Bianca Extra Band 144

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KLEINE FARM, GROSSES GLÜCK? von JO MCNALLY

Auf einer idyllischen Farm in den Catskills will Olivia nach einem Schicksalsschlag zur Ruhe kommen. Nur wie, wenn Bauunternehmer Tony, der sich um die Renovierung kümmert, so attraktiv ist? Obwohl sie der Liebe abgeschworen hat, kann Olivia seinen Küssen nicht widerstehen …

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  • Erscheinungstag 11.01.2025
  • Bandnummer 144
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531238
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jo McNally

1. KAPITEL

Olivia Carson verzog das Gesicht, als sie Heu in zwei der sechs Boxen im alten Stall warf. Morgens war es immer am schlimmsten. Vor allem an einem feuchten, kühlen Maimorgen wie diesem. Die Knochen taten ihr weh, und das Narbengewebe, das sich von ihrem Oberschenkel bis zu ihrem Arm erstreckte, spannte und schmerzte. Aber die Arbeit musste getan werden, und im Stall war es momentan angenehmer als in ihrem Haus.

Der Apfelschimmel in der ersten Box nickte mit dem Kopf, als ob er ihr zustimmte. Sie musste lachen.

„Du weißt, dass das stimmt, Scout.“ Sie wartete, bis das Pferd den Kopf senkte, um sich seine morgendlichen Streicheleinheiten abzuholen. „Du hast ein schöneres Zuhause als ich im Augenblick. Und das ist ganz allein meine Schuld.“

Normalerweise war sie nicht so vertrauensselig. Aber was wusste sie schon vom Hausbau? Sie hatte sich die Schwierigkeiten eingebrockt, indem sie ihre berechtigten Bedenken nicht geäußert hatte. Und indem sie sich von Larry Goodman, ihrem Bauunternehmer, mit sinnlosen Erklärungen hatte abfertigen lassen.

Scout wich zurück, um aus seinem Wassereimer zu saufen. Olivia stützte sich auf die Tür, um ihm zuzusehen. Als er fertig war, schüttelte er aufgebracht den Kopf und stampfte mit einem Huf auf.

„Schon gut, schon gut.“ Olivia trat zurück. Sie wusste, dass der alte Wallach manchmal vergaß, wie gut er es jetzt hatte. Dann verwandelte er sich wieder in das misshandelte Tier, das sie vor einem Jahr davor bewahrt hatte, versteigert zu werden.

Das Ergebnis ihrer letzten Rettungsaktion befand sich in der nächsten Box. Misty schaute von ihrem Futtereimer auf, als das Heu auf dem Boden landete. Dann wandte sie sich mit einem leisen Schnauben wieder ihrem Getreide zu. Die trächtige Palominostute war entweder durch nichts aus der Ruhe zu bringen oder einfach zu erschöpft, um sich aufzuregen. Olivia war sich da noch nicht ganz sicher.

Als Nächstes sorgte Olivia dafür, dass die Stallkatzen Futter hatten. Dann fütterte sie die Hühner und ging zurück zu dem weißen Farmhaus, das ihr Zuhause sein sollte. Das war es ja auch. Nur fühlte es sich momentan nicht sehr heimelig an.

Sie pfiff nach Ginger, und der Hund mit dem Lockenfell kam um die Ecke galoppiert. „Komm schon, Hund. Jetzt ist Zeit für unser Frühstück.“

Sie öffnete die Tür des hundert Jahre alten Hauses, und ihr Blick fiel direkt auf die Hintertür in neun Meter Entfernung. Sicher, sie hatte sich einen offeneren Grundriss gewünscht. Aber so offen auch nicht. Halbfertige Wände deuteten an, wo sich Räume befinden würden. Eines Tages. Der Rohbau war fertig. Oder jedenfalls fast. Die Elektroinstallation? Mehr oder weniger. Die Klempnerarbeiten? Nun ja …

In sieben Monaten hatte Larry eine Menge abgerissen und sehr wenig gebaut. Olivia straffte die Schultern und ging in die Küche.

Im Augenblick wollte sie sich nur mit einer Schüssel Porridge aufwärmen. Und einen Kaffee trinken. Dann würde sie ihr Stretching hinter sich bringen und ihre Narben mit Lotion einreiben – das half ihr, die Beweglichkeit zu bewahren, die ihr noch blieb.

Ginger bedachte sie mit einem durchdringenden Blick, der verdeutlichen sollte, dass sie in Kürze verhungern würde, wenn Olivia sie nicht sofort fütterte. Sie füllte den Napf der Hündin. Dann machte sie sich Haferbrei in der Mikrowelle warm und setzte sich mit ihrem Handy und einer Tasse Kaffee an den Küchentisch.

Als sie ihre Schüssel in die Spülmaschine stellte, meldete das Handy den Eingang einer Textnachricht. Die Nachricht stammte von Julie Walker, der Managerin des Hotels „Gallant Lake Resort“, mit der Olivia befreundet war.

Als sie auf die Farm gezogen war, hatte Olivia vorgehabt, als Einsiedlerin zu leben. Aber sie hatte schnell begriffen, dass es in Gallant Lake nicht gern gesehen wurde, wenn man sich isolierte. Die Leute hatten ihr klargemacht, dass sie ihre Freunde sein wollten. Irgendwann hatte Olivia nachgegeben.

Und ihre neuen Freunde verstanden, warum sie die Öffentlichkeit mied. Sie mochte die neugierigen Blicke nicht und die geflüsterten Kommentare über ihr Aussehen. Sie wollte einfach nur ihr Leben leben, so wie es jetzt eben war. In Frieden.

J: Guten Morgen! Wollte dich nur daran erinnern, dass Bobby heute Mittag mit einem Plan für dein Haus vorbeikommt.

Olivia fluchte. Keine Frage, sie brauchte Hilfe. Und Julies Bruder war ein exzellenter Bauunternehmer. Wenn sie das früher gewusst hätte, wäre ihr Haus jetzt vielleicht fertig. Wieder ertönte der Signalton ihres Handys.

J: Bobby hat zurzeit wahnsinnig viel zu tun, aber ich bin sicher, er findet eine Lösung. Hast du von dem anderen Idioten inzwischen das Geld zurück?

Olivia knirschte mit den Zähnen. Als sie ihrem Bauunternehmer erklärt hatte, dass sie getrennter Wege gehen sollten, hatte Larry darauf beharrt, dass das, was sie ihm bisher gezahlt hatte, nur das Baumaterial und die bereits geleistete Arbeit abdeckte. Das bezweifelte sie stark, aber als sie nach Belegen gefragt hatte, war er laut geworden. Am Ende war sie einfach nur froh gewesen, dass er weg war.

O: Mach dir keine Gedanken. Ich bin sicher, das klappt mit Bobby.

Eine Stunde später kam Bobby auf Olivia, die gerade im Garten arbeitete, zugeschlendert. Er strich sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn und schenkte ihr ein Lächeln, das seine blauen Augen aufleuchten ließ.

„Hey, Bobby“, begrüßte sie ihn. „Danke, dass du gekommen bist. Ich hoffe, Julie hat dich nicht zu sehr unter Druck gesetzt.“

Ginger kam angerannt, um Bobby zu begrüßen, und wurde mit Kraulen belohnt.

„Überhaupt nicht“, antwortete er lächelnd.

Er betrachtete das Haus, das von außen ganz normal aussah. Vielleicht ein bisschen langweilig, mit einer Verkleidung aus weißen Schindeln, mit weißen Zierleisten, einer weißen Veranda und einer weißen Haustür.

„Sieht doch ganz solide aus. Neues Dach?“, fragte er.

Sie nickte, zog die Gartenhandschuhe aus und ging voran. „Hab ich machen lassen, bevor ich eingezogen bin.“ Gott sei Dank hatte sie dafür eine Dachdeckerfirma mit gutem Ruf angeheuert und nicht Larry. „Das Fundament scheint stabil zu sein. Aber der Keller macht mir Sorgen. Da unten riecht es muffig.“

„Vielleicht reicht da ein Entfeuchter. Ich schau mir das mal an, wenn ich …“ Er verstummte, als sie die Tür öffnete. „Wahnsinn …“ Bobby riss die Augen auf. „Verdammt, Olivia. Das ist … unglaublich.“ Er schaute nach oben. „Der Kerl hat beide Geschosse entkernt?“

Scham wallte in ihr auf. Bobby musste ihr Unbehagen bemerkt haben, denn er fuhr sanfter fort.

„Hey – das ist nicht deine Schuld.“ Bobby sah sich um. Dann lächelte er sie an. „Ich denke, das lässt sich alles reparieren. Nur ist es viel aufwendiger, als ich gedacht habe.“ Sein Lächeln verblasste. „Und billig wird das auch nicht. Bitte sag mir, dass du nicht alles im Voraus bezahlt hast.“

„Nicht alles, nein. Ich habe das Geld, um den Rest zu bezahlen.“ Der Vergleich mit der Versicherung wegen ihres Unfalls hatte zu einer bedeutenden Zahlung geführt, auch wenn dafür ein Prozess nötig gewesen war. Aber die Summe reichte, um sich eine kleine Farm in den Catskills zu kaufen. Und um diese Farm zu renovieren, während sie ihre Webdesign-Firma wieder in Gang brachte.

Sie ging mit Bobby durchs Haus und erklärte ihm, was sie sich vorgestellt hatte. Das größte Projekt bestand darin, aus dem alten Wohnzimmer, der Speisekammer und dem Vorraum der Küche einen einzigen, großen Raum zu machen. Der frühere Salon neben der Treppe sollte ihr Arbeitszimmer werden. Oben wollte sie hinten ein großes Schlafzimmer haben und vorne zwei kleinere Zimmer.

Bobby sah sich um und seufzte. „Ich will nicht, dass du noch länger so leben musst. Aber das ist ein großes Projekt. Ich bin mir nicht sicher, wann ich die Leute für die Arbeit habe …“

Er runzelte die Stirn. Dann hellte sich seine Miene auf, und er schnippte mit den Fingern.

„Weißt du was? Es könnte sein, dass ich genau den richtigen Mann für dieses Projekt habe.“

„Einen Mann? Gerade hast du doch von mehreren gesprochen?“

„Ich kann meine Leute hier nicht wochenlang Vollzeit herschicken. Aber wenn ich Tony Vello dazu kriege, die Leitung zu übernehmen, könnte er eine Menge allein machen. Meine Leute könnten dann bei Bedarf vorbeikommen.“ Er nickte. „Tony braucht die Arbeit. Und für dich ist es offensichtlich wichtig, dass dieser Job eher früher als später erledigt wird.“

Ein Anflug von Sorge überkam sie. „Warum braucht dieser Tony Arbeit?“

„Er ist nicht mittellos oder so. Er ist nur neu auf dem Gebiet. Aber er hat die entsprechende Erfahrung. Seine Familie baut Hochhäuser in New York City.“

„Ich will aber keinen Wolkenkratzer.“

„Er hat die nötigen Fähigkeiten für dieses Projekt, Olivia. Letzte Woche hat er an der Skihütte mitgearbeitet, und das hat er großartig gemacht.“ Bobby zuckte die Schultern. „Hör zu, ich vertraue dem Mann. Aber ich verspreche, dass ich regelmäßig vorbeikomme und seine Arbeit überprüfe.“

Wenn Bobby bereit war, sich für diesen Tony zu verbürgen …

„Okay.“ Sie sah sich um, um sich daran zu erinnern, dass sie etwas unternehmen musste. „Aber wenn du ein Auge auf alles hast, würde ich mich besser fühlen.“

„Kein Problem.“ Er kniete sich hin, um Ginger zu knuddeln. „Und wenn du Tony nicht magst, sagst du ihm, dass du kein Interesse hast, und damit hat es sich.“ Er tätschelte Ginger noch mal. Dann ging er zur Tür. „Meine Gefühle verletzt du damit nicht.“ Hoffentlich war Tony so ehrlich und geschickt wie Bobby. Und so nett im Umgang.

Wenn nicht, würde sie ihn feuern und wieder von vorn anfangen müssen. Noch einmal.

„Du willst, dass ich ein ganzes Haus renoviere?“ Tony Vello starrte den Freund an, der neben ihm im Chalet, der Pizzeria von Gallant Lake, saß. Bobby zog eine Augenbraue hoch.

„Du hast gesagt, du willst Arbeit. Das ist Arbeit.“ Bobby stellte sein Bier ab. „Die Eigentümerin steckt in Schwierigkeiten. Der Typ, den sie ursprünglich angeheuert hat, hat Mist gebaut.“

Tony lachte und nahm einen Schluck von seinem Ginger Ale. „Du lässt den Auftrag immer attraktiver klingen.“

Es stimmte, dass er Arbeit wollte. Aber er hatte auf einfache Zimmermannsarbeiten gehofft. Anspruchslose Arbeit, die kein Denken erforderte. Er hatte seinem Betreuer im Terra Springs Recovery Center versprochen, dass er Stress meiden würde, um der Abstinenz eine echte Chance zu geben. Ein Haus zu renovieren – und die Fehler eines anderen auszubügeln – war nicht unbedingt anspruchslos.

Tony war vor zwei Wochen rein zufällig in Gallant Lake gelandet. Der Verkehr zwischen Albany und New York hatte sich an dem Tag meilenweit zurückgestaut, weil es in einem Baustellenbereich einen Unfall gegeben hatte. Stillsitzen machte ihn kirre. Also hatte Tony die erstbeste Ausfahrt genommen. Von einer kleinen Anhöhe aus hatte er dann das Tal, den See und die Stadt liegen sehen. Idylle war noch nie sein Ding gewesen. Und davon hatte er in Terra Springs – einem Reha-Zentrum für Alkoholiker und Drogenabhängige in den Adirondacks – schon mehr genossen, als ihm lieb war.

Aber Gallant Lake hatte etwas an sich, das ihn dazu gebracht hatte, seinen Truck abzustellen und herumzuschlendern. Vor einer griechischen Bäckerei war er auf Bobby gestoßen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Bobby war gerade mit den Armen voll weißer Schachteln aus dem Laden gekommen, als Tony um die Ecke gebogen und mit ihm kollidiert war.

Bis Bobby zugestimmt hatte, dass Tony das Gebäck ersetzte, hatten sie herausgefunden, dass sie beide Bauhandwerker waren. Dann hatte Bobby ihm wegen einer Übernachtungsmöglichkeit eine Wegbeschreibung zum Gallant Lake Resort gegeben. Seine Schwester Julie sollte ihm einen Familienrabatt geben. Schnell war Tony zu der Überzeugung gelangt, dass diese Stadt ein besserer Ort war, um wieder auf die Füße zu kommen, als der Schoß seiner wohlmeinenden, aber anstrengenden Familie.

Dann hatte er Bobby bei Arbeiten auf der Skistation geholfen und angedeutet, dass er gerne mehr Aufträge übernehmen würde. Nichts Langfristiges. Keine Herausforderung. Nur was zur Überbrückung. Er hatte Bobby seine Lage geschildert: Er bemühte sich, abstinent zu bleiben. Er war noch nicht bereit dafür, nach Staten Island zurückzukehren. Und er musste sich irgendwie beschäftigen.

Über Bobby hatte er dann Mel Brannigan kennengelernt, die in Gallant Lake eine Selbsthilfegruppe gegründet hatte. Sie hatte ihn unter ihre Fittiche genommen. Und Mel wiederum hatte ihn Nora Peyton vorgestellt. Nora gehörte der Coffeeshop „Gallant Brew“ in der Main Street. Zufällig war das möblierte Loft über ihrem Café gerade zu mieten. So hatte Tony in kurzer Zeit in Gallant Lake ein Dach über dem Kopf und Unterstützung gefunden.

Aber er war nicht der Richtige für ein Ein-Mann-Renovierungsprojekt.

„Hör zu“, fing Bobby an, „meine Schwester mag Olivia Carson. Und ich auch. Sie ist still, eher eine Einzelgängerin. Nicht die Art Kundin, die dich in den Wahnsinn treibt. Mach, was du allein schaffst. Und ich bring mein Team für die schweren Arbeiten vorbei.“ Er hielt inne. „Triff dich wenigstens mit ihr. Diese Arbeit würde dich ungefähr einen Monat beschäftigen. Und das willst du doch.“

Er hatte recht. Genau das wollte Tony. Er zog sein Handy aus der Tasche.

„Gib mir die Adresse.“

Niemand würde Tony Vello je vorwerfen, ein Landei zu sein. Er konnte praktisch hören, wie seine Cousins ihn auslachten, als er mit seinem Truck auf die gewundene Schotterstraße einbog. Vor einem Jahr hätte er mitgelacht.

Aber in dem Jahr hatte sich viel verändert.

Wenn ein Job in den Catskills ihm jetzt helfen würde, die Heimkehr zu vermeiden, kam er damit klar, hier in der Pampa zu bleiben. Alles nur, um seiner Familie nicht sagen zu müssen, dass er vielleicht nie wieder im Familienbetrieb arbeiten konnte.

Die Zufahrtsstraße führte oben am Hügel in einer Kurve nach rechts und gab den Blick auf ein Farmhaus mit einem großen, roten Stall dahinter frei. Hinter dem Stall befanden sich zwei umzäunte Felder, die sich bis zu einem Wäldchen weiter oben erstreckten.

Wegen Bobbys Beschreibung von Olivia als stille Einzelgängerin hatte Tony sich eine ältere Frau vorgestellt. Also war er überrascht, wie groß das Anwesen war. Vielleicht war ihr Mann gestorben, und sie musste die Farm allein weiterführen. Bei dem Gedanken, dass ein Handwerker eine ältere Witwe übervorteilt hatte, knirschte er mit den Zähnen.

Er parkte seinen Truck und stieg aus. Einen Augenblick lang blieb er stehen und ließ die Stille und den Maisonnenschein auf sich wirken. Bevor sein Leben auf den Kopf gestellt worden war, hätte er jetzt dreißig Stockwerke über den Straßen von New York gearbeitet und dem ständigen Grollen aus Verkehr, Sirenen und Menschenmassen tief unter sich gelauscht. Im Gegensatz dazu war hier oben das einzige Geräusch eine sanfte Brise, die in den jungen Blättern der Bäume raschelte. Und das Knarren einer Stalltür, die geöffnet wurde. Er drehte sich um und erstarrte, als er eine Frau in seinem Alter bemerkte, die ihn anstarrte.

Sie hatte langes, honigblondes Haar, das ihr in Wellen über den Rücken fiel. Obwohl sie in einem Stall stand, trug sie ein Kleid. Ein weites, blaues Kleid, das ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Und … Gummistiefel. Die Zusammenstellung war reizvoll. Sie hatte durchdringende, blaue Augen, mit denen sie ihn misstrauisch musterte.

Das musste Olivias Tochter sein. Tony winkte freundlich. „Ich bin Tony Vello. Bobby hat mich hergeschickt, um mit Olivia über Renovierungsarbeiten zu reden. Ist sie da?“

„Ich bin Olivia.“ Ihre Tonfall war so vorsichtig wie ihre Miene misstrauisch. „Ich habe dich heute nicht erwartet.“

Er zuckte die Schultern und versuchte, es in den Kopf zu kriegen, dass dieses schlanke, ätherische Geschöpf seine Kundin sein sollte. „Soll ich ein andermal wiederkommen?“ Sie trug ein Kleid, also war sie vielleicht auf dem Sprung. Aber sie hatte auch diese Gummistiefel an. Bobby hatte gesagt, dass sie eine Einzelgängerin war, keine Hippiebraut.

Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich hab nur den Stall ausgemistet. Ich zeig dir das Haus.“ Sie hatte den Stall in einem Kleid ausgemistet? Er folgte ihr.

Offensichtlich scheute sie harte Arbeit nicht. Aber sie wirkte irgendwie zerbrechlich. Warum, konnte er nicht genau sagen. Erst als sie die Veranda erreichte, bemerkte er, dass sie leicht hinkte. Auf dem Weg über den Hof hatte er angenommen, dass ihr unsicherer Gang auf die Gummistiefel zurückzuführen war. Aber jetzt klammerte sie sich mit der rechten Hand am Geländer fest und zog sich fast die Treppe hinauf.

Er versuchte immer noch, dieses Rätsel zu lösen, als sie die Haustür öffnete und sich zu ihm umdrehte. „Ich fürchte, es ist ein bisschen chaotisch.“

Lieber …

Tony stand in der Tür und starrte das ausgeweidete Innere des Hauses an.

„Was in aller …“ Er trat ein und schaute die Treppe hinauf. „Du hast den Kerl einfach alles rausreißen lassen?“

Sie richtete sich auf. „Von wegen gelassen. Ich habe einen Mann angeheuert, den ich für einen fähigen Handwerker gehalten habe. Kannst du die Sache zu Ende bringen? Ja oder nein?“

Sie reagierte defensiv. Wütend. Tony spürte, wie er selbst ärgerlich wurde – um ihretwillen.

„Zu Ende bringen?“ Er gestikulierte. „Erst mal muss ich das alles in Ordnung bringen. Da muss ein Träger in den Bogen. Und die Wand da, das sollte eine tragende Wand sein. Aber schau dir die Lücke zwischen dem Rahmen und den Balken an, die das obere Stockwerk tragen.“

Sie schaute nach oben. „Das sind doch nur ein paar Zentimeter.“

Tony starrte sie an. „Nur ein paar Zentimeter? Glaub mir, wenn der Boden oben nachgibt, wirst du die spüren.“ Er war wie vor den Kopf geschlagen. „Hast du die Referenzen von dem Kerl überprüft? Hat der jemals mehr gebaut als eine Hundehütte?“ Er wandte sich wieder Olivia zu. „Bitte sag mir, dass du ihm kein Geld gegeben hast.“

Unter ihren blassen Sommersprossen röteten sich ihre Wangen. „Eine Anzahlung und Geld fürs Baumaterial.“

„Gottverd…“ Tony biss die Zähne zusammen. Er hasste Betrüger in der Baubranche. Der Kerl hatte das Geld dieser Frau genommen und beinahe ihr Haus zerstört. Er holte tief Luft. „Hast du Pläne?“

Sie nickte. „In der Küche.“

Das waren keine Pläne, sondern Skizzen. Durchaus hübsch. Fast gut genug, um gerahmt zu werden. Aber eben nur Bleistiftskizzen, wie es mal aussehen sollte. Nichts, was elektrische Leitungen oder Rohre zeigte.

„Hast du die gezeichnet?“ Sie nickte, und er rollte die Augen. „Niedlich, aber nutzlos. Du brauchst echte Blaupausen.“ Er rieb sich mit einer Hand den Nacken. „Das muss vorschriftsmäßig gemacht werden. Und das da …“ Tony zeigte auf die Kabel, die an einen Pfosten getackert waren. „Das ist nicht mal sicher. Noch viel weniger vorschriftsmäßig.“

Sie starrte ihn an. Der Blick aus ihren blauen Augen war stahlhart. Sie öffnete und schloss den Mund, als ob sie sich eine Bemerkung verbiss. Er lehnte sich an die nächstgelegene Wand. Die Arme verschränkte er vor dem Oberkörper.

„Spuck’s einfach aus, Olivia. Wenn wir nicht offen miteinander reden können, hat es keinen Sinn, dass ich überhaupt anfange.“

Sie reckte das Kinn. „Bei dir klingt das, als ob alles meine Schuld ist.“ Ihre Stimme war jetzt scharf. „Hör zu, ich hab ihn gefragt, ob ein Stützpfeiler nötig ist. Ich hab gefragt, wie das mit der Elektroinstallation ist. Ich bin kein Idiot. Er hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen.“ Sie schwenkte den Arm. „Darum bist du hier. Aber ich denke nicht, dass das klappt, also …“

Tony fluchte leise. Er hob entschuldigend eine Hand.

„Ich bin nicht sauer auf dich. Ich bin deinetwegen sauer. Da besteht ein Unterschied.“ Er hielt inne, und ihr Blick wurde weicher. Die Farbe ihrer Augen war immer noch eisblau, aber ihr Blick war nicht mehr so hart. Er konnte nicht anders, als sich zu fragen, warum sie ganz allein eine Farm gekauft hatte. Er deutete auf die Treppe. „Ich krieg das hin, aber das wird dauern. Ich muss die Arbeit mit Bobby koordinieren, weil ich so was wie einen tragenden Pfeiler nicht allein einziehen kann.“ Er stieß einen Seufzer aus. „Das ist ein solides Haus. So schnell bricht das nicht zusammen. Lass mich einen richtigen Plan anfertigen und einen Kostenvoranschlag aufstellen. Und wenn du beides billigst, dann reiße ich das Ruder herum.“

Die gertenschlanke Blondine in ihrem fließenden Kleid und den Gummistiefeln hatte etwas an sich, das ihn neugierig machte. Zuerst schien sie eher der Typ für leise Töne zu sein. Aber dann hatte sie Rückgrat bewiesen, als sie sich verteidigt und ihn beinahe weggeschickt hatte. Sie war überhaupt nicht wie die Frauen, mit denen er immer in Staten Island ausgegangen war. So viel war sicher. Vielleicht war es das, was ihn faszinierte.

Aber Tony war nicht auf der Suche nach einer Frau. Er würde nicht in Gallant Lake bleiben. Und er würde sich auf gar keinen Fall mit einer Farmerin einlassen, bei der tatsächlich Hühner frei auf dem Hof herumliefen. Aber wenn seine Auftraggeberin zufällig schön und … interessant wäre, dann könnte das seine Arbeit angenehmer machen.

Erst sah Olivia die Skizzen an, dann richtete sie den Blick wieder auf ihn.

„Leg mir die Zahlen vor. Wenn die stimmen, bist du angeheuert.“ Sie hielt inne. „Aber nur, weil sich Bobby Brown für dich verbürgt hat. Und ohne Quittungen und eine Stundenaufstellung zahle ich nichts.“

Er lachte leise. „Gut für dich. Mir gefällt eine Frau, die in der Lage ist, aus ihren Fehlern zu lernen.“

Der Hauch eines Lächelns ließ ihre Mundwinkel zucken – und war verschwunden, bevor er sich sicher sein konnte, dass er es gesehen hatte.

„Sorg einfach dafür, dass du nicht noch einer bist.“

2. KAPITEL

Als sie am nächsten Tag den Sonnenuntergang beobachtete, war Olivia sich immer noch nicht sicher, ob Tonys Kommentar sie amüsierte oder ärgerte.

Sie saß mit Kaffee, Käse und Kräckern an ihrem Lieblingsplatz auf der Veranda – auf der großen Hollywoodschaukel.

Ihr Handy vibrierte. Es war Bobbys Schwester Julie.

„Hey, Jules.“ Olivia nahm sich ein Stück Cheddar.

„Selber hey. Bobby hat gesagt, dass du Tony angeheuert hast.“

Sie nahm noch einen Bissen Käse, bevor sie antwortete. „Rein technisch gesehen habe ich gesagt, er soll mir erst mal einen Kostenvoranschlag machen.“

„Was hältst du von Tony?“, fragte Julie. „Er hat auf jeden Fall dieses gewisse Etwas mit der Kombo aus hochgewachsen, dunkelhaarig und attraktiv.“

„Ich interessiere mich nicht für sein gewisses Etwas, Julie.“ Vielleicht fanden viele Frauen Tonys dunklen Typ und sein selbstbewusstes Auftreten attraktiv. Aber Olivia war nicht auf der Suche nach Liebe. Alles, was sie wollte, war ein bewohnbares Haus. „Bobby hat sich für seine Fähigkeiten verbürgt. Und Tony scheint zu wissen, wovon er spricht.“

Ginger kam die Treppe herauf und ließ sich mit einem Seufzer fallen. Olivia lachte. „Ginger hat gerade ihren Rundgang gemacht, und jetzt ist sie zu mir gekommen, um zu melden, dass alles in Ordnung ist.“

„Ginger ist ein braver Hund.“ Julie lachte. „Wie geht’s den Kätzchen?“

„Die werden langsam frech.“

Dan Adams, der Polizeichef, hatte sie angerufen, nachdem er sechs winzige Kätzchen am Straßenrand gefunden hatte, wo ihre Mutter leider überfahren worden war. Olivia hatte schon früher Kätzchen großgezogen und wusste, was zu tun war. Der Tierarzt hatte Kätzchennahrung gespendet, und jetzt fütterte sie die Kleinen alle paar Stunden mit dem Fläschchen.

„Du hast echt ein Herz für Streuner …“ Julie hielt inne. „Übrigens denke ich, dass das etwas Gutes ist. Du hast ein großes Herz.“

„Und noch größere Futterkosten.“

Julie lachte. „Pass nur gut auf die kleine Süße mit den orange-weißen Flecken auf, denn die gehört mir!“

Sie beendeten das Telefongespräch mit dem Versprechen, sich nächste Woche zum Lunch zu treffen.

Am nächsten Morgen ging Olivia zur Massage. Das half ihr, die Beweglichkeit ihrer geschädigten Muskeln zu erhalten, und sorgte dafür, dass die vernarbte Haut geschmeidig blieb.

Als sie nach Hause kam, stand Tonys Pick-up vor dem Stall. Er saß auf der Ladefläche. Olivia runzelte die Stirn.

„Hatten wir einen Termin?“

Er rutschte vom Truck. „Nein. Aber ich hab den Kostenvoranschlag fertig, und ich hatte deine Nummer nicht. Wenn es jetzt nicht passt …“

„Nein, schon okay. Lass mich nur schnell nach Misty sehen, dann können wir reingehen.“ Sie ging zum Stall. Normalerweise mochte sie Überraschungsbesuche nicht. Aber es war ja ihre Schuld, weil sie sich nicht vergewissert hatte, dass er ihre Telefonnummer hatte.

„Wer ist Misty?“ Er blieb abrupt stehen, als Ginger auf sie zu rannte und dabei wie wild bellte. „Himmel …“

Olivia ging auf ein Knie, um ihren Hund zu begrüßen. „Du dummes Ding, ich hab dir doch versprochen, dass ich zurückkomme!“ Sie schaute auf und merkte, dass Tony wie erstarrt dastand. „Hast du Angst vor Hunden? Ginger würde dich allenfalls aus Tollpatschigkeit umwerfen, aber nie angreifen. Versprochen.“

„Angst nicht …“ Er strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Aber die meisten Hunde, die ich kenne, bewachen Baustellen. Und sind weder tollpatschig noch freundlich.“ Ginger wandte sich Tony zu. Die Zunge hing ihr aus dem Maul, und ihr Schwanz wedelte wie eine Fahne. Tony hielt ihr eine Hand zum Beschnüffeln hin, aber er schien sich nicht ganz wohl dabei zu fühlen.

Olivia wandte sich wieder dem Stall zu. „Wenn du hier arbeitest, musst du dich an sie gewöhnen. Und Misty ist ein Pferd. Hoppla, pass auf, wo du hintrittst.“ Sie zeigte auf die vier Hühner, die ihnen vor die Füße liefen.

„Was ist das hier, ein Zoo?“

Olivia rollte die Augen. „Nein, eine Farm.“ Sie ging in den Stall, und die beiden Pferde streckten die Köpfe aus den Boxen. „Darf ich vorstellen, Scout und Misty.“ Sie warf eine Handvoll Heu in jede Box. Dann blieb sie stehen, um auf den Wallach zu zeigen. „Komm Scout nicht zu nahe. Er ist misshandelt worden, und manchmal vergisst er, dass er Menschen nicht mehr beißen muss.“

„Das wird kein Problem sein.“ Tony hielt mehr als drei Meter Abstand. „Mit Pferden habe ich nichts am Hut.“

Sie machte die Tür zu Mistys Box auf und untersuchte ihren runden Bauch. Die Haut war straff gespannt. Sie beugte sich vor, um einen Blick auf Mistys Euter zu werfen.

„Ist sie krank?“ Tony beobachtete sie.

„Nicht krank. Nur hochträchtig.“ Olivia kam aus der Box.

„Wann ist es so weit?“

„Das ist die Preisfrage. Ich hab sie erst vor Kurzem bekommen, und wir wissen nicht, wann sie gedeckt worden ist. Der Tierarzt und ich denken, dass sie in den nächsten drei oder vier Wochen fohlen wird.“ Sie ging an ihm vorbei zur Stalltür. „Dann schauen wir uns mal deinen Kostenvoranschlag an.“

Im Haus setzten sie sich an den Küchentisch. Tony benutzte sein Tablet, um die Kosten durchzugehen. Zum Glück bewegte sich alles immer noch in dem Rahmen, den Olivia sich gesetzt hatte. Und Tony glaubte, dass er alles in vier bis sechs Wochen schaffen würde.

„Ich weiß, dass du dem anderen Kerl schon einen Batzen Geld gezahlt hast, also hab ich mich bemüht, human zu kalkulieren.“ Tony scrollte zur Zusammenfassung. „Leider dient ein Teil meiner Arbeit dazu, seine Fehler wieder auszubügeln.“

Olivia runzelte die Stirn. „Ich arbeite von zu Hause aus. Also brauche ich immer einen Arbeitsplatz mit Strom und Internetzugang.“

„Natürlich. Was machst du beruflich?“

„Ich gestalte Websites.“ Sie warf einen Blick in die Richtung, wo ihr Arbeitszimmer sein sollte. „Im Augenblick steht mein Computer oben auf einem Klapptisch. Aber das ist alles andere als ideal. Es wäre mir lieb, wenn das Büro zuerst fertig wird, damit ich die Tür hinter mir zumachen kann, um Privatsphäre zu haben.“ Und um ihre Pflegekätzchen unter Kontrolle zu haben.

Tony musterte seine Pläne. „Ich sollte hier unten keine Wände einziehen, bis oben die Elektroinstallation und die Klempnerarbeiten fertig sind.“

Sie zog eine Schulter hoch. „Wenn du bezahlt werden willst, muss ich arbeiten.“

Tony zog die schweren Augenbrauen zusammen. „Schön.“ Sein Tonfall hörte sich nicht so an. „Ich werde den Raum so gut abdichten wie möglich, aber dann muss ich den ersten Stock fertigmachen. Hin und Her sorgt nur dafür, dass alles länger dauert.“

„Willst du damit sagen, dass du deine Vorhersage jetzt schon revidierst?“

Jetzt zog er eine Augenbraue hoch. Und einen Mundwinkel. Urplötzlich traf es sie wie ein Blitz – er hatte tatsächlich dieses gewisse Etwas. Tony schüttelte den Kopf.

„Ich schätze, du hast wirklich aus deinen Fehlern gelernt … Jetzt wirst du jeden meiner verd… meiner Atemzüge kontrollieren, was?“

„Ich kann keinen Mann kontrollieren, der Arbeit macht, die ich nicht beherrsche. Aber ich werde das Budget genau im Auge behalten.“

„Na schön. Dann fange ich Montag früh an, okay?“

Diesmal dachten sie daran, Telefonnummern auszutauschen. Dann ging er mit Ginger auf den Fersen zu seinem Truck. Bei seiner Ankunft hatte er gewirkt, als ob er Angst vor dem Hund hatte. Jetzt blieb er stehen und kraulte Ginger hinter den Ohren. Olivia lächelte. Aber Tony hatte schon einen Kommentar über ihren „Zoo“ gemacht, als die Hühner aufgetaucht waren. Und die Pflegekätzchen hatte er noch nicht gesehen. Hoffentlich konnte Tony Vello mit einem Publikum arbeiten, das aus einem neugierigen Hund und einem Wurf chaotischer Kätzchen bestand.

Und hoffentlich konnte sie die nächsten sechs Wochen mit einem heißen italienischen Bauarbeiter im Haus arbeiten.

Am folgenden Donnerstag schloss Tony die Steckdosen in Olivias Arbeitszimmer an. Er hatte nicht vorgehabt, vier Tage mit der Elektroinstallation zu verbringen, aber dieser Larry hatte so ziemlich alles verpfuscht, was er angefasst hatte. Also hatte Tony alle Leitungen neu verlegt.

Er war gerade dabei, die letzte Steckdose zu verschrauben, als er Schritte hörte.

„Du arbeitest immer noch an den Steckdosen?“ Olivia hörte sich verwundert und genervt an.

Er lehnte sich zurück. „Ich hab dir doch erklärt, dass ich alles noch mal machen musste. Also … wirklich alles.

Für eine Frau, die behauptet hatte, dass sie nichts kontrollieren würde, wovon sie keine Ahnung hatte, war sie ziemlich gut darin, genau das doch zu tun. Er stand auf und streckte mit einem Seufzer den Rücken durch.

Sie sah sich um. „Du hast noch mehr Steckdosen eingebaut?“

„Ich weiß, die waren nicht auf der Skizze. Aber ich habe gedacht, du …“

„Nein, das gefällt mir. Danke.“

Himmel und … Hatte sie gerade gesagt, dass ihr eine seiner Entscheidungen zusagte? Er wollte das schon kommentieren, als sie fortfuhr: „Aber vielleicht fragst du mich in Zukunft, bevor du irgendwas an den Plänen änderst.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Olivia, das sind keine Pläne. Du hast deine Traumvorstellungen gezeichnet. Du wirst mir vertrauen müssen, dass ich diese Bilder Wirklichkeit werden lasse. Ich bin nicht Larry. Und ganz ehrlich, wenn du ihm so auf die Nerven gegangen bist wie mir, frage ich mich, ob er vielleicht einfach aufgegeben hat.“

Damit ging er einen Schritt zu weit. Aber sie raubte ihm den letzten Nerv.

Ihre Wangen verfärbten sich. Doch sie gab nicht klein bei. „Ich kenne dich nicht. Also weiß ich nicht, ob du ein Larry bist oder nicht.“

Innerlich begehrte er auf. Er wollte ihr schon sagen, dass sie sich einen anderen Handwerker suchen sollte. Aber er erstarrte, als sich etwas Kleines, Graues in die Ecke des Arbeitszimmers flüchtete. Er griff nach dem Hammer. Ratten hatte er schon immer gehasst.

Olivia sprang vor, um ihn daran zu hindern, die Ratte zu erschlagen. „Nein, das ist Ross!“ Sie rannte zu der Kreatur und hob sie hoch, bevor sie sich wütend zu ihm umdrehte. „Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?“

Jetzt konnte er sehen, dass sie ein winziges Kätzchen hielt und keine Ratte. Es war rauchgrau, mit großen, blauen Augen.

„Äh… tut mir leid. Ich habe gedacht, das ist eine Ratte …“ Er verstummte. Ihm wurde klar, dass er keine Chance hatte, seine Würde zu wahren. Dann erblickte er noch ein Fellknäuel, das über die Schwelle kletterte. „Na toll, da sind noch mehr.“

Olivia drehte sich um. Sie lachte, und Tony spürte, wie ihn ein merkwürdiger, elektrischer Schlag durchfuhr. Bei ihrem Lachen bekam er weiche Knie. Was keinen Sinn machte. Zum einen mochte er Katzen nicht. Zum anderen mochte er kichernde Farmerinnen mit langem, blondem Haar nicht. Sie warf ihm einen Blick zu.

„Kannst du mir mal helfen?“ Als sie sich wieder umwandte, wirkte sie weniger amüsiert und mehr … irritiert. „Ich verspreche, das sind keine Ratten, du Feigling.“

Er wusste nicht, ob er lachen, beleidigt oder beschämt sein sollte. Aber er kam ihr zur Hilfe.

„Du nimmst Ross, Monica und Phoebe. Und ich schnappe mir die anderen.“ Dann fing sie wieder an zu kichern. „Die tun dir nichts. Versprochen.“

Er starrte die drei Kätzchen in seinen Armen an. Keines wollte bei ihm bleiben. Das orange kletterte sein T-Shirt hoch. Das graue versuchte, sich von seinen Fingern zu stürzen.

„Um mich mache ich mir keine Sorgen“, antwortete er. „Aber die scheinen auf Selbstzerstörung aus zu sein. Wo ist ihre Mama?“

„Eine Mama gibt es nicht, fürchte ich.“ Sie schien ihre drei Kätzchen an ihre Brust geschmiegt unter Kontrolle zu haben. „Ich ziehe sie auf. Mir war nicht klar, dass sie schon so nah dran waren, es aus ihrer Kiste zu schaffen.“

Tony folgte ihr in die Küche. Neben dem Tisch stand eine Plastikwanne mit Handtüchern und einem improvisierten Katzenklo. Er setzte seine Kätzchen hinein. Phoebe, das orange Kätzchen, fing sofort an, mit dem Hinterteil zu wackeln, während sie den Rand der Wanne beäugte. Und tatsächlich, sie machte einen Satz und erwischte den Rand mit ihren Vorderkrallen.

„Das Ding wird deiner wilden Horde nicht mehr standhalten.“ Er sah sich um. „Ich hab ein paar Dichtungsbleche, die ich mit Klebeband fixieren könnte, um die Wände zu erhöhen.“ Wie Phoebe sich mit reiner Willenskraft am Wannenrand hochzog, war beeindruckend. Er fing sie auf und ließ sie wieder in die Wanne fallen. Sie zögerte nicht, sofort wieder einen Sprung zu wagen.

„Je eher, desto besser“, sagte Olivia. „Diese kleinen Teufel sind wild entschlossen.“

„Richtig.“ Er ging zu seinem Truck und schnappte sich eine Rolle Aluminiumblech und Textilklebeband. Er ging wieder ins Haus und blieb in der Küchentür stehen.

Olivia kniete neben der Wanne und sprach mit den Kätzchen in einem Tonfall, der halb tadelnd, halb schmeichelnd war. Und hundert Prozent sexy.

„Oh, nein, du kleiner Frechdachs.“ Sie hob das orange Kätzchen hoch. „Wenn dir was passiert, wäre Julie – deine neue Mama – sehr unzufrieden mit mir.“ Olivia gab dem Kätzchen einen Kuss auf den Kopf. „Hör auf zu jammern. Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, Baby.“

Tony befürchtete schon, dass er sich abwenden musste, um sich nicht durch eine körperliche Reaktion zu blamieren. Ihre Stimme. Diese Worte. Die gespitzten Lippen. Verdammt, da spannten seine Jeans auf einmal in intimen Regionen. Er musste echte Willenskraft aufbieten, aber er schaffte es, sich unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie sich mit einem strahlenden Lächeln umdrehte.

„Da bist du ja – Onkel Tony, der Retter in der Not!“ Die Kombination aus Lächeln, Lachen und dem sanften Ausdruck in ihren blauen Augen. Verdammt noch mal. Er wusste ja, dass sie hübsch war. Aber in diesem Augenblick? In dieser Sekunde war sie heißer als alle Frauen, die er je zuvor gesehen hatte. Er befahl seinem Körper erneut, Ruhe zu geben. Das Letzte, was er brauchte, war eine Frau. Noch dazu eine Frau, die jeden seiner Handgriffe infrage stellte. Und sie war seine Kundin. Außerdem war sie nur wegen der Kätzchen so sanft und süß.

Er konzentrierte sich wieder darauf, warum er hier war. Er legte das Blech um die Kiste und klebte alles zusammen. Dann vollendete er sein Werk mit ein paar Lagen Textilklebeband um den oberen Rand. „Damit du dich nicht schneidest.“ Die Kätzchen waren schon dabei, sich gegen das Blech zu werfen. „Es wird nicht lange dauern, bis sie da auch drüberkommen.“

„Ich weiß.“ Sie saß auf der anderen Seite der Kiste auf dem Fußboden. „In White Plains gibt es eine Gruppe für Pflegefamilien. Die Vorsitzende hat mir versprochen, dass sie mir einen Käfig leiht.“

Tony setzte sich auch auf den Boden. „Nimmst du oft Kätzchen in Pflege? Ist es nicht hart, sie abzugeben?“

Sie beobachtete die Kätzchen, die sich jetzt ausgepowert hatten. Eines nach dem anderen rollten sie sich in einer Ecke zusammen. „Meine Tiere sind alle das Resultat von Tierrettung. Und ja, es ist echt schwer, Pfleglinge abzugeben. Aber ich kann nicht alle behalten.“

„Alle Tiere? Die Pferde? Die Hühner auch?“ Er hatte noch nie von Tierheimhühnern gehört.

Olivia nickte. „Alle. Scout, der graue Wallach, war der Erste. Er ist übel misshandelt worden. Die Hühner stammen von einem alten Mann, der seine Farm verkauft hat, um zu seiner Enkelin zu ziehen.“ Sie zuckte zusammen, als sie das Gewicht verlagerte. Als ob sie Schmerzen hatte. „Und Freunde von mir haben mich auf Misty aufmerksam gemacht. Ihre Nachbarn wollten sich von ihren Pferden trennen, weil sie sich die nicht mehr leisten konnten.“

„Also musst du dich jetzt um sie kümmern? Das ist doch nicht fair.“ Anscheinend war Larry nicht der Einzige, der Olivia Carson ausgenutzt hatte.

Sie machte große Augen. „Ich bewahre sie davor, als Hundefutter zu enden. Das ist mir eine Ehre.“

„Hundefutter?“ Seine Familie hatte mit Tieren nicht viel am Hut. Aber bei dem Gedanken, dass jemand ein schönes Pferd zum Schlachten schickte, wurde ihm schlecht.

Olivia nickte. „Ja, das ist schrecklich. Aber es kommt öfter vor, als man denkt. Pferde sind teuer in der Haltung. Und die Zeiten sind hart.“

Es war interessant, wie der starke, taffe Stadtmensch die raue Wirklichkeit des Landlebens zur Kenntnis nahm. Er saß ihr gegenüber im Schneidersitz auf dem Boden. Das Haar hing ihm in die Stirn, und er strich es immer wieder zurück.

Ein Auge auf ihren Handwerker zu haben, war ja nicht verkehrt, solange sie sich auf seine Arbeit konzentrierte. Und nicht auf seine dunklen Augen. Oder wie er die schweren Augenbrauen furchte, wenn er sich konzentrierte …

Er sah immer noch finster drein. „Die Leute sollten sich keine Tiere anschaffen, wenn sie sich nicht um sie kümmern können.“ Er beugte sich vor, um einen Blick in die Kiste zu werfen. „Es sollte nicht an Menschen wie dir hängen bleiben, für ihr Versagen einzustehen.“

Alle sechs Kätzchen schliefen jetzt tief und fest.

„Mir macht das nichts aus. Ich habe Tiere schon immer geliebt.“ Tony starrte sie so durchdringend an, dass ihre Haut kribbelte. Dann sprang er auf, als ob ihm gerade eingefallen war, dass er etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Er räusperte sich.

„Ich äh… sollte mich wieder an die Arbeit machen.“ Er schaute nach unten und knirschte mit den Zähnen. „Sorg dafür, dass die mir nicht im Weg sind, okay? Ich will nicht aus Versehen auf eins treten oder riskieren, dass sie in ein Kabel beißen …“

Sie machte sich daran, aufzustehen, und er streckte die Hand aus, um ihr zu helfen. Ohne nachzudenken, legte sie die Hand in seine. Sobald ihre Finger sich berührten, lief ihr ein … eine Art Schauer über den Arm. Tony wirkte immer so beherrscht, aber da steckte eine Energie in ihm, die unter seiner Haut pulsierte.

Leider hatte sie ihm, ohne nachzudenken, die linke Hand gereicht. Und statt sie nur zu stützen, zog er kräftig. Sie kam auf die Füße, aber sie konnte einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.

„Ich habe dir wehgetan.“ Seine Stimme war rau, aber in seinen Augen stand nur noch Sorge.

„Nein, mir geht’s gut.“

„Dir geht es überhaupt nicht gut.“

Sie straffte die Schultern und lächelte und ignorierte die glühenden Schmerzen, die ihre ganze Seite überliefen.

„Das ist eine alte Verletzung. Mir geht es wirklich gut.“

„Was für eine Verletzung?“

Sie redete nicht gerne über die Nacht, die ihr Leben verändert hatte. Aber ihm gab sie zu ihrer eigenen Überraschung eine kurze Erklärung.

„Ein Autounfall. Vor etwas mehr als zwei Jahren. Tut immer noch weh und wird das vermutlich auch immer tun. So ist das eben.“

„Und da hast du gedacht, ganz allein eine herabgewirtschaftete Farm als Tierasyl zu kaufen, ist eine gute Idee?“

Olivia begehrte auf. „Die Farm ist nicht herabgewirtschaftet. Du hast doch selbst gesagt, dass das Haus grundsolide gebaut ist. Und ich arbeite hart, um hier alles gut in Schuss zu halten …“

Er hob die Hand. „Ich hätte nicht herabgewirtschaftet sagen sollen. Es ist einfach nur …“ Er unterbrach sich. „Das scheint einfach eine Menge zu sein, die du dir da aufgeladen hast.“

„Ist es auch. Aber ich liebe das Leben hier. Und ich werde nicht zulassen, dass meine Narben mich davon abhalten, das Leben zu führen, das ich will.“

Einen Augenblick starrten sie sich an. Tony schluckte schwer. „Gut für dich. Nicht alle schaffen es, so weiterzumachen.“

Er senkte den Blick. Sie dachte, dass er noch mehr sagen würde, aber er wandte sich ab. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

Er verschwand, den Kopf immer noch gesenkt. Er schien überrascht zu sein, dass sie allein hier draußen leben wollte. Aber er war ja auch hier. Warum war Tony in Gallant Lake? Versuchte er auch, über etwas hinwegzukommen?

Oder versteckte er sich davor?

3. KAPITEL

Olivia war sich Larrys Gegenwart nie so bewusst gewesen, wie sie Tonys Anwesenheit spürte. Tony hatte eine Aura aus pulsierender Energie an sich, mit seinen schnellen Bewegungen und seiner scharfen Stimme.

Im Augenblick arbeitete sie in ihrem neuen Büro. Die Tür hatte sie hinter sich zugemacht, und Tony war oben. Aber er hätte genauso gut bei ihr im Zimmer sein können. Sie konnte hören, wie er vor sich hinmurmelte – und gelegentlich fluchte. Der Typ konnte nicht mal leise Selbstgespräche führen!

Aber er machte seine Arbeit. Ihr Büro sah großartig aus. Jede Kante war sauber gearbeitet, jede Ecke exakt im Winkel.

Sie hörte einen Schlag, gefolgt von Flüchen.

Diese Woche hatte sie ihn ein paarmal gefragt, ob alles in Ordnung wäre, nachdem er einen Wutanfall bekommen hatte. Jedes Mal hatte er sie überrascht angesehen. Anscheinend gehörte er zu den Menschen, bei denen der Zorn heftig aufloderte und sich dann sofort wieder legte. Olivia dagegen fraß den Frust in sich hinein, bis es zu spät war.

Vielleicht war es besser, so zu sein wie Tony und die Gefühle einfach rauszulassen. Aber das musste auch stressig sein.

Und … jetzt dachte sie schon wieder an Tony, statt zu arbeiten. Sie schob ihren Stuhl näher an den Schreibtisch und tat ihr Bestes, um sich wieder auf die Vermarktung von Kobe-Rind zu konzentrieren. Sie war gerade dabei, in eine kreative Phase einzutauchen, als sie schwere Schritte hörte.

Es klopfte kurz und heftig, bevor die Tür aufgerissen wurde. Der Mann hatte keine Geduld.

„Tut mir leid, dich zu stören.“ Er unterbrach sich, um einen Blick in die Katzenkiste zu werfen, wo die ganze Mannschaft glücklicherweise tief und fest schlief. „Ich bin auf ein Problem gestoßen, das ich ohne eine Fahrt zum Baumarkt nicht beheben kann. Also bin ich für heute fertig.“

„Die Vorwarnung weiß ich zu schätzen.“ Sie schaute auf die Uhr. Es war nach drei. Verdammt. Sie hatte Mel Brannigan versprochen, in ihrer Boutique vorbeizukommen, um Kleider abzuholen. „Ehrlich gesagt muss ich selbst noch was erledigen. Dann seh ich dich morgen.“

Kurz nachdem Tony aufgebrochen war, fuhr sie auch in die Stadt. Mel wollte gerade den Laden zumachen, als Olivia auf sie zu eilte. Mel ließ sie herein und schloss hinter ihnen ab. Die Kleider hatte sie schon verpackt.

„Ich denke, das Material wird dir gefallen“, sagte sie und zog eine Ecke gelben Kattun heraus, damit Olivia ihn anfassen konnte. Der Stoff war extraweich.

„Oh, das ist wirklich angenehm. Danke, dass du an mich gedacht hast.“

Mel winkte ab. „Das ist nicht nur mein Job, so macht man das hier. Du weißt doch, wie das in einer Kleinstadt ist.“

Olivia nickte. Sie bezahlte die Kleider und verließ den Laden mit dem Versprechen, bald mit Mel einen Kaffee trinken zu gehen. Weil sie immer noch die Website fertigmachen musste, beschloss sie, sich im Chalet eine Calzone zu holen.

In der Pizzeria war nicht viel los. Sie winkte Jesse zu, der hinter der Bar stand.

„Was kann ich für dich tun, Liv?“

„Ich hätte gerne eine Calzone zum Mitnehmen, mit extra Sauce und einem Salat.“

Sie setzte sich an die Bar. Während sie auf ihr Essen wartete, ging sie ihr Handy durch.

„Olivia?“ Sie fuhr herum. Tony sah so überrascht aus, wie sie sich fühlte.

„Tony … äh, hi.“ Bevor sie mehr sagen konnten, kam Jesse mit zwei braunen Papiertüten zurück. Eine stellte er vor Olivia ab, die andere vor Tony.

„Baguette mit Hackfleischbällchen und Chicken Wings, richtig?“ Tony nickte und bezahlte. Er warf Olivia einen Blick zu.

„Sieht aus, als ob wir die gleichen Pläne fürs Abendessen haben – einsam und allein Takeout zu essen.“

Jesse zeigte zur Tür. „Wir haben Picknicktische da draußen. Da könnt ihr zusammen essen.“

Er ging ans andere Ende der Bar, um einem anderen Gast ein Bier einzuschenken, während Tony und Olivia sich anstarrten. Die logische Entscheidung wäre, nach Hause zu fahren.

Tony sah aus, als ob er dieser Meinung wäre. Doch dann sagte er: „Es ist ein schöner Abend. Ich hätte nichts dagegen.“

„Du willst, dass wir zusammen essen?“

„Entweder wir essen zusammen oder jeder allein. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich hab das allmählich satt.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Ist doch nur eine Mahlzeit. Und wir haben schon bezahlt. Also ist das kein Date oder so.“

„Sicher. Warum nicht?“

Tony hatte den Vorschlag gemacht. Aber jetzt wirkte er überrascht, dass sie darauf eingegangen war. Er holte noch zwei Wasserflaschen, dann hielt er ihr die Tür auf.

Ja, hat mich auch überrascht, aber nun ist es halt mal so.

Tony hätte sich ohrfeigen können. So verwischte man die Grenze zwischen Kunde und Handwerker. Also war das ein Fehler.

Als sie die Tische erreichten, erkannte er, dass man von dort eine schöne Sicht auf den See hatte. Aber der Ausblick war nicht so schön wie Olivias Anblick, als sie ihren Rock raffte, um sich auf die Bank zu setzen.

Oh ja. Dieses Essen war ein Fehler. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er setzte sich ihr gegenüber.

Als sie anfingen zu essen, herrschte bleiernes Schweigen. Es war ja auch nicht so, als ob sie irgendetwas gemeinsam hatten, abgesehen von Olivias Haus.

Dann fing Olivia an zu kichern. Ihr Lachen passte zu ihr. Leicht. Ehrlich. „Ich hab zuerst gar nicht daran gedacht. Aber du bist Italiener, aus der Großstadt. Und hier sitzen wir in einer Kleinstadtpizzeria. Deine Eltern wären schockiert.“

„Meine Eltern sind tot.“ Das sagte er, so sanft er konnte. „Ich habe sie verloren, als ich zehn war. Aber meiner Nonna würde dieses Essen gefallen – die kochen gut hier.“

Nonna Vello würde Olivia wahrscheinlich mögen. Das war eine überraschende Erkenntnis. Nonna mochte nicht viele der Frauen, die er in der Vergangenheit mit nach Hause gebracht hatte.

„Tony? Alles okay?“ Olivias Stimme unterbrach seine Gedankengänge.

„Was? Ja, warum?“ Er nahm einen Bissen von seinem Sandwich.

„Äh… weil ich dich zweimal gefragt habe, ob du was von meiner Sauce willst. Und du hast nur deinen Teller angestarrt, statt zu antworten.“

„Oh. Tut mir leid.“ Er schaute seine Gabel an und grinste. „Dieses köstliche Mahl hat mich hypnotisiert.“

Olivia rollte die Augen. „Ja, klar. Also, willst du noch mehr Sauce?“

„Nein, danke.“

Sie griff nach ihrer Wasserflasche, und die Flasche kippte. Sie machte eine schnelle Bewegung, um sie aufzufangen. Dann zuckte sie zusammen und schnappte nach Luft.

„Deine Verletzung?“

„Ja.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr zurück. „Alles gut.“

„Ein Autounfall, richtig?“

Sie sah ihn unverwandt an. „Das ist kein Gesprächsthema fürs Essen.“

„Okay.“ Eine Weile aßen sie schweigend. Dann legte Olivia ihre Gabel hin.

„Tut mir leid. Das war unhöflich.“ Sie seufzte. „Ja, es war ein Autounfall.“ Jetzt sprach sie schneller. „Ein betrunkener Fahrer ist frontal mit uns zusammengestoßen. Ich war lange im Krankenhaus. Das … das hat mein Leben verändert.“

Ihre Wangen hatten die Farbe verloren. Sie hatte nur gesagt, dass sie im Krankenhaus war. Wenn jemand gestorben war …

Also, er wusste genau, wie sich das anfühlte.

„Das tut mir so leid.“ Zeit für einen Themawechsel. „Also, sag mir, was dir an Gallant Lake am besten gefällt.“

Ihr Mund zuckte, bis sie lächelte. „Abgesehen vom Chalet? Geschickter Themawechsel.“

Dann erzählte sie ihm, was sie in der Stadt so alles mochte. Die Lamafarm. Den Ahornsirupstand. Die griechische Bäckerei, die Tony ziemlich regelmäßig besuchte.

„Aber ganz ehrlich“, sagte sie. „Das Beste an Gallant Lake sind die Leute hier. Sie haben alle so ein verdammt gutes Herz. Sie sind großartige Freunde. Und das sage ich als jemand, der nicht so leicht Freunde findet.“

Das konnte er nicht unkommentiert lassen. „Warum nicht?“

Olivia zögerte nur kurz. „Früher hatte ich viele Freunde. Aber das war vor dem Unfall. Meine beste Freundin ist ums Leben gekommen. Viele andere haben sich zurückgezogen, als ich im Krankenhaus war. Mein Verlobter auch.“ Eine Brise wehte ihr immer wieder das blonde Haar ins Gesicht. „Aber genug davon. Warum bist du in Gallant Lake und nicht auf einem Wolkenkratzer? Ist das nicht eigentlich dein Ding? Du bist doch kein Mafioso, der sich vor dem Gesetz versteckt, oder?“

Wieder einmal stellte sie unter Beweis, dass sie nicht so sanft war, wie sie oft wirkte. Diese Frau war clever.

„Weil alle Italiener Mafiosi sein müssen?“ Sie setzte zu einer Entschuldigung an, aber er unterbrach sie. „Ich weiß, das hast du nicht so gemeint. Ich wiegle nur schon wieder ab.“ Er biss sich auf die Lippe. Er wusste, dass es nicht einfach für sie gewesen war, so viel preiszugeben. Er sollte wenigstens versuchen, ein paar Fragen zu beantworten.

„Du bist nicht die Einzige, die … einen Unfall hatte“, sagte er langsam. „Das war auf einer Baustelle. Ein Mann ist gestorben.“

„Das tut mir so leid …“ Sie hauchte die Worte. Ja, ihm tat es auch leid. Aber das brachte Tim Murphy nicht zurück. Er setzte sich aufrechter hin.

„Ich werde ins Familienunternehmen zurückkehren. Aber ich äh… habe eine Pause gebraucht.“ Um auszunüchtern. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, weil ihr Handwerker ein Alkoholiker war. Also ließ er diesen Teil der Geschichte aus. „Ich bin durch Zufall in Gallant Lake gelandet, habe Bobby kennengelernt und beschlossen, hier ein paar Aufträge zu übernehmen, bevor ich zurückgehe. Ein Onkel von mir baut Häuser in New Jersey, da habe ich mir die ersten Sporen als Handwerker verdient.“ Plötzlich erschöpft, ließ er die Schultern sinken. „So läuft das. In der Stadt arbeite ich für einen anderen Onkel. Onkel Rocco und Tante Mary haben mich großgezogen, nachdem meine Eltern gestorben sind.“

Tony konnte sich nicht mal vorstellen, was für einen Aufruhr es geben würde, wenn er Rocco Vello eröffnete, dass er Vello Brothers Construction den Rücken kehrte. Seine Familie akzeptierte ja kaum, dass er eine Auszeit genommen hatte, um sein Leben wieder auf die Reihe zu bringen.

„Und jetzt macht er das schon wieder. Ist mit den Gedanken ganz woanders.“ Olivia lachte leise, während sie ihren Essenskarton zusammenfaltete.

Er blinzelte. „Verdammt. Tut mir leid. Aber es war schön, Gesellschaft zu haben. Auch wenn ich irgendwie die Stimmung verdorben habe.“

„Wir hatten beide traurige Geschichten zu erzählen.“ Sie lächelte, während er auch seinen Abfall einsammelte. „Aber ja, es war schön.“

Über ihnen drehte sich ein Habicht im Wind, und sie blieben stehen, um ihn zu beobachten. Eigentlich war es Olivia, die den Vogel beobachtete, während er Olivia ansah. Sie hatte das Gesicht dem Himmel zugewandt, und die Abendsonne ließ ihre Haut so golden schimmern wie ihr Haar. Im Hintergrund glitzerte Gallant Lake. Die Wellen reflektierten das Sonnenlicht und ließen die Berge erglühen.

An diesen Anblick könnte er sich gewöhnen.

Wie bitte was?

Nein, nein, nein. Tony Vello machte kein Picknick am Seeufer mit Frauen in langen Kleidern, die Hühner hielten und Pferde hatten. Von Kätzchen ganz zu schweigen. Das war nicht sein wirkliches Leben. Er würde nach New York zurückkehren. Er ging zu seinem Truck. Auf einmal war er wütend … auf irgendwas. Auf alles.

„Dann seh ich dich morgen.“ Den Abschied brüllte er ihr beinahe zu.

„Äh… okay. Tschüs.“ Sie hörte sich verwirrt an. Aber er schaffte es, sich nicht umzusehen, als er losfuhr. Als ob er auf der Flucht war.

Das machte er oft in letzter Zeit.

Am nächsten Morgen stöhnte Olivia, als sie in ihren Truck stieg. Dr. Jupta hatte sie hart rangenommen, um ihre Beweglichkeit im Vergleich zum Vorjahr zu überprüfen.

Der Arzt war freundlich, aber ehrlich gewesen. „Olivia, Sie haben ein beeindruckendes Niveau erreicht. Aber besser wird es wahrscheinlich nicht. In Anbetracht der Verletzungen grenzt es an ein Wunder, dass Sie sich im Bereich von neunzig Prozent bewegen. Sie sollten stolz sein.“

Und das war sie auch. Aber der Gedanke, sich mit weniger als Perfektion zufriedengeben zu müssen, war frustrierend. Sie seufzte. Diese ehrgeizige Frau, die immer die Beste sein musste, das war ihr früheres Ich. Die Frau, die den perfekten Job gefunden, den perfekten Mann kennengelernt und die perfekte Hochzeit geplant hatte. Klar, hin und wieder hatte sie Gegenwind bekommen. Aber sie war immer eine Siegerin gewesen.

Bis sie sich mit Umständen konfrontiert sah, bei denen man nicht gewinnen konnte. Verbogenes Metall und Feuer. Eine tote Freundin. Ein Verlobter, der doch nicht so perfekt war. Eine abgesagte Hochzeit. Krankenhaus, Operationen und Physiotherapie.

Besser wird’s nicht …

Die alte Olivia hätte aufbegehrt. Die neue Olivia hatte gelernt, pragmatischer zu sein.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatte Zeit für eine schnelle Dusche. Sie sollte auch noch eine halbe Stunde mit den Kätzchen spielen, bevor Tony auftauchte.

Besser wird’s nicht …

Sie hatte viel verloren, das stimmte. Aber sie war dabei, sich hier ein Leben aufzubauen. Und es war ein gutes Leben. Oder gut genug, wenigstens.

Nach der Dusche ging sie ins Büro und ließ die Kätzchen aus dem Gehege. Es war keine Überraschung, dass Ross es als Erster die Treppe hinaufschaffte. Die anderen folgten ihm. Oben konnten sie nicht viel anstellen, also setzte Olivia sich hin und ging ihre E-Mails durch – nichts Dringendes. Dann nahm sie sich ein Mineralwasser und warf einen Blick auf ihren Arbeitsplan. Fünfzehn Minuten vergingen, bevor ihr einfiel, dass die Kätzchen frei herumliefen. Und es war verdächtig still.

Also ging sie auf die Suche nach ihnen. Aus ihrem Schlafzimmer hörte sie ein leises Miau.

Chandler und Rachel waren die einzigen Kätzchen, die sie auf den ersten Blick entdeckte. Sie bückte sich, um unter dem Bett nachzusehen. So spürte sie Monica auf. Sie konnte aber immer noch leises Maunzen hören. Aber das obere Stockwerk war ein einziger, offener Raum, und sie konnte keine Kätzchen finden. Dann bemerkte sie das lose Fliegengitter an dem offenen Fenster über ihrem Bett. Die Kätzchen konnten doch unmöglich …

Miau. Miau. Miau.

Die Schreie kamen von draußen. Ihr sank das Herz. Sie mussten einen Weg gefunden haben, aufs Fensterbrett zu springen und sich durch den Riss im Fliegengitter zu zwängen. Kleine Teufel. Sie kniete sich aufs Bett und schaute hinaus aufs Verandadach. Und tatsächlich, da waren die drei verlorenen Kätzchen und spazierten auf dem Dach herum.

...

Autor

Synithia Williams
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Kathy Douglass
Als Tochter lesebegeisterter Eltern ist Kathy Douglass mit Büchern aufgewachsen und hat schon früh eins nach dem anderen verschlungen. Dann studierte sie Jura und tauschte Liebesgeschichten gegen Gesetzestexte ein. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder wurde aus der Liebe zum Lesen eine Liebe zum Schreiben. Jetzt schreibt Kathy die Kleinstadt-Romances,...
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Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
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