Bianca Extra Band 137

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DER COWBOY MIT DEN HIMMELBLAUEN AUGEN von CHRISTINE RIMMER

Nie wieder ein Mann, schwört Melanie sich. In dem kleinen Ort Bronco will sie von vorn anfangen – und läuft schon am ersten Tag Gabe Abernathy in die Arme. Der Cowboy mit den himmelblauen Augen ist die pure Versuchung! Kann sie trotz aller heißen Gefühle stark bleiben?

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  • Erscheinungstag 29.06.2024
  • Bandnummer 137
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523509
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Rimmer, Melissa Senate, Nina Crespo, Makenna Lee

BIANCA EXTRA BAND 137

PROLOG

Melanie Driscoll schrie entsetzt auf, als der Brautstrauß in ihre Richtung flog. Er traf sie mitten ins Gesicht. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihn mit beiden Händen festhalten, ehe er ins Gras fiel.

„Glückskind!“, rief eine Frau direkt hinter ihr.

„Das ist nicht fair“, jammerte eine andere von rechts. „Ich hab den Strauß noch nie gefangen.“

„Jetzt bist du dran, Mel!“, rief ihre Schulfreundin Sarah Turner Crawford.

Mel betrachtete das üppige Bouquet aus Sonnenblumen, Astern, Kornblumen und Rittersporn und fragte sich, was sie auf dieser überaus romantischen Open-Air-Hochzeit im Rust-Creek-Falls-Park eigentlich verloren hatte.

Sie hätte nicht kommen sollen.

Aber Sarah hatte darauf bestanden. „Komm schon, Mel“, hatte sie gebettelt. „Glaub mir, ich weiß genau, was du gerade durchmachst.“ Und Sarah wusste es tatsächlich. In letzter Zeit hatte sie mit Männern so ihre Schwierigkeiten gehabt. Doch jetzt war sie glücklich verheiratet mit einem der fünf Brüder des Bräutigams. „Das wird bestimmt ein Riesenspaß“, hatte Sarah versprochen. „Und du musst mal wieder unter Leute.“

Ein Riesenspaß. Ganz bestimmt. Mel schnitt eine Grimasse, während sie den Strauß betrachtete.

„Jetzt ist es amtlich!“, verkündete eine andere Schulfreundin kichernd. „Du bist die Nächste.“ Alle applaudierten.

Mel wusste, dass sie gute Miene zum bösen Spiel machen sollte. Lächeln und begeistert tun, dass sie bald an der Reihe war.

Von wegen. Keine Chance! Ihr Leben war das reinste Chaos, und daran war ein Mann schuld. Und jetzt sollte sie die Glückliche spielen, während ihr alle auf den Rücken klopften?

Vergesst es!

Mel schleuderte das Grünzeug über ihre Schulter und fühlte eine bittere Genugtuung, als sie die schockierten Rufe hörte.

Eine kindliche Stimme ertönte. „Alles okay! Ich hab ihn!“

Mel drehte sich um. Wren Crawford, das Blumenmädchen und die Tochter des Bräutigams, lief mit hüpfenden Zöpfen auf sie zu. Das riesige Bouquet hielt sie zwischen den kleinen Händen; an ihrem Arm baumelte der Blumenkorb. Vor Mel blieb Wren stehen und schaute sie mit ihren blauen Augen vorwurfsvoll an. „Du hast den Strauß weggeworfen.“

„Stimmt.“

„Möchtest du nicht die nächste Braut sein?“

Nein. Aber das süße kleine Mädchen war gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. Mel wollte nichts sagen, was die unschuldigen Fantasien der Kleinen von ewiger Liebe und Bis-der-Tod-uns-scheidet zerstören konnte. Stattdessen flüsterte sie ihr vertraulich zu: „Behalt du ihn. Im Moment gibt es niemanden in meinem Leben.“

Eine andere Single-Frau murmelte: „Na, wenn das Kind als Nächstes dran ist, werde ich vierzig sein, bevor ich an die Reihe komme.“

Alle lachten.

Außer Wren und Mel. Unverwandt schaute das Kind stirnrunzelnd zu ihr hoch. „Du bist doch letzte Woche mit meiner Tante Sarah auf die Ranch gekommen, nicht wahr?“ Wrens Seite der Familie Crawford war im vergangenen Sommer in die Stadt gezogen. Ihr Onkel Logan war jetzt Sarahs Ehemann.

„Ja. Das war ich. Ich bin die Freundin deiner Tante Sarah und heiße Mel.“

„Mel, willst du wirklich, dass ich den Strauß behalte?“

„Ja.“

„Dann habe ich etwas, das du brauchen wirst.“

Mel konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein konnte, aber dennoch folgte sie dem Mädchen – einerseits, um der Meute zu entkommen, andererseits aus Neugier.

„Setz dich.“ Wren hüpfte auf die Bank. Ihr elfenbeinfarbener Organza-Rock bauschte sich um sie wie die Blütenblätter einer exotischen Blume. Mel setzte sich neben sie. „Hier.“ Wren hielt ihr den Strauß hin.

„Nein danke.“

„Nur eine Minute. Bitte.“

Zögernd ergriff Mel das Bouquet erneut. Gegen ihren Willen sah sie dem Mädchen interessiert dabei zu, wie es das Seidentuch seines Blumenkorbs lüpfte und ein abgegriffenes Buch hervorzog. Auf dem mit Edelsteinen verzierten braunen Ledereinband prangte ein großes A.

„Das ist ein Tagebuch“, erklärte Wren. „Meine Onkel haben es unter einer Holzdiele im Ambling A gefunden.“ Ambling A hieß die Ranch, auf der Wren mit ihrem Dad und nun auch ihrer Stiefmutter lebte, dazu ihrem Großvater und mehr als einem der fünf Brüder ihres Vaters samt deren Bräuten. „Hier.“ Wren hielt ihr das Buch hin. „Das ist für dich.“

Automatisch nahm Mel es in ihre freie Hand und betrachtete das Tagebuch.

Wren schob sich den Blumenkorb wieder über den Arm und streckte die Hand aus. „Jetzt kannst du mir meine Blumen wiedergeben.“ Ebenso verdutzt, wie sie das Tagebuch entgegengenommen hatte, reichte Mel dem Mädchen den Strauß. Die Kleine bedankte sich artig.

Wren rutschte von der Bank und setzte sich in Bewegung. Mel starrte ihr verdattert hinterher. „Warte!“ Sie hielt das Buch hoch. „Du hast dein Tagebuch vergessen.“

Wren lächelte nur. „Es gehört jetzt dir.“

„Wie bitte? Nein …“

„Doch. Es wird dir Glück in der Liebe bringen. Frag nur einen meiner Onkel. Sie haben das Tagebuch gefunden, und sie sind jetzt alle glücklich verheiratet. Genau wie mein Grandpa Max. Und jetzt ist mein Daddy auch verheiratet.“ Wren strahlte. Sie war überglücklich, dass ihr Vater, Hunter Crawford, Merry Matthews das Jawort gegeben hatte. „Frag meinen Onkel Wilder“, schlug das Mädchen vor. „Er wird dir alles erklären.“

„Aber ich …“

„Er ist da drüben.“ Mit dem Kopf deutete sie in die Richtung. „Tschüs!“ Und damit lief sie davon.

Mel wollte ihr folgen. Doch dann änderte sie ihre Meinung und ging zu Wilder. Wenn das Mädchen das alte Buch nicht zurücknehmen wollte, würde es ihr Onkel bestimmt tun. Es sah antiquarisch aus und war vermutlich sehr wertvoll.

Aber Wilder Crawford schüttelte nur den Kopf, als sie es ihm geben wollte. „Mel, das Tagebuch gehört dir.“

„Nein.“

„Du hast den Brautstrauß gefangen, und das bedeutet, dass du die Nächste bist, die ihre große Liebe findet. Das Tagebuch wird dir dabei helfen.“

Offenbar hatte dieser Zweig der Crawford-Familie nicht alle Tassen im Schrank. „Wilder“, entgegnete sie geduldig, „die Liebe hat es nicht gut mit mir gemeint, und ich bin absolut nicht daran interessiert, sie zu finden.“

Wilder verschränkte seine schlanken Arme vor der Brust. „Öffne es.“

„Ich wollte nur, dass du …“

„Bitte, tu’s. Schau hinein.“

Sie seufzte ungehalten, was Wilder überhaupt nicht beeindruckte.

„Na gut.“ Sie klappte das Buch auf, und Wrens Onkel zeigte ihr die Stelle im Einband, in dem ein Brief versteckt war. Ein Brief, der offenbar nie verschickt worden war. Der zerknitterte Umschlag war an Winona Cobbs adressiert – in einer psychiatrischen Anstalt in der Nähe von Kalispell.

Mel staunte. „Unsere Winona Cobbs?“

Wilder nickte. „Wer sollte es sonst sein? Rust Creek Falls ist eine kleine Stadt.“

Mel kannte Winona Cobbs sehr gut. Sie mochte die alte Frau, die in jenem Jahr in die Stadt gekommen war, in dem Mel ihre Eltern durch einen Autounfall verloren hatte. Die kluge und freundliche Winona war inzwischen in ihren Neunzigern. Einige hielten sie für ein bisschen verrückt. Andere glaubten, sie sei geisteskrank. Doch ihre Zeitungskolumne „Winonas Weisheiten“ hatte jeder gern gelesen.

„Es ist nur ein kurzer Brief. Lies ihn“, forderte Wilder sie auf.

Mel klemmte sich das Tagebuch unter den Arm, nahm den Brief aus dem zerknitterten Umschlag und strich ihn glatt. Sie stellte fest, dass ihre Finger zitterten.

Meine liebste Winona, bitte verzeih mir. Aber man sagt, dass es Dir nie wieder gut gehen wird. Ich versichere Dir, dass mit Deiner kleinen Tochter alles in Ordnung ist. Sie lebt. Ich hätte sie gern selbst großgezogen, aber meine Eltern haben mich gezwungen, sie zur Adoption freizugeben. Sie ist bei guten Menschen – meine Eltern wissen es nicht, aber ich habe herausgefunden, wer sie sind. Eines Tages werde ich einen Weg finden, um sie zu Dir zurückzubringen.

Immer der Deine

Josiah

Mel faltete den Brief wieder zusammen. „Wer ist denn dieser Josiah?“

„Josiah Abernathy. Er war der Sohn der ursprünglichen Besitzer von Ambling A. Er hat das Tagebuch geschrieben.“

Sie kannte die alten Geschichten von den Abernathys. Vor vielen Jahren hatten sie die Ranch, die sie „Ambling A“ genannt hatten, zum Verkauf angeboten und die Stadt quasi über Nacht verlassen. Niemand hatte je wieder etwas von ihnen gehört. „Ich weiß, es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass eine andere Winona Cobbs damals in der Stadt gewohnt hat, aber so muss es tatsächlich gewesen sein.“

„Warum?“

Mel verstaute den Brief in seinem Versteck. „Weil unsere Winona nur in den letzten sechs Jahren hier gewohnt hat.“ Auffordernd hielt sie ihm das Tagebuch hin. „Ich erinnere mich noch daran, wie sie in die Stadt gekommen ist.“ Wenige Monate später waren ihre Eltern gestorben. „Bei der Beerdigung meiner Eltern stand sie mir zur Seite und hat mir so gut sie konnte geholfen. Sie war so freundlich und lebensklug und verständnisvoll. Sie hat mir durch eine wirklich schwere Zeit geholfen.“

„Alle lieben Winona“, sagte Wilder mit sanfter Stimme. „Vielleicht hat sie hier vor Jahrzehnten gelebt, ist weggezogen und zurückgekommen. Hör endlich auf, mir das Tagebuch in die Hand drücken zu wollen. Es ist deins.“

„Aber hast du mit Winona gesprochen? Hast du ihr den Brief gezeigt?“

Wilder fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. „Hör zu. Meine Brüder und ich haben immer wieder darüber gesprochen, ob wir Winona damit behelligen sollen. Aber du kennst die Situation. Winona ist alt und in letzter Zeit ziemlich krank gewesen. Wir waren uns nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, sie damit zu behelligen. Es könnte ein ziemlicher Schock für sie sein, und das wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. Das war uns allen klar.“

„Was ist mit der psychiatrischen Klinik in Kalispell, in die Winona angeblich eingewiesen wurde? Hast du dich dort mal erkundigt?“

Er nickte. „Ich war dort.“

„Und?“

„Sie ist vor vierzig Jahren abgebrannt. Und ich glaube auch nicht, dass es etwas gebracht hätte, mit den Leuten dort zu reden. Die Schweigepflicht hätte sie davon abgehalten, mir oder irgendjemand anderem, der dort herumschnüffelt, irgendetwas zu erzählen.“

„Mit anderen Worten – ihr habt nichts unternommen.“

Jetzt wirkte er verlegen. „Ja. So könnte man es auch ausdrücken.“

Erneut hielt sie ihm das Buch vor die Nase. „Bitte. Ich bleibe nicht in der Stadt. Nächsten Montag beginne ich mit meinem neuen Job. In Bronco.“

„Egal“, erwiderte Wilder. „Wren hat dir das Buch gegeben, und ich nehme es nicht zurück.“

Am Ende hatte Mel das Tagebuch doch mit in das viel zu leere Haus genommen, in dem sie aufgewachsen war.

Todd Spurlock, ihr untreuer Ex-Verlobter, schickte ihr gegen zehn wieder einmal eine Nachricht, in der er sie bat, zu ihm zurückzukommen. Jetzt hatte sie endgültig Nase voll und sperrte seine Nummer. Wenn er es jetzt nicht kapierte …

Um sich von ihrem Ärger abzulenken, den sie stets empfand beim Gedanken an den Mann, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, nahm sie das alte Tagebuch zur Hand und begann darin zu lesen. Die Lektüre zog sie so sehr in ihren Bann, dass sie sie bis zur letzten Seite – und nachdem sie eine halbe Schachtel Kleenex verbraucht hatte – nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Das Buch erzählte die traurige Geschichte von Josiah Abernathy und seiner Liebe zu einer Frau, die er nur „W“ nannte. Es war die alte Geschichte vom reichen Jungen und dem armen Mädchen und den Eltern, die diese Verbindung missbilligten. Eine verbotene Liebe und eine ungeplante Schwangerschaft – ein „unverzeihlicher Fehltritt“, wie sie damals hinter vorgehaltener Hand geflüstert hatten.

Was war aus dem Kind geworden? Im Tagebuch hatte Josiah geschrieben, dass „W“ und er das Mädchen Beatrix genannt hatten, das bei der Geburt gestorben war. Und dass „W“ bei diesem Verlust einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Josiahs Eltern hatten dafür gesorgt, dass „W“ einen Platz in der psychiatrischen Klinik in Kalispell bekam.

Spät in der Nacht, nachdem sie Josiahs Buch bis zur letzten Seite gelesen hatte, holte Mel den Umschlag mit dem Namen ihrer lieben Freundin Winona noch einmal hervor und las den Brief, der behauptete, dass die kleine Beatrix am Leben geblieben war.

Als sie endlich ins Bett ging, dämmerte bereits der Morgen.

Am Montag morgen suchte Mel als Erstes die Bücherei von Rust Creek Falls auf, um im Archiv der Rust Creek Falls Gazette zu recherchieren. Sie suchte nach einem Hinweis darauf, dass die Winona, die sie gekannt und bewundert hatte, damals in oder in der Nähe von Rust Creek Falls gelebt hatte.

Zu ihrer Überraschung entdeckte sie ein Foto der sehr jungen Winona mit einer Flagge in der Hand. Beim Anblick der jungen, lebenslustigen Frau, die Winona einmal gewesen war, spürte Mel einen Kloß in der Kehle., und eine Träne lief ihr über die Wange. Das Foto war während der jährlichen Parade zum vierten Juli auf der Main Street geschossen worden – vor mehr als siebzig Jahren. Die Bildzeile lautete: „Miss Winona Cobbs schwenkt die Stars and Stripes.“

Noch am selben Nachmittag stattete Mel der alten Frau einen Besuch ab. Winona saß auf der Couch in ihrem kleinen Wohnzimmer. Die Falten in ihrem Gesicht wurden tiefer, als sie lächelnd aufstand und Mel umarmte. Bei einer Tasse Tee, den Mel zubereitet hatte, unterhielten sie sich über belanglose Dinge, während Mel auf den richtigen Moment wartete, um über das Tagebuch zu reden.

„Wie lange bleibst du denn in der Stadt?“, wollte Winona wissen.

„Nur ein paar Tage. Dann ziehe ich nach Bronco. Dort beginne ich nächste Woche mit meinem neuen Job.“

„Was machst du denn da?“ Mit dem Auto dauerte die Fahrt von Rust Creek Falls nach Bronco fünf Stunden. Die Stadt war bekannt dafür, dass einige der reichsten Leute des Landes dort wohnten. „Ich werde eine Zeitlang ein neues Restaurant von DJ Traub führen.“

„DJ Traub – der mit der Spareribs-Restaurantkette?“

„Genau der.“

„Hast du nicht während deines Studiums schon dort gearbeitet?“

„Ja. Aber das Restaurant in Bronco gehört zu den gehobeneren. Es heißt DJ Deluxe und liegt in Bronco Heights.“

„Wo die ganz Reichen leben.“

„Jawohl, Winona.“ Mel schmunzelte. „Im elegantesten Viertel.“

„Du sagst eine Zeitlang?“

„Stimmt. Ende des Jahres ziehe ich nach Austin um. Ich habe da schon eine Stelle in Aussicht. Eine Firma, die schon seit Längerem an mir interessiert ist, expandiert nach Texas. Und ich soll die Finanzabteilung leiten. Ich freue mich schon auf die neuen Aufgaben.“

„Du bist ja richtig abenteuerlustig, Mel. Aber vor deinem Umzug nach Texas werden wir uns noch mal sehen, oder?“

„Aber sicher, Winona. Ich lomme dich hin und wieder besuchen – und um nach dem Haus zu sehen.“ Obwohl sie nicht vorhatte, noch einmal in ihrer Heimatstadt zu wohnen, hatte sie es bisher nicht übers Herz gebracht, ihr Elternhaus zu verkaufen. Deshalb hatte sie es vermietet. Die alten Mieter waren soeben ausgezogen, die neuen würden im August einziehen. In der Zwischenzeit wollte sie einige Renovierungsarbeiten vornehmen lassen.

„Ich verstehe, dass du nicht nach Rust Creek Falls zurückkommen willst“, sagte Winona. „Du bist bereit für etwas Neues. Aber Montana ist deine Heimat. Ich glaube nicht, dass Texas der richtige Ort für dich ist. Du gehörst hierhin – wo der Himmel unendlich ist. Das wirst du schon noch merken.“ Sie unterdrückte ein Gähnen. „Entschuldige, aber in letzter Zeit werde ich immer so schnell müde.“

„Dann leg dich hin. Mach es dir bequem.“

Seufzend streifte Winona ihre Schuhe ab und streckte sich auf dem Sofa aus. Als Mel sich über sie beugte, um sie zuzudecken, streichelte Winona ihr über die Wange. „Du bist ein liebes Mädchen, Mellie.“

Das Tagebuch, dachte Mel. Sie hatte keine Gelegenheit gefunden, es Winona gegenüber zu erwähnen. Und ehrlich – wo sollte sie beginnen – bei all den Fragen, die ihr durch den Kopf gingen?

Winona sah so zerbrechlich aus. Falls Josiah Abernathys Tagebuchaufzeichnungen stimmten und Winona seine geliebte „W.“ war, wie würde sie dann auf die bestürzende Neuigkeit reagieren, dass ihr Baby, das angeblich vor vielen Jahren gestorben war, doch noch lebte?

Wilder Crawford hatte vermutlich recht. Wenn man eine schwache Frau, die weit in ihren Neunzigern war, mit einer solchen Nachricht konfrontierte, konnte das fatale Folgen haben.

Und was würde es Winona bringen, die tragische Vergangenheit wieder in Erinnerung zu rufen?

Also verließ Mel Winonas Häuschen, ohne ihr zu sagen, was sie erfahren hatte.

Am nächsten Morgen packte sie ihren Wagen. Der Anhänger, den sie gemietet hatte, war bereits mit den wenigen Möbelstücken und anderen Dingen aus dem Haus beladen, das sie sich mit Todd geteilt hatte. Um neun Uhr war sie auf dem Weg nach Bronco, wo ihr neuer Job sowie ein Apartment in einem großen Gebäude in Bronco Heights auf sie warteten.

Das Tagebuch und den Brief nahm sie mit, denn Wilder Crawford wollte es ja nicht zurückhaben. Aber sie hatte nicht vor, dem Geheimnis von Winona und Josuah und der kleinen Beatrix auf die Spur zu kommen.

1. KAPITEL

Gabe Abernathy liebte seine Familie über alles. Aber manchmal trieb sie ihn auch zur Verzweiflung. Vor allem sein Dad. George Abernathy wusste genau, wie man eine Ranch führen musste – nämlich auf seine Art. Und er mochte es überhaupt nicht, wenn ihm irgendjemand mit neuen Vorschlägen kam. Wobei „irgendjemand“ auch seinen zweiunddreißigjährigen Sohn einschloss.

Deshalb überließ Gabe im Großen und Ganzen seinem Vater die Leitung der Ranch. Er sprang nur ein, wenn er gebraucht wurde und konzentrierte sich im Übrigen auf die Verwaltung des Vermögens und seine Grundstücksgeschäfte. Der Name Abernathy hatte einen guten Klang in Bronco, und Gabe kannte alle wichtigen Leute in der Gegend. Mit den meisten Reichen und Einflussreichen war er per Du.

Dennoch lebte er noch auf der weitläufigen Familienranch, wo er sich ein hübsches Haus gebaut hatte. Die Nähe zu den Eltern hatte ihre Vorteile. Es festigte ihre Beziehung, und er war für sie da, wenn sie ihn brauchten. Die Nähe führte allerdings auch dazu, dass Vater und Sohn sich manchmal in die Wolle gerieten. Gabe versuchte zwar, so diplomatisch wie möglich zu sein, aber manchmal musste ein Mann auch sagen, was er dachte.

Heute war es wieder einmal so weit gewesen. Er und sein Vater hatten sich gestritten – es war um Überweidung gegangen – und sich wie so oft nicht einigen können.

Schließlich hatte er seinen goldfarbenen Wallach Custard gesattelt und war ausgeritten, um sich wieder zu beruhigen.

Der Ausritt half. Der Tag war angenehm warm; am endlosen Himmel über Montana zogen einige Wolken entlang. Es war ein Tag, um rundum zufrieden zu sein. Gabe war gesund, kräftig und wohlhabend. Sein Vater ging ihm zwar manchmal auf die Nerven, aber im Grund hatte er keinen Grund zu klagen.

Er schnalzte mit der Zunge, und Custard galoppierte einen Hügel hinauf. „Wow …“ Er hielt das Pferd an und beugte sich über das Sattelhorn.

Jemand hatte seinen Besitz unbefugt betreten.

Neben einer der gewundenen Schotterpisten, die das Land kreuz und quer durchzogen, parkte ein silberner SUV. Niemand saß darin, soweit Gabe es von seinem Standpunkt erkennen konnte.

Wieder schnalzte er mit der Zunge, und Custard trug ihn auf die andere Seite des Hügels hinunter zum Fahrzeug.

Er stieg ab und lief um den Wagen herum. Ein gelber Pullover lag über der Rückenlehne des Beifahrersitzes. Der Pullover einer Frau, den aufgestickten Perlen nach zu urteilen. Beim Blick durchs Beifahrerfenster entdeckte er ein kleines, schwarz-weiß gestreiftes Täschchen im Ablagefach der Fahrertür – vermutlich gefüllt mit Schminkutensilien.

Freundinnen auf Abenteuersuche quer durch Privatbesitz? Gut möglich. Wahrscheinlich waren sie harmlos, aber es schadete nichts, Touristen wissen zu lassen, dass Rindvieh gefährlich sein konnte und dass eine Ranch kein öffentlicher Vergnügungspark war.

Neben dem Wagen entdeckte er die Fußspuren. Allerdings nur die einer Person. Mit einer Hand führte er Custard an den Zügeln, in der anderen hielt er sein geladenes Gewehr – nur für alle Fälle! – und folgte den Stiefelspuren, die eindeutig von einer Frau stammten, über die nächste Anhöhe.

Deren andere Seite lief sanft aus und endete an einem kleinen Fluss, der sich durch das Land der Abernathys schlängelte. Etwa drei Meter vom Ufer entfernt saß eine zierliche blonde Frau auf einer Decke, gekleidet in Jeans und einer apricot Seidenbluse. Neben ihr stand ein Picknickkorb. Das Gesicht hatte sie in den Händen vergraben, und ihre Schultern zuckten. Gabe konnte ihr Schluchzen hören.

Weinende Frauen verursachten bei Gabe grundsätzlich ein unangenehmes Gefühl. Er wollte gerade kehrtmachen, als Custard vernehmlich schnaubte.

Erschrocken sprang die Frau auf und drehte sich zu ihm um. Ihre verweinten Augen wurden groß, als sie das Gewehr sah. Langsam hob sie die Hände.

„Hallo“, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. „Ich werde Ihnen nichts tun.“

„Wissen Sie was?“ Seufzend ließ sie die Hände sinken. „Schießen Sie doch einfach.“

„Sie wollen doch nicht etwa …“

Ein paar Sekunden lang sahen sie einander nur stumm an. Schließlich fragte sie schnüffelnd: „Sie werden mich also nicht erschießen?“

Er sicherte sein Gewehr und verstaute es in der Tasche. „Ich bin nur vorsichtig. Das ist alles.“

Sie neigte den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Gabe. Ich wohne hier.“

Sie ließ ein trauriges Lachen hören. „Ein armer, einsamer Cowboy?“

„Ja, so ungefähr.“ Natürlich war er alles andere als das, aber die Frau wirkte ziemlich aufgelöst. Das Letzte, was sie in diesem Moment brauchte, war ein Typ, der mit seinem Reichtum prahlte. „Ist es okay, wenn ich näher komme?“ Sie nickte langsam, und er führte Custard hinunter. Kurz vor ihrer Decke blieb er stehen. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Zwischen ihren goldfarbenen Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Warum?“

„Sie sehen aus, als könnten Sie ein wenig Gesellschaft gebrauchen.“

Sie wischte sich über die Wangen. „Ich bin hergekommen, um allein zu sein.“

„Aha.“ Schweigend musterten sie einander. Obwohl ihre Augen und ihre Nase vom Weinen gerötet waren, sah sie wunderschön aus. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass sie sich auf Privatbesitz befand. Aber sie wollte wohl wirklich nur am Flussufer sitzen und ein wenig weinen. „Okay, kein Problem.“ Er machte kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Custard trottete friedlich hinter ihm her.

„Warten Sie!“, rief sie ihm nach. Er blieb stehen und schaute zu ihr zurück. „Bleiben Sie ruhig.“

„Sie meinen, ich soll mich zu Ihnen setzen?“

„Nun ja, wenn Sie noch wollen.“

„Na gut.“ Er führte sein Pferd zum Fluss und band es an einer Pappel fest. Die Frau hatte sich wieder auf die Decke gesetzt. Sie zwang sich zu einem Lächeln und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.

Als er sich neben sie setzte, lächelte sie kurz. Fast ein verschmitztes Lächeln. Und der Blick in ihren blauen Augen verriet ihm, dass ein Mann sich vor ihr in Acht nehmen sollte. Er hatte sie vielleicht in einem schwachen Moment erwischt, aber wenn er glaubte, leichtes Spiel mit ihr zu haben, dann hatte er sich gewaltig getäuscht.

Er schaute zum Himmel. „Schöner Tag.“

Sie lachte spöttisch. „Mehr haben Sie nicht zu bieten?“

Er bemühte sich. „Es ist ein wunderschöner Tag.“ Eine warme Brise wehte, der Bach vor ihnen murmelte leise, und ein paar Wolken zogen am Himmel vorbei.

„Ich bin Melanie Driscoll. Mel.“

Er schaute sie an. „Schön, Sie kennenzulernen, Mel.“

„Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich mir die Augen aus dem Kopf heule.“

„Wenn Sie es mir erzählen wollen, höre ich Ihnen gern zu.“

Sie lachte erneut, bevor sie seufzte. „Ich muss zugeben, es fällt leichter, einem Fremden Dinge zu erzählen, die man Freunden niemals beichten würde.“

„Ich höre.“

Sie holte tief Luft. „Es ist weder etwas Neues noch etwas Besonderes. Ehrlich gesagt, ist es die älteste Geschichte der Welt. Vor ein paar Wochen bin ich nach Hause gekommen und habe meinen Verlobten Todd mit einer anderen Frau im Bett erwischt.“

„Ich hoffe, Sie haben dem Kerl sofort den Laufpass gegeben.“

„Darauf können Sie wetten. Ich habe ihm den Diamantring ins Gesicht geworfen, meine Sachen gepackt und bin abgehauen. Er lief mir hinterher und hat beteuert, dass es nichts zu bedeuten hätte, und hoch und heilig versprochen, es würde nie wieder passieren.“

„Sie haben ihm nicht geglaubt.“ Das war keine Frage.

„Nein. Es hatte nämlich schon andere gegeben. Ich habe es kommen sehen, aber ich habe mir was vorgemacht. Ein paar Tage später bin ich noch mal zurück, um meine restlichen Sachen zu holen. Und um Nägel mit Köpfen zu machen, habe ich meinen Job gekündigt – ich habe nämlich im Familienunternehmen gearbeitet. Todd ist der Erbe des Ladens, wo ich mir den Hintern aufgerissen habe, seitdem ich meinen Uni-Abschluss hatte. Der Job hat mir übrigens viel Spaß gemacht. Ich habe in der Finanz- und Versicherungsabteilung gearbeitet.“ Sie zog die Beine an und legte das Kinn auf die Knie. „Wir, also Todd und ich, wollten seine Eltern ausbezahlen und die Firma allein weiterführen. Die Firma stellt übrigens Traktoren her. Spurlocks Landwirtschaftsmaschinen.“

Gabe kannte die Firma – ein überaus erfolgreiches Familienunternehmen in Bozeman, Montana. „Sie sind also aus Bozeman?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin in Rust Creek Falls geboren und aufgewachsen.“

„Sehr schön da oben“, meinte er. „Und es tut mir leid. Wenigstens das mit dem Job. Aber Todd den Laufpass zu geben scheint eine gute Idee gewesen zu sein.“

„Danke, Gabe. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu.“ Eine Weile schaute sie den Wolken hinterher, die über ihre Köpfe hinwegzogen. „Ich bin für ein paar Tage nach Rust Creek Falls zurückgegangen. Es war allerdings nicht mehr dasselbe für mich. Meine Eltern sind vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Das ist hart.“ Er hätte sie wirklich gern getröstet, hütete sich jedoch, sie zu berühren – etwa ihr seidiges Haar zu streicheln oder einen Arm um ihre Schultern zu legen. Er fühlte sich zwar sehr zu ihr hingezogen, aber er durfte nicht vergessen, dass er sie kaum kannte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Daher die Heulerei. Und jetzt bin ich nach Bronco gekommen, um bis zum Ende des Jahres das neue DJ-Deluxe-Restaurant in Bronco Heights zu führen – und den Idioten Todd endgültig auf dem Müllhaufen meiner Vergangenheit zu entsorgen.“ Endlich schaute sie ihn wieder an.

„Wissen Sie, wie Sie ihn am schnellsten vergessen können?“

Sie schaute ihn erwartungsvoll an. „Nein. Wie denn?“

„Schlafen Sie mit einem anderen. In so einer Situation gibt es nichts Besseres als spontanen Gelegenheitssex.“

Fast schockiert sah sie ihn an. „Niemals!“

„Entschuldigung.“ Er sah tatsächlich zerknirscht aus. Dann warf er ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. „Und was passiert danach?“

„Dann ziehe ich nach Austin, wo ich in der Finanz- und Versicherungsabteilung einer anderen Firma arbeiten werde, die auch landwirtschaftliche Geräte herstellt. Ein Neuanfang in Texas, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

War es verrückt von ihm, wenn er es jetzt schon schade fand, dass sie wieder gehen würde? „Vielleicht stellen Sie ja fest, wie sehr es Ihnen hier gefällt und dass Bronco der richtige Ort für Sie ist.“

„Sehr unwahrscheinlich, Gabe. Ich brauche einen Neuanfang.“

„Sie werden Montana bestimmt vermissen. Die Winter sind nicht lang genug, und die Sommer in Austin viel zu heiß und stickig.“

Sie schauten einander an, ohne dass einer von ihnen den Blick abwandte. Es fühlte sich ganz natürlich für ihn an, weder peinlich noch ungewöhnlich. Es war, als ob sie mit ihren Blicken Geheimnisse austauschten.

Schließlich beendete sie das Schweigen. „Ich habe ein Picknick mitgebracht.“

„Ich habe den Korb bemerkt.“

In ihren Augen blitzte es schelmisch. „Ich bin bereit zu teilen.“

„Da sage ich nicht Nein.“

„Fein.“ Sie zog den Picknickkorb näher zu sich und drehte sich zu Gabe um, so dass sie ihm gegenübersaß. Dann holte sie Käse, Chips, Apfelschnitze und Weintrauben aus dem Korb. Dazu eine Flasche Weißwein und einen Korkenzieher, die sie ihm auffordernd hinhielt. „Würden Sie …?“

Er öffnete die Flasche und füllte zwei Plastikbecher.

Als Erstes tranken sie auf ihre Bekanntschaft. Inzwischen fühlte er sich so wohl in ihrer Gegenwart, dass er gar nicht mehr an den Streit mit seinem Vater dachte. Das war einer der tollen Momente, die das Leben manchmal für einen bereithielt – ein zauberhaftes Treffen mit einer vollkommen Fremden.

Sie knabberte an einem Cracker und sprach aus, was er dachte. „Das ist irgendwie magisch, Gabe. Ich kenne Sie nicht einmal, aber Sie haben dafür gesorgt, dass ich mich viel besser fühle, ohne dass Sie viel gesagt haben.“ Sie lachte leise. „Bis jetzt habe ich am meisten geredet.“

„Ich höre Ihnen gerne zu.“

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher und schaute nachdenklich drein. „Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder begegnen …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Er hätte sich am liebsten zu ihr gebeugt und ihr selbst zärtlich in die Lippe gebissen.

Noch während er darüber nachdachte, fiel ein schwerer Regentropfen auf den Picknickkorb. Weitere folgten ihm.

Beide schauten zum Himmel. Ein Blitz und ein lauter Donner ließ sie zusammenfahren. Im selben Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Sie waren so miteinander beschäftigt gewesen, dass sie die aufziehenden dunklen Wolken gar nicht bemerkt hatten.

Mel lachte überrascht auf, und Custard wieherte nervös. „Ich bin jetzt schon nass bis auf die Haut.“

„Dann sollten wir besser von hier verschwinden.“

Wieder lachte sie. „Gute Idee.“

Er half ihr beim Packen des Picknickkorbs und fand es ausgesprochen schade, dass sie den Rest aus der Weinflasche auf die Wiese goss.

Er setzte seinen nassen Hut auf. „Ich nehme die Decke.“ Sie trat beiseite, als er sie aufhob. „Kommen Sie. Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen.“ Er legte die Decke auf Custards Hals und band die Zügel los. „Geben Sie mir den Korb.“

„Der Sattel ist aber zu klein für zwei.“

„Ich weiß.“ Der Regen war mittlerweile so stark geworden, dass er die Stimme anheben musste, um sich verständlich zu machen. „Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.“

„Das ist aber nicht …“

„Doch, ist es.“ Sanft entwand er ihr den Korb aus den Fingern und band ihn am Sattel fest. „Kommen Sie.“

Er bot ihr seine Hand. Ihre Haut war kühl und weich und klatschnass. Im strömenden Regen erklommen sie den Hügel. Custard trottete hinter ihnen her. Es war ein sehr nasser Spaziergang, aber wenigstens war er nur kurz.

Als sie ihren Audi erreichte, drückte sie den Knopf auf dem Schlüsselanhänger, um den Kofferraum zu öffnen. Er band den Korb los, reichte ihn ihr zusammen mit der nassen Decke. Sie warf beides hinein und schloss die Kofferklappe.

„Danke, Gabe.“ Sie stand im strömenden Regen vor ihm und schaute zu ihm auf. Von ihren Wimpern tropfte das Wasser. Ihr Haar und ihre Schultern waren ebenfalls klatschnass. Das Wasser lief ihr über die Wangen, über ihr Kinn und über ihren Hals.

„Keine Ursache.“ Er hätte ewig so mit ihr stehenbleiben können. Der Regen machte ihm überhaupt nichts aus. Sie sahen einander tief in die Augen.

„Kann ich Sie mitnehmen?“, fragte sie.

„Nein. Custard und ich kommen schon nach Hause.“

„Sie haben meinen Tag gerettet. Vielen Dank dafür.“

„Wirklich?“ Er konnte den Blick nicht von ihrem Mund nehmen. Ihre vollen roten Lippen glänzten … einladend.

„Ja, wirklich – und ich sollte jetzt besser fahren …“ Sie wollte sich umwenden. Er ließ Custards Zügel fallen und griff nach ihrem Arm, ehe sie ihm entwischen konnte. Ihre blauen Augen wurden groß. „Ja?“

„Geben Sie mir Ihre Nummer.“

Sie seufzte bedauernd. „Das hört sich verlockend an.“

„Dann geben Sie sie mir.“

„Ach, Gabe …“

Mehr musste sie nicht sagen. Er hatte die Botschaft verstanden und akzeptierte sie. Er nahm seinen tropfnassen Hut ab und legte ihn auf das Autodach. Jetzt stand er ganz und gar im Regen. Es war ihm egal. „Wenn ich Ihre Nummer nicht haben kann und Sie nie wiedersehen werde …“

Sie musterte ihn durchdringend. „Was dann?“

„… dann muss ich das jetzt sofort tun.“ Er beugte den Kopf und küsste ihre nassen Lippen.

Sie seufzte leise. Warm fächelte ihr Atem ihm entgegen – ein Duft von Äpfeln und Wein.

Mehr Ermutigung brauchte er nicht. Er riskierte es, sie an sich zu drücken, sodass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, damit er ihren weichen, schlanken Körper spüren konnte. Sie drängte sich an ihn.

Aber nicht nahe genug. Also zog er sie noch fester an sich, um sie zu schmecken.

Der Kuss war reinste Magie – mehr, als er sich jemals erträumt hätte. Ein bisschen verrückt, ein bisschen ungestüm mitten in einem gewaltigen Regenschauer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er ewig dauern können.

Aber das war natürlich unmöglich. Als sie Anstalten machte, einen Schritt zurückzutreten, ließ er sie los.

„Auf Wiedersehen“, sagte sie und drehte sich um. Dieses Mal versuchte er nicht, sie zurückzuhalten. Einen Moment später hatte sie die Beifahrertür geöffnet und sich hinters Steuer gesetzt.

Er nahm seinen Hut vom Wagendach, als sie den Motor startete. Mit dem Hut in der Hand schaute er ihr hinterher. Als der Wagen längst außer Sicht war, stand er immer noch am selben Fleck. Der Regen strömte auf ihn herab. Sein Blick war noch auf die Stelle gerichtet, an der er den Audi zuletzt gesehen hatte. Plötzlich fühlte er eine große Leere in sich. Seine Lippen brannten noch von dem Kuss. Doch dann wurde Custard ungeduldig. Leise wiehernd stupste er gegen seine Schultern.

Gabe stieg auf und ritt nach Hause.

Mel hatte das Gefühl, wie durch einen dichten Nebel nach Bronco zu fahren. Gabe, der einsame Cowboy, hatte sie geküsst!

Und sie hatte es zugelassen. Es war vollkommen gewesen. Die Art von Kuss, der Mädchen zu der Erkenntnis brachte, dass man prinzipiell nicht alle Männer hassen musste.

Rasch ging der Regen in ein Nieseln über, ehe er ganz aufhörte. Die Wolken zogen fort, und die Sonne strahlte wieder.

Wäre sie nicht bis auf die Haut durchnässt gewesen, hätte die Begegnung mit Gabe im strömenden Regen, sein Kuss und ihr gemeinsames Picknick genauso gut ein Tagtraum sein können.

Und es erschien ihr wirklich wie ein Traum. Magisch. Unwirklich.

Beim Gedanken daran stockte ihr der Atem. Ein wenig bereute sie es, dass sie ihm ihre Nummer nicht gegeben hatte. Oder wenigstens seinen Nachnamen erfahren.

Aber weder das eine noch das andere war geschehen. Und war es nicht besser so? Sie wollte doch nichts mehr mit Männern zu tun haben. Sie wollte sich nur noch auf ihr eigenes Leben und ihre Zukunft konzentrieren. Selbst der heißeste Cowboy von Montana durfte sie nicht von ihren Plänen ablenken.

Doch ihre Lippen brannten immer noch, als sie vor dem eleganten Apartmenthaus in Bronco Heights hielt, wo sie das nächste halbe Jahr wohnen würde.

Die Anlage hatte alles, was man sich wünschen konnte – Indoor- und Outdoor-Pools, Whirlpools, ein großes Clubhaus und ein Fitnesscenter. Und von ihrem hübschen Apartment hatte sie einen fantastischen Blick auf die Berge.

Sie parkte ihren Audi auf dem angemieteten Platz in der Tiefgarage, nahm ihre durchweichten Picknicksachen aus dem Kofferraum und fuhr mit dem Aufzug in ihre Etage.

Im Eingangsbereich stopfte sie die Picknickdecke in die Waschmaschine, zog ihre nassen Sachen aus und steckte sie dazu. Sie füllte Waschpulver ins Fach und drückte auf den Startknopf.

Ihre Stiefel stellte sie in den Ausguss, und danach betrat sie das Bad und nahm eine lange heiße Dusche. Das nasse Haar band sie anschließend zu einem lockeren Knoten zusammen, schlüpfte in Shorts und ein Tanktop und ging zurück ins Wohnzimmer.

Den feuchten Picknickkorb und ihre Stiefel stellte sie zum Trocknen auf den kleinen Balkon.

„Hallo, Nachbarin.“ Die Frauenstimme kam vom Balkon nebenan.

Mel richtete sich auf. „Hallo.“

Die gutaussehende, selbstbewusste Frau warf ihr ein Lächeln zu. „Ich bin Brittany Brandt.“

Sie stellten sich kurz vor. Mel erklärte, dass sie ab Montag als Managerin des neuen DJ-Deluxe-Restaurants arbeiten würde.

Brittany hatte keinen Job. „Bis vor ein paar Tagen war ich Event-Veranstalterin“, erzählte sie. „Ich habe für Evan Cruise gearbeitet. Kennst du ihn?“

Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. „Ich glaube, ich habe ihn neulich auf einem Plakat gesehen. Dunkle Haare und ein intensiver Blick?“

„Das ist Evan.“

„Er bietet Geistertouren an, nicht wahr?“

„Ja. In den Tälern von Bronco soll es eine Menge Orte geben, die von Geistern heimgesucht werden – verlassenen Minen, verrostete Bohrinseln, verfallene Farmhäuser, in denen Gespenster wohnen – so was in der Art. Evan ist gut im Geschäft mit seinen Touren. Leider ist es nicht einfach, für ihn zu arbeiten, und er zahlt auch nicht besonders gut.“

„Deshalb hast du gekündigt?“

„Ja. Glücklicherweise habe ich schon was Neues in Aussicht, also kann ich mich nicht beklagen. Im Moment mache ich einfach mal Pause. Die habe ich auch ziemlich nötig. Und ich wollte gerade meine Mitbewohnerin von ihrem Laptop weglocken und mit ihr zum Pool gehen, um ein bisschen Sonne zu tanken. Hast du Lust mitzukommen?“

Mel warf einen Blick zum Himmel. „Glaubst du nicht, dass es wieder regnen wird?“

Brittany lachte. „Was soll’s? Wir sind doch ohnehin schon nass.“

„Stimmt.“ Und es wäre doch nett, die neuen Nachbarinnen ein wenig näher kennenzulernen. „Der Außenpool, sagst du?“

„Ja. Zieh deinen Badeanzug an. Wir treffen uns dort.“

2. KAPITEL

Als Mel sich zu ihren neuen Nachbarinnen an dem riesigen Pool gesellte, war der Himmel wieder wolkenlos und die Temperatur am späten Nachmittag angenehme sechsundzwanzig Grad. Brittany und ihre Mitbewohnerin, Amanda Jenkins, hatten ihr eine der bequemen Liegen am Pool freigehalten.

Amanda war selbstständige Marketingmanagerin, die ihre Arbeit in der Regel am Laptop im Homeoffice erledigte. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit waren Social-Media-Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit. Sie und Brittany hatten braune Haare und braune Augen, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Die große und schlanke Brittany hatte einen hellbraunen Teint, wirkte sehr elegant und aufgeschlossen, während Amanda von zierlicher Statur und eher ein stiller Mensch war.

Beide waren Mel auf Anhieb sympathisch. Sie waren witzig und gute Gesprächspartner. Zum zweiten Mal an diesem Tag gab sie mehr von sich preis, als sie eigentlich wollte, erzählte von ihrem untreuen Verlobten und dem tollen Job, den sie hatte aufgeben müssen.

„Und dann saß ich da mit meinem kleinen Picknickkorb mitten im Niemandsland und habe mir die Augen aus dem Kopf geheult. Plötzlich taucht dieser unverschämt gut aussehende Cowboy auf, in der einen Hand ein Gewehr, in der anderen die Zügel eines eleganten Palomino-Pferds“, schloss sie ihren Bericht.

Besorgt schaute Amanda sie an. „Wieso ein Gewehr? So bedrohlich siehst du doch gar nicht aus.“

„Ich nehme an, er war einfach nur vorsichtig. Er hat das Gewehr auch sofort weggelegt und gefragt, ob er sich neben mich setzen dürfte. Ich habe Ja gesagt.“

„Also war dein geheimnisvoller Cowboy ganz und gar nicht schüchtern“, stellte Brittany schmunzelnd fest.

„Nicht schüchtern, aber sehr lieb und verständnisvoll. Habe ich schon erwähnt, dass er auch ziemlich heiß war?“ Mel tat, als ob sie sich Luft zufächelte. „Und er konnte sehr gut küssen.“

Brittany ergriff ihre üppige Haarmähne und band sie mit einem Gummi zusammen. „Hat Cowboy Gabe denn auch einen Nachnamen?“

„Den hat er nicht erwähnt.“ Die beiden Frauen schauten sie verständnislos an. „He, das war doch nur so ein Moment. Eine Begegnung mit einem Kerl, den ich nie wiedersehen werde.“

„Aber vielleicht kennen wir ihn“, gab Brittany zu bedenken. „Bronco mag nicht so klein sein wie deine Heimatstadt, aber klein ist es schon. Und Amanda ist sehr gut, wenn es um Suche im Internet geht. Wenn du ihr Gabes vollen Namen gibst, findet sie mehr über ihn heraus, als du jemals wissen willst.“

„Ich brauche aber gar nichts über ihn zu wissen. Ich werde nicht nach ihm suchen. Ich habe die Nase voll von Männern – zumindest für die nächsten zehn Jahre. Aber wir hatten eine tolle Zeit, und seitdem habe ich ein besseres Gefühl, was Männer und mein Leben und überhaupt alles angeht.“

„Wie sah er denn aus?“, wollte Amanda wissen.

„Spielt das eine Rolle?“

Brittany schob ihre Designersonnenbrille tiefer über die Nase und musterte Mel durchdringend über den Rand hinweg. „Bitte erzähl’s uns.“

Mel hob beide Hände. „Gut. Groß, muskulös. Breite Schultern. Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Hellblaue Augen, dunkelblondes Haar, eine Art Igelfrisur …“

„Nun, das schränkt den Kreis ja schon mal ein“, bemerkte Amanda trocken. „Die gute Nachricht ist: Der Name Gabriel ist erst seit etwa zwanzig Jahren populär.“

Brittany sah Mel immer noch über den Rand ihrer Sonnenbrille an. „Das heißt, es gibt nicht so viele Gabes, die so alt sind wie der deine“, stellte sie klar.

„Cowboy Gabe ist nicht meiner“, protestierte Mel. „Und woher willst du das über seinen Namen wissen, Amanda?“

Amanda tippte sich an die Stirn. „Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie viel unnützes Wissen ich hier drin gespeichert habe.“

„Ladys.“ Brittany klatschte in die Hände. „Können wir bitte bei der Sache bleiben? Mel, wir brauchen mehr Details. Schließ deine Augen. Stell dir den Kerl vor …“

Warum nicht? Mel beschloss, das Spiel mitzuspielen. „Nun ja, auf der Silberschnalle seines Gürtels war ein großes A.“

„Vielleicht der erste Buchstabe seines Nachnamens?“, mutmaßte Brittany.

„Behalt das mal im Kopf.“ Amanda sprang auf und eilte ins Haus.

Als Mel Brittany erstaunt anschaute, sagte sie nur: „Laptop.“

„Aha.“

Ein paar Minuten später kehrte Amanda zurück. Sie nahm im Schneidersitz auf der Liege Platz, und ihre Finger flogen über die Tastatur. „Hm“, murmelte sie. „Aha.“ Sie drehte den Laptop, so dass Mel und Brittany den Bildschirm sehen konnten. „Dieses Foto ist letzten Dezember im Bronco Bulletin erschienen …“

„Das ist er!“, rief Mel. Das Foto war bei einer Art Gala aufgenommen worden. Gabe trug einen Smoking – und der sah nicht geliehen aus. Er stand unter einem mit weihnachtlichen Girlanden und Lichterketten geschmückten Kronleuchter. Eine blendend aussehende rothaarige Frau hatte ihn untergehakt.

„Das Foto wurde im Ballsaal der Association geschossen“, erklärte Amanda. „Ich weiß von dem Event, weil ich die Pressearbeit für sie gemacht habe. Zuvor haben sie mich durch die Räumlichkeiten geführt.“

„Das ist ein Countryclub“, fuhr Brittany fort. „Oder vielleicht besser der Club der Viehzüchter. Ziemlich exklusiv. Die Mitgliedschaft ist echt teuer, aber Geld allein reicht nicht aus. Um reinzukommen, brauchst du eine Empfehlung von jemandem, der bereits Mitglied ist.“

Amanda nickte. „Gabe, dein armer Cowboy? Er stammt aus einer der reichsten Familien in der Stadt. Der Mann hat alles, was man braucht. Gutes Aussehen. Charmant. Klug. Altes Geld. Außerdem ist er ein Herzensbrecher. Eine Menge Mädels haben versucht, ihn zu zähmen, aber er hat sich noch nie einfangen lassen.“

„Natürlich nicht.“ Mel klang verbittert. Dennoch erinnerte sie sich unwillkürlich daran, wie süß und rücksichtsvoll er ihr gegenüber gewesen war und … Moment mal.

Was war mit ihr los?

Er war reich. Reiche Männer waren gefährlich.

Und hatte Amanda nicht gerade gesagt, dass er ein Herzensbrecher war?

Ein Herzensbrecher, der sie belogen und behauptet hatte, nur ein armer Viehtreiber zu sein. Dabei hatte er Geld ohne Ende. Das Letzte, was sie in ihrem Leben gebrauchen konnte, war ein weiterer reicher Kerl.

Nicht, dass Gabe in ihrem Leben wäre. Sie waren sich zufällig über den Weg gelaufen und auch beide der Meinung, dass sie einander vermutlich nicht wiedersehen würden.

„Die Abernathy-Sippe ist die zweitgrößte in der Gegend“, fuhr Amanda fort.

Abernathy?

Abrupt setzte Mel sich in ihrem Liegestuhl auf. „Was? Gabes Familienname ist Abernathy?“

„Richtig.“ Amanda klappte ihren Laptop zu. „Gabe ist nicht nur der Sohn eines reichen Ranchers. Er selber handelt mit Immobilien. Und zwar sehr erfolgreich.“

Brittany tätschelte Mels Arm. „Alles okay mit dir?“

„Ja. Klar. Es ist nur …“ Sie dachte an die liebe alte Winona, die vielleicht das tragische junge Mädchen in Josiah Abernathys Tagebuch war. Existierte möglicherweise eine Verbindung zwischen Gabes Familie und den Abernathys aus Rust Creek Falls?

Nein.

Im ganzen Land gab es Menschen mit dem Namen Abernathy, und es war nur ein bizarrer Zufall, dass Gabe auch so hieß.

Ihre neuen Freundinnen musterten sie besorgt. „Was ist los?“, erkundigte Amanda sich.

„Entschuldigt.“ Mel wischte die Frage mit einer Handbewegung beiseite. „Es ist nur … Wenn Lügner Lügen erzählen.“

„Ach, Liebes.“ Seufzend schüttelte Brittany den Kopf. „Was hast du uns zu erzählen?“

„Wir sollten nicht voreilig über den Mann urteilen“, gab Amanda zu bedenken.

„Du bist viel zu nachsichtig“, schalt Brittany ihre Freundin. „Wie immer.“

„Unsinn“, widersprach Amanda. „Sieh es doch mal so, Mel. Gabe gefiel es, dass du ihn für einen einfachen Cowboy gehalten hast – und trotzdem warst du an ihm interessiert.“

Am liebsten hätte Mel das Thema Gabe Abernathy beendet. „Ich glaube, wir belassen’s einfach dabei, dass er nett zu mir war in einem Augenblick, in dem es mir ziemlich mies ging. Und dafür bin ich ihm dankbar.“

Jedenfalls war sie klug genug gewesen, dem Mann nicht ihre Telefonnummer zu geben. Sie hatte ihn viel zu attraktiv gefunden, und es wäre bestimmt nicht schwer, sich in ihn zu verlieben.

Am Montag trat Mel ihre Stelle bei DJ Deluxe an. Dem Namen machte das elegante Restaurant alle Ehre. Den ganzen Tag verbrachte sie damit, den Kollegen, die ihr am Morgen vorgestellt worden waren, bei der Arbeit zuzuschauen. Den Abend wollte sie in der Küche verbringen, dem Herrschaftsbereich von Damien Brutale, dem Chefkoch. Doch kaum hatte sie ihm fünf Minuten zugeschaut, als Gwen Fox, die stellvertretende Managerin, sie herauswinkte.

„Mel, ein Gast würde gern mit dir sprechen.“

„Bist du sicher?“

„Ja. Er kennt deinen Namen.“

„Hat der Gast auch einen Namen?“

Gwen kam ein wenig näher. „Es ist Gabe Abernathy.“ Sie senkte die Stimme. „Du bist gerade in Bronco angekommen und kennst Gabe schon?“

Irritiert stellte Mel fest, dass Schmetterlinge in ihrem Magen zu flattern begannen. So gleichmütig wie möglich antwortete sie: „Wir sind uns neulich über den Weg gelaufen.“

„Dann kennst du ihn also nicht gut?“

„Überhaupt nicht.“ Okay, sie hatte ihn geküsst, aber das hieß ja nicht, dass sie den Mann kannte.

„Also dann – viel Spaß. In der Gegend hier sind die Abernathys ziemlich wichtige Leute. Er sitzt an der Bar.“

„Danke, Gwen.“

Gabe saß allein am Ende der Bar. Er trug dunkle Jeans, ein blütenweißes Hemd und ein Jackett – und sah umwerfend aus. Vor ihm stand ein Whiskey.

Als er sie entdeckte, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. Er klopfte auf den Barhocker neben sich.

Sie trat zu ihm, setzte sich aber nicht hin. „Gabe.“ Sie stützte einen Ellbogen auf die Bar. „Gibt es ein Problem mit dem Service?“

„Der Service ist ausgezeichnet.“

„Wie war das Essen?“

„Bis jetzt genieße ich nur meinen Drink – und bewundere die Aussicht.“ Sein Blick schweifte über ihren engen schwarzen Rock und die weiße Seidenbluse. „Sehr professionell.“

„Danke. Also keine Klagen über den Service, und bestellt haben Sie noch nicht. Was kann ich also für Sie tun?“

Er blickte sie verschmitzt an. „Wie läuft’s mit dem neuen Job?“

„Überraschend gut für den ersten Tag.“

„Das freut mich zu hören.“

„Gabe, warum sind Sie hier?“

„Ich mag dieses Restaurant. Ich esse oft hier.“

„Na gut. Heute Abend bin ich noch in der Lernphase. Sie sollten sich an Gwen wenden, wenn Sie irgendetwas benötigen.“

Er schaute sie durchdringend an. Das Schweigen wurde unangenehm. Schließlich fragte er: „Und wann haben Sie Ihren ersten freien Abend?“

Sie überlegte, die Antwort zu verweigern. Aber er würde so lange nachhaken, bis sie aufgab. Also antwortete sie: „Donnerstag.“ Sie wusste, was jetzt kam.

Und sie hatte recht. „Dann möchte ich Sie für Donnerstag zum Essen einladen.“

„Das ist keine gute Idee.“

„Warum nicht?“

Sie warf einen Blick zum Barmann. Er schien sich hingebungsvoll um die Getränke der Gäste zu kümmern. „Verfolgen Sie mich, Gabe?“

Er ließ sein schelmisches Lachen sehen. „Ganz genau.“

„Nun, das wird nichts bringen. Erinnern Sie sich nicht mehr an den untreuen Verlobten, von dem ich Ihnen erzählt habe?“

„Wie könnte ich den vergessen?“

„Er hat mich verfolgt. Ich weiß, dass es nicht clever war, ein Verhältnis mit dem Sohn des Chefs anzufangen. Ich habe stets Nein gesagt. Er hat nicht lockergelassen. Es hat ein Jahr gedauert, bis ich zum ersten Mal mit ihm ausgegangen bin. Mein Fehler. Ich hätte niemals ja sagen dürfen. Todd Spurlock war eine Lektion, die ich niemals vergessen werde.“

„Aber ich bin nicht Ihr untreuer Verlobter, Mel. Das wissen Sie doch.“

Leise, aber mit Nachdruck erwiderte sie: „Ich meine es ernst, Gabe. Daraus wird nichts.“

„Ich mag Sie aber. Ich möchte Sie wiedersehen.“

Sie verschränkte die Arme wie einen Schutzschild vor der Brust. „Haben Sie mir überhaupt zugehört?“

„Ja. Ich bin ganz Ohr.“ Seine sonore Stimme weckte ungeahnte Gefühle in ihrem Unterleib. Sie ignorierte sie geflissentlich.

„Was ich Ihnen sagen will: Ich lasse mich nicht mehr um den Finger wickeln. Es bringt überhaupt nichts, wenn Sie mir nachstellen.“

Er nahm einen Schluck von seinem Drink und stellte das Glas bedächtig zurück, ehe er antwortete. „Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass ich nicht Todd bin?“

„Aber Sie haben mich angelogen. Sie haben mir erzählt, Sie seien ein armer Cowboy.“

„Das habe ich nicht getan. Sie mich gefragt, wer ich bin. Und ich habe Ihnen meinen Namen genannt.“

„Nur Ihren Vornamen.“

„Hätten Sie mich gefragt, dann hätte ich Ihnen auch meinen Familiennamen verraten. Doch das haben Sie nicht. Ich habe gesagt, dass ich in der Nähe wohne … und das stimmt ja auch. Und wissen Sie, wo genau auf den Ländereien der Abernathys?“

„Woher denn?“

„Sehen Sie. Sie haben mich einen einsamen Cowboy genannt, und ich habe nicht widersprochen. Ich kann reiten und Bullen mit einem Seil einfangen, und ich arbeite schon mit Rindern, seitdem ich laufen kann. Also meiner Meinung nach macht mich das schon zu einem Cowboy. Und was das ,einsam‘ angeht – nun, manchmal fühle ich mich schon so. Also stimmt auch diese Beschreibung.“

Sie schnaubte verächtlich. „Sie sind ein wohlhabender Mann aus einer reichen Familie, die hier in der Gegend sehr viel Einfluss hat.“

Er hob sein Glas und winkte ihr damit zu. „Sind Sie sicher, dass Sie nichts trinken wollen?“

„Nein, vielen Dank.“

„Und was ist jetzt mit Donnerstag? Ich hole Sie um sieben ab.“

Gab der Mann jemals auf? „Sie verstehen es nicht. Ihr Name ist auch ein großes Problem.“

„Wie bitte? Mögen Sie den Namen Gabe aus irgendeinem Grund nicht? Mein richtiger Name ist Gabriel. So können Sie mich auch nennen.“

„Gabe ist schon okay. Es geht um Ihren Familiennamen. Mit dem fühle ich mich unwohl.“

„Und was stimmt damit nicht?“

„Es gab Abernathys in Rust Creek Falls.“

„Abernathys gibt es in vielen Orten.“

„Nun ja, in Rust Creek Falls sollen die Abernathys ihre Farm verkauft haben und Hals über Kopf aus der Stadt geflohen sein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen. Es wurde viel gemunkelt über Dinge, in die die Abernathys verwickelt gewesen sein sollen – Sachen, die eine Familie bei Nacht und Nebel untertauchen lassen. Die Abernathys von Rust Creek Falls waren eine ziemlich zwielichtige Sippe.“

Er lachte leise. „Das ist ja eine tolle Geschichte, Mel.“

„Es ist eine bekannte Tatsache, dass man einem Abernathy nicht trauen kann.“

„Jetzt wollen Sie mir aber einen Bären aufbinden.“ Seine tiefe Stimme klang so sexy, dass die Schmetterlinge in ihrer Magengrube erneut zum Leben erwachten.

Sie verbiss sich ein Grinsen. „Das können Sie mir glauben.“

„Essen Sie morgen Mittag mit mir auf der Ranch. Ich werde Sie mit Malone bekanntmachen. Er ist unser Koch, seitdem ich denken kann. Sie werden ihn mögen. Und Sie können ihn alles fragen, was Sie über mich wissen wollen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Malone kennt sämtliche Leichen im Keller.“

„Es gibt Leichen?“ Musste sie Angst haben?

„Keine Panik, Mel. Das ist nur so eine Redewendung.“

„Ich bleibe dabei“, beharrte sie. „Ich falle nicht auf Sie herein.“

Er ließ nicht locker. „Es ist nur ein Mittagessen.“

Im Grunde war sie schon neugierig auf seine Ranch. Und vielleicht kannte dieser Malone Familiengeheimnisse von den Abernathys, über die er reden würde. Vielleicht waren die Abernathys aus Bronco ja in irgendeiner Weise mit denen von Rust Creek Falls verbandelt. Vielleicht warteten die Antworten auf die Fragen, die sie sich nach der Lektüre von Josiahs Tagebuch gestellt hatte, hier in Bronco. Vielleicht hatte sie nach Bronco kommen müssen, um sie zu erhalten.

Sehr unwahrscheinlich.

Aber vielleicht war es auch amüsant, ein paar Geheimnisse über Gabe zu erfahren. Sie würde zwar nicht mit ihm ausgehen. Aber ihr vermeintlich einsamer Cowboy war schon verdammt attraktiv, und es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, ihn zu necken. Bei einem Mittagessen auf seiner Ranch hätte sie noch mehr Gelegenheit dazu.

Doch dieser Mann stellte eine allzu große Versuchung dar. Und sie war fest entschlossen, nicht noch einmal auf einen Kerl hereinzufallen, der schöne Worte zu machen wusste.

Nein, sagte sie sich. Schlag seine Einladung aus. Aber als sie den Mund öffnete, hörte sie sich zu ihrer Überraschung antworten: „Mittagessen. Morgen. Auf Ihrer Ranch. Aber das ist kein Date. Ich bin nur neugierig darauf, wie die Abernathys von Bronco so sind.“

Jetzt strahlte er übers ganze Gesicht. Und ihre Wangen wurden plötzlich heiß. War sie etwa rot geworden? Der Glanz in seinen Augen bestätigte ihr das. „Geben Sie mir Ihre Nummer und Adresse“, forderte er sie auf. „Ich hole Sie um …“

„Ich fahre selber.“

„Ihre Nummer brauche ich trotzdem. Um Ihnen zu schreiben, wie Sie fahren müssen.“

„Geben Sie mir Ihr Telefon“, entgegnete sie.

Er nahm sein Handy vom Tresen, entsperrte es und reichte es ihr. Sie sandte sich selbst eine Nachricht. Das Handy in ihrer Tasche piepte.

„Seien Sie um elf Uhr da“, sagte er. „Dann kann ich Sie vor dem Essen noch ein wenig herumführen. Und dabei werden Sie auch feststellen können, dass die Abernathys nicht so zwielichtig sind, wie Sie glauben.“

3. KAPITEL

Pünktlich um elf Uhr am nächsten Tag traf Mel auf der Ranch ein. Hinter dem Einfahrtstor schlängelte sich ein langer Kiesweg bis zum Haupthaus. Es war ein prächtiges Anwesen. Dahinter erstreckten sich sanfte Hügel, auf denen Kühe grasten, bis zum Horizont. In der Landschaft verstreut standen Scheunen und andere Gebäude.

Gabe und seine Familie hatten wirklich das große Los gezogen.

Doch ihre Freude an dem prächtigen Anblick verschwand schlagartig, als sie ein Schild entdeckte, montiert auf zwei Rädern eines Ochsenkarrens, auf dem der Name der Ranch zu lesen war.

The Ambling A.

Sie trat so heftig auf die Bremse, dass sie mit der Stirn gegen den Rückspiegel stieß.

„Autsch!“ Eine Minute lang blieb sie mitten auf dem Weg stehen und rieb sich die schmerzende Stelle.

Wie wahrscheinlich war es, dass eine Familie in Bronco, die ebenfalls den Namen Abernathy trug, ihre Ranch genauso nannte wie die Abernathys, die bei Nacht und Nebel aus Rust Creek Falls verschwunden waren?

Bestimmt waren die Abernathys aus ihrem Heimatort in irgendeiner Weise mit Gabes Familie verwandt und hatten ihren Besitz genauso genannt wie den in Rust Creek Falls.

Sie nahm sich fest vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

Vielleicht hatte Gabes Familie von der Ranch gehört, und ihnen hatte der Name so gut gefallen, dass sie ihn übernommen hatten. Aber hätte Gabe dann nicht irgendetwas darüber erzählt, als sie am Abend zuvor die Abernathys erwähnt hatte, die Hals über Kopf weggezogen waren?

Moment mal. Machte sie da gerade aus einer Mücke einen Elefanten?

Schon möglich.

Sie fuhr an dem Zeichen vorbei zu einem mit Holzbalken verzierten Haus aus groben Steinen und riesigen Fenstern.

Gabe nahm sie an der Haustür in Empfang. Er trug ausgewaschene Jeans, Stiefel aus Rohleder und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt hatte. Er sah tatsächlich eher wie der einsame Cowboy aus, den sie vor einigen Tagen kennengelernt hatte, und nicht wie der wohlhabende Mann, der am Abend zuvor bei DJ gegessen hatte.

Bei ihrem Anblick strahlte er wieder übers ganze Gesicht, als hätte sie seinen Tag gerettet. „Auf die Minute pünktlich.“

Es sollte ein Gesetz geben, dass Männern, die so gut aussahen wie Gabe, verbot, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. „Ich hatte eine ausgezeichnete Wegbeschreibung. Und Google Maps.“

Er trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. Ein schlanker braunfleckiger Hund saß im Flur und schaute sie hoffnungsvoll an.

„Wer ist denn das?“, fragte sie.

„Das ist Butch. Butch, sag hallo!“

Der Hund winselte erfreut, als sie sich hinunterbeugte und ihm den Rücken tätschelte.

„Ich habe ihn aus dem Tierheim von Daphne Taylor geholt. Wenn Sie mal einen Hund wollen – ich kann die Adresse nur empfehlen.“

„Vielen Dank.“ Sie richtete sich wieder auf. „Aber ich möchte keinen Hund.“ Sie schaute sich um. „Sie haben ein sehr schönes Haus.“

„Ich habe es vor einigen Jahren gebaut. Das Haupthaus hat zwar genügend Räume, aber mein Dad und ich geraten manchmal aneinander. Deshalb bevorzuge ich meine eigene Bleibe. Kommen Sie, ich spendiere Ihnen einen Rundgang.“

„Sie wohnen allein hier?“, fragte sie, als sie nach der Führung durch Küche, Schlafzimmer und Bad im Wohnzimmer mit den hohen De...

Autor

Christine Rimmer
<p>Christine Rimmers Romances sind für ihre liebenswerten, manchmal recht unkonventionellen Hauptfiguren und die spannungsgeladene Atmosphäre bekannt, die dafür sorgen, dass man ihre Bücher nicht aus der Hand legen kann. Ihr erster Liebesroman wurde 1987 veröffentlicht, und seitdem sind 35 weitere zeitgenössische Romances erschienen, die regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten landen....
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Melissa Senate
<p>Melissa Senate schreibt auch unter dem Pseudonym Meg Maxwell, und ihre Romane wurden bereits in mehr als 25 Ländern veröffentlicht. Melissa lebt mit ihrem Teenager-Sohn, ihrem süßen Schäfermischling Flash und der spitzbübischen Schmusekatze Cleo an der Küste von Maine im Norden der USA. Besuchen Sie ihre Webseite MelissaSenate.com.</p>
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Nina Crespo
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Makenna Lee
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