Bianca Extra Band 109

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ZWEITE CHANCE IN RUST CREEK FALLS von STELLA BAGWELL
Eine Mommy muss her! Das hat sich der kleine Sohn von Dr. Drew Strickland offenbar fest vorgenommen. Denn plötzlich findet Drew sich immer wieder in der Nähe der bezaubernden Bibliothekarin Josselyn wieder. Dabei weiß er nicht, ob sein gebrochenes Herz noch einmal lieben kann …

ZURÜCK IN DEINEN ARMEN von HEATHERLY BELL
An ihrem ersten Arbeitstag ist Valerie nervös wie nie: Ihr neuer Boss ist ihre Jugendliebe Cole! Von seinen legendären Flirtkünsten darf sie sich auf keinen Fall beeindrucken lassen, denn sie ist nur auf Zeit in der Stadt. Doch in seinen Armen lässt jede Vernunft sie im Stich …

HEIMLICH VERHEIRATET MIT DEM MILLIONÄR von HELEN LACEY
Ihre Ehe mit Liam O’Sullivan wollte Kayla eigentlich geheim halten – denn ihre Familien sind bitter verfeindet! Doch bald trägt die große Liebe süße Früchte, die Kayla nicht mehr lange verbergen kann. Bedeutet das das Ende für ihr Glück?

EINE ÄUSSERST BEZAUBERNDE NANNY von TERI WILSON
Für ihre neue Kolumne will Journalistin Madison dringend mehr über Babys lernen. Dafür bittet sie Single Dad Jack um Hilfe. Während sie seine süßen Töchter betreut, lernt sie auch ihn besser kennen. Jetzt darf sie sich nur nicht in den gut aussehenden Feuerwehrmann verlieben!


  • Erscheinungstag 03.05.2022
  • Bandnummer 109
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507806
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Stella Bagwell, Heatherly Bell, Helen Lacey, Teri Wilson

BIANCA EXTRA BAND 109

STELLA BAGWELL

Zweite Chance in Rust Creek Falls

Josselyn kann kaum glauben, dass der attraktive Drew sie auf ein Date einlädt. Hat er wirklich Interesse an ihr – oder tut er das nur für seinen kleinen Sohn, der sich verzweifelt eine Mutter wünscht?

HEATHERLY BELL

Zurück in deinen Armen

Valerie ist zurück! Cole Kinsella, überzeugter Single, hat große Schwierigkeiten, der klugen Schönheit nicht zu verfallen. Doch er darf nicht vergessen, dass Valerie ihn damals eiskalt abserviert hat …

HELEN LACEY

Heimlich verheiratet mit dem Millionär

Liam hat seine große Liebe Kayla geheiratet – ist aber kreuzunglücklich, denn ihre Familie darf es nicht wissen! Und als Liam etwas Schockierendes entdeckt, ist seine Traum-Ehe plötzlich in Gefahr …

TERI WILSON

Eine äußerst bezaubernde Nanny

Jack und Madison könnten nicht unterschiedlicher sein: Er steht fest im Leben, sie ist eine verwöhnte Großstadtprinzessin. Trotzdem wird sie seine neue Nanny – und schleicht sich auch bald in Jacks Herz!

1. KAPITEL

„Wow! So viele Leute. Das wird bestimmt lustig, Dad!“

Drew Strickland stöhnte innerlich, als er den Blick über die Menschenmenge schweifen ließ, die den Park von Rust Creek Falls bevölkerte. „Ja, sieht ziemlich voll aus.“ Er wandte sich seinem Sohn Dillon zu. Mit seinen sieben Jahren war der Kleine schon erstaunlich gewitzt, und Drew fragte sich, was ihm heute wohl wieder alles einfallen würde.

Dillon hatte das Naturell seiner verstorbenen Mutter geerbt, für die Schüchternheit ebenfalls ein Fremdwort gewesen war, und sein Aussehen entsprach ziemlich genau seinem Wesen. Die von Drew zuvor sorgfältig gekämmten Haare des Jungen waren schon wieder völlig zerzaust, und das karierte Baumwollhemd hing ihm halb aus dem Hosenbund. Dazu passten das erwartungsvolle Funkeln in seinen braunen Augen und sein schelmisches Grinsen.

Am liebsten hätte Drew sich unter irgendeinem Vorwand aus dem Park verdrückt, doch das konnte er seinem Sohn nicht antun. Dillon hatte sich so sehr auf das Schulfest gefreut, das in Rust Creek Falls anscheinend immer nach den Sommerferien, kurz nach Beginn des neuen Schuljahrs stattfand. Und sicher freute er sich auch darauf, seinen Dad einmal einen ganzen Tag für sich zu haben.

Drew war kein besonders fürsorglicher Vater, das war ihm bewusst. Und vermutlich war das der Grund, warum seine Eltern ihn dazu überredet hatten, die Vertretungsstelle in Montana zu übernehmen. Auf diese Weise wollten sie ihn dazu bringen, mehr Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen.

Dillon griff nach seiner Hand und zog ihn weiter. „Komm, Dad, du musst meine neuen Freunde kennenlernen.“

Obwohl sie erst vor einem Monat nach Rust Creek Falls gezogen waren, hatte sein kontaktfreudiger Sohn sich bereits in der Woche nach Schulbeginn mit einigen seiner Klassenkameraden angefreundet. Auch zu den Erwachsenen im Strickland Boarding House, dem Gästehaus von Drews Großeltern, hatte er ein gutes Verhältnis. Drew hingegen verhielt sich eher reserviert. Zwar hatte er Verwandte und Bekannte in der Kleinstadt, da er früher mit seinen Brüdern regelmäßig die Ferien bei seinen Großeltern verbracht hatte, doch zu keinem pflegte er engeren Kontakt.

Zum Teil mochte das daran liegen, dass er als Frauenarzt wenig Zeit für Geselligkeit hatte, doch im Grunde war er schon immer zurückhaltend gewesen, was soziale Kontakte anging. Das hatte er Evelyn überlassen, doch die war nicht mehr an seiner Seite.

Vater und Sohn hatten noch keine fünf Schritte zurückgelegt, als zwei Jungen und ein Mädchen in Dillons Alter angerannt kamen. „Hi, Dillon!“, riefen die drei unisono.

Freudestrahlend begrüßte Dillon seine Freunde und stellte sie voller Stolz seinem Vater vor. „Dad, das sind meine besten Freunde.“ Er deutete auf einen flachsblonden Jungen mit Sommersprossen und auf den dunkelhaarigen Jungen neben ihm. „Das sind Oliver und Owen.“ Dann wandte er sich dem kleinen Mädchen zu. „Und das ist Rory.“

Rory trug zwar Jeans und T-Shirt wie die beiden Jungen, doch das Plastik-Diadem auf ihren blonden Locken war definitiv ein weibliches Attribut.

Drew begrüßte das Trio mit einem freundlichen Lächeln. „Nett, euch kennenzulernen.“

„Dillon hat gesagt, dass Sie ein Held sind“, sagte Owen. „Sie sind doch Arzt, oder?“

Ein Held? Von wegen, hätte Drew gerne geantwortet. Wäre er ein Held, dann würde seine Frau jetzt mit ihm und seinem Sohn durch den Park spazieren. Dennoch schmeichelte es ihm, dass Dillon ihn derart auf den Sockel stellte.

„Stimmt, ich bin Arzt“, erwiderte er.

Owen schien beeindruckt. „Dann können Sie einen gebrochenen Arm reparieren und …“

„Klar kann er das, Dummkopf“, fiel ihm seine Freundin Rory ins Wort. „Das kann doch jeder Arzt.“

Oliver fand das Thema anscheinend langweilig. „Willst du mit uns kommen?“, wandte er sich an Dillon. „Wir gehen Tannenzapfen sammeln.“

„Wofür denn das?“, fragte Dillon.

Der dunkelhaarige Junge verdrehte die Augen. „Um die dämlichen Erstklässler damit zu bewerfen, was denn sonst?“

Drew wollte gerade einwenden, dass sein Sohn ganz sicher kein Kind mit Tannenzapfen bewerfen dürfe, als Dillon von sich aus sagte: „Nein, ich bleibe lieber bei meinem Dad, dann kann ich ihm alles zeigen. Er kennt hier ja fast noch keinen.“

„Alles klar, dann bis später“, rief Rory, und die drei liefen davon.

„Dillon, die Sache mit den Tannenzapfen …“

„Keine Sorge, Dad. Oliver tut nur gerne so, als wäre er ein starker Kerl, aber er ist ganz nett.“

„Freut mich zu hören.“ Drew versuchte sich zu erinnern, wie er als kleiner Junge gewesen war. Mit seinen dreiunddreißig Jahren hatte er schon so viel erlebt, dass seine Vergangenheit ganz in den Hintergrund gerückt war. Eines war sicher: Er hatte nicht viele Freunde gehabt. Im Grunde hatte er seine ganze Zeit auf der Familienfarm bei Thunder Canyon, einige Hundert Meilen westlich von Rust Creek Falls, verbracht. Er hatte bei der Farmarbeit geholfen und war mit seinen Brüdern ausgeritten, mehr Unterhaltung hatte er nicht gebraucht.

Er sah auf die Uhr. „Hast du Hunger? Hier gibt’s doch bestimmt irgendwo was zu essen.“

„Dad, wir wollen doch nicht gleich was essen!“ Dillon bedachte seinen Vater mit einem vorwurfsvollen Blick. „Lass uns doch erst die Mädchen ansehen.“

Einmal mehr wurde Drew bewusst, wie wenig er seinen Sohn kannte. Die letzten sechs Jahre seit Evelyns Tod hatte er es seinen Eltern Jerry und Barbara überlassen, sich um Dillon zu kümmern. Aber seit sie aus Thunder Canyon weggezogen waren, hatte Drew die alleinige Verantwortung. Keine leichte Aufgabe, wie er zunehmend feststellte.

„Die Mädchen ansehen?“, fragte er amüsiert. „Hättest du gern eine Freundin?“

Das verschmitzte Grinsen seines Sohnes verriet ihm, dass der Kleine irgendetwas im Schilde führte.

„Die da drüben mit den braunen Haaren, die ist total hübsch, und die Rothaarige neben ihr auch. Welche gefällt dir besser?“ Dillon zerrte an seinem Arm und deutete dabei auf zwei Frauen, die in einer Gruppe von Leuten standen.

„Suchst du etwa eine Freundin für mich?“ Irritiert blickte Drew zu den beiden Frauen hinüber. Er kannte sie flüchtig. Sie waren Lehrerinnen an Dillons Schule. „Die beiden sind wirklich hübsch, aber sie sind doch bestimmt glücklich vergeben. Abgesehen davon bin ich überhaupt nicht an einer Freundin interessiert.“

Dillon neigte den Kopf und sah skeptisch zu seinem Vater hoch. „Möchtest du nicht auch glücklich vergeben sein, Dad?“

Seufzend wandte Drew den Blick ab. Als seine Frau Evelyn gestorben war, war Dillon erst ein Jahr alt gewesen, hatte also keine Erinnerung an seine Mutter. Er konnte nicht wissen, wie sehr Evelyn ihren kleinen Sohn geliebt hatte, wie sie ihn gestillt und ihm Schlaflieder gesungen hatte. Drew hingegen erinnerte sich nur zu gut an alles. Evelyns Verlust blieb eine nagende Wunde, die niemals heilen würde.

Er beugte sich zu seinem Sohn hinunter. „Weißt du, Dillon, mit deiner Mutter war ich sehr glücklich verheiratet.“

Dillons kleines Gesicht zog sich in grimmige Falten. „Aber das ist doch so lange her, Dad! Jetzt bist du nicht mehr verheiratet!“

Drew seufzte tief. Wie sollte er bloß diesen Tag überstehen? „Ich kann dich ja gut verstehen, Dillon, die meisten deiner Freunde haben Vater und Mutter, und du hast nur einen Dad, aber so ist das eben.“

Trotzig schob Dillon die Unterlippe vor. „Du willst bloß nicht.“

Allmählich war Drew mit seiner Geduld am Ende. „Genug davon, jetzt gehen wir mal hinüber zu den Tischen, wo es was zu essen gibt.“

Während Vater und Sohn mit Appetit Hotdogs und Sandwiches verspeisten, schien Dillon sein Anliegen vergessen zu haben. Doch kaum waren sie fertig, zog er bereits wieder an Drews Arm.

Zum Glück entdeckte Drew seine Cousine Claire Wyatt, die als Köchin im Gästehaus der Stricklands arbeitete. Sie war mit ihrem Mann Levi und der vierjährigen Tochter gekommen.

„Da drüben ist Claire, komm, wir gehen mal zu ihr.“

„Dad, du nervst, Claire sehen wir doch andauernd, wenn wir zu Hause sind.“ Plötzlich wurde der Kleine ganz aufgeregt. „Schau mal, die Frau da drüben, die beim Getränkestand. Die ist ja hübsch!“

Unwillkürlich folgte Drew dem ausgestreckten Zeigefinger seines Sohnes. Er musste zugeben, dass Dillon einen guten Geschmack hatte. Die junge Frau war groß und schlank, mit langen Beinen in schmal geschnittenen Jeans. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem seitlichen Zopf geflochten, was ihrem hübschen Gesicht etwas Mädchenhaftes verlieh. Sie war definitiv sehr attraktiv, doch Drew spürte kein Anzeichen von Interesse.

Gerade als er seinen Sohn in eine andere Richtung ziehen wollte, sah die junge Frau zu ihnen herüber. Selbst aus der Entfernung bemerkte Drew, wie sie rot wurde, dann kehrte sie ihnen den Rücken zu.

Drew war die Situation extrem peinlich. Womöglich hielt sie ihn für einen Aufreißer.

„Dillon, jetzt reicht’s. Hör auf, die Frauen so anzustarren und mit dem Finger auf sie zu deuten. So was tut man nicht.“

Es kam nicht oft vor, dass Drew mit seinem Sohn schimpfte. Zugegebenermaßen hatte er bisher auch selten Gelegenheit dazu gehabt. Das würde sich vermutlich in der nächsten Zeit ändern, wenn er dieses siebenjährige Energiebündel täglich in Schach halten musste.

„Okay, Dad, ich mache das jetzt unauffälliger“, versprach Dillon. „Aber lass uns trotzdem zu ihr gehen. Sie sieht nett aus.“

Bevor er seinen Sohn warnen konnte, dass nicht jeder, der nett aussieht, auch wirklich nett ist, zog Dillon ihn derart auffällig zu der jungen Frau hin, dass Drew klein beigab und ihm widerstrebend folgte. Er wollte nicht vor allen Leuten eine Szene machen.

Die junge Frau hatte sich inzwischen wieder umgedreht und blickte ihnen neugierig entgegen.

„Hi! Ich bin Dillon Strickland“, sprach Dillon sie keck an. „Und das ist mein Dad. Er heißt Drew Strickland.“

„Ja, also … hallo Dillon und Drew“, erwiderte sie freundlich. „Ich bin Josselyn Weaver.“

Sie schüttelte Dillon die Hand, bevor sie sich an Drew wandte. „Ich bin die neue Bibliothekarin in der hiesigen Grundschule.“

Drew streckte ihr die Hand hin und spürte, wie ihre schlanken, zarten Finger sich um seinen Handrücken schlossen. Er fragte sich, weshalb er diese kurze Berührung derart intensiv wahrnahm, und hätte ihre Hand gern noch ein wenig länger festgehalten.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Weaver“, sagte er höflich. „Mein Sohn ist gerade in die zweite Klasse gekommen. Wir sind erst vor Kurzem hierhergezogen, und ich finde das Schulfest ist eine gute Gelegenheit, um die Lehrer und die anderen Eltern kennenzulernen.“

„Das stimmt.“ Josselyn lächelte Dillon freundlich zu. „Liest du denn gern, Dillon?“

Es war nicht zu übersehen, dass der Kleine bereits völlig dem Charme der jungen Frau erlegen war. „Oh ja!“, rief er, und seine braunen Augen strahlten vor Begeisterung. „Ich lese furchtbar gerne, also, ich meine, ich lese immer, wenn ich keine Videospiele mache oder Fernsehen gucke.“

Drew warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu. Das Bücherregal in seinem Kinderzimmer sah recht übersichtlich aus, zwei, drei Bücher für Leseanfänger und ein paar Comics.

Josselyn lachte, und Drew fand, dass ihr Lachen klang wie das fröhliche Bimmeln eines Pferdeschlittens in einer Winterlandschaft. Zu gern würde er es öfters hören.

„Solange du wenigstens ab und zu liest, ist das völlig in Ordnung.“ Sie wandte sich an Drew. „Mein Job ist es, interessante und spannende Geschichten für die Kinder auszusuchen, damit ihnen das Lesen Spaß macht.“

„Mit meinem Opa lese ich immer die lustigen Comics in der Zeitung“, meldete Dillon sich wieder zu Wort. „Er hat gesagt, ich könnte gut lesen.“

„Das freut mich. Dann sehen wir uns also bald einmal in der Bücherei.“

„Auf jeden Fall! Ich werde ganz oft kommen.“ Er grinste Josselyn an, dann sah er stolz zu seinem Dad hoch. „Mein Dad hilft den Frauen, Babys zu bekommen.“

Josselyn Weaver warf Drew einen belustigten Blick zu, und ihm fiel auf, dass sie grüne Augen hatte. Grün wie das frische Moos im Frühling. „Oh!“ Er räusperte sich verlegen. „Mein Sohn wollte sagen, ich betreue Frauen bei der Entbindung. Ich bin Frauenarzt.“

Sie musterte ihn aufmerksam. „Ah ja. Arbeiten Sie hier in Rust Creek Falls?“

„Ja, aber nur vorübergehend. Ich vertrete einen Kollegen, der gerade in einem Entwicklungshilfeprojekt arbeitet.“

„Das ist sicher eine gute Sache. Nett, dass Sie für ihn einspringen.“

Sie mochte es nett finden, aber für Drew war der Umzug in diese Kleinstadt vor allem ein Riesenaufwand gewesen. Veränderungen waren ihm seit jeher ein Gräuel. Sein Zuhause war in Thunder Canyon, dort war er geboren und aufgewachsen, dort hatte er mit Evelyn gelebt und in der örtlichen Klinik gearbeitet. Nur dort fühlte er sich wohl und unbehelligt vom Rest der Welt. Aber das alles brauchte diese freundliche junge Frau, die ihm gegenüberstand, nicht zu wissen.

„Ich hoffe, dass ich den Menschen hier von Nutzen sein kann.“ Er sah Dillon an, der die Konversation zwischen seinem Dad und Josselyn Weaver aufmerksam verfolgte. Drew konnte nur ahnen, was sich in der lebhaften Fantasie seines Sohnes abspielte. „Und ich glaube, Dillon gefällt es hier.“

Der Kleine nickte eifrig.

„Das freut mich. Du wirst bestimmt schnell Freunde finden.“

„Ein paar hab ich schon.“ Dillon schien einzufallen, was er eigentlich im Sinn hatte. „Sind Sie verheiratet?“, fragte er unverblümt.

„Nein.“ Josselyn schüttelte amüsiert den Kopf, und Drew hätte am liebsten laut aufgestöhnt.

„Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen, Miss Weaver. Er ist manchmal furchtbar direkt. Wissen Sie, er möchte, äh … also er will mir eine Freundin suchen.“

„Nein, keine Freundin!“, widersprach Dillon heftig. „Ich suche eine Frau für ihn!“

Um die Dreiergruppe herum herrschten Stimmengewirr und Gelächter und das fröhliche Lärmen der Kinder. Doch zwischen Drew und Josselyn entstand plötzlich unbehagliches Schweigen.

Josselyn fasste sich als Erste. „Also, das ist sicher nicht so einfach, da wünsche ich dir viel Glück, Dillon.“ Sie bedachte Drew mit einem vielsagenden Blick.

Der wäre am liebsten im Erdboden versunken. Entschlossen packte er Dillon an der Hand. „Wir müssen jetzt gehen. Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Miss Weaver.“

Ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, zog Drew seinen heftig protestierenden Sohn hinter sich her, möglichst weit weg von der hübschen Bibliothekarin.

„Dad, warum warst du denn so unfreundlich? Sie ist doch so nett und hübsch, und es hat ihr gefallen, mit uns zu reden. Das habe ich genau gemerkt.“

Mit grimmiger Miene, den Blick stur geradeaus gerichtet, bahnte Drew sich den Weg durch die Menge. „Ich glaube, wir haben jetzt genug gesehen. Zeit nach Hause zu gehen.“

„Aber wieso denn, Dad? Wir haben doch noch gar nicht mit allen geredet.“

„Wir sind nicht hergekommen, um mit allen zu reden.“ Es fiel Drew schwer, seinen Tonfall zu mäßigen. „Und wir sind ganz bestimmt nicht hergekommen, um irgendwelche Frauen anzubaggern.“

„Du hast es vermasselt, Dad“, brummte Dillon vor sich hin. „Du hast diese nette Frau einfach stehen lassen.“

Drew blickte auf seinen Sohn, der mit gesenktem Kopf neben ihm herging. Was verstand ein Siebenjähriger schon von Frauen? Anscheinend eine Menge, musste er zugeben. Josselyn Weaver war eine Frau, wie ein Mann sie sich nur wünschen konnte. Aber er wünschte sich keine Frau. Diese Idee musste sein Sohn sich ein für allemal aus dem Kopf schlagen.

„Wir sind doch nicht auf einer Angeltour.“

„Stimmt“, erwiderte Dillon missmutig, „zum Angeln gehe ich mit Gramps, nicht mit dir.“

Die Bemerkung versetzte Drew einen Stich. Während der kurzen Zeit, die sie hier waren, hatten Dillon und sein Uropa ein enges Band geknüpft. Darüber war Drew sehr froh, denn Old Gene war für seinen Sohn eine wichtige Bezugsperson. Andererseits war er aber auch ein wenig neidisch, weil er keine ähnlich enge Beziehung zu seinem Sohn hatte. Er musste sich eingestehen, dass es an ihm lag, und das tat weh.

Ein stärkerer Mann hätte nicht zugelassen, dass der Tod seiner Frau ihn derart lähmte, dass er es kaum schaffte, durch den Tag zu kommen, geschweige denn sich um sein Kind zu kümmern. Ein Mann mit mehr Rückgrat hätte sich nicht in seiner Arbeit vergraben und die Erziehung seines Sohnes anderen überlassen.

Drew wusste nicht, ob der Umzug in dieses kleine Städtchen in den Bergen ihm die Augen geöffnet hatte oder die Tatsache, dass sein Sohn größer und vernünftiger wurde und Forderungen stellte. Woran immer es liegen mochte, Drew erkannte, dass er sich ändern musste, um seinem Sohn ein besserer Vater zu werden.

2. KAPITEL

An diesem Abend saß Josselyn in ihrem gemütlichen kleinen Cottage auf dem Sofa und starrte gedankenverloren auf den Fernseher, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Nach dem langen Tag im Stadtpark hatte sie gehofft, sich beim Anschauen ihrer Lieblingsserie ein wenig entspannen zu können. Aber sie war mit den Gedanken ganz woanders; die Darsteller hätten genauso gut Chinesisch sprechen können, es wäre ihr nicht aufgefallen.

Entschlossen griff sie zur Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Seit sie nach dem Schulfest in ihr Auto gestiegen und nach Hause gefahren war, hatte sie an nichts anderes denken können als an Drew Strickland und seinen entzückenden kleinen Sohn.

Als Vater und Sohn auf sie zugekommen waren, hatte sie vermutet, dass irgendwo auch die Mutter wäre, die sich vielleicht gerade mit einer Freundin unterhielt. Deshalb hatte der kleine Dillon sie mit seiner direkten Frage völlig verblüfft.

Was wohl mit seiner Mutter sein mochte? Selbst wenn die Eltern geschieden wären, hätte der Junge doch sicher noch Kontakt zu ihr, und es käme ihm nie in den Sinn, einen Ersatz für sie zu suchen.

Mit einem frustrierten Seufzer erhob sie sich vom Sofa. Wieso konnte sie nicht aufhören, an die beiden zu denken? Vielleicht weil dieser Drew Strickland einfach umwerfend attraktiv war? Selbst Stunden nach der zufälligen Begegnung stand sein Bild ihr noch lebhaft vor Augen.

Sie trat ans Fenster und blickte hinaus auf die schattige Rasenfläche vor ihrem Cottage. Er war ein Mann, von dem jede Frau nur träumen konnte. Groß, schlank, mit dunklem, leicht welligem Haar, braunen Augen und einem Mund zum Küssen. Und wenn er lächelte, zeigten sich in seinen Wangen die bezauberndsten Grübchen, die sie je gesehen hatte.

Der Mann sollte ein Warnschild um den Hals tragen, das jede Frau davon abhielt, sich ihm auf mehr als drei Meter zu nähern. Und sein kleiner Sohn war einfach zum Anbeißen süß. Am liebsten hätte sie sich alle beide geschnappt und nicht mehr losgelassen.

Also wirklich, Josselyn, bist du noch ganz bei Sinnen? Vergiss die beiden mal ganz schnell wieder. Im Moment bist du doch mit deinem Leben sehr zufrieden.

Bis vor wenigen Wochen hatte sie noch in Laramie, Wyoming, unweit ihrer Eltern und Geschwister gewohnt. Die Weavers waren seit jeher eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, und keiner außer ihrer Mutter hatte verstanden, warum Josselyn aus ihrer gewohnten Umgebung wegziehen wollte. Wo sie doch in Laramie ihre Familie hatte und ihre Freunde, die sie seit Kindertagen kannte.

Aber gerade das Neue und Unbekannte hatte Josselyn fasziniert. Nach ihrem Studium hatte sie sich daher nur in entfernteren Orten beworben und sich auf Anhieb für die Stelle in Rust Creek Falls entschieden. Auch eine geeignete Unterkunft war rasch gefunden. Sie hatte sich erinnert, irgendwo einen Artikel über die Sunshine Farm gelesen zu haben. Eine romantische Geschichte über eine Frau namens Amy Wainwright, die zur Hochzeit einer Freundin auf dieser Farm eingeladen war und dabei ihre große Liebe wiedergetroffen hatte.

Es gab dort hübsche Cottages zu mieten, und zu Josselyns großer Freude war eines davon zur Dauermiete frei. Sunshine Farm – der Name gefiel nicht nur ihr. Bei heiratswilligen Paaren war die Farm als Ort für die Trauung sehr beliebt. Nicht, dass das für sie von Bedeutung gewesen wäre.

Gedankenverloren griff sie nach ihrem warmen Schal, der auf dem Sofa lag, und legte ihn um ihre Schultern. Ein wenig frische Luft würde ihr guttun und sie vom Grübeln abhalten. Sie trat hinaus in die kühle Abendluft und schlenderte über die Blumenwiese, an der gelb getünchten Scheune vorbei zum Farmhaus.

Sie klopfte kurz an die Hintertür, bevor sie eintrat. Eva Stockton war gerade dabei, ein Tablett mit zwei dampfenden Kaffeetassen und einem Teller mit selbst gebackenen Plätzchen herzurichten. In der Küche war es warm, und ein schwacher Duft nach Grillsteaks mit grünem Pfeffer hing noch in der Luft. Sicher hatte sie für sich und ihren Mann Luke wieder ein köstliches Abendessen zubereitet.

„Oh, hallo Josselyn“, begrüßte die hübsche blonde Frau sie herzlich. „Du kommst gerade recht. Ich habe frische Kekse gebacken. Nimm dir eine Tasse und setz dich zu uns ins Wohnzimmer.“

Eva arbeitete nebenher im Daisy’s Donuts, einem beliebten Café im Zentrum von Rust Creek Falls, und war für ihre Koch- und Backkünste berühmt. „Du willst mich wieder verführen, Eva, aber ich habe heute auf dem Schulfest schon so viel in mich reingestopft, dass ich passen muss.“

„Aber einen Kaffee kannst du wenigstens mittrinken.“

„Eigentlich wollte ich nur kurz nach Mikayla sehen. Ist sie in ihrem Zimmer?“

„Ich glaube schon. Bestimmt freut sie sich über deinen Besuch. Sie ist ein bisschen niedergeschlagen, weil die kleine Hazel immer noch auf der Neugeborenen-Intensivstation liegt.“

Josselyn nickte mitfühlend. „Es ist bestimmt nicht einfach für eine Mutter, wenn ihr Baby zu früh auf die Welt kommt. Ich nehme ihr eine Tasse Kaffee mit und versuche, sie ein wenig aufzuheitern.“

Eva lächelte sie dankbar an. „Ich wusste vom ersten Moment an, dass du perfekt zu uns auf die Sunshine Farm passt.“

Josselyn lachte. „Woran willst du denn das gemerkt haben?“

„An deinen warmen Augen.“ Eva nahm ihr Tablett. „Bis später.“

Als Eva draußen war, goss Josselyn Kaffee in zwei Becher und stellte sie zusammen mit einem Teller Plätzchen auf ein Tablett. Damit ging sie vorsichtig die Treppe hoch und klopfte an Mikaylas Tür.

„Zimmerservice“, verkündete Josselyn fröhlich, als die junge Frau ihr öffnete. „Kaffee und köstliche Plätzchen von Eva.“

Mit einem etwas missglückten Lächeln bat die hübsche, dunkelhaarige Frau Josselyn herein. „Du bist wirklich süß. Wie hast du bloß geahnt, dass ich ein bisschen Aufmunterung gebrauchen kann?“

„Hab ich nicht. Ich wollte einfach ein wenig Gesellschaft, es ist also purer Eigennutz.“ Sie stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch in der Fensternische und umarmte die junge Frau.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte Mikayla. „Ich bin erst seit einer Stunde vom Krankenhaus zurück und würde am liebsten gleich wieder hinfahren.“

Die beiden Frauen setzten sich in die Sessel, die zu beiden Seiten des Tischchens standen. „Ich kann verstehen, dass du ständig bei deinem Baby sein möchtest, aber du musst dich ausruhen, Mikayla. Du musst dich von der Geburt erholen, damit du wieder fit bist, wenn du Hazel nach Hause holen darfst.“

„Das erzählen mir die Schwestern auch die ganze Zeit. Aber es fällt mir so schwer, meine kleine Tochter allein zu lassen.“

Mikaylas Stimme klang verzweifelt, und obwohl Josselyn noch nicht die Erfahrung gemacht hatte, Mutter zu sein, konnte sie sich gut in die Situation hineinversetzen.

„Ist denn schon abzusehen, wie lange die Kleine noch in der Klinik bleiben muss?“

Mikayla trank einen Schluck Kaffee. „Der Arzt meint, bis Anfang nächster Woche. Das sind noch mindestens acht Tage, aber wenn ich anfange, die Tage zu zählen, mache ich mich noch mehr verrückt.“

Vor zwei Monaten war Mikayla auf die Sunshine Farm gekommen, nachdem sie den Vater ihres Kindes mit einer anderen Frau ertappt hatte. Vielleicht lag es an der ganzen Aufregung, dass ihr Baby sechs Wochen zu früh zur Welt gekommen war. Aber die kleine Hazel war gesund und musste nur noch einige Zeit im Wärmebettchen liegen. Und Mikayla hatte sich inzwischen neu verliebt.

Josselyn nahm sich die andere Tasse vom Tablett und trank einen Schluck. „Freu dich einfach darauf, dass du Hazel bald nach Hause holen kannst. Und dann musst du sie mir gleich zeigen, ich bin schon sehr gespannt.“ Sie lächelte Mikayla schelmisch an. „Ich habe gehört, dass du bald mit deinem neuen Freund zusammenziehst. Ich freue mich ja so für dich.“

Die junge Mutter lächelte. „Hat sich das schon rumgesprochen. Ja, Jensen sucht gerade ein Haus für uns drei.“

„Ich gönne dir dein Glück von Herzen, Mikayla.“

„Danke, Josselyn. Ja, ich bin sehr glücklich. Vielleicht hat es ja wirklich mit der Sunshine Farm zu tun. Ich habe gedacht, ich wäre im Paradies gelandet, als ich nach diesem schrecklichen Erlebnis mit meinem Ex-Freund hierherkam. Der Ort ist wie verzaubert.“ Sie warf Josselyn einen hintergründigen Blick zu. „Dich wird es bestimmt auch bald erwischen.“

Josselyn lachte. „Also wirklich, Mikayla. Seit ich hier wohne, war ich kein einziges Mal mit einem Mann verabredet, abgesehen von einem Mittagessen mit dem Geschichtslehrer.“

„Stimmt ja! Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie es war.“

Josselyn verzog den Mund. „Dieser Raymond ist wirklich nett, aber zum Gähnen langweilig.“

Mikayla kicherte. „Keine Sorge, dein Traummann wartet mit Sicherheit schon um die nächste Ecke.“

Wieso erschien plötzlich Drew Strickland vor ihrem inneren Auge? „Ich habe es wirklich nicht eilig, Mikayla. Es macht mir nichts aus, dass ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren noch Single bin.“ In ihren Augen blitzte der Schalk auf. „Tatsächlich habe ich heute beim Schulfest einen ziemlich attraktiven Mann kennengelernt.“

„Siehst du, hab ich’s nicht gesagt?“ Mikayla beugte sich gespannt vor. „Erzähl, wer ist es?“

„Er ist Frauenarzt und arbeitet hier im Krankenhaus.“ Josselyn griff sich an die Stirn. „Ja, vielleicht kennst du ihn sogar. Drew Strickland.“

„Und ob ich den kenne. Er war bei Hazels Geburt dabei.“ Sofort fing Mikayla an zu schwärmen. „Er ist ein toller Arzt, so fürsorglich und kompetent, und mit seiner ruhigen Art hat er mir die ganze Angst genommen. Allerdings hätte ich mir mehr persönliche Ansprache gewünscht, und ich habe ihn nicht einmal lächeln sehen. Na ja, die Geburt war auch nicht einfach.“

Josselyn war ebenfalls aufgefallen, dass dieser Dr. Strickland kein Mann von vielen Worten war. Im Grunde hatte er die Unterhaltung seinem Sohn überlassen. Und als der Kleine anfing, seine für den Vater offenbar peinlichen Fragen zu stellen, war er ärgerlich geworden und hatte die Unterhaltung abrupt beendet.

„Sicher nicht, du Arme. Aber als das Kind da war, hätte er schon mal lächeln können, oder?“

Mikayla zuckte die Achseln. „Hast du denn mit ihm geredet? Was hatte er überhaupt bei dem Schulfest zu tun?“

„Er hat einen Sohn, der in die zweite Klasse geht. Und ja, wir haben uns kurz unterhalten.“

„Er hat einen Sohn?“ Mikayla schien überrascht.

„Ja, ein süßer kleiner Kerl namens Dillon.“

„Dann ist er wahrscheinlich auch verheiratet. Komisch, ich hätte ihn für einen eingefleischten Junggesellen gehalten.“

Josselyn machte ein nachdenkliches Gesicht. „Verheiratet scheint er nicht zu sein, der kleine Dillon sucht nämlich eine Frau für seinen Dad.“

Mikayla kaute auf einem Keks herum. „Vielleicht wünscht der arme Kleine sich eine Mutter. Wer weiß, was mit seiner Mom passiert ist.“

Diesen Aspekt hatte Josselyn noch gar nicht bedacht. Sie sah wieder das erwartungsvolle Gesicht des Kindes vor sich, und ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen.

„Wahrscheinlich hast du recht, Mikayla. Vielleicht hat er keine Mutter mehr.“

„Womöglich ist der gute Doktor verwitwet.“

Verwitwet? Drew sah aus wie Anfang dreißig, also normalerweise nicht das Alter, in dem man verwitwet ist. Allerdings würde das den schwermütigen Ausdruck in seinen braunen Augen erklären.

„Jedenfalls scheint dich der Familienstand des Mannes zu interessieren“, bemerkte Mikayla mit hintergründigem Lächeln.

Aus lauter Verlegenheit senkte Josselyn den Blick in ihre Kaffeetasse. „Ein bisschen interessiert bin ich schon.“ Sie lächelte zaghaft. „Er sieht einfach umwerfend aus, und bestimmt ist er ein guter Vater, meinst du nicht auch?“

„Was seine Arbeit im Krankenhaus betrifft, habe ich nur Gutes gehört. Ob er privat auch so ein toller Kerl ist, kann ich nicht sagen. Das müsstest du schon selbst herausfinden.“

Josselyn seufzte. „Ich glaube nicht, dass wir uns so bald wieder über den Weg laufen. Davon abgesehen, war er nicht im Geringsten an mir interessiert.“

„Und was bringt dich zu dieser Erkenntnis?“

Josselyn lachte trocken auf. „Kaum hatte sein Sohn das Wort ,Frau‘ erwähnt, da ist er praktisch vor mir geflohen. Danach habe ich die beiden nicht mehr gesehen, anscheinend hatte der Doktor genug und ist mit dem Kleinen nach Hause gegangen.“

„Ich würde das nicht persönlich nehmen. Sicher war es reine Verlegenheit, dass er so schnell weggegangen ist.“

„Jetzt, wo du es sagst“, murmelte Josselyn, „er ist ein bisschen rot geworden.“

„Also für den Fall, dass du mehr über ihn erfahren willst, kannst du Eva fragen. Mir hat sie nur erzählt, dass er im Strickland Boarding House wohnt. Kennst du Gene und Melba, die netten, älteren Besitzer des Gästehauses? Das sind seine Großeltern.“

„Tatsächlich? Ja, von denen habe ich schon gehört. Sicher hat er dann auch noch andere Verwandte in der Gegend.“

„Ja, drei Cousinen, Claire, Tessa und Hadley. Die sind alle drei hier verheiratet. Claire ist die Köchin im Gästehaus.“

„Ob er auch noch Eltern und Geschwister hat?“ Unter Mikaylas forschendem Blick wurde ihr ganz heiß. „Vergiss mein dummes Gerede. Irgendwie bin ich heute Abend nicht ganz bei mir. Vielleicht sollte ich mal was essen.“

Sie nahm sich ein Plätzchen und biss herzhaft hinein. Aber selbst, wenn sie den ganzen Teller leer essen würde, Drew Strickland bekäme sie trotzdem nicht aus dem Kopf.

3. KAPITEL

Am frühen Montagmorgen saß Drew im Gästehaus am Küchentisch und wartete darauf, dass Dillon sich für die Schule fertigmachte. Gerade hatte er sein herzhaftes Frühstück mit Toast und Schinkenomelett beendet und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein.

Die übrigen Gäste nahmen ihre Mahlzeiten meistens im Speisezimmer des alten, dreistöckigen Hauses ein, aber Drew fühlte sich in der gemütlichen Küche wohler. Außerdem ging ihm das laute Geplapper am Tisch auf die Nerven, besonders am Morgen. Und seit alle wussten, dass er Arzt war, musste er ständig medizinische Tipps geben.

Im Gegensatz zu ihm liebte sein Sohn es, an dem großen Esstisch zu sitzen und der Unterhaltung zuzuhören. Auf der Farm seiner Großeltern in Thunder Canyon hatte er auch immer mit lauter Erwachsenen am Tisch gesessen. Kein Wunder, dass er mit seinen sieben Jahren schon so altklug war. Was Josselyn Weaver wohl über Dillon gedacht hatte, als er sie mit seinen direkten Bemerkungen in Verlegenheit brachte? Noch jetzt trieb es Drew wegen dieser peinlichen Situation die Schamröte ins Gesicht.

Auf dem Nachhauseweg hatte er seinem Sohn eine strenge Lektion erteilt, was das richtige Verhalten gegenüber einer Lady betraf. Dillon hatte zwar zugehört und sogar ein wenig Reue gezeigt, doch in Wirklichkeit fand der Kleine sein vorlautes Benehmen ganz in Ordnung, das war deutlich zu spüren.

„Höre ich da einen Seufzer? Liegt dir mein Frühstück im Magen?“

Drew sah hinüber zu seiner Cousine Claire, die an dem großen Herd stand und Pfannkuchen briet.

„Nein, dein Frühstück war perfekt wie immer.“

„Warum guckst du dann so unglücklich aus der Wäsche? Wächst dir die Arbeit über den Kopf?“

„Nein, ich liebe meine Arbeit. Es gibt in dieser Kleinstadt mehr zu tun, als ich dachte.“

Seine hübsche, dunkelhaarige Cousine ließ die gebräunten Pfannkuchen mit Schwung auf einen vorgewärmten Teller gleiten. „Rust Creek Falls kommt dir sicher winzig vor im Vergleich zu Thunder Canyon. Und bestimmt fehlen dir auch deine Eltern und deine Brüder, oder?“

Anfangs hatte Drew seine Eltern schmerzlich vermisst, vor allem, weil sie ihm praktisch die ganze Sorge für Dillon abgenommen hatten. Seine vier Brüder fehlten ihm auch, aber da sie alle sehr beschäftigt waren, hatte er sie ohnehin nur selten gesehen.

„Ja, ich vermisse meine Familie, aber allmählich gewöhne ich mich an das Leben hier. Früher, in den Ferien, hat es mir ja auch immer gut gefallen. Die ruhige Atmosphäre ist sehr angenehm, und die Menschen sind viel freundlicher als in der Großstadt.“

„Dillon gefällt es auch, das ist deutlich zu sehen. Du wirst ihn hier nur schwer wieder wegkriegen, wenn ihr nach Thunder Canyon zurückgeht.“

„Im Moment bin ich froh, dass es ihm gefällt und dass er und sein Urgroßvater so dicke Freunde sind. Es wäre schrecklich, wenn er heulend in der Ecke sitzen würde, weil er Heimweh hat.“

Claire hatte ihre Pfannkuchenaktion beendet und kam zu ihm an den Tisch. „Höre ich da ein bisschen Eifersucht aus deiner Stimme, Drew? Neidest du es Old Gene, dass er ein so gutes Verhältnis zu Dillon hat?“

Drew trank von seinem Kaffee. „Nein, ich freue mich für die beiden. Aber ich frage mich, warum ich es nicht geschafft habe, eine engere Beziehung zu meinem Sohn aufzubauen. Irgendwas muss ich falsch gemacht haben.“

Claire lächelte verständnisvoll. „Weißt du, Drew, ich glaube, jeder Mensch, der Kinder hat, fragt sich, ob er eine gute Mutter oder ein guter Vater ist. Ich frage mich das auch jeden Tag bei meiner Tochter.“

Für Drew war das nicht dasselbe. „Im Grunde weiß ich, was ich falsch gemacht habe, Claire. Aber als Evelyn gestorben ist, konnte ich einfach nicht anders, ich war nur noch ein seelisches Wrack. Bis heute habe ich ihren Tod nicht verkraftet. Das muss für Dillon sehr schwer sein.“

Claire betrachtete ihn mitfühlend. „Sei nicht so hart mit dir, Drew. Du hast einen furchtbaren Schock erlitten, das ist doch ganz normal, wenn jemand bei einem Autounfall ums Leben kommt. Noch dazu auf so tragische Weise, wie es bei Evelyn der Fall war. Wieso musste der Baum ausgerechnet auf ihr Auto krachen? Ihr Tod war so sinnlos.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Aber zum Glück ist der kleine Dillon unverletzt geblieben. Stell dir vor, er wäre auch umgekommen.“

Drew unterdrückte einen Seufzer. Es war schwer für ihn, über dieses schreckliche Unglück zu sprechen. Und darüber nachzugrübeln, warum es nicht ihn getroffen hatte. Denn an diesem Morgen wäre er an der Reihe gewesen, seinen kleinen Sohn zur Tagesbetreuung zu bringen. Aber dann ging ein Notruf bei ihm ein, und Evelyn war an seiner Stelle gefahren. Und sie hatte an seiner Stelle sterben müssen. Obwohl seit dem Unfall schon sechs Jahre vergangen waren, kämpfte er noch immer mit seiner Trauer und seinen Schuldgefühlen.

„Du hast recht. Aber ich komme einfach nicht damit klar. Und es macht mich wütend, dass ich meinen Sohn derart vernachlässigt habe. Ich fürchte, jetzt ist es zu spät, eine richtige Beziehung zu ihm aufzubauen.“

Claire legte ihm die Hand auf den Arm. „Du bist ein besserer Vater, als du denkst, Drew, glaub mir.“

Er sah sie dankbar an. „Eines weiß ich jedenfalls, Claire. Du bist meine liebste Cousine.“ Er stand auf und trug sein Frühstücksgeschirr zum Spülbecken. „Ich sehe mal nach, was Dillon so lange macht. Hab einen schönen Tag und lass dich nicht von Granny herumkommandieren.“

Claire lachte. „Ja, meine Pause mache ich lieber, wenn sie es nicht mitkriegt.“

Am späten Vormittag sortierte Josselyn gerade einen Stapel Bücher in die Regale ein, als eine Gruppe von Zweitklässlern in die Bücherei stürmte. Sofort war der sonst so ruhige Raum von Lärm und Kindergeschrei erfüllt.

„Hi, Miss Weaver, kennst du mich noch?“, rief eine Stimme hinter ihr.

Als sie sich umdrehte, sah sie in das grinsende Gesicht des kleinen Dillon Strickland. Sie lächelte ihn freundlich an. „Hallo Dillon, na klar kenne ich dich noch.“

„Erinnerst du dich auch an meinen Dad? Er heißt Drew Strickland.“

Und ob sie sich an den erinnerte. Der hatte das ganze Wochenende in ihrem Kopf herumgespukt. „Ja, ich weiß“, erwiderte sie und ging rasch zu einem unverfänglicheren Thema über. „Freut mich, dass du in die Bücherei kommst, Dillon. Du warst glaube ich noch nie hier, oder? Schau dich nur in Ruhe um.“

Staunend ließ der Kleine den Blick an den Bücherreihen entlangwandern. „So viele Bücher. Darf ich mir ein paar aussuchen? Ich habe am Wochenende ganz viel gelesen, und das hat richtig Spaß gemacht.“

Josselyn lächelte leise in sich hinein. „Das ist ja toll. Wir haben hier so viele Bücher, da wird dir der Lesestoff bestimmt nicht ausgehen wird. Wenn du mir sagst, welche Geschichten du am liebsten magst, helfe ich dir beim Suchen.“

„Gibt es auch Bücher über Fische? Ich und mein Grandpa, wir gehen nämlich immer angeln.“

Wen meinte der Kleine wohl mit Grandpa? Mikayla hatte ihr erzählt, dass Gene und Melba Drews Großeltern waren, also war Old Gene Dillons Urgroßvater. Oder gab es noch einen anderen Großvater, vielleicht auch mütterlicherseits?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erklärte Dillon: „Also Old Gene ist ja mein Urgroßvater, und ich sage immer Gramps zu ihm. Er hat mich schon zweimal zum Angeln mitgenommen, seit wir hier wohnen. Mein richtiger Grandpa wohnt in Thunder Canyon, und mit dem bin ich auch oft angeln gegangen.“

„Angeln macht dir also Spaß?“

„Und wie.“ Wenn Dillon lächelte, bekam er die gleichen lustigen Grübchen in den Wangen wie sein Dad. „Kennst du Old Gene? Den kennt ja jeder.“

„Nein, nicht persönlich. Aber ich habe schon viel von ihm gehört.“ Sie wurde von einem kleinen Mädchen mit braunen Zöpfen abgelenkt, das eifrig winkend versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich komme gleich zu dir, Chrissy. Guck dir doch inzwischen schon mal den Stapel mit neuen Büchern auf meinem Schreibtisch an.“

Chrissy zeigte deutlich ihren Unmut, indem sie sich maulend zum Büchertisch bequemte.

„Die ist aber komisch“, bemerkte Dillon. „Vielleicht hat sie auch keine Mutter. So wie ich.“

Das klang so traurig, dass Josselyn den kleinen Kerl am liebsten in den Arm genommen hätte. Und sie hätte ihn gern gefragt, was mit seiner Mutter passiert war. Aber dafür war die Bücherei nicht der geeignete Ort.

„Wer weiß“, kommentierte sie Dillons Bemerkung. „Aber lass uns jetzt ein schönes Buch über Fische für dich suchen. Vielleicht eins, wo ein Junge und ein Großvater drin vorkommen?“

„Ja, das wäre toll“, rief er begeistert. „Und dann lese ich jedes einzelne Wort ganz genau.“

„Die Schule hat anscheinend einen guten Einfluss auf unseren kleinen Dillon.“ Melba ließ sich aufatmend in ihren Lieblingssessel fallen.

Über den Rand seiner Fachzeitschrift musterte Drew seine Großmutter. Verwunderlich, dass sie es tatsächlich einmal geschafft hatte, sich hinzusetzen. Seit er mit seinem Sohn in das Gästehaus gezogen war, hatte er vor allem eines gelernt: Seine Großeltern waren ständig beschäftigt und besaßen eine offenbar unerschöpfliche Energie.

„Wovon redest du?“, fragte Drew.

Die grauhaarige alte Dame deutete mit dem Kopf auf eine Stelle hinter seinem Rücken. Drew drehte sich zu Dillon um, der an Old Gene gekuschelt auf dem Sofa saß. Er hielt ein Buch auf dem Schoß, aus dem er anscheinend seinem Urgroßvater vorlas. Der Salon war so geräumig, dass Drew nur ein leises Murmeln hörte.

„So habe ich ihn noch nie erlebt“, fuhr Melba fort. „Hat er denn oben in Thunder Canyon viel gelesen?“

„Eigentlich nicht, aber er kann es ja auch noch nicht so lange“, erwiderte Drew. Dillons neu erwachtes Interesse an Büchern gefiel ihm. Bücher konnten Kindern eine ganze Welt eröffnen. Lesen beflügelte ihre Fantasie und verbesserte ihr sprachliches Ausdrucksvermögen. Aber es versetzte ihm einen Stich, dass sein Sohn nicht ihm, sondern seinem Urgroßvater vorlas. Drews Eltern wären enttäuscht darüber, dass sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht verbessert hatte. Denn das hatten sie gehofft, als sie ihn überredeten, die Vertretungsstelle in Rust Creek Falls anzunehmen.

Sofort bedauerte Drew seine eifersüchtige Anwandlung. Er sollte froh sein, dass sein Sohn und sein Großvater sich so gut verstanden. Das tat beiden gut.

Melba zog ihr Strickzeug aus dem Korb neben ihrem Sessel. „Lesen ist gut. Vielleicht will er später ja auch mal Arzt werden wie sein Dad und sein Onkel Ben.“

Drew schnaubte abfällig. „Das glaube ich kaum. Dillon will Pferdetrainer werden wie sein Onkel Trey oder Farmer wie Grandpa Jerry.“

Mit wissendem Lächeln blickte Melba auf ihr Strickzeug. „Auch nicht verkehrt. Die meisten kleinen Jungen mögen es, draußen zu sein und ein wildes Leben zu führen. Warten wir mal ab, was ihm noch alles einfällt. Womöglich wird er irgendwann Geschäftsmann oder Jurist werden.“

In dem einen Jahr, das Evelyn mit ihrem kleinen Sohn erleben durfte, hatte sie immer nur eines gesagt: Glücklich soll er werden. Drew nahm sich fest vor, Evelyns Wunsch zu erfüllen und alles zu tun, um seinen Sohn glücklich zu machen.

„Weißt du, Grandma, manchmal frage ich mich, ob ich den richtigen Beruf gewählt habe. Ich bin auf einer Farm groß geworden und vielleicht hätte ich diesem Leben treu bleiben sollen.“

Melba ließ ihr Strickzeug sinken und musterte ihren Enkel über den Rand ihrer Brille. „Wie kannst du so etwas auch nur denken, Drew? Du hast einen so schönen Beruf, du hilfst jungen Frauen, gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Das ist doch wunderbar.“

Aber auch anstrengend, dachte er. Während er hier gemütlich im Sessel saß, konnte jederzeit ein Notruf eingehen, und dann war es mit seiner Ruhe vorbei. Babys kamen nun mal, wann sie wollten.

„Wäre ich kein Arzt geworden …“

Als er abrupt abbrach, blickte Melba ihn mit ihren wachen Augen forschend an. „Was dann? Dann wäre Evelyn noch am Leben? Wolltest du das sagen?“

Drew fluchte innerlich. Seine aufmerksame Großmutter kannte ihn besser, als ihm lieb war.

Claire hatte ihm am Morgen bereits zugesetzt, und nun auch noch Melba. Dabei wussten beide, wie ungern er von seiner verstorbenen Frau sprach. Trotzdem kamen sie immer wieder auf das Thema zu sprechen, als ob sie damit seinen Schmerz wegreden wollten.

„Ja, so was Ähnliches“, gab er zu und legte die Zeitschrift beiseite.

Melba presste die Lippen missbilligend zusammen. „Du bist ein Dummkopf, Drew.“

Diese unfreundliche Feststellung brüskierte Drew. „Findest du? Es war nun mal ein Notruf, der mich davon abgehalten hat, meinen Sohn in die Kinderkrippe zu bringen. Hätte ich einen anderen Beruf, dann wäre Evelyn an diesem Morgen nicht ins Auto gestiegen.“

„Das glaubst du, ja? Also ich nicht.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Für alles, was uns im Leben passiert, gibt es einen Sinn, Drew. Bevor du das nicht begreifst und akzeptierst, wirst du nie wieder glücklich.“

Glücklich. Dieses Wort hatte Drew aus seinem Vokabular gestrichen. Sein Glück war unter einer umgestürzten Eiche begraben worden.

Während er noch nach einer passenden Antwort suchte, ertönte ein Summen, das vermutlich einen neuen Gast ankündigte. Stirnrunzelnd blickte Melba auf die Wanduhr, bevor sie seufzend ihr Strickzeug beiseitelegte und sich aus ihrem bequemen Sessel erhob.

„Soll ich gehen?“, fragte ihr Mann von hinten.

„Nein, lass nur.“

Doch Old Gene war schon aufgestanden. „Ich komme mit.“

„Gramps, die Geschichte ist doch noch gar nicht zu Ende!“, beschwerte sich Dillon.

Old Gene zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Lies den Rest deinem Dad vor.“

Dillon schluckte. „Aber der interessiert sich doch gar nicht fürs Angeln.“

„Vielleicht schon, wenn du es ihm erklärst.“ Der alte Mann folgte seiner Frau nach draußen.

Missmutig starrte Dillon zu Boden.

„Willst du mit deinem Buch herkommen?“, fragte Drew.

Dillon schob die Unterlippe vor und klappte sein Buch zu. „Ich mag nicht mehr lesen.“

Drew seufzte im Stillen. „Wie du willst, aber komm trotzdem mal her. Ich möchte mit dir reden.“

Dillon klemmte sich das Buch unter den Arm und trottete lustlos zu seinem Vater. „Hab ich was angestellt?“

War er wirklich ein so miserabler Vater, dass sein Sohn auf eine solche Idee kam? Er spürte einen Kloß im Magen.

„Nein.“ Drew rutschte auf dem großen Sessel beiseite, um Dillon Platz zu machen. „Glaubst du denn, du hättest was angestellt?“

Dillon quetschte sich neben ihn. „Nein“, murmelte er. „Aber vielleicht denkst du, dass ich gerade frech zu Gramps war.“

„Na ja, du hättest verstehen können, dass er arbeiten muss.“

Dillon zog eine Grimasse. „Jedenfalls arbeitet er nicht so viel wie du, Dad. Du arbeitest ja die ganze Zeit.“

Das saß. „Jetzt gerade arbeite ich nicht. Du kannst mir also gern mal dein Buch zeigen.“

Widerstrebend legte Dillon das Buch auf seine Oberschenkel. „Es geht um einen Jungen, der einen riesengroßen Fisch fängt, aber keiner glaubt ihm.“

„Warum denn nicht? Zeigt er den Fisch denn nicht herum?“

Dillon schüttelte den Kopf. „Kann er nicht. Ein Waschbär hat ihn geklaut, als er nicht hingesehen hat. Aber das glaubt ihm auch keiner.“

„Das ärgert den Jungen bestimmt gewaltig.“

Dillon nickte. „Gerade ist er ganz schön traurig. Hoffentlich geht das Buch gut aus.“

„Ganz bestimmt. Traurig sein ist kein angenehmer Zustand.“ Drew deutete auf das Buch. „Hast du das Buch aus der Schule oder hat der kleine Junge, der neben uns wohnt, es dir geliehen?“

Stirnrunzelnd sah Dillon zu seinem Vater hoch. „Du meinst Robbie? Nein, der kann nicht gut lesen.“

Drew hatte den Jungen ein paarmal gesehen und vermutet, dass er in Dillons Alter war. Aber er kam ihm sehr schüchtern vor. „Woher weißt du das?“

„Er hat es mir erzählt. Er bekommt Nachhilfe, damit er besser lesen lernt. Ich habe das Buch aus der Schulbücherei. Miss Weaver hat es für mich ausgesucht.“

Miss Weaver. Drew hatte die kurze Begegnung mit ihr aus seinen Gedanken verdrängt, zumindest hatte er es versucht. In Wahrheit ging ihm die hübsche Frau mit dem warmen Lächeln und den sanften grünen Augen nicht aus dem Kopf.

„Ah, die junge Frau, die wir beim Schulfest getroffen haben“, stellte er fest.

Mit einem Schlag verwandelte sich Dillons mürrische Miene zu einem breiten Grinsen. „Genau die, Dad. Wegen der du mit mir geschimpft hast. Die weiß alles über Bücher.“

Drew wollte gerade anfangen zu erklären, dass es Miss Weavers Job sei, sich mit Büchern auszukennen, aber rasch verwarf er den Gedanken. Dillon war ein Kind, und ein Kind wollte keine sachlichen Argumente hören.

„Das ist wirklich nett, dass sie dir beim Aussuchen geholfen hat. Hast du … du hast aber nichts von mir erzählt, oder?“

Dillons Lächeln verschwand, allerdings nicht ganz. „Nein, da waren zu viele andere Kinder. Aber ich glaube, sie hat trotzdem an dich gedacht.“

Sein Sohn verblüffte ihn immer wieder. „Wie kommst du denn darauf? Sie kennt mich doch gar nicht.“

„Klar kennt sie dich. Wir haben uns doch im Park getroffen. Und als ich in die Bücherei gekommen bin, hat sie natürlich sofort an dich gedacht.“

Logisch. Dillon ließ nichts unversucht, ihm diese Miss Weaver schmackhaft zu machen. Er suchte eine Frau für seinen Dad, weil er sich eine Mutter wünschte. Das war Drew klar. Dabei fehlte es dem Kleinen keineswegs an mütterlicher Zuwendung. Sowohl seine Großmutter als auch seine Urgroßmutter verhätschelten ihn regelrecht, ebenso Drews Cousine Claire.

„Hör zu, Dillon. Um es noch einmal klarzustellen: Ich möchte nicht, dass du überall herumerzählst, dass du eine Frau für mich suchst, vor allem nicht jungen Ladys gegenüber. Versprichst du mir das?“

Drew sah, dass sein Sohn den Mund wie zum Protest öffnete, doch überraschenderweise sagte er nur: „Okay, Dad. Ich verspreche es.“

„Gut.“ Drew klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Und jetzt zu deinem Buch. Es stimmt übrigens nicht, dass ich mich nicht fürs Angeln interessiere.“

Dillon sah seinen Vater groß an. „Aber du gehst doch nie angeln.“

„Früher schon. Auf unserer Ranch in Thunder Canyon gibt es doch den Forellenteich. Den kennst du vom Angeln mit Grandpa Jerry. Da war ich oft mit meinen Brüdern, und später auch mit deiner Mom.“

„Und warum angelst du jetzt nicht mehr?“

Ja, warum nicht? Weil er seit Evelyns Tod an nichts mehr Freude hatte.

„Dad?“

Drew zwang sich zu einem Lächeln. „Bei nächster Gelegenheit gehen wir beide angeln, versprochen. Und jetzt liest du mir aus deinem Buch vor.“

„Und du sagst nicht wieder, dass du zu viel Arbeit hast?“

„Nein. Ehrenwort.“ Zur Bekräftigung legte Drew die Hand auf sein Herz.

„Okay.“ Dillon suchte in seinem Buch die richtige Stelle und fing an zu lesen.

Ein warmes Gefühl durchströmte Drew. Er hatte einen kleinen Erfolg errungen.

Am Freitagvormittag wunderte Josselyn sich, dass der kleine Dillon Strickland nicht auftauchte. Sonst kam er täglich zu ihr in die Bücherei und verbrachte die Pause zwischen den Büchern, statt draußen mit seinen Freunden zu spielen.

Mittlerweile hatte er mehr Bücher ausgeliehen, als ein Kind in einem Monat lesen konnte. Doch wenn sie ihn nach dem Inhalt fragte, gab er jedes Mal ausweichende Antworten und kam immer wieder auf die Geschichte vom Angeln zurück. Dieses Buch hatte es ihm offensichtlich angetan. Wie der kleine Held in der Geschichte wollte er unbedingt den größten Fisch fangen.

Irgendwie machte sie sich Sorgen. Vielleicht war der Kleine krank. Die Lehrerin wollte sie nicht fragen, das würde seltsam aussehen. Ihr Blick fiel auf die Liste mit den Kontaktdaten der Eltern, die an der Pinnwand hinter ihrem Schreibtisch hing. Ob sie Drew Strickland anrufen sollte? Vielleicht machte er ja gerade Mittagspause.

Sie atmete tief durch und wählte dann die Nummer. Während sie dem Klingelton lauschte, klopfte ihr Herz verdächtig schnell. Dabei war es doch nur ein normales Elterngespräch.

„Dr. Strickland am Apparat.“

Als die sonore männliche Stimme an ihr Ohr drang, zuckte Josselyn zusammen. „Hallo Dr. Strickland. Hier spricht Josselyn Weaver aus der Schulbücherei. Wir haben uns kürzlich beim Schulfest kennengelernt.“

„Ja, ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen, Miss Weaver?“

„Danke, gut.“ Hoffentlich hielt er sie nicht für eine zukünftige Patientin. „Tut mir leid, wenn ich Sie bei der Arbeit störe, aber haben Sie einen Moment Zeit?“

„Ja, ich mache gerade eine kleine Pause. Was kann ich für Sie tun?“

Ihr Mund war so trocken, dass sie Mühe hatte, ihren Satz zu formulieren. „Ich rufe wegen Dillon an, Ihrem Sohn. Er kommt ja jetzt jeden Tag in die Bücherei.“

„Das ist doch sehr ermutigend. Womöglich wird aus ihm noch eine Leseratte.“

Unwillkürlich stellte sie sich Drew Stricklands lächelnden Mund vor. Ihn zu küssen müsste himmlisch sein.

„Sie rufen hoffentlich nicht an, weil Dillon sich danebenbenommen hat. Ich kann mir vorstellen, dass er noch nicht begriffen hat, dass man in einer Bibliothek leise sein muss.“

„Nein, nein, Dillon benimmt sich vorbildlich, und er hat inzwischen so viele Bücher ausgeliehen, dass ich mich frage, wann er die alle lesen will.“

„Wann und wie viel er liest, kann ich nicht sagen. Ich werde abends und an den Wochenenden häufig zu Notfällen gerufen und bekomme nicht mit, was er in meiner Abwesenheit macht.“

Allmählich formte sich ein Bild von den Familienverhältnissen in Josselyns Kopf. Ihr schien, als bräuchte Dillon nicht nur eine Mutter, sondern vor allem einen Vater, der für ihn da war.

„Verstehe.“

Anscheinend hatte er einen gewissen Unterton in ihrer Stimme herausgehört. „Sagen Sie, Miss Weaver, glauben Sie, dass mein Sohn ein Problem hat?“

Das konnte sie nicht sagen. Klar war nur, dass sie selbst ein Problem hatte. Allein die Stimme dieses Mannes löste ein erregtes Prickeln in ihr aus.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich dachte nur, Sie sollten wissen, dass er täglich kommt und jedes Mal einen Stapel Bücher mitnimmt. Das war alles. Bitte entschuldigen Sie nochmals die Störung. Einen schönen Tag noch.“

Sie legte auf. Dann trat sie ans Fenster und blickte auf den leeren Schulhof hinaus. Sie dachte an den Jungen, der sich so dringend eine Mutter wünschte. Seine Bemerkung über das kleine Mädchen, das sich vordrängen wollte, kam ihr in den Sinn. Vielleicht hat sie auch keine Mutter. So wie ich.

Dieser Satz verfolgte sie. Ebenso wie der Ausdruck von Trauer in Drew Stricklands schönen braunen Augen.

4. KAPITEL

Am Montagnachmittag war Drew extra eine halbe Stunde vor Schulschluss in der Schule, um noch die Bücherei aufzusuchen.

„Gehen Sie einfach rein“, teilte ihm die freundliche Lehrerin mit, die er nach dem Weg gefragt hatte. „Miss Weaver ist um diese Zeit auf jeden Fall noch da.“

„Danke.“ Beherzt drückte Drew die Türklinke und betrat das Reich, in dem sein Sohn angeblich so viel Zeit verbrachte.

Das ganze Wochenende hatte er über Josselyn Weavers Anruf nachgedacht. Das, was sie gesagt hatte, vor allem wie sie es gesagt hatte, steckte ihm wie ein Stachel im Fleisch. Sein Sohn bekam von ihm nicht genug Aufmerksamkeit, das hatte er deutlich aus ihrer Stimme herausgehört.

Als Erstes fiel sein Blick auf den großen Holzschreibtisch am Fenster. Niemand saß daran, und während Drew langsam an den hohen Bücherregalen vorbeiging, war auch nichts zu hören.

Dann plötzlich drang das Geräusch von klackernden Absätzen an sein Ohr. Er blieb stehen und wartete, bis Miss Weaver aus einer der Regalreihen heraustrat. Ihr Anblick verschlug ihm den Atem.

Bei dem Schulfest im Park hatte sie einen eher mädchenhaften Eindruck auf ihn gemacht. Doch heute wirkte sie überaus weiblich. Zu einem schmal geschnittenen roten Rock trug sie schwarze Highheels und einen schwarzen Gürtel, der ebenso wie die weiße, in den Rock gesteckte Bluse ihre schlanke Taille betonte. Das blonde Haar fiel ihr wellig auf die Schultern, und der zum Rock passende rote Lippenstift lenkte das Augenmerk auf ihren wohlgeformten Mund.

„Oh“, sagte sie, als sie ihn bemerkte. „Mir war doch so, als hätte ich was gehört, aber ich dachte, es sei einer der Schüler, der was vergessen hat.“

Während sie auf ihn zuging, nahm Drew jedes Detail ihrer hübschen Erscheinung wahr. Kein Wunder, dass sein Sohn so viel Zeit in der Bücherei verbrachte. Vermutlich war sie für ihn eine Art Märchenprinzessin.

„Hoffentlich störe ich nicht. Ich wollte noch kurz mit Ihnen reden, bevor ich Dillon abhole.“

„Nein, Sie stören überhaupt nicht. Nehmen Sie doch Platz.“ Sie wies auf einen der Stühle neben dem Schreibtisch.

„Danke.“ Er setzte sich und versuchte, nicht zu auffällig auf ihre Beine zu starren, als sie sich in dem Stuhl gegenüber niederließ. In seinem Beruf hatte er ständig mit Frauen zu tun. Er kannte die weibliche Anatomie in allen Facetten, junge Körper und alte, dicke und dünne, doch bei seinen Patientinnen war sein Augenmerk einzig und allein auf die Untersuchung gerichtet. Wieso ließen die Beine von Josselyn Weaver ihn nun an Dinge denken, die er jahrelang vergessen hatte?

Er räusperte sich. „Unser Telefongespräch hat mir keine Ruhe gelassen. Tut mir leid, wenn ich so wenig auf Ihr Anliegen eingegangen bin, aber ich hatte einen anstrengenden Vormittag hinter mir und war nicht ganz bei der Sache.“

„Das verstehe ich vollkommen. Wir haben doch alle mal solche Tage.“

„Nett, dass Sie das sagen, aber es tut mir trotzdem leid.“

„Mir tut es leid, dass ich Sie in Aufruhr versetzt habe, Dr. Strickland. Es gibt nicht das geringste Problem mit Ihrem Sohn, er ist ein rundum wohlgeratenes Kind, und ich freue mich jedes Mal, wenn er in die Bücherei kommt und seine interessierten Fragen stellt. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen, weil er für meine Begriffe zu viel Zeit hier verbringt. Ich finde, er sollte lieber draußen mit den anderen Kindern spielen. Das habe ich ihm auch gesagt, aber er scheint lieber mit mir reden zu wollen.“

Drew wollte besser nicht wissen, was sein Sohn alles erzählte, aber neugierig war er schon. „Bitte nennen Sie mich Drew, Miss Weaver“, sagte er, um nicht gleich mit der Frage herauszuplatzen. „Was Dillon angeht, habe ich keine Ahnung, was er in der Schule so treibt. Worüber redet er denn mit Ihnen?“

Ihr Lächeln konnte man nur als sonnig bezeichnen. Es wärmte Drew das Herz und besserte seine Laune schlagartig.

„Über alles Mögliche. Sachen, die kleine Jungs so interessieren. Vom Angeln mit seinem Urgroßvater, von der Ranch seiner Großeltern, den vielen Tieren dort, den Pferden und Ponys, auf denen er geritten ist. Ich nehme an, das stimmt alles, oder ist es seiner Fantasie entsprungen?“

„Nein, nein, so ist er tatsächlich aufgewachsen. Wir sind erst vor ein paar Wochen von Thunder Canyon hierhergezogen.“

„Ja, das hatten Sie bei unserem Treffen im Park erwähnt.“

„Vielleicht hätten wir schon am Anfang der Ferien herziehen sollen, dann hätte Dillon mehr Zeit gehabt, sich einzugewöhnen, bevor die Schule anfing. Aber das wäre schwierig zu organisieren gewesen, ich musste erst eine Vertretung für mich finden.“

„Das stelle ich mir wirklich schwierig vor. Ihr Beruf bringt ja eine gewisse Verantwortung gegenüber den Patientinnen mit sich. Liegt Thunder Canyon weit von hier?“

„Ein paar Hundert Meilen westlich. Meine Eltern besitzen außerhalb der Stadt eine Ranch, und wir haben dort gewohnt. Dillon ist praktisch von seinen Großeltern erzogen worden, ich habe die meiste Zeit in der städtischen Klinik gearbeitet.“

„Für Dillon war das sicher ein sehr freies Leben, und er hatte viel mit Tieren zu tun, durfte sie füttern und all das.“

„Ja. Das hat er sehr gern gemacht, und mein Dad hat sich gefreut, ihm alles beizubringen.“

Sie musterte ihn mit einem warmen Lächeln. „Und was ist mit Ihnen, waren Sie früher auch ein Cowboy?“

Ja, so ungefähr vor hundert Jahren. So viel war passiert, seit er die Ranch verlassen und sein Medizinstudium begonnen hatte. „Ich habe meinem Vater früher viel geholfen und weiß so ziemlich alles über Landwirtschaft und Tierhaltung. Wenn ich mal nicht mehr Arzt sein will, kann ich jederzeit Farmer werden.“ Er lächelte.

„Hm, Sie überraschen mich.“

„Warum?“

„Weil Sie wie ein typischer Arzt aussehen, nicht wie ein Farmer. Meine beiden Brüder arbeiten auf einer Farm in Wyoming, in der Nähe von Laramie, wo ich herkomme, und ich finde, das sieht man ihnen auch an.“

Sie hatte also zwei Brüder. Und vielleicht auch Schwestern? Und lebten ihre Eltern noch? Gern würde er mehr über sie erfahren. Vor allem, ob es einen Mann in ihrem Leben gab.

„Tja, aber wie heißt es so schön? Man sollte nie ein Buch nach seinem Einband beurteilen.“

Lachend wies sie auf die Bücherregale. „Ja, das sollte ich eigentlich am besten wissen.“

Ihr Lachen tönte wie Musik in seinen Ohren. Zu gern würde er es öfters hören.

Der Blick auf die Uhr zeigte ihm an, dass es Zeit war zu gehen. Er erhob sich, und Josselyn tat es ihm nach.

„Jedenfalls hat Dillon kein einziges Mal davon gesprochen, dass er die Farm in Thunder Canyon vermisst.“

„Da bin ich ja beruhigt. Wir bleiben sowieso nur ein paar Monate hier, und ich glaube, im Moment findet er alles neu und aufregend.“

Dillons Redebedürfnis hatte einzig und allein damit zu tun, dass er die hübsche Miss Weaver als Frau für seinen Vater angeln wollte. Davon war Drew überzeugt, doch das behielt er lieber für sich.

„Danke für dieses nette Gespräch, Miss Weaver, und für Ihre Geduld mit meinem Sohn.“ Er wollte ihr nur kurz die Hand schütteln, doch kaum spürte er ihre feingliedrigen Finger in seiner Hand, hielt er sie fest und genoss die Wärme ihrer Berührung.

„Bitte nennen Sie mich Josselyn.“

Ihre Blicke trafen sich, und Drew spürte eine seltsame Gefühlsregung. „Also dann, Josselyn. Hoffen wir, dass Dillons neuer Bücherfimmel bald wieder etwas abklingt.“

„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch, Drew. Er soll unbedingt weiterhin kommen und die weite Welt der Bücher entdecken. Ich bin sicher, er wird eine gute Balance mit anderen Aktivitäten finden.“

Drew musste sich zwingen, ihre Hand loszulassen. Er räusperte sich. „Das wäre schön.“

„Ach, bevor Sie gehen – darf ich Sie zu einem Elternabend hier in der Bibliothek einladen? Am Donnerstagabend. Ich werde einen kleinen Vortrag halten über die Möglichkeiten, Kinder zum Lesen zu animieren, und ich werde die neuen Bücher vorstellen, die wir in diesem Jahr anschaffen werden. Also falls Ihre Zeit es erlaubt, würde ich mich freuen.“

Und ob es seine Zeit erlaubte. Jede Gelegenheit, sie wiederzusehen, war ihm recht.

„Ja, mal sehen, ob ich es schaffe. Jedenfalls danke für die Einladung. Und jetzt gehe ich mal besser, sonst wundert Dillon sich, wo ich bleibe.“

Während er eilig die Bücherei verließ, war er sicher, dass Josselyn ihm hinterherblickte.

Um Viertel nach sieben am Donnerstagabend entschied Josselyn für sich, dass Drew nicht mehr auftauchen würde. Vielleicht war ihm eine Geburt dazwischengekommen, schließlich konnte der Mann ja nicht frei über seine Zeit verfügen. Und in Rust Creek Falls kamen andauernd Babys zur Welt. Vor ein paar Jahren soll es sogar einen regelrechten Babyboom gegeben haben, nachdem ein gewisser Homer Gilmore bei einer Hochzeitsfeier neun Monate zuvor den Punsch mit etwas zu viel Alkohol versetzt hatte.

Ein paar Minuten würde sie noch warten. Sie stand neben einem Tisch, auf dem heiße und kalte Getränke und kleine Snacks bereitstanden, und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Drew kam herein. Sofort fing ihr Puls an zu rasen, und beinahe wäre sie auf ihn zugelaufen, um ihn zu begrüßen. Doch damit würde sie den Leuten nur Stoff zum Tratschen geben.

Über den Rand ihrer Kaffeetasse beobachtete sie, wie er sich den Weg zu einem freien Stuhl bahnte. Einige schienen ihn zu kennen, und eine Frau zog ihn sogar beiseite. Ihrem Stirnrunzeln nach zu urteilen, wollte sie möglicherweise ein gesundheitliches Problem mit dem Arzt besprechen.

Josselyn beschloss, ihn aus den Fängen der Frau zu befreien. Sie stellte ihre Tasse ab und ging zu ihm. „Guten Abend, Dr. Strickland“, begrüßte sie ihn. „Freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten.“

Er entschuldigte sich bei der Frau und wandte sich offensichtlich erleichtert Josselyn zu. „Hallo, Miss Weaver. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Aber im Gästehaus ging es gerade ein bisschen hektisch zu, und ich wusste nicht, ob meine Großeltern es schaffen würden, auf Dillon aufzupassen. Zum Glück hat es noch geklappt.“

„Nun, ich hoffe, dass sich der Abend für Sie lohnt und Sie sich nicht umsonst beeilt haben.“ Ihr fiel auf, dass ein paar Leute ihr ungeduldige Blicke zuwarfen. „Ich fange jetzt lieber mal an“, fügte sie leise hinzu.

Während Josselyn den Abend eröffnete und anschließend die neuen Bücher vorstellte, hatte Drew Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Und das lohnte sich definitiv.

Sie trug ein malvenfarbenes Strickkleid, das ihre schlanke Figur umschmeichelte. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem zauberhaften geflochtenen Knoten zurückgesteckt, wodurch ihr schlanker, zarter Hals mit der dezenten Perlenkette voll zur Geltung kam. Sie wirkte elegant und sexy zugleich, und Drew stellte verwundert fest, dass er zum ersten Mal seit Jahren wieder so etwas wie Interesse an einer Frau empfand. Eine ziemlich verwirrende Erkenntnis, mit der er nur schwer umgehen konnte.

Josselyns abschließende Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. „Danke für Ihr Kommen. Ich hoffe, Sie können einige wertvolle Tipps mit nach Hause nehmen. Und falls Sie Fragen oder Anregungen haben, können Sie mich jederzeit kontaktieren.“

Drew sah, dass die meisten direkt zum Ausgang strebten, einige andere wechselten noch ein paar Worte mit Josselyn. Er wartete, bis auch sie gegangen waren, bevor er sich von seinem Platz erhob und nach vorne trat.

„Das war sehr interessant, Josselyn.“

Sie lächelte ihn an. „Danke. Zumindest ist keiner eingeschlafen, soweit ich gesehen habe.“

Fasziniert betrachtete er ihr Gesicht. Hatte sie beim letzten Mal auch schon so hübsch ausgesehen? Es kam ihm vor, als würde er erst jetzt ihre schimmernde Haut und ihre lebhaft funkelnden Augen bemerken.

„Darf ich Ihnen noch helfen, das Geschirr wegzuräumen und die Stühle zusammenzustellen?“

„Nett, dass Sie fragen, aber darum kümmert sich der Hausmeister.“

„Dann haben Sie jetzt frei?“, fragte er, von seiner eigenen Frage überrascht.

„Ja. Wollten Sie noch etwas mit mir besprechen?“

Drew merkte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg. Er kam sich wie ein Idiot vor. „Nein, eigentlich nicht, ich … hm … darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Daisy’s Donuts hat um diese Zeit vielleicht noch offen.“

Sie überlegte kurz. „Ja, gern. Ein wenig Entspannung wird mir guttun, bevor ich nach Hause fahre.“ Sie lächelte ihn an. „Gute Idee, Drew.“

Wie konnte es sein, dass eine so simple Sache ein Glücksgefühl in ihm hervorrief? „Mein Auto steht direkt vor der Schule. Ich bringe Sie nachher wieder zurück.“

„Klingt gut. Ich hole nur eben meine Handtasche und meine Jacke.“

Ein paar Minuten später saßen sie im Café an einem kleinen Fenstertisch und bestellten Kaffee und Kuchen.

„Keiner kann so gut backen wie Eva Stockton“, sagte Josselyn. „Auf der Sunshine Farm bekomme ich öfters Gelegenheit, ihre köstlichen Kreationen zu probieren.“

„Sunshine Farm“, wiederholte Drew sinnierend. „Die kenne ich von früher. Gehört sie immer noch den Stocktons?“

„Ja. Kennen Sie sie?“

„So wie man sich in einer Kleinstadt eben kennt. Ein Teil meiner Familie lebt ja seit vielen Jahren hier, und daher ist der Ort mir vertraut. Wir haben meine Großeltern früher oft besucht. Mit Luke Stockton waren meine vier Brüder und ich sogar etwas wie befreundet.“

„Man muss hier wirklich aufpassen, was man sagt, weil jeder jeden kennt.“ Josselyn schüttelte amüsiert den Kopf. „Wissen Sie auch, wie man die Sunshine Farm noch nennt? Lonelyhearts Ranch. Sie ist als Ort für Hochzeiten sehr beliebt, und anscheinend kommt es immer wieder vor, dass sich bei einer Feier ungebundene Gäste ineinander verlieben. Dann gibt es wieder eine Hochzeit und so weiter. In Rust Creek Falls wird anscheinend gern geheiratet.“

„Und dort wohnen Sie?“

„Ja, ich habe eins der kleinen Cottages gemietet.“

„Ich war seit Jahren nicht da draußen. Kann mich gar nicht erinnern, dass es dort Cottages gab.“

„Eva hat mir erzählt, dass die Stockton-Brüder zusammen mit ihrem Vater angefangen hatten, diese kleinen Blockhütten zu bauen, aber dann sind ihre Eltern bei diesem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen. Davon haben Sie sicher gehört.“

Er nickte mit betroffener Miene und senkte den Blick in die Kaffeetasse, die er umklammert hielt. „Ja, das war sehr schlimm, vor allem, weil es die Geschwister auseinandergerissen hat. Einige waren noch nicht volljährig und kamen zu Pflegefamilien. Aber so ist das mit tragischen Ereignissen, sie haben meistens mit Trennung zu tun.“

So, wie er es sagte, war Josselyn sicher, dass er etwas Ähnliches erlebt hatte. Hatte er vielleicht Dillons Mutter auf tragische Weise verloren? Das würde sie zu gern wissen, doch eine derart persönliche Frage wäre in diesem Moment völlig unangebracht.

„Manchmal bringt ein Verlust Menschen auch näher zusammen“, sagte sie nachdenklich. „Die Stockton-Brüder sind einander sehr verbunden, und alle beteiligen sich an dem Ausbau und der Instandhaltung der Ranch. Es gibt inzwischen sieben Blockhütten, und es sollen noch weitere dazukommen. Eva und Luke vermieten auch Zimmer im großen Farmhaus.“ Sie überlegte, ob sie das erwähnen sollte. „Mir fällt gerade ein: Eine Ihrer Patientinnen wohnt dort, Mikayla Brown. Allerdings nur noch, bis ihr Verlobter ein Haus für die kleine Familie gefunden hat.“

Seine Miene hellte sich auf. „Ich bin sehr froh, dass für Miss Brown und ihr Baby alles so gut ausgegangen ist. Ich habe gehört, dass sie die Kleine vor ein paar Tagen nach Hause holen konnte. Alle in der Klinik haben sich mit ihr gefreut.“

Josselyn lächelte versonnen. „Ich habe die kleine Hazel schon gesehen, sie ist unglaublich süß.“

Irgendetwas in ihrer Stimme schien ihn angerührt zu haben, denn er betrachtete sie mit nachdenklichem Blick. „Das hört sich an, als hätten Sie selbst auch gerne ein Baby.“

Sie trank von ihrem Kaffee und stellte die Tasse ab. Klar, dass der Mann so etwas fragte, schließlich war er Frauenarzt. Es ging ihm gar nicht um sie persönlich. „Ja, irgendwann hätte ich gerne Kinder. Mit dem richtigen Mann.“

Er lächelte. „Den haben Sie also noch nicht gefunden?“

Die Frage trieb ihren Puls in die Höhe. „Nein, leider nicht. Allerdings habe ich auch nie intensiv gesucht. Während des Studiums hat man andere Interessen, da denkt man nicht an Familiengründung. Zumal ich nebenher arbeiten musste. Meine Eltern haben zwar ein gutes Auskommen, aber es hätte nicht gereicht, um mir das Studium zu finanzieren.“

„Mir ging es genauso. Ich habe die merkwürdigsten Jobs gemacht.“

„Ja, ich auch“, sagte sie und steckte sich eine Gabel voll köstlichen Nusskuchen in den Mund.

Er nahm ebenfalls einen Bissen von seinem Kuchen. „Sie stammen aus Laramie, haben Sie erzählt“, sagte er, nachdem er mit Kauen fertig war.

Dass er sich daran noch erinnerte, wunderte sie sich. Sie nickte. „Mein Dad arbeitet seit dreißig Jahren beim örtlichen Elektrizitätswerk, und meine Mom ist Krankenschwester.“

Er lehnte sich bequem im Stuhl zurück, was Josselyns Blick unwillkürlich auf seine breiten Schultern und seine muskulöse Brust lenkte, die sich unter dem hellblauen Hemd abzeichnete. Ob er regelmäßig Sport trieb?

„Meine Familie hat seit jeher in der Landwirtschaft gearbeitet. Zwei meiner vier Brüder sind ebenfalls Farmer geworden.“

Zufrieden stellte sie fest, dass er offenbar bereit war, etwas aus seinem Privatleben preiszugeben, und sie tat es ihm nach. „Meine beiden älteren Brüder arbeiten auch auf einer Farm. Meine jüngere Schwester studiert noch und wohnt bei meinen Eltern. Wir verstehen uns alle sehr gut, auch wenn wir uns gelegentlich kabbeln.“

„Bei uns ist es genauso. Warum sind Sie weggezogen, wenn Sie ein so gutes Verhältnis zu Ihrer Familie haben? Gab es in Laramie keine freie Bibliothekarsstelle?“

„Doch, natürlich. Eine war sogar ziemlich interessant, und meine Eltern hätten gern gesehen, wenn ich sie genommen hätte. Ich hätte sogar mehr verdient als hier in der Schulbücherei. Aber ich wollte gern mit Kindern arbeiten. Und vor allem wollte ich irgendwo anders leben, einen neuen Ort und neue Leute kennenlernen.“

„Fühlen Sie sich hier wohl?“

Sie nippte an ihrem Kaffee. „Ja, sehr. Diese Kleinstadt hat etwas an sich, ich kann es gar nicht erklären, aber ich habe mich regelrecht in diesen Ort verliebt.“ Sie sah ihn an. „Und wie geht es Ihnen hier?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich werde wohl wieder zurück nach Thunder Canyon gehen, sobald ich hier nicht mehr gebraucht werde. Ehrlich gesagt, war ich nicht sonderlich scharf darauf, herzuziehen, aber meine Eltern haben darauf gedrängt. Sie meinten, eine Veränderung würde mir und Dillon guttun. Und im Ärztehaus hier wurde dringend jemand gesucht.“

„Verstehe.“

„Wirklich? Sie konnten es doch gar nicht erwarten, herzukommen, oder? Bei mir kam noch die Sorge dazu, dass Dillon seine Großeltern und Freunde vermissen könnte.“

Er schien tief in Gedanken versunken zu sein, deshalb wartete sie ab.

„Seit dem Tod meiner Frau war ich nicht mehr aus Thunder Canyon herausgekommen“, fuhr er mit trauriger Miene fort. „Meine Familie und die gewohnte Umgebung haben mir Halt gegeben, und ich hatte Angst, alleine nicht zurechtzukommen. Mit mir und vor allem mit Dillon, nachdem meine Eltern sich all die Jahre um ihn gekümmert hatten.“

Seit dem Tod meiner Frau. Jetzt hatte er es ausgesprochen, und es war ihm offensichtlich sehr schwergefallen. „Jetzt kann ich alles besser verstehen“, sagte sie mitfühlend. „Es tut mir schrecklich leid, Drew.“

Er machte ein betroffenes Gesicht. „Was konnten Sie denn bisher nicht verstehen?“

„Na ja, Dillon hat doch mehrmals erwähnt, dass er keine Mutter hat, und ich habe mich gefragt, was mit ihr ist. Ich dachte, vielleicht lebt sie irgendwo im Ausland oder so. Kein Wunder, dass er …“ Sie brach ab.

„Sie meinen, dass er eine Frau für mich sucht?“

„Ja, offensichtlich sehnt er sich nach einer Mutter.“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich frage mich, warum, wo er doch gar nicht weiß, wie es ist, eine Mutter zu haben. Als Evelyn verunglückt ist, war er erst ein Jahr alt, er kann sie also unmöglich vermissen.“

Josselyn versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. Dann war Drew also schon sechs Jahre lang Witwer. Und noch immer trauerte er um seine Frau, als wäre sie gerade erst gestorben. Hatte er sie so sehr geliebt, dass er kein Interesse mehr an anderen Frauen hatte? Und wieso dann die Einladung? Weil er mit ihr über seinen Sohn reden wollte? Was kamen ihr bloß für seltsame Gedanken? fragte sie sich sofort beschämt. Nur wegen einer harmlosen Einladung zum Kaffee.

„Vielleicht hat es was mit dem Umzug nach Rust Creek Falls zu tun“, sagte sie. „Seine Oma war sicher ein Mutterersatz für ihn, und die fehlt ihm hier, vor allem wenn seine Schulkameraden von ihren Müttern erzählen, und er kann dabei nicht mitreden. Vielleicht legt sich das ja mit der Zeit. Aber wie ist es mit Ihnen?“

Die Kuchengabel, die er zum Mund führen wollte, blieb in der Luft hängen. „Bei mir? Wie meinen Sie das?“

Jetzt hatte sie sich ziemlich weit vorgewagt. Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. „Ich meine, Sie sind seit sechs Jahren Witwer, leben Sie denn gern allein?“ Sie biss sich auf die Lippen. „Tut mir leid, vielleicht gibt es ja eine Frau in Ihrem Leben.“

„Nein, und ich denke, es wird auch keine mehr geben. Das Schicksal hat für mich offenbar ein Single-Dasein vorgesehen, sonst würde Evelyn noch leben.“

Was für ein seltsam verbohrter Mensch dieser Drew Strickland war. Wollte er denn sein Leben lang um seine Frau trauern?

„Ich glaube, die meisten Witwer heiraten nach einer gewissen Trauerzeit wieder.“

Er verzog unwirsch den Mund, doch diesmal würde Josselyn sich nicht entschuldigen. Wenn sie bei diesem Mann jedes Wort auf die Goldwaage legen müsste, dann wäre er sowieso keinen weiteren Gedanken wert.

„Ich gehöre nicht dazu“, erwiderte er schroff.

Der Mann war ja völlig verbittert. Schade, dachte sie, wo ich gerade anfange, ihn zu mögen.

„Nun, wenn Dillon etwas älter ist, wird er vielleicht verstehen, warum Sie ihm keine Stiefmutter gegönnt haben.“ Um ihre Worte abzumildern, bemühte sie sich um ein scherzhaftes Lächeln. „Wer weiß, vielleicht ist Ihr Sohn Ihnen ja sogar irgendwann dankbar dafür. Kinder können ihre Meinung sehr schnell ändern.“

Er hob spöttisch eine Augenbraue. „Was wissen Sie denn über Kinder? Außer dass Sie ihnen beim Bücheraussuchen helfen?“

Sie lachte leise. „Vielleicht war ich selbst mal ein Kind? Ist noch gar nicht so lange her.“

Zu ihrer Erleichterung huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Ja, irgendwann war ich auch mal so alt wie mein Sohn heute, aber das kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, sorglos in den Tag hinein zu leben.“

Ohne zu überlegen, griff sie über den Tisch und legte ihre Hand auf seine. „Macht es Ihnen etwas aus, mir von Ihrer Frau zu erzählen?“

Seine braunen Augen verschatteten sich, und sie befürchtete schon, er würde ihr die Frage übelnehmen. Doch dann senkte er den Blick auf ihre Hand, die auf seiner lag. Es sah aus, als wäre diese Berührung für ihn etwas ganz und gar Ungewohntes.

„Es war am frühen Morgen“, begann er leise. „Sie war mit Dillon unterwegs zum Kinderhort, als ein Baum auf das Auto stürzte und die Front zertrümmerte. Dillon hat hinten in seinem Babysitz keinen einzigen Kratzer abgekommen, aber Evelyn war sofort tot.“

Josselyn verstärkte den Druck ihrer Hand. „Oh, Drew, wie furchtbar, wie absolut entsetzlich.“

„Anscheinend war der Baum schon länger morsch gewesen und sollte gefällt werden, und am Abend vorher hatte es einen Sturm gegeben, der ihm weiter zugesetzt hatte.“ Er hob den Kopf und sah sie an. „Mindestens zwei Jahre lang war ich wie in einer Schockstarre, und bis heute habe ich das Unglück nicht verkraftet. Ich funktioniere zwar, aber ohne wirklich Anteil am Leben zu nehmen. Zu der Trauer sind dann noch die Wut über die Sinnlosigkeit des Unfalls und vor allem die Selbstvorwürfe dazugekommen.“

„Aber wieso denn? Sie konnten doch nichts dafür.“

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. „Eigentlich wäre ich an dem Tag an der Reihe gewesen, Dillon zum Kinderhort zu bringen. Aber es kam ein Notruf, und ich musste dringend zu einer Geburt. Evelyn ist an meiner Stelle gefahren – und an meiner Stelle umgekommen.“

„Aber das ist doch nicht Ihre Schuld. Wer weiß, vielleicht gibt es ja so etwas wie Vorsehung. Vielleicht sollten Sie am Leben bleiben. Wut und Selbstvorwürfe ändern jedenfalls gar nichts an dem, was passiert ist. Damit machen Sie sich nur unglücklich.“

Er seufzte. „Ich weiß, aber diese kluge Einsicht hilft mir leider auch nicht. Der Mensch kommt nun mal nicht gegen seine Gefühle an. Und die Trauer bleibt sowieso mein ständiger Begleiter.“

„Ich glaube trotzdem, dass diese Einsicht Ihnen hilft, allmählich wieder im Leben Fuß zu fassen und in die Zukunft zu blicken.“

Als er die Mundwinkel verzog, machte sie sich schon auf eine schroffe Erwiderung gefasst, doch plötzlich formten sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln.

„Hätte ich nur ein wenig von Ihrem Optimismus.“

Plötzlich spürte sie so intensiv die Wärme seiner Hand, dass selbst ihre Schultern noch davon prickelten. Rasch zog sie die Hand weg und versteckte sie unter dem Tisch.

„Sie denken wahrscheinlich, ich sei zu jung, um zu verstehen, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber ich verstehe es sehr gut.“

„Wie alt sind Sie denn?“

„Fünfundzwanzig.“

„Dann habe ich immerhin acht Jahre Vorsprung an Lebenserfahrung.“

Sie lächelte. „Dreiunddreißig ist auch noch kein Alter, oder?“

Er erwiderte nichts, und zwischen ihnen breitete sich ein unbehagliches Schweigen aus. Josselyn versuchte, ihren restlichen Kuchen zu genießen, doch sie war sich zu sehr der Nähe dieses Mannes bewusst.

Warum hatte er sie wohl eingeladen, wo er doch immer noch seiner verstorbenen Frau nachhing und gar nicht an anderen Frauen interessiert war?

„Haben Sie denn auch schon mal einen nahen Menschen verloren?“, fragte er unvermittelt.

„Ja, meine Großmutter. Ich habe sehr unter ihrem Tod gelitten. Kurz nach meinem Highschool-Abschluss ist sie ganz plötzlich gestorben. Für mich war sie viel mehr als nur meine Großmutter gewesen. Niemand hat mich so gut verstanden wie sie, mit ihr konnte ich über alles reden, und sie war es auch, von der ich die Liebe zu Büchern hatte.“ Sie lächelte traurig. „Sicher würde sie sich über meine Berufswahl freuen.“

Seine braunen Augen bekamen einen weichen Ausdruck, und Josselyn spürte, wie es ihr warm ums Herz wurde.

„Ganz bestimmt würde sie sich freuen“, erwiderte er. Und dann brachte er die Unterhaltung dankenswerterweise auf allgemeine Dinge. Josselyn merkte kaum, wie die Zeit verging, und ihm schien es ebenso zu gehen.

Irgendwann sah er erschrocken auf die Uhr. „Ich sollte jetzt besser nach Hause fahren. Wie ich Dillon kenne, überredet er meine Großeltern, dass er aufbleiben darf, bis ich wieder da bin. Oder würden Sie gern noch bleiben?“

„Nein, nein, für mich wird es auch Zeit.“ Sie griff nach ihrer Handtasche.

Nachdem Drew sie an ihrem Auto abgesetzt hatte, verabschiedeten sie sich. Es war kühl geworden, und als sie in die Jacke schlüpfen wollte, die sie über den Arm gelegt hatte, nahm er sie ihr ab und legte sie ihr beinahe zärtlich um die Schultern.

„Danke“, sagte sie lächelnd. „Auch für die Einladung.“

„Fahren Sie vorsichtig.“

Im Dämmerlicht bemerkte sie einen Anflug von Besorgnis in seinen Augen. Musste er gerade an den Unfall seiner Frau denken?

„Das mache ich immer.“

„Danke für Ihre Gesellschaft. Es war ein schöner Abend.“

Ohne zu überlegen beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.

Überrascht sah er sie an, und unverhofft spürte sie seine Hände auf ihren Schultern. Und dann küsste er sie auf den Mund.

Zuerst war sie so überrascht, dass sie kaum reagieren konnte, doch dann schoss ein lustvolles Gefühl wie ein heißer Strom durch ihren Körper, und sie vergaß alles um sich herum. Wie lange dauerte der Kuss? Sie wusste es nicht. Doch als er sich von ihren Lippen löste, verlangte es sie nach mehr.

„Gute Nacht, Josselyn“, sagte er leise. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen.

Sie sah ihm nach, vollkommen verwirrt. Mehr hatte er nicht zu sagen nach diesem erregenden Kuss?

Innerlich vollkommen aufgewühlt ließ sie sich auf den Autositz sinken und atmete tief durch.

Sicher hatte er keine Ahnung, was er mit seinem Kuss angerichtet hatte. Ihr wohlgeordnetes Leben war plötzlich vollkommen durcheinandergeraten.

5. KAPITEL

Am nächsten Tag saß Drew an seinem Schreibtisch und versuchte vergeblich, sich auf die Krankenakte zu konzentrieren, die vor ihm lag. Der unüberlegte Kuss vom Vorabend ging ihm nicht aus dem Kopf. Was war bloß in ihn gefahren? Seit Evelyns Tod hatte er keine Frau mehr angerührt, geschweige denn geküsst.

Mit einem tiefen Seufzer stand er auf und trat ans Fenster. Er hätte in Thunder Canyon bleiben sollen. Seit er hier in dieser Kleinstadt wohnte, fühlte sich für ihn alles ganz anders an.

Aber was war daran so schlimm? Wurde es nicht endlich Zeit, dass er aus seiner Erstarrung aufwachte?

Er blickte auf die belebte Straße unter seinem Fenster. Etwas westlich davon lag die Grundschule. Liebevoll dachte er an seinen Sohn, der jetzt dort in seiner Klasse saß. Und er dachte an Josselyn in ihrer Bücherei. Ihn überkam plötzlich die Sehnsucht, sie wieder zu küssen.

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen verwirrenden Gedanken. Schwester Nadine, die ihm assistierte, steckte den Kopf zur Tür herein. „Mrs. Peters ist vor ein paar Minuten gekommen. Sie hat gesagt, sie fühlt sich nicht wohl. Ich habe schon den Blutdruck gemessen, der ist viel zu hoch.“

Rasch zog Drew seinen Arztkittel an, der neben der Tür hing, und folgte Nadine nach draußen. „Hoffentlich ist es keine Schwangerschaftsvergiftung. Es ist noch viel zu früh, die Geburt einzuleiten.“

„Vielleicht sollten Sie wissen, dass sie im Moment ziemlich viel Stress hat. Der Vater des Kindes hat sich aus dem Staub gemacht.“

Drew seufzte. „Das Problem können wir leider nicht für sie lösen, aber wir können versuchen dafür zu sorgen, dass sie und das Kind gesund sind.“

Zumindest vorläufig waren die Gedanken an Josselyn in den Hintergrund geraten.

Am späten Nachmittag verstaute Josselyn eine mit Büchern gefüllte Tragetasche auf dem Rücksitz ihres Wagens, als neben ihr ein Auto einparkte.

Verwundert drehte sie den Kopf zur Seite. Nach Schulschluss fuhren normalerweise alle vom Parkplatz weg, statt anzukommen. Aber das schicke schwarze Auto kannte sie doch! Was wollte Drew denn noch hier? Dillon war doch längst abgeholt worden.

Ihr Herz fing freudig zu pochen an. „Hallo, Drew.“

„Hallo, Josselyn. Da habe ich Sie ja gerade noch erwischt.“

Ihr fiel auf, dass er müde aussah, was seinem guten Aussehen jedoch nicht den geringsten Abbruch tat. Er wirkte dadurch irgendwie weich und verletzlich, und das machte ihn für sie umso attraktiver.

„Ich bin gerade auf dem Heimweg, und als ich Ihr Auto gesehen habe …“

„… wollten Sie mich sehen“, beendete sie kokett den Satz.

Um seine Mundwinkel zuckte es amüsiert. „Ja, das wollte ich tatsächlich.“

Sie merkte, wie sie rot wurde. „Gibt es … geht es um Dillon und seine Bücher?“

„Nein, alles in Ordnung. Er liest fleißig, und es scheint ihm Spaß zu machen.“ Er kam einen Schritt näher. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust haben, mit mir und Dillon am Wochenende angeln zu gehen. Das würde uns beiden gefallen.“

Genau genommen war das keine Einladung zu einem Date, aber genau so fühlte es sich an. Ein freudiges Kribbeln überlief sie.

„Angeln? Meine Güte, ist das lange her, dass ich mit meinen Brüdern beim Angeln war.“

„Ich habe es auch ewig nicht gemacht. Vielleicht können wir unsere Angelkenntnisse ja zusammen auffrischen. Aber im Grunde ist es egal, ob wir was fangen. Hauptsache, Dillon hat seinen Spaß. Und wir beide natürlich auch.“

Obwohl sie innerlich vor Freude in die Luft sprang, tat sie, als würde sie sich seine Einladung überlegen. „Und wann genau dachten Sie?“

„Warum nicht gleich morgen, wenn Sie Zeit haben? Ich könnte Sie um zehn abholen. Wir könnten hoch in die Berge fahren, in Richtung der Wasserfälle. Dort gibt es Bäche und Seen mit Forellen, wenn ich mich recht erinnere.“

Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Freude zu unterdrücken. „Ich bin dabei“, erwiderte sie strahlend. Dann streckte sie die Hand aus und tippte an seinen Kragen. „Sie haben ja noch Ihren Arztkittel an. Wollten Sie nicht nach Hause fahren?“

Verwundert blickte er an sich herunter. „Oh, anscheinend bin ich so eilig weg, dass ich vergessen habe, das Ding auszuziehen. Morgen komme ich ohne. Versprochen.“

Seine humorvolle Seite gefiel ihr. „Wer weiß“, erwiderte sie schelmisch, „womöglich verletze ich mich mit dem Angelhaken und brauche ärztliche Hilfe.“

Er griff nach ihrer Hand und betrachtete sie. „Bei so einer zarten Hand wäre eine Verletzung natürlich fatal. Da muss ich gut auf Sie aufpassen.“

Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht, und Josselyn verspürte ein angenehmes Kribbeln, als seine warmen braunen Augen an ihren Lippen hängen blieben.

„Soll ich …“, sie räusperte sich verlegen, „soll ich noch etwas mitbringen?“

„Nein, mein Großvater hat alles, was man zum Angeln braucht. Und Grandma sorgt für das Picknick.“

„Hört sich alles sehr verlockend an.“

Sie sahen sich in die Augen, während die Wärme seiner Hand auf Josselyn überging. Mit leicht verlegener Miene ließ er ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. „Also dann bis morgen früh.“

„Ja, bis morgen.“ Als er stehen blieb, fragte sie: „Wollten Sie noch etwas sagen?“

„Hm, der Kuss gestern …, das war sehr schön.“

Ihr Herz pochte zum Zerspringen. „Ja, fand ich auch.“

Er hob grüßend die Hand und ging zu seinem Wagen zurück. Rasch stieg Josselyn in ihr Auto und startete den Motor.

Auf dem Weg zur Sunshine Farm lächelte sie versonnen. Rust Creek Falls war wirklich ein besonderer Ort.

„Dad, was ist, wenn ich keinen Fisch fange? Dann denkt Miss Weaver bestimmt, dass ich gar nicht angeln kann.“

Drew stöhnte innerlich, während er die Landstraße entlangfuhr. Mit seinen sieben Jahren machte sein Sohn sich bereits Gedanken darüber, wie man einer Frau imponiert.

„Keine Sorge, du fängst bestimmt einen Fisch, das habe ich im Gefühl. Übrigens darfst du Miss Weaver heute ausnahmsweise Josselyn nennen.“

Dillon beugte sich aufgeregt nach vorne. „Meinst du wirklich?“

„Ja, aber in der Schule ist sie für dich wieder Miss Weaver, okay? Das ist respektvoller.“

„Klar, Dad. Was bedeutet eigentlich respektvoll?“

Im Rückspiegel betrachtete Drew das neugierige Gesicht seines Sohnes. „Das heißt, man ist höflich zu anderen Menschen und benimmt sich ordentlich. Das hab ich dir doch schon beigebracht, oder?“

„Schon, aber lustig ist das nicht, wenn man immer brav sein und stillsitzen muss.“

Drew lachte leise in sich hinein, was dem aufmerksamen Dillon nicht entging. „Du lachst ja, Dad. Das machst du sonst nie. Freust du dich aufs Angeln?“

Drew versetzte es einen Stich. Lachte er wirklich nie? Gleichzeitig dachte er: Ja, ich freue mich. Ihm schien, dass er seit Evelyns Tod keine richtige Freude mehr erlebt hatte. „Klar, freue ich mich darauf, mit dir zum Angeln zu fahren.“

„Und mit Miss Weaver – ich meine, Josselyn. Yippie!“

Es war ein klarer, sonniger Morgen. Aber wie Josselyn von den Einheimischen gehört hatte, konnte es im September in Montana schon empfindlich kühl werden, vor allem in den Bergen. Entsprechend zog sie Jeans und Stiefel an, dazu ein kariertes Flanellhemd und eine mit Schaffell gefütterte Jeansjacke.

Autor

Stella Bagwell
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