir haben auch noch ein paar alte Sachen von dir im Keller, die können wir erst mal für sie nehmen.“

„Cool“, sagte Tyler und lief voraus in Richtung Wohnzimmer.

Dort nahm Nick die Fleecedecke vom Sofa und breitete sie auf dem Boden aus. Brynn kniete sich neben ihn und setzte das kleine Mädchen vorsichtig auf der weichen Unterlage ab.

Remi schien begeistert zu sein, dass sie jetzt noch mehr Platz zum Strampeln hatte. Als Tyler sich neben sie auf die Decke setzte, schnitt sie Grimassen und grinste.

„Sie mag mich wirklich“, verkündete der Junge stolz.

„Das ist durchaus nachvollziehbar.“ Nick richtete sich auf.

Einen Moment lang betrachtete Brynn die beiden Kinder auf dem Boden wehmütig. Dann zwang sie sich, den Blick abzuwenden, und schenkte Nick ein schwaches Lächeln. „Hilfst du mir, ein paar Sachen aus dem Keller zu holen?“

„Klar.“ Gemeinsam gingen sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. „Ich rufe übrigens gleich noch mal auf der Polizeiwache an, vielleicht haben die inzwischen mehr über Francesca herausgefunden.“

„Und ich kann ja noch mal Daniels alte E-Mails durchgehen, vielleicht hat er ihr geschrieben und ich finde ihre Adresse oder ihren Namen?“ Sie seufzte. „Allerdings war er immer sehr gut darin, sämtliche Spuren zu verwischen … oder aber ich habe einfach nicht sehen wollen, wie unglücklich er mit mir war.“

Das zu hören machte Nick wütend. „Du trägst bestimmt keine Schuld daran, wie unmöglich Daniel sich verhalten hat.“

Sie versteifte sich. „Na ja, die Tatsache, dass da oben ein Baby liegt, das höchstwahrscheinlich seine Tochter ist, widerlegt das. Mir gegenüber hat mein verstorbener Mann nämlich immer steif und fest behauptet, dass er keine weiteren Kinder mehr wollte. Offenbar wollte er bloß keine weiteren Kinder mit mir.“

„Du weißt doch gar nicht, was das für eine Beziehung zwischen ihm und Francesca war … oder wie er zu ihrer Schwangerschaft stand.“

Sie lachte kurz und hart auf. „So ein Glück aber auch!“

„Jedenfalls muss ich früher oder später das Jugendamt einschalten. Je früher, desto besser für dein seelisches Wohl, würde ich sagen.“

Brynn ging in den hinteren Teil des Kellers, wo sich mehrere graue Plastikboxen stapelten. „Was willst du damit sagen?“, erkundigte sie sich und ging auf die Zehenspitzen, um den obersten Behälter herunterzuholen.

Er stellte sich hinter sie. Unglaublich, dass so eine kleine, zarte Person innerlich so unglaublich stark sein konnte! Seine Arme berührten ihre Schultern, ein sanfter Vanilleduft umgab ihn. War das möglich? Roch sie wirklich immer noch so wie damals auf der Highschool? Und warum berührte ihn dieser Duft so tief und grundlegend? Er spürte ihre unmittelbare Nähe, und außer dem Brummen des Heizofens waren nur ihre Atemzüge zu hören.

„Wenn du kurz die oberste Box runternimmst“, sagte sie schließlich, „komme ich gut an den heran, den ich eigentlich brauche.“

Nick nahm den Behälter vom Stapel und stellte ihn einige Schritte von ihr entfernt auf den Boden – um dort tief Luft zu holen, ohne dabei Vanilleduft einzuatmen. Obwohl er am liebsten das Gesicht in ihre Halsbeuge geschmiegt hätte und so lange hinter ihr stehen geblieben wäre, wie sie es zugelassen hätte …

„Wie hast du das eben mit meinem seelischen Wohl gemeint?“, fragte sie ihn erneut und reichte ihm die schwere Plastikbox. Ihre Wangen glühten.

„Na ja, wir wissen doch beide, wofür das Baby steht“, erwiderte er. Schlagartig war er wieder in der Wirklichkeit angekommen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sie hierbehalten willst.“

Als Brynn erschrocken nach Luft schnappte, hatte er sofort ein schlechtes Gewissen. Aber es half nichts, die unangenehme Wahrheit zu verdrängen, sie mussten ihr beide ins Gesicht sehen.

Brynn schüttelte den Kopf. „Remi hat an der ganzen Sache keine Schuld, und sie ist gerade völlig allein, ihre Mutter ist verschwunden. Außerdem ist sie Tylers Halbschwester. Deswegen darf sie gern hierbleiben, so lange, wie es nötig ist.“

„Willst du Tyler die Wahrheit sagen?“

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Ja, das heißt … nein. Vielleicht sobald wir etwas genauer wissen, wie es weitergeht.“

Sie gingen zur Treppe, dort blieb Nick jedoch stehen. Er stellte die Box auf die unterste Stufe und wandte sich Brynn zu. Auch sie hatte einen Behälter auf dem Arm, darauf klebte ein Schild mit der Aufschrift Babykleidung. Nick nahm ihn ihr ab, um ihn auf den Zementboden zu stellen.

„Was wünschst du dir, Brynn?“ Er legte ihr einen Finger unters Kinn und hob es leicht an. „Sag es mir bitte, dann tue ich alles dafür, was ich kann, das schwöre ich dir. Wirklich alles.“

Einen kurzen Augenblick lang meinte er eine tiefe Verletzlichkeit in ihrem Blick zu erkennen – als würde sie tatsächlich in Erwägung ziehen, sich von ihm helfen zu lassen. Dann könnte er endlich einige Fehler wiedergutmachen, die er früher begangen hatte.

Doch schließlich blinzelte sie und schloss ihn wieder aus ihrer Gefühlswelt aus. Mit einem Ellenbogen schob sie ihn aus dem Weg und hievte den Behälter hoch, den er eben abgestellt hatte. „Ich wünsche mir das, was für Tyler und das Baby am besten ist. Das ist alles, was für mich zählt.“

Drei Stunden später ging Brynn in ihr Büro; den Tragegriff des Kindersitzes mit Remi hatte sie sich über einen Arm gelegt. Erst seit wenigen Monaten war sie für die Dennison Mill tätig, ein ehemaliges Sägewerk, aus dem jetzt das neue Einkaufs- und Veranstaltungscenter von Starlight entstanden war. Trotzdem identifizierte sie sich schon voll mit dem Projekt.

Immerhin war sie mit Josh und Parker Johnson zusammen aufgewachsen: Die Brüder hatten das alte Sägewerk gekauft und zu einem Mehrzweckgebäude umbauen lassen. Und Brynn hatte sich als alleinerziehende Mutter nach einer Tätigkeit gesehnt, die sie herausforderte und erfüllte und von der sie und Tyler gleichzeitig leben konnten.

Bisher hatte sie für die Dennison Mill einen Kunsthandwerksmarkt, ein Weihnachts-Shopping-Event und mehrere kleine Konzerte geplant: Sie wünschte sich, dass die Adventszeit im alten Sägewerk ein voller Erfolg wurde. Damit wollte sie allen zeigen, was in ihr steckte – nicht zuletzt sich selbst.

Das Baby im Kindersitz blickte zu ihr hoch und saugte zufrieden an seinem Schnuller. Ob dem Mädchen wohl klar war, dass ihr Leben auf dem Kopf stand?

Natürlich nicht, trotzdem kamen Brynn immer wieder die Tränen, wenn sie die Kleine ansah. Was würde wohl aus ihr werden?

Nick hatte einen Freund angerufen, der für das Jugendamt arbeitete. Dem wiederum war es gelungen, die zuständige Sozialarbeiterin davon zu überzeugen, sich mit der Bearbeitung des Falles etwas Zeit zu lassen. So konnten sie den Rest des Tages dafür nutzen, Francesca aufzuspüren.

Neue Hinweise über ihren Aufenthaltsort hatte es nicht gegeben, außerdem fragte sich Brynn, ob sie wirklich mit allen Mitteln versuchen sollten, sie zu finden. So ungern sie es sich auch eingestand: dass Francesca abgetaucht war, konnte sie sehr gut nachvollziehen. Es war so oder so schon eine große Herausforderung, Mutter zu werden. Aber dabei ganz auf sich gestellt zu sein konnte einen durchaus in Panik versetzen. Und wäre Francesca überhaupt in der Lage, Remi die notwendige Liebe und Fürsorge zukommen zu lassen, wenn sie sich das Kind doch gar nicht gewünscht hatte?

Brynn stellte den Kindersitz neben ihren Bürostuhl, dann setzte sie sich an den Schreibtisch und startete den Computer. Sie startete ihr berufliches Mailprogramm … und erstarrte, als ihr Blick auf eine Nachricht fiel, die offenbar vor einer Stunde abgeschickt worden war. In der Betreffzeile stand Remi.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Mail anklickte. Wie erwartet stammte sie von Francesca. Darin erklärte die junge Frau, dass Daniels Tod ein riesiges Loch in ihr Herz gerissen hatte und dass sie sich nicht vorstellen konnte, das Baby allein großzuziehen. Sie schrieb, dass sie Zeit brauchte, um ihre Gefühle zu sortieren. Remi wäre wohl besser bei Menschen aufgehoben, die ganz für sie da sein konnten.

Brynn leitete die Mail an Nicks Polizeiadresse weiter, dann schickte sie ihm mit dem Handy noch eine Textnachricht dazu.

Im Grunde ihres Herzens hatte Brynn schon geahnt, dass Remis Mutter nicht wieder zurückkommen würde, um das Baby wieder zu sich zu nehmen. Trotzdem hatte sie daran glauben wollen. Bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, klopfte es an der Tür.

Brynn blickte auf. Im Türrahmen stand ihre Freundin Mara Johnson und winkte ihr lächelnd zu. Als sie Brynns Gesichtsausdruck sah, weiteten sich ihre haselnussbraunen Augen und ihre Miene wurde ernst. „Hey, was ist los?“ Sie kam ins Büro und schloss die Tür. „Haben sie Francesca inzwischen gefunden?“

„Sie hat mir eine E-Mail geschickt.“ Brynn sah zu dem kleinen Mädchen hinab und rieb sich über das Gesicht. „Sie will das Kind wirklich weggeben, das war keine Kurzschlussreaktion. Sie ist wohl ziemlich entschlossen und gleichzeitig traurig. Und sie schreibt, dass sie Zeit braucht, um sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Ich verstehe nicht, wie sie so eine Entscheidung treffen kann. Du etwa?“

Ihre Freundin kam zu ihr und umarmte sie fest. „So richtig hineinfühlen kann ich mich nicht. Aber du musst wissen, dass wir hier alle für dich und Tyler da sind.“

„Oje.“ Brynn lachte auf. „Wenn du mich sogar umarmst, dann muss es wirklich schlimm um mich stehen.“

Mara trat einen Schritt zurück. „Wieso? Ab und zu umarme ich auch mal jemanden. Schließlich bin ich ein warmherziger und mitfühlender Mensch. Eine zweite Mutter Teresa sozusagen.“ Während sie das sagte, zuckte es um ihre Mundwinkel: Obwohl sie tatsächlich ein herzensguter Mensch war, wirkte sie auf Außenstehende eher unnahbar. „Okay“, sagte sie schließlich. „Wenn ich ganz ehrlich bin: Du siehst echt schlimm aus. Da konnte ich nicht anders und musste dich kurz drücken.“

„Das weiß ich sehr zu schätzen.“ Brynn wies auf das Baby. „Schau sie dir doch mal an. So ein süßes, unschuldiges Mädchen, und jetzt ist sie ganz auf sich gestellt.“

Im Moment war Remi mit den Figuren beschäftigt, die von dem Griff des Kindersitzes baumelten, ein bunter Schmetterling schien es ihr besonders angetan zu haben. Sie ahnte ja nicht, in was für einer Lage sie steckte.

Der Gedanke daran brach Brynn das Herz.

„Sie ist aber nicht allein. Sie hat doch dich.“ Mara reichte Brynn eine braune Papiertüte. „Lass mich raten: Du hast heute Morgen noch nicht gefrühstückt. Darum habe ich dir Blaubeermuffins mitgebracht. Du musst unbedingt etwas essen.“

„Vielen Dank.“ Brynn öffnete die Tüte und atmete den wunderbaren Duft von Maras frisch gebackenen Köstlichkeiten ein. So tough ihre Freundin wirkte, so viel Liebe steckte in den selbst gebackenen Dingen, die sie für die beiden Cafés in Starlight zubereitete.

Brynn brach ein Stück Muffin ab, während sie darüber nachdachte, was sie als Nächstes tun sollte. Der süß-würzige Geschmack der Blaubeeren verursachte kleine Geschmacksexplosionen auf ihrer Zunge. Obwohl sie sich gerade wie betäubt fühlte, war ihr offenbar der Sinn für die schönen Dinge im Leben noch nicht verloren gegangen – zum Beispiel für diesen perfekten Muffin.

„Glaubst du wirklich, dass Daniel vorhatte, dich für Francesca und das Baby zu verlassen?“ Mara runzelte die Stirn. „Ich meine … er war zwar ein echter Mistkerl, aber nicht mal von ihm kann ich mir vorstellen, dass er so einfach seine Familie im Stich lässt, um eine neue zu gründen.“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Brynn. „Ich habe ja immer weggeschaut und weggehört, wenn die Leute über seine Seitensprünge getuschelt haben … Aber so gefühlvoll, wie Francesca von ihm erzählt hat, war es wenigstens ihr wirklich ernst. Ich kann das alles schwer einschätzen.“

„Du kennst sie aber nicht“, bemerkte Mara. „Darum kannst du dir nicht sicher sein, ob sie wirklich nur mit ihm etwas hatte. Ich sage das nur ungern, aber ohne Vaterschaftstest lässt sich unmöglich feststellen, ob Remi …“

„Sie ist eindeutig seine Tochter.“ Brynn schnallte das Baby aus dem Sitz los und hob sie hoch. „Sie hat große Ähnlichkeit mit ihm und sieht fast so aus wie Tyler als Baby.“

„Das beweist noch lange nichts.“

Brynn zuckte mit den Schultern. „Ich kann das zwar nicht erklären, aber ich bin mir absolut sicher, dass sie Tylers Schwester ist.“

„Auf jeden Fall ist sie sehr süß.“ Maras kritische Miene entspannte sich, als Remi sie breit angrinste, und sie lächelte zurück. Dabei fiel dem Baby der Schnuller aus dem Mund, doch Brynn fing ihn rechtzeitig auf.

„Das ist schon eine schwierige Situation, aber ich glaube, es lässt sich alles irgendwie regeln“, fuhr Mara fort. „Wenn Francesca das Sorgerecht aberkannt wird, findet sich bestimmt eine nette Familie, die sie adoptiert. Vielleicht hat sie auch Verwandte, die …“

„Ich will sie behalten“, flüsterte Brynn und biss sich auf die Unterlippe. Seit Tyler seine Schwester so liebevoll im Arm gehalten hatte, war der Gedanke in ihrem Kopf herumgespukt: Schließlich waren die beiden miteinander verwandt. Wenn Remis Mutter nicht für sie sorgen konnte, würde Brynn es eben tun.

„Das meinst du doch nicht ernst.“ Mara atmete stockend aus. „Ich weiß ja, dass du ein großes Herz hast, aber das wäre wirklich kein guter Plan.“

Brynn versteifte sich. „Und warum nicht?“

„Weil sie Francescas Baby ist und die wiederum Daniels Geliebte war. Und er mit noch einer anderen Frau tödlich verunglückt ist. Wie willst du ihr das erklären?“

„Seit dem Unfall habe ich so einige unerklärliche Dinge erlebt.“

Plötzlich gab Remi einen leisen verzweifelten Schrei von sich. Sofort lockerte Brynn ihren Griff. „Na toll, jetzt erdrücke ich sie schon fast. So was macht sich bestimmt gut, wenn ich mich als Adoptivmutter bewerbe.“ Sanft klopfte sie der Kleinen auf den Rücken und sprach beruhigend auf sie ein.

„Als Adoptivmutter …“, wiederholte Mara. „Hast du dir das auch gut überlegt?“

„Darüber muss ich nicht erst nachdenken. Ich spüre, dass es richtig ist.“ Sie legte sich zwei Finger auf die linke Brust. „Und zwar hier.“

Als das Baby auch noch den Kopf an ihre Schulter schmiegte, fühlte sich das an wie eine Bestätigung. „Ich schaffe das schon. Tyler und Remi sind immerhin Geschwister. Das Ganze ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber ich kann mich gut um sie kümmern.“

Mara schüttelte den Kopf. „Das überzeugt mich zwar noch nicht, aber ich bin trotzdem immer für dich da, wenn du mich brauchst.“

Brynn warf einen Blick auf die Uhr und stieß einen leisen Schrei aus. „Oje, im Moment brauche ich einen Düsenantrieb, weil jetzt sofort die Besprechung mit den Ladenbesitzern für das Weihnachts-Shopping-Event anfängt. Ich muss sie darüber auf dem Laufenden halten, wie ich dafür werben will.“

„Okay, dann passe ich so lange auf Remi auf.“ Mara streckte die Arme nach dem Mädchen aus. „Ich habe noch etwas Zeit, bevor ich wieder in die Stadt muss.“

5. KAPITEL

„Das kann unmöglich dein Ernst sein.“ Nick blickte Brynn fassungslos an. „Du kannst doch nicht das Baby einer Frau adoptieren, die Daniels Geliebte war.“

Die beiden brachten gerade gemeinsam Brynns Wohnzimmer in einen halbwegs staubfreien Zustand: Die Sozialarbeiterin hatte sich angekündigt, um nach Remi zu schauen und mit Brynn über die Zukunft des Mädchens zu sprechen.

Brynn wandte sich zu ihm um. „Warum denn nicht? Mir ist es inzwischen egal, mit wie vielen Frauen Daniel eine Affäre hatte.“ Sie schaute kurz zum hinteren Teil des Hauses hinüber, um sich zu vergewissern, dass Tyler immer noch in sein Videospiel vertieft war. „Weißt du eigentlich, was sich die Leute hier in der Stadt schon alles über mich erzählen? Dass ich hinter meinen Möglichkeiten zurückgeblieben bin und lauter Fehlentscheidungen getroffen habe?“

Sie stöhnte leise auf, dann fuhr sie fort: „Für viele bin ich ein leichtsinniges Mädchen, das gleich beim ersten Mal schwanger geworden ist und damit den edelmütigen Daniel Hale ins Unglück gestürzt hat – weil er mich heiraten musste. Ich bin die bemitleidenswerte junge Mutter, die jahrelang nachts Toiletten schrubben musste, nur damit sie genug Geld zusammenbekommt, um ihrem Sohn einen Kindergeburtstag auszurichten und ihm jedes Schuljahr neue Kleidung kaufen zu können. Ich bin Brynn Hale, die von ihrem Mann nach Strich und Faden betrogen wurde, und ganz Starlight wusste Bescheid.“

„Hier hat bestimmt niemand ein schlechtes Bild von dir“, erwiderte Nick.

„Und warum zuckt dann deine rechte Augenbraue, während du das sagst?“

„Wie meinst du das?“

„Daran habe ich schon immer erkannt, dass du lügst.“

Inzwischen standen sie sich so dicht gegenüber, dass Brynn die goldenen Einsprengsel in seinen braunen Augen ausmachen konnte … und seinen Atem roch, der nach Zimtkaugummi duftete. Plötzlich fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt.

„Ich lüge aber nicht.“ Er schob das markante Kinn vor. „Es gibt hier niemanden, der auf dich herabschaut. Jedenfalls niemanden, der wichtig ist.“

„Dann werden die Leute sich wohl damit arrangieren, dass Remi bei mir bleibt.“

„Da hast du auch wieder recht.“ Ohne den Blick von ihr abzuwenden, berührte er ihre Hand – ganz leicht nur, aber Brynn kam es so vor, als hätte er damit eine Explosion in ihrem Inneren ausgelöst. „Dieses Jahr musstest du wirklich viel durchmachen“, sagte er mit gedämpfter Stimme.

„Tyler auch“, erinnerte sie ihn. „Es wäre bestimmt schön für ihn, wenn er eine Schwester hätte.“

„Im Moment mache ich mir eher Sorgen darüber, was das für dich bedeuten würde.“

„Das ist aber nicht deine Aufgabe.“ Sie zog sich ein Stück zurück, da nahm er schnell ihre Hand.

„Wir sind doch gute Freunde, du bist mir wichtig. Natürlich mache ich mir da Sorgen.“

Sie senkte den Kopf, ihr Blick fiel auf seine Finger, die er mit ihren verschränkt hatte. Es fühlte sich einerseits seltsam an, andererseits aber auch schön, dass Nick seine warme, kräftige, raue Hand um ihre schloss.

Sie sah ihm ins Gesicht und stellte fest, dass er gerade ihren Mund fixierte. In seinen Augen lag etwas, das wie tiefe Sehnsucht aussah … und das machte ihr schreckliche Angst. Gleichzeitig faszinierte es sie.

In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür.

Draußen stand die Sozialarbeiterin, die sich angekündigt hatte. Jennifer Ryan war etwa Mitte vierzig, trug einen gerade geschnittenen Bob und wirkte sehr patent. Sie begrüßten sich, dann zog sich Nick zurück, damit sie und Brynn in Ruhe miteinander sprechen konnten.

Nervös beantwortete Brynn die Fragen, die die Frau ihr zu Francesca, ihrem verstorbenen Mann und ihrem jetzigen Leben als alleinerziehende Mutter stellte. Die ganze Zeit schlief das Baby in ihren Armen. Remis Körperwärme und ihr Gewicht hatten eine beruhigende Wirkung auf Brynn. Sie erklärte, dass sie Remi gern adoptieren würde, wenn Francesca nicht wiederauftauchen sollte, denn dann könnte das Mädchen zusammen mit ihrem Halbbruder aufwachsen.

Die Sozialarbeiterin blinzelte einige Male kurz, bevor sie antwortete. „Das ist wirklich eine sehr ungewöhnliche Situation, und ich finde es bewundernswert, dass Sie sich dazu bereit erklären. Im Moment sind Sie ja noch nicht als Pflegemutter zugelassen …“ Jennifer Ryan blätterte in einer Mappe. „Wir können das aber gern schon mal beantragen, allerdings beträgt die Bearbeitungszeit etwa zwei Wochen, momentan vielleicht sogar länger.“

„Darf Remi denn so lange hierbleiben?“, hakte Brynn nach. Eine leise Panik überkam sie, und sie schmiegte das Baby fester an sich. „Sie können sich gern in der Stadt nach mir erkundigen und sich ausführlich hier im Haus umsehen … ich bin mit allem einverstanden.“

„Ganz so einfach ist es leider nicht“, erwiderte die Sozialarbeiterin sanft, aber bestimmt. „Das Gesetz sieht vor, dass das Kind sofort zu jemandem kommt, der von behördlicher Seite aus anerkannt ist. Und die nächste Pflegefamilie, die infrage kommt, wohnt leider nicht direkt hier in der Nähe, sondern in Pullman.“

„Das geht nicht!“ Brynn schluckte und blickte von der Frau ihr gegenüber zu Nick, der gerade wieder ins Zimmer gekommen war und jetzt neben dem Sofa stand. „Pullman ist eine Autostunde von hier entfernt. Ich möchte, dass Remi hier bei uns bleibt.“ Genauer konnte Brynn es nicht erklären. Ihr Herz sagte ihr einfach, dass es das einzig Richtige war. Für sie alle.

Nick betrachtete sie voller Mitgefühl, als könnte er ihren Schmerz selbst spüren.

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte die Sozialarbeiterin. „Aber das Kind darf nur zu einer anerkannten …“

„Dann nehme ich sie eben bei mir auf.“ Nick rieb sich die Schläfe. „Ich bin dafür zugelassen, ein Pflegekind aufzunehmen, die Dokumente sind aktuell.“

„Tja dann …“ Jennifer Ryan lächelte vorsichtig. „Dann bedanke ich mich bei Ihnen, Chief Dunlap. Ich kümmere mich jetzt um die Formulare und …“

„Nein.“ Das Wort war Brynn einfach so herausgerutscht.

Nick und die Sozialarbeiterin starrten sie verwundert an. „Haben Sie Einwände gegen den Police Chief?“

Das klang wie eine Fangfrage. „Nein, nicht gegen Nick, aber …“ Sie wandte sich ihm zu. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

So angespannt er gerade wirkte, jetzt lächelte er doch. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich alles tun würde, um dich zu unterstützen?“ Er nahm ihr das Mädchen ab und ging dabei erstaunlich selbstverständlich mit ihr um. „Remi und ich kommen schon ein paar Wochen lang miteinander klar, bis du deine Genehmigung hast.“ Er beugte sich zu ihr vor. „Und wie du siehst, zuckt bei mir gerade nichts im Gesicht. Also meine ich es wirklich ernst.“

„Mrs. Hale?“

Benommen sah Brynn zu der Sozialarbeiterin hinüber.

„Wenn so weit alles geklärt ist, mache ich mich wieder auf den Weg. Kommen Sie am besten demnächst bei mir im Büro vorbei, damit ich Ihre Fingerabdrücke abnehmen kann. Wir müssen dann noch Informationen über Ihren Hintergrund einholen, außerdem gibt es einen offiziellen Hausbesuch.“

„Verstehe“, murmelte Brynn.

„Vielen Dank, dass Sie eingesprungen sind“, sagte die Frau zu Nick. Sie stand auf und klopfte dem Baby sanft auf den Rücken. „Ich lasse Ihnen alle weiteren Informationen per E-Mail zukommen, und meine Handynummer haben Sie ja.“

„Vielen Dank“, erwiderte Nick. „Und grüßen Sie Ihren Mann von mir. Wir wollten im Frühjahr mal zusammen angeln gehen.“

„Darauf kommt er bestimmt zurück.“

Nachdem sie die Sozialarbeiterin verabschiedet hatten, wandte Nick sich wieder Brynn zu. „Na, das ist ja besser gelaufen, als ich dachte.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Wir kriegen das schon hin.“ Er schaukelte das Baby sanft hin und her. „Das heißt dann, dass wir über die Feiertage viel zusammen sind, aber da kann ich mir Schlimmeres vorstellen.“

Immer noch starrte sie ihn an. Natürlich gab es Schlimmeres, als sich die nächsten Wochen in Nicks Nähe aufzuhalten … und trotzdem würde es sie ganz schön mitnehmen.

Nick war sofort losgelaufen, als er Remi hatte weinen hören. Er hatte ihr im Gästezimmer ein Babyzimmer eingerichtet, seine Mutter hatte ihm dafür ein Kinderbett geliehen. Als er in den Raum kam, der nur von einem schwachen Nachtlicht beleuchtet war, schrie die Kleine bereits wie am Spieß.

Und nun? Er hatte keine Ahnung, wie man ein Baby am besten beruhigte. Gut, nach seinem zweiten Dienstjahr hatte er sich für das Pflegeeltern-Programm angemeldet, allerdings hatte er sich dabei vorgestellt, dass er sich dann ein bisschen um ältere Kinder oder Jugendliche kümmern würde. Natürlich hatte er in der dazugehörigen Fortbildung ein paar Dinge gelernt, war aber nicht davon ausgegangen, dass er einmal ein Baby bei sich aufnehmen würde.

Theoretisch wusste er also, was zu tun war. Aber in der Praxis sah es ganz anders aus … Und jetzt, wo er nachts ganz allein mit Remi war, fühlte er sich völlig überfordert.

Er nahm sie hoch und versuchte, nicht darauf zu achten, wie sehr seine Hände zitterten. Dabei orientierte er sich daran, wie andere Eltern ihre kleinen Kinder gehalten hatten: Bekannte und Arbeitskollegen. Mit einer Hand stützte er Remis Kopf, mit der anderen umfing er ihren Körper.

Er schnupperte an ihr, aber sie roch wunderbar nach Baby, konnte also keine volle Windel haben. Es war auch nicht lange her, dass er sie gefüttert hatte. Und trotzdem: Während er sie an sich schmiegte, schrie sie immer lauter und beharrlicher.

„Wenn ich nur wüsste, was du mir damit sagen willst“, seufzte er und versuchte, sich verzweifelt an alle Tipps für die Babypflege zu erinnern, die er mal mitbekommen hatte.

Zunächst drehte er mit Remi mehrere Runden im Zimmer und wiegte sie dabei sanft hin und her – das hatte er sich bei seinen Kollegen abgeguckt. „Bitte, hör doch auf zu weinen“, sagte er. „Bitte, bitte, hör doch auf.“ Zunächst wiederholte er die Worte immer wieder rhythmisch, dann dachte er sich eine Melodie dazu aus und sang sie stattdessen: ein Schlaflied, das aus seiner Verzweiflung heraus entstanden war.

Seltsamerweise wurde Remi dabei tatsächlich ruhiger. Erstaunt hörte er auf, und sofort fing das kleine Mädchen wieder an zu brüllen.

War das etwa das ganze Geheimnis? Ließen sich Babys wirklich mit Musik beruhigen? Weil Nick allerdings weder Kinder- noch Schlaflieder kannte, entschied er sich stattdessen für sein Lieblingslied von Johnny Cash.

Während der ersten Strophe wimmerte Remi noch leise weiter, als Nick jedoch den Refrain anstimmte und vom „burning ring of fire“ sang, entspannte sie sich merklich. Er atmete auf. Um auf Nummer sicher zu gehen, hängte er noch seine Version von „Stand by your man“ hinten an. Als er wieder zu ihr hinunterschaute, schlief sie tief und fest in seinen Armen und hatte dabei eine kleine Hand in sein Flanellhemd gekrallt.

So behutsam wie möglich legte er sie wieder ins Kinderbett. Dann blieb er eine Weile daneben stehen, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich schlief.

Gerade hatte er sich zur Tür umgewandt, da blieb er abrupt stehen. Sein Herz hämmerte wie wild: Er und Remi waren nicht mehr allein im Zimmer.

Im Türrahmen stand Brynn und starrte Nick an. Als hätte er sie mit seinem Gesang genauso in seinen Bann gezogen wie die kleine Remi.

Autor

Joanna Sims
<p>Joanna Sims brennt für moderne Romances und entwirft gerne Charaktere, die hart arbeiten, heimatverbunden und absolut treu sind. Die Autorin führt diese auf manchmal verschlungenen Pfaden verlässlich zum wohlverdienten Happy End. Besuchen Sie Joanna Sims auf ihrer Webseite www.joannasimsromance.com.</p>
Mehr erfahren
Teresa Southwick
Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
Mehr erfahren
Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
Mehr erfahren
Laurel Greer
<p>Laurel Greer wuchs in einem kleinen Städtchen auf Vancouver Island auf und fing schon während der Schulzeit für einen Fan-Fiction-Wettbewerb zu schreiben an. - Und seitdem hat sie damit nicht mehr aufgehört! Am liebsten schreibt Laurel Bücher über zweite Liebeschancen, bei denen die Erotik nicht zu kurz kommt. Sie lebt...
Mehr erfahren