Bianca Extra Band 19

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MEIN FEIND, DAS BABY UND ICH von PADE, VICTORIA
Jani will ein Baby bekommen - unverzüglich und ohne Ehemann! Bis sie den attraktiven Unternehmer Gideon Thatcher trifft. Der weckt in ihr ganz plötzlich den Wunsch, das große Abenteuer zu zweit anzupacken. Aber da gibt es ein Problem: Ihre Familien sind schon ewig verfeindet …

TRAUMMANN MIT GEHEIMNISSEN von DUARTE, JUDY
"Ich bin Peyton Johnson aus der Firmenzentrale." Als der sexy Fremde unerwartet in Megans Laden auftaucht, gerät erst ihr Job in Gefahr - und dann ihr Herz. Denn zwischen ihnen sprühen sofort sinnliche Funken. Aber ist der erfolgsverwöhnte Traummann wirklich ein einfacher Buchhalter?

FÜR IMMER WIR ZWEI von BAGWELL, STELLA
Johnny Chino hat Bridget geliebt und liebt sie immer noch. Als er sie jetzt wiedersieht, würde er sie am liebsten in seine Arme ziehen und nie mehr loslassen. Doch er muss sich zurückhalten! Damals wie heute trennen sie Welten. Und er könnte Bridget nie bieten, was sie verdient …

KÜSS NIEMALS DEINEN BESTEN FREUND von ROBARDS THOMPSON, NANCY
"Wir sind verlobt!" Bias bester Freund Aiden gibt sich spontan als ihr Zukünftiger aus.Angeblich nur, um sie nach einer katastrophalen Kurzaffäre mit einem Prominenten vor den Paparazzi zu schützen. Aber warum fällt sein gespielter Kuss dann so unglaublich leidenschaftlich aus?


  • Erscheinungstag 09.06.2015
  • Bandnummer 19
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732509
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Judy Duarte, Stella Bagwell, Nancy Robards Thompson

BIANCA EXTRA BAND 19

VICTORIA PADE

Mein Feind, das Baby und ich

Verlockend geschwungene Lippen, leuchtend blaue Augen: Die schöne Jani zieht den attraktiven Unternehmer Gideon Thatcher auf Anhieb in den Bann. Aber sie ist und bleibt eine Camden – und tabu für ihn!

JUDY DUARTE

Traummann mit Geheimnissen

Clay Jenkins alias Peyton Johnson würde der sexy Single Mom Megan gern näher kommen, am besten richtig nah … Doch wenn sie erst entdeckt, wer er wirklich ist, jagt sie ihn bestimmt sofort zum Teufel!

STELLA BAGWELL

Für immer wir zwei

„Kannst du zu mir kommen? Großmutter ist krank.“ Bridgets Gefühle geraten in Aufruhr, als ihr Ex Johnny Chino sich nach Jahren wieder meldet. Denn sie sehnt sich noch immer nach seiner Liebe …

NANCY ROBARDS THOMPSON

Küss niemals deinen besten Freund

Spontan behauptet Aiden, mit seiner besten Freundin Bia verlobt zu sein. Natürlich bloß, um sie vor den Paparazzi zu retten! Aber wenn er ehrlich ist, weckt sie auch heftiges Verlangen in ihm …

1. KAPITEL

Geschlagene zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten wartete January Camden, genannt Jani, an diesem Montagnachmittag bereits in ihrem Auto. Inzwischen war es halb sieben durch, und sie merkte, wie wenig es ihr zusagte, jemanden zu stalken.

Und doch musste sie Gideon Thatcher vor seinem Firmensitz auflauern.

Sie steckte das Buch, mit dem sie sich die Zeit vertrieben hatte, in ihre Hobo-Bag, denn mittlerweile war es zu dunkel zum Lesen geworden.

Es war Ende Januar – ihr Geburtsmonat, nach dem sie benannt war. Tagsüber hatte mildes frühlingshaftes Wetter geherrscht, doch mit Einbruch der Dunkelheit wurde es empfindlich kalt. Deshalb startete Jani den Motor und stellte die Heizung an.

Wie lange arbeitet der Typ eigentlich noch?

Sie wusste, dass Mr Thatcher sich noch immer in seinem Büro aufhielt. Bei ihrer Ankunft in der Innenstadt von Denver hatte sie sich vergewissert, dass der Backsteinbau aus der Jahrhundertwende keinen Hinterausgang aufwies. Dann hatte sie zwei Wagenlängen vom Eingang entfernt eingeparkt und durch einen Anruf in der Chefetage erfahren, dass der Boss zwar anwesend, aber nicht zu sprechen sei.

Seitdem saß sie auf der Lauer. Da ihr sein Gesicht von Fotos auf seiner Website und in einem Zeitungsartikel vertraut war, konnte er nicht unbemerkt an ihr vorbeigeschlüpft sein.

Durch jenen Zeitungsartikel war Georgianna Camden, Janis fünfundsiebzigjährige Großmutter, auf ihn aufmerksam geworden und hatte erfahren, dass er der Inhaber der Thatcher Group war – einem Privatunternehmen, das sich mit Städteplanung beschäftigte. Daraufhin hatte sie ihn in ihr groß angelegtes Projekt aufgenommen, das auf Wiedergutmachung früherer Verfehlungen der Camdens abzielte.

Der Familie gehörte die Megamarkt-Kette Camden Incorporated – ein weltweites Imperium, zu dem auch unzählige Produktionsstätten und Zulieferbetriebe zählten. Gegründet von H. J. Camden.

Einem fürsorglichen Familienmenschen, den sämtliche Angehörigen lieb hatten.

Leider hatte er sich auf dem geschäftlichen Sektor ganz anders verhalten als zu Hause.

Schon immer war über seine Skrupellosigkeit beim Aufbau des Unternehmens gemunkelt worden. Lange Zeit hatte die Familie gehofft, dass es sich um unhaltbares Gerede handelte.

Doch dann waren die Tagebücher des H. J. aufgetaucht und hatten die schlimmsten Gerüchte über seine Geschäftsgebaren bestätigt.

Daher hatte Georgianna seine zehn Urenkel mit der Mission ausgesandt, die am schlimmsten betroffenen Opfer und deren Familien auf bestmögliche Weise zu entschädigen.

Jani seufzte tief. Dieser Mr Thatcher machte es ihr wirklich nicht leicht. Er war nicht auf ihre Bitten um ein Treffen eingegangen und hatte weder ihre Sprachmitteilungen noch E-Mails oder Briefe beantwortet. Daher wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen, als ihn vor seiner Firma abzupassen und ein Gespräch zu erzwingen. Im Grunde genommen stalkte sie ihn.

Sie schlüpfte in ihren blauen Wollmantel, schloss den Reißverschluss und murmelte vor sich hin: „Komm schon, mach für heute Feierabend!“

Nichts dergleichen geschah. Gelangweilt und ungeduldig zugleich holte sie Lipgloss aus der Handtasche und reckte sich zum Rückspiegel. Sie zog die Lippen nach und schürzte sie, weil ihr Mund für ihren Geschmack ein bisschen zu breit geraten war. Dann prüfte sie kritisch ihr Gesicht.

Mascara betonte die für die Camdens typischen strahlend blauen Augen. Auf den ausgeprägten Wangen leuchtete noch das Rouge, das sie am Morgen aufgelegt hatte. Die hohe Stirn, die gerade Nase und das etwas spitz geratene Kinn mussten allerdings nachgepudert werden.

Die dichten schwarzen Locken, die ihr weit über die Schultern fielen, sahen etwas zottelig aus. Jani bürstete sie durch und schüttelte den Kopf, damit sie ihr ins Gesicht fielen. So pflegte sie es zu handhaben, seit Larry Driskel in der sechsten Klasse ihre Nase für zu lang und schmal befunden hatte. Sie fühlte sich einfach selbstsicherer, wenn ihr Haar als Vorhang zwischen ihr und der Welt diente – obwohl ihre Großmutter ihr Gesicht für zu hübsch hielt, um es zu verstecken.

Die bevorstehende Begegnung erforderte viel Selbstvertrauen. Es war eine beunruhigende Vorstellung, jemanden, der den Camdens feindlich gesinnt war, zu einem Treffen zu zwingen.

Doch Janis optimistische Ader ließ sie hoffen, dass er ihr Anliegen bisher aus ganz anderen Gründen abgelehnt hatte. Vielleicht aus Zeitmangel. Oder weil es für ihn nicht von Bedeutung war, was H. J. Camden seiner Familie vor Jahrzehnten angetan hatte. Um jedoch wirklich fest daran zu glauben, dazu reichte ihr Optimismus allerdings doch nicht aus.

Sie atmete tief durch, stellte den Motor ab und nahm sich vor, noch bis sieben Uhr zu warten. Sollte der ominöse Mr Thatcher sich bis dahin nicht blicken lassen, wollte sie sein Büro stürmen.

Kaum hatte sie sich zu diesem Entschluss durchgerungen, öffnete sich die schwere Mahagonitür des Gebäudes, und der Mann höchstpersönlich kam heraus.

Sie erkannte ihn von den Fotos, stellte aber auf den ersten Blick fest, dass keines ihm gerecht wurde. Weshalb sie unwillkürlich ein verblüfftes „Wow“ ausstieß, reglos sitzen blieb und zu ihm hinüberstarrte.

Gideon Thatcher war hochgewachsen und breitschultrig. Er wirkte sehr imposant in seinem schwarzen Mantel und dem teuren ledernen Aktenkoffer in einer Hand. Sogar aus der Ferne war zu erkennen, dass er ungewöhnlich gut aussah.

Der Schein einer Straßenlaterne fiel auf sein goldbraunes Haar. Er trug es an den Seiten kurz, etwas länger oben und gewollt zerzaust. Und obwohl Jani zu weit entfernt war, um die Gesichtszüge eingehender zu betrachten, wirkte der Gesamteindruck so attraktiv, dass ihr unwillkürlich der Mund ein wenig offen stand.

Während sie ihn verblüfft anstarrte, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im Gebäude. Zum Glück für sie, denn sie hätte sich ihm längst nähern sollen, anstatt noch immer wie angewurzelt im Auto zu sitzen.

Da er jeden Moment wieder auftauchen konnte, stieg sie eilig aus und stellte sich an den Fuß der sieben Steinstufen, die zum Eingang führten.

Und schon öffnete sich die Tür erneut, und er kam zum zweiten Mal heraus.

„Mr Thatcher?“, fragte sie leichthin.

Abrupt blieb er stehen. Sie waren sich nie begegnet, daher konnte er sie nicht erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde musterte er sie abschätzig. Dann lächelte er reserviert – mit geschlossenen Lippen, aber hochgezogenen Mundwinkeln. Seine Augenbrauen hoben sich anerkennend.

Die schmeichelhafte Beachtung löste einen Anflug von Genugtuung bei Jani aus, zumal ihr schon seit einer ganzen Weile nicht so viel Interesse entgegengebracht worden war – erst recht nicht von einem so attraktiven Mann.

Er hatte eine hohe Stirn und durchdringende Augen, deren Farbe sie nicht erkennen konnte. Seine Nase war kühn und gerade, seine Kieferpartie markant, und sein eckiges Kinn wies ein verwegenes Grübchen auf.

„Ja, ich bin Gideon Thatcher“, bestätigte er, während er die Stufen hinunterging.

Er überragte Jani um gut dreißig Zentimeter, und nun sah sie, dass seine Augen grün waren. Von einem faszinierenden schillernden Meergrün.

„Ich bin January Camden …“

Mehr brauchte es nicht, um alles zu ändern.

Die faszinierenden meergrünen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen; das attraktive Gesicht wirkte abrupt feindselig.

Sie gab vor, nichts davon zu bemerken. „Ich habe versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen und …“

„Ich weiß nicht, warum Sie hier sind, und es interessiert mich nicht“, unterbrach er sie mit tiefer Stimme. „Ich habe keinem Camden etwas zu sagen, wo und wann auch immer.“

Nicht gerade ein warmherziger Empfang, durchfuhr es sie. Warum hast du mir das bloß eingebrockt, GiGi?

Das hätte sie gern von ihrer Großmutter gewusst. Andererseits war sie im Camden-Konzern für Public Relations und Marketing zuständig. Zu ihren Aufgaben zählte es, verärgerte Kunden zu beschwichtigen und ihnen gegenüber Ruhe zu bewahren. „Wenn Sie nur ein paar Minuten für mich erübrigen könnten …“

„Was immer die Camdens in der Hinterhand haben, interessiert mich nicht. Ganz egal, in welch hübscher Verpackung sie es mir auch schicken, um mich in Versuchung zu führen.“

Jani brauchte den Bruchteil einer Sekunde, um zu erkennen, dass er von ihr sprach. Dass er ihr – auf eine merkwürdige Art – ein Kompliment machte.

Genau diesen Moment der Verwirrung nutzte Mr Thatcher und machte einen Bogen um sie.

„Bitte geben Sie mir nur eine Minute!“, rief sie und schickte sich an, ihm nachzulaufen. Leider verfing sich der Schulterriemen ihrer Tasche am Treppengeländer und zerriss. Die Tasche fiel zu Boden; der gesamte Inhalt purzelte auf den Bürgersteig und sogar unter ein Auto, das am Straßenrand parkte.

Jani stöhnte laut.

Mr Thatcher blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Während sie ihre Habseligkeiten einsammelte, murmelte er mit finsterer Miene etwas vor sich hin. Doch anstatt weiterzugehen, kehrte er zu ihr zurück und half ihr.

Sie hob Brieftasche, Handy und einige andere persönliche Gegenstände auf.

Er trat an den Kantstein und beugte sich weit hinunter, um hervorzuholen, was unter das Auto gerutscht war.

Babywunsch – so hieß die Lektüre, mit der Jani sich die Wartezeit vertrieben hatte. Der Titel war in riesigen schwarzen Lettern gedruckt und ihr in der Buchhandlung sofort ins Auge gesprungen.

Mr Thatcher musterte den Einband, bevor er ihr das Buch reichte.

„Danke.“ Sie stopfte es schnell in die Handtasche. Das Thema der Lektüre war ihr peinlich, aber sie war nicht bereit, darüber mit Mr Thatcher zu sprechen. Dennoch wollte sie die günstige Gelegenheit nutzen, die sich durch das kleine Malheur ergeben hatte. Es war, als hätte das Schicksal ihr eine zweite Chance gewährt, um ihr Anliegen vorzubringen. „Wir haben in der Zeitung gelesen, dass Sie Lakeview neu gestalten werden, und möchten einen Park im Namen Ihres Urgroßvaters finanzieren.“

Reglos, fassungslos starrte er sie an. Dann schüttelte er den Kopf und stieß ein höhnisches Schnauben aus. „Mein Urgroßvater wurde von H. J. Camden ausgenutzt und verraten!“, rief er aufgebracht. „Der Name Thatcher wurde in den Schmutz gezogen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich als ein Thatcher alles anstellen musste, um dieses Projekt von der Stadtverwaltung zu bekommen. Und jetzt tauchen Sie auf und bilden sich ein, dass ein winziger Park alles wiedergutmachen könnte?“

„H. J. und Ihr Urgroßvater waren fünfzehn Jahre lang gute Freunde. Ich weiß, dass sie sich zerstritten hatten, aber es lag nicht nur an H. J. Er wollte seine Versprechungen halten.“

„Er selbst hat für niemanden etwas getan außer für sich selbst.“

Das konnte Jani nicht abstreiten. Und angesichts der Verachtung und des Grolls auf seinem Gesicht bezweifelte sie, dass sie Mr Thatcher etwas anzubieten hatte, das seine Feindseligkeit zu mildern vermochte.

Doch die Familie hatte sich vorgenommen, die Auswirkungen von H. J.s Verhalten aufzudecken, und dazu musste Jani zu Gideon Thatcher vordringen. Sie reckte stolz das Kinn vor. „Wenn kein Park, was dann?“

„Sie machen wohl Witze! Glauben Sie im Ernst, dass es irgendetwas gibt, das wiedergutmachen könnte, was H. J. Camden meiner Familie angetan hat?“

„Ich glaube, dass Sie die Angelegenheit nur aus Ihrer persönlichen Sichtweise betrachten und andere Fakten außer Acht lassen. Mein Urgroßvater litt unter dem Verlust der Freundschaft mit Ihrem Urgroßvater. Er bedauerte, dass aus Lakeview statt der geplanten wunderschönen Vorstadt ein Gewerbegebiet wurde. Und da Sie jetzt anscheinend vieles von dem verwirklichen, was damals leider versäumt wurde, hätte H. J. gewollt, dass Ihr Urgroßvater im Rahmen dieses Projekts geehrt wird.“

„In symbolischer Form – wie mit einem lausigen Park?“

„In dem Zeitungsartikel haben Sie etwas von einem Park in Lakeview erwähnt“, fuhr Jani fort. „Allein aus diesem Grund unterbreiten wir Ihnen diesen Vorschlag. Wenn Sie etwas anderes wünschen, das den Namen Thatcher tragen soll, können wir natürlich darüber reden.“

„Ach so, können wir das?“, hakte er sarkastisch nach. „Die mächtigen Camdens würden sich gnädigerweise dazu herablassen?“

So hatte Jani es nicht gesagt und ganz gewiss nicht gemeint. „Mr Thatcher …“

„Gideon“, korrigierte er, als wäre die formelle Anrede eine große Beleidigung.

„Also gut, Gideon. Wir wollen tun, was wir können, um dazu beizutragen, dass Lakeview endlich zu dem wird, was es längst hätte werden sollen. Und wir möchten es im Namen Ihres Urgroßvaters tun.“

„Im Namen der Camdens würde ich es sicher nicht zulassen.“

„In welcher Form auch immer wir tätig werden, es kann anonym bleiben. Wir sind nicht auf Anerkennung aus.“

„Die werden Sie auch nicht bekommen.“

Sein Groll gegen uns sitzt wirklich tief, dachte sie. Die Mission Wiedergutmachung war für ihren Bruder Cade wesentlich erfolgreicher ausgefallen. Bei der Erfüllung seines Auftrags vor einigen Monaten hatte er die Liebe seines Lebens gefunden.

Jani dagegen fand sich einem Mann gegenüber, der sie schief ansah und allein bei der Erwähnung ihres Familiennamens in Rage geriet. Dabei hatte sie viel wichtigere Ziele, die sie endlich verwirklichen wollte.

Doch sie war wie ihre Brüder und Cousins ihrer Großmutter, die sie alle großgezogen hatte, treu ergeben. Und ihre Großmutter hatte sie in die Pflicht genommen. Alle. Und die Mission Wiedergutmachung an den Opfern von H. J. ging nun einmal vor. „Wir wollen keine Anerkennung. Wir möchten nur dazu beitragen, dass Ihr Urgroßvater geehrt wird – auf jede Weise, die Sie für angemessen halten.“

Gideon starrte sie eindringlich an, als wollte er ergründen, welche Absichten sich in Wirklichkeit hinter ihrem Angebot verbargen.

Aber es gab nichts zu durchschauen, denn ihre Ausführungen entsprachen der Wahrheit. „Bitte denken Sie wenigstens darüber nach. Es soll alles zu Ihren Bedingungen ablaufen.“

Er kniff die Augen zusammen. Offensichtlich war er nicht überzeugt. Doch schließlich gab er nach. „Na schön.“

Insgeheim atmete Jani auf. Sie holte einen Stift und eine Visitenkarte aus der Tasche. „Da stehen sämtliche Telefonnummern, unter denen ich zu erreichen bin – bei Tag und bei Nacht, wann immer es Ihnen passt.“

Er nahm die Karte mit großer kräftiger Hand, die sehr sexy auf Jani wirkte, auch wenn sie nicht definieren konnte, was eine sexy Hand war.

„January Camden“, las er laut.

„Sie dürfen mich Jani nennen, wie alle meine Freunde und Angehörigen.“

Er sah ihr mit diesen schillernden grünen Augen ins Gesicht. Die Feindseligkeit war verschwunden, doch sein Blick wirkte herausfordernd. „Es wird Ihnen noch leidtun, dass Sie an mich herangetreten sind, January. Falls ich beschließe, Ihr Reuegeld anzunehmen, wird es auf wesentlich mehr als einen Park hinauslaufen. Im Namen von Franklin Thatcher und der Gemeinde Lakeview werde ich dafür sorgen, dass es Ihnen unterm Strich richtig wehtut.“

Sie hielt den Kopf hocherhoben. „Es ist uns ernst, Ihren Großvater in einer Weise zu ehren, die Sie für angemessen halten. Ich hoffe, dass Sie sich bald bei mir melden.“

„Bald genug“, erwiderte er ominös.

Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Da Gideon weiterhin dastand und sie anstarrte, erschien es ihr angebracht, diese Begegnung von sich aus zu beenden. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“

Sie spielte mit dem Gedanken, sich wie nach einer gewöhnlichen geschäftlichen Besprechung mit einem Händedruck zu verabschieden. Doch im selben Moment wurde ihr klar, dass ihr die Vorstellung, körperlichen Kontakt zu ihm aufzunehmen, viel zu gut gefiel. Dass sie darauf brannte, die Hand zu spüren, die so sexy wirkte.

Lass den Quatsch, ermahnte Jani sich. „Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.“

„Mmh“, murmelte er und rührte sich nicht vom Fleck.

Vermutlich wollte er sich aus Höflichkeit überzeugen, dass sie unversehrt zu ihrem Auto gelangte. Es wirkte beunruhigend, dass sein Blick auf ihr ruhte, während sie den Schlüssel aus der Handtasche holte, die Tür aufschloss und sich ans Steuer setzte.

Noch verwirrender erschien ihr, dass Gideon sie weiterhin beobachtete, als sie den Motor startete. Argwohn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Keine Sorge, ich bin ein guter Mensch …

Das hätte sie ihn gern wissen lassen. Dabei war es völlig unwichtig, was er von ihr dachte. Sie handelte im Auftrag der Familie, mehr nicht. Sobald ihre Aufgabe erfüllt war, wollte sie sich ihren eigenen Plänen widmen und Gideon Thatcher vergessen.

Und doch …

Als sie sich in den Verkehr einreihte und sah, wie er sich abwandte und davonging, verspürte sie einen Anflug von Bedauern, dass so ein Mann sie aufgrund ihrer Herkunft verachtete.

So ein Mann …

Wie schön wäre es, wenn so ein Mann ganz anders auf sie reagiert hätte. Wenn vor Jahren so ein Mann in ihr Leben getreten wäre.

Denn so ein Mann und ich hätten wunderschöne Babys zusammen haben können …

Was für ein dummer Gedanke! Und der war ihr nur in den Sinn gekommen, weil sich bei ihr in letzter Zeit alles um Babys drehte. Ganz gewiss lag es nicht an Gideon Thatcher im Besonderen.

Auch wenn er so ein Mann ist …

„Du bist spät dran.“

„Entschuldige.“ Gideon setzte sich zu seinem besten Freund Jack Durnham an ihren Stammtisch im Café. „Scheußliche Nacht. Zu viele Dinge im Kopf. Bin erst um vier Uhr früh eingeschlafen und habe dann den Wecker überhört. Vielleicht merkt der Boss nichts, wenn wir uns mit den Mänteln über den Köpfen ins Büro schleichen.“

„Guter Plan, Boss“, erwiderte Jack lachend.

Die beiden waren schon seit Schulzeiten miteinander befreundet, waren zusammen aufs College gegangen und gegenseitige Trauzeugen. Streng genommen war Gideon der Vorgesetzte, aber er sah Jack, der bereits seit der Gründung der Thatcher Group mit an Bord und stellvertretender Geschäftsführer war, als ebenbürtigen Partner an.

Sobald beide ihr Frühstück bestellt hatten, wollte Jack wissen: „Was hat dich denn wach gehalten?“

„Das wirst du mir nicht glauben. Aber erzähl du zuerst. Wie ist das Wochenende mit Sammy gelaufen?“

Jack verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Nach der kürzlich vollzogenen Trennung von seiner Frau hatte er zum ersten Mal drei Tage mit seinem zweijährigen Sohn verbracht. „Nicht so gut. Ich verstehe nicht, warum Tiffany es mir so verdammt schwer macht. Schließlich wollte sie die Trennung, weil unsere Ehe ihrer Meinung nach stagnierte. Aber aus unerfindlichen Gründen werde ich bestraft.“

Er holte tief Luft und fuhr dann aufgebracht fort: „Zuerst hat sie sieben Wochen in Florida bei ihren Eltern verbracht, sodass ich Sammy gar nicht sehen konnte. Jetzt ist sie nach Colorado Springs gezogen und erpresst mich. Wenn ich Sammy in meiner Nähe haben will, muss ich für sie eine Wohnung hier in Denver bezahlen. Oder ich muss zwei Stunden Fahrt in Kauf nehmen, um ihn übers Wochenende zu mir zu holen, und dann wieder zwei Stunden am Ende der Besuchszeit.“

Nachsichtig erkundigte sich Gideon: „Wie ist es denn mit ihm gelaufen?“

„Du denkst wahrscheinlich, dass ich mich glücklich schätzen kann, Sammy überhaupt manchmal bei mir zu haben. Aber verdammt, es ist furchtbar! Nach der langen Trennung bin ich für ihn ein Fremder. Er hat sich an Tiffanys Beine geklammert und geheult, sobald er mich sah, und dann hat er die ganze Fahrt über geschmollt. Zu allem Überfluss hatte Tiffany ‚vergessen‘, seine Kuscheldecke einzupacken.“

„Auch das noch! Was immer den Kleinen beim Einschlafen hilft, sie müssen es unbedingt haben.“

„Stimmt. Obwohl er müde und quengelig war und mich dafür gehasst hat, dass ich ihn seiner Mutter weggenommen habe, musste ich ihn ins Auto verfrachten und drei Camden-Superstores abklappern, um eine Decke zu finden, die genau wie seine aussieht. Danach war er so übermüdet, dass er nur noch nach Tiffany verlangt hat.“

„Demnach ging es euch beiden schlecht.“

„Wir hatten uns gerade wieder ein bisschen aneinander gewöhnt, da musste ich ihn schon zurückbringen.“

Mitfühlend warf Gideon ein: „Das ist tatsächlich lausig.“

„Tut mir leid. Ich weiß ja, dass ich besser dran bin als du. Trotzdem stinkt’s mir.“

„Das kann ich verstehen.“

Das Frühstück wurde serviert.

„Aber genug von mir“, sagte Jack. „Jetzt sag mir, was dir letzte Nacht den Schlaf geraubt hat.“

„Apropos Camdens …“

„Ich weiß, wie du zu denen stehst, aber irgendwann müssen wir alle mal die Geschäfte aufsuchen, die sie reich gemacht haben. Sogar du.“

„Stimmt. Auch wenn ich mich dagegen wehre, lässt es sich hin und wieder im Notfall nicht vermeiden. Aber was hältst du von dem Angebot, Geld von den Camdens für das Projekt Lakeview zu bekommen?“

Jack verharrte mit einer Gabel voll Rührei auf halbem Weg zum Mund. „Was?“

„Als ich gestern Abend aus dem Büro kam, wartete eine heiße kleine Frau auf mich. January Camden. Die Familie will einen Park in Lakeview stiften. Im Namen meines Urgroßvaters. Um ihn zu ehren.“

„Reuegeld?“

„So habe ich es auch genannt.“

„Ich glaube die Geschichte zu kennen, bin mir aber nicht ganz sicher. Korrigier mich, wenn ich falschliege. H. J. Camden war mit deinem Urgroßvater, dem Bürgermeister von Lakeview, befreundet, richtig? Als Lakeview damals ein aussterbendes Bauerndorf bei Denver war, wollte Camden dort Lagerhallen und Fabriken errichten. Da diese Pläne in Lakeview jedoch auf Widerstand stießen, versprach er, eine wunderschöne gepflegte Vorstadt daraus zu machen. Moderne Häuser zu bauen, schicke kleine Geschäfte zu errichten, Schulen zu gründen und Parks anzulegen.“

„Ja, und damit sicherte er sich die Unterstützung meines Urgroßvaters“, warf Gideon ein. „Er benötigte eine angesehene Persönlichkeit an seiner Seite. Er brauchte Einfluss beim Stadtrat.“

„Den dein Urgroßvater als Bürgermeister besaß.“

„Und Lakeview vertraute seinem Bürgermeister und gab grünes Licht für den Bau der Fabriken und Lagerhallen.“

„Aber damit war die Sache für Camden erledigt. Sobald er seinen Kopf durchgesetzt hatte, war ihm der Rest egal.“

„Stimmt. Und die Schuld daran wurde meinem Urgroßvater in die Schuhe geschoben.“

„Und bis hin zu dir weitergereicht. Du bist den Camdens gegenüber aus gutem Grund so negativ eingestellt“, urteilte Jack. „Aber wieso warst du letzte Nacht wach? Hast du Rachepläne geschmiedet?“

„Ich habe eher all die Gründe durchgekaut, aus denen ich sie hasse“, erwiderte Gideon. Dass er ganz bewusst seinen Zorn geschürt hatte, um nicht von January ins Schwärmen zu geraten, verschwieg er lieber.

Bei der Begegnung vor seiner Firma war ihm als Erstes ihr espressofarbenes Haar im goldenen Schein der Straßenlaterne aufgefallen. Es fiel ihr in üppigen Locken weit über die Schultern und betonte ihren makellosen Teint, der ihn an frische Sahne erinnerte.

Dieses Bild vor seinem geistigen Auge hatte seinen Zorn gemildert. Ebenso wie die Erinnerung an hohe Wangen und an eine schmale lange Nase, die ihrem Gesicht einen Hauch von Exotik verlieh. An die vollen, geschwungenen Lippen, die äußerst verlockend aussahen. Oder an die Augen, die von einem intensiven Heidelbeerblau waren und ihn auf Anhieb in ihren Bann gezogen hatten.

Und schon war er wieder in die Erinnerungen versunken, die ihm in der vergangenen Nacht den Schlaf geraubt hatten. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nicht an Rache gedacht. Ich bin nicht besessen davon und will nicht mit den Camdens abrechnen. Aber ich will mich auch nicht mit ihnen einlassen.“

Wie kommst du denn auf diese Formulierung? Und warum hast du dabei wieder ein Bild von dieser verdammt attraktiven January vor Augen?

Das ist bloß eine Redewendung, sagte er sich. Dahinter steckte sicherlich keine verborgene tiefere Bedeutung.

Trotzdem war ihm um einiges wärmer geworden, und er zappelte unruhig auf seinem Stuhl umher, um der unliebsamen Reaktion seines Körpers entgegenzuwirken.

„Ich weiß, dass du dich niemals mit denen einlassen würdest. Aber würde eine Schenkung von ihnen denn darauf hinauslaufen?“

„Das weiß ich nicht.“ Gideon seufzte. „Mir gefällt die Idee, etwas Wertvollem und Nützlichem den Namen meines Urgroßvaters zu geben. Und die Camdens sind Lakeview etwas schuldig.“

„Also würdest du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“

„Gewissermaßen. Nur dass die Klappe den Camdens gehört und man denen nicht trauen kann, wie meine Familiengeschichte hinreichend beweist.“

Jack hatte seinen Teller geleert und trank jetzt einen Schluck Kaffee. „Glaubst du denn, dass es ein Trick ist?“

„Keine Ahnung. Sie hat gesagt, dass ich die Bedingungen bestimmen kann.“

„Dann ist es vielleicht ein ehrliches Angebot. Womöglich wollen sie einfach nur wiedergutmachen, was H. J. angerichtet hat.“

Gideon zuckte die Schultern.

„Sie befassen sich derzeit ernsthaft mit guten Taten“, gab Jack zu bedenken. „Sie stiften Krankenhausflügel und Bibliotheken, Forschungslabors und Tierheime. Über ihre großzügige Katastrophenhilfe haben sämtliche Medien berichtet. Ihr Name taucht heutzutage im Zusammenhang mit praktisch jeder wohltätigen Kampagne auf. Hältst du es für möglich, dass wir es mit einer geläuterten Generation von Camdens zu tun haben?“

„Geläutert?“, wiederholte Gideon skeptisch. „Das kaufe ich denen nicht ab. Auch wenn ich nicht auf Rache sinne, vergesse ich noch lange nicht, dass H. J. sich in Lakeview wie ein Wolf im Schafspelz aufführte.“

„Aber wenn Lakeview von der Stiftung profitiert und dazu dein Urgroßvater rehabilitiert wird, sind das doch positive Aspekte, oder?“

„Ich werde darüber nachdenken.“

Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte nach weiteren Wünschen.

Jack bestellte noch einen Kaffee.

Gideon lehnte dankend ab, beglich die Rechnung und erklärte Jack: „Ich zahle für dich mit, weil ich dich habe warten lassen. Aber du musst deinen Kaffee allein austrinken. Ich habe jetzt die Besprechung mit Lakeview Parks and Recreation.“

„Stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen. Wir sehen uns dann im Büro.“

„Mach dir keine Sorgen wegen Sammy. Er steckt nur in einer schwierigen Phase. Er ist und bleibt dein Sohn, und du hast jedes Recht, ihn zu sehen. Es wird sich alles klären.“

„Trotzdem wird es nie wieder wie früher sein.“

Gideon wusste, dass die Prognose zutraf. Also widersprach er nicht. „Bis später“, sagte er nur und ging.

Nur zu gut konnte er nachempfinden, was in seinem Freund vorging. Die alte Bekümmerung stieg in ihm hoch und dauerte an, bis er am Steuer seines SUV nach Lakeview unterwegs war. Während der Fahrt musste er wieder an January Camden denken.

Falls ich mich entscheide, ihr Angebot anzunehmen und somit nähere Verbindung zu den Camdens einzugehen, hätte ich es zumindest mit einer hübschen Ansprechpartnerin zu tun.

Man hatte ihm einen wahren Hingucker geschickt. Das musste er anerkennen. Zudem war sie in seiner Achtung gestiegen, weil sie seiner Feindseligkeit mit Bravour getrotzt hatte. Mit Fassung, Würde und Stil. All das zeichnete sie aus – und dazu eine ausgesprochene Schönheit.

Ja, diese January ist eine ganz besondere Frau, gestand er sich widerstrebend ein. Trotzdem ist und bleibt sie eine Camden.

Außerdem war sie höchstwahrscheinlich verheiratet, auch wenn er keinen Ehering an ihrem Finger gesehen hatte. Dem Buch nach zu urteilen, das aus ihrer Tasche gefallen war, befasste sie sich mit Babywünschen.

Dieser Gedanke entfachte erneut den alten Schmerz in Gideon. Plötzlich sah er nicht mehr January vor sich, sondern das kleine Mädchen, das er seine Tochter genannt hatte. Wenn auch nur für eine kleine Weile.

Meine kleine Jillie …

Selbst nach all der Zeit brachten die Erinnerungen ihn noch immer aus der Fassung.

Deshalb wollte er lieber an January als an Jillie denken. An alle Camdens. Er zog es vor, wütend statt sentimental zu sein.

Also konzentrier dich nur auf die Stiftung und die hinterhältigen Camdens. Nicht darauf, wie January aussieht oder auf dich wirkt. Denk nicht an ihre tiefblauen Augen. Nicht an ihr Privatleben. Nur an die Stiftung und die Frage, ob du das Angebot annehmen sollst oder nicht.

2. KAPITEL

„Bleibt ihr nicht zum Essen?“, wollte Jani von Margaret und Louie Haliburton wissen.

Die beiden arbeiteten für Georgianna, waren jedoch mehr als gewöhnliche Hausangestellte, denn sie wohnten auf dem Anwesen und zählten praktisch zur Familie. Sie hatten geholfen, die zehn Enkelkinder großzuziehen, und waren wichtige Bezugspersonen für alle Camdens.

„Nein“, erwiderte Margaret. „Louie führt mich zum Lunch aus. Ich würde ja gern sagen, dass er auf seine alten Tage romantisch geworden ist. Aber ich glaube eher, deine Großmutter hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt – als Entschuldigung, weil er unseren Hochzeitstag vergessen hat.“

„Stimmt ja gar nicht!“, widersprach er. „Das war meine eigene Idee.“

Georgianna lachte und riet ihm: „Führe sie lieber in ein schickes Restaurant und mach danach einen ausgiebigen Einkaufsbummel mit ihr, um dich wieder bei ihr einzuschmeicheln.“

Das Paar verabschiedete sich und ließ Großmutter und Enkelin allein am Esstisch zurück, der Platz für vierzehn Personen bot.

Zum Lunch gab es gegrillten Käse und Tomaten-Basilikum-Suppe. Sobald das Essen aufgetischt war, schnitt Jani das Thema an, das nur im engsten Familienkreis zur Sprache kam und nicht einmal Margaret und Louie anvertraut wurde.

Welche Missetaten H. J. auch begangen haben mochte, die Camdens mussten damit hinter dem Berg halten, weil Prominenz und Reichtum sie zur Zielscheibe von Medienhäme machten.

„Ich habe endlich mit Gideon Thatcher gesprochen.“

„Wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich Georgianna.

„Gar nicht gut. Auch wenn Jahrzehnte und zwei Generationen zwischen den leeren Versprechungen und heute liegen, hasst er uns genauso sehr, als wäre er höchstpersönlich von H. J. ausgenutzt worden.“

„Trotzdem musst du am Ball bleiben. Wir haben uns nun mal fest vorgenommen, die Leute zu beschwichtigen, die früher geschädigt wurden.“

„Ja, ich weiß. Aber vielleicht bin ich momentan nicht die geeignete Person dafür. Wo ich doch gerade alles für eine Schwangerschaft in die Wege geleitet und mit der Hormonbehandlung angefangen habe.“

Auf Georgiannas Gesicht, das noch immer von früherer Schönheit zeugte, trat unverhohlene Missbilligung. „Ich bin nach wie vor dagegen, dass du es auf Biegen oder Brechen durchziehen willst. Seit dir mit siebzehn der Blinddarm entfernt wurde und man dabei feststellte, dass du nur einen Eierstock hast …“

„Einen außergewöhnlich kleinen Eierstock“, warf Jani ein, „was bedeutet, dass meine Chancen auf eigene Kinder drastisch reduziert sind.“

„Ich weiß, dass du seitdem befürchtest, überhaupt keine Kinder bekommen zu können.“

„Weil die Ärzte mir klargemacht haben, welche Risiken bestehen. Vor allem, wenn ich zu lange warte. Je früher, desto besser, haben sie gesagt. Und jetzt bin ich schon dreißig geworden! Ich kann nicht länger warten, GiGi!“

„Probier mal den gegrillten Käse und sag mir, ob genug Knoblauch in der Soße ist.“

Jani wusste, dass die Aufforderung ein Ablenkungsmanöver war, damit sie sich nicht zu sehr aufregte. Aber es fiel ihr schwer, Ruhe zu bewahren. Bisher hatte sie folgende Ziele gehabt: den richtigen Mann suchen, heiraten und eine Familie gründen. Und zwar in dieser Reihenfolge!

Das war die Vorgehensweise, die ihre Großmutter billigte. Doch dieser Weg hatte in einer Sackgasse geendet und wertvolle Zeit gekostet.

Nun wollte Jani keine Zeit mehr verschwenden. Deshalb war sie entschlossen, die beiden ersten Schritte auszulassen. Weil sie es sich nicht leisten konnte, gründlich nach dem Richtigen zu suchen und dann auch noch die Monate oder gar Jahre abzuwarten, die eine Liebesbeziehung brauchte, um aufzublühen und sich zu entwickeln.

Daher wollte sie allein ein Baby bekommen. Unverzüglich. Ohne Ehemann. Obwohl es in Georgiannas Augen nicht nur unkonventionell, sondern geradezu skandalös war.

„Ich sage ja bloß, dass es vielleicht besser wäre, jemand anders auf Gideon Thatcher anzusetzen“, gab sie zu bedenken, „weil ich endlich schwanger werden will.“ Seltsamerweise verspürte sie Eifersucht bei der Vorstellung, dass eine ihrer Cousinen für sie einspringen könnte. Das war vollkommen unverständlich, doch genau dieses Gefühl veranlasste sie, hinzuzufügen: „Vielleicht wäre einer der Jungs geeigneter …“

Georgianna schüttelte den Kopf. „Das sehe ich anders. Falls du tatsächlich schwanger werden solltest …“

„Ich werde auf jeden Fall schwanger. Ich muss einfach. Es ist meine letzte Chance.“

„Ja, gut. Also, wenn du erst mal ganz allein schwanger bist und ganz allein ohne Ehemann zurechtkommen musst, dann ist der Zeitpunkt ungeeignet, um dich auf die Mission zu schicken. Und wenn das Baby da ist und du dich wiederum ganz allein darum kümmern musst, kann ich dich erst recht nicht bitten, deine Mutterpflichten zu vernachlässigen, oder?“

Georgiannas Verstand war selbst im Alter scharf geblieben. Wie eh und je war sie ihren Enkelkindern zumeist einen Schritt voraus. Offensichtlich hatte sie auch dieses Gespräch vorausgeahnt und sich triftige Gegenargumente zurechtgelegt. „Demnach ist jetzt der günstigste Zeitpunkt für dich, um die Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht sogar der einzig mögliche Zeitpunkt“, schloss sie.

Jani musste einfach lachen. „Okay, du hast gewonnen. Aber dieser Typ will sich nicht einfach mit einem Park im Namen seines Urgroßvaters zufriedengeben. Falls er uns überhaupt Wiedergutmachung leisten lässt, muss es in größerem Rahmen geschehen – wahrscheinlich in wesentlich größerem.“

„Gut. Finde heraus, wie viel Schaden H. J. angerichtet hat, und was wir für die Thatchers persönlich tun können. Was auch immer er verlangt, soll er bekommen.“

„Er will den Kopf eines Camden auf einem Silbertablett.“

Georgianna stand auf und ging zum Kühlschrank, um ihr leeres Wasserglas nachzufüllen. Auf dem Rückweg blieb sie am Tisch stehen, legte Jani einen Finger unter das Kinn und musterte das Gesicht, wie sie es früher bei dem kleinen Mädchen oft getan hatte. „Ich glaube nicht, dass irgendein Mann dir etwas Böses will, Liebes. Dazu bist du viel zu hübsch. Du machst mich alte Frau ganz neidisch.“

Lachend wehrte Jani ab: „Aber GiGi! Du hast immer gesagt, dass du zufrieden mit dir selbst bist. Hast du dir das anders überlegt? Liegt das vielleicht an deinem neuen alten Boyfriend?“

Im Rahmen der Wiedergutmachungen hatte Janis Bruder Cade einen Kontakt zwischen Georgianna und ihrer ersten Liebe Jonah Morrison hergestellt. Die beiden waren in der Highschool in Montana „miteinander gegangen“, hatten sich aber nach dem Examen getrennt und aus den Augen verloren. Mittlerweile waren beide verwitwet, lebten in Colorado und trafen sich häufig.

Mein neuer alter Boyfriend? So nennst du Jonah?“

„Das ist er doch. Oder etwa nicht?“

„Ich denke nicht, dass man einen Mann in seinem Alter Boyfriend nennen kann.“

Dein neuer alter Verehrer? Klingt das besser?“

„Kümmer du dich lieber um den Mann, auf den ich dich angesetzt habe, und mach dir keine Gedanken darüber, wie du Jonah nennen sollst.“

„Ich kümmere mich nie wieder um einen Mann – und schon gar nicht um den zornigen Gideon Thatcher“, entgegnete Jani. „Ich nähere mich ihm nur so weit wie nötig, um etwas über ihn und seine Familie in Erfahrung zu bringen, weil du es mir aufgetragen hast. Aber ganz bestimmt nicht mehr. Das kannst du nicht von mir verlangen.“

Georgianna setzte sich wieder auf die Bank. „Sieht er in Wirklichkeit auch so gut aus wie auf dem Foto in der Zeitung? Durch den Schutzhelm konnte man nicht alles sehen. Vielleicht hat er ja eine Glatze oder einen Eierkopf.“

Im Geiste sah Jani ihn deutlich vor sich. Das passierte ihr seit der Begegnung am Vorabend erschreckend häufig. „Nein, nein. Das Bild in der Zeitung wird ihm nicht gerecht. Er hat tolle Haare – irgendwie goldbraun.“

„Ist es sauber und ordentlich oder so zottelig wie bei deinem Verflossenen?“

„Du meinst Reggie? Nein, es ist sauber, aber nicht so ordentlich, dass es spießig wirkt.“

„Glatt rasiert oder ungepflegt?“

„Glatt rasiert.“ Sodass die ausgeprägte Kieferpartie und das verführerische Grübchen im Kinn deutlich zu sehen waren. Sein Gesicht war gerade markant genug, dass er nicht als hübsch bezeichnet werden konnte.

„Auf dem Foto sieht er sehr groß aus“, bemerkte Georgianna.

„Das ist er auch. Und breitschultrig.“ Bemerkenswert breitschultrig.

„Untersetzt oder schlank?“

„Schlank. Er hat kein Gramm Fett zu viel.“

„Also so dünn wie Reggie?“

„Aber nein! Er hatte einen Mantel an, aber soweit ich erkennen konnte, ist er sehr muskulös.“ Muskulös und maskulin …

„Und seine Augen? Welche Farbe?“

„Das wundervollste Grün, das ich je gesehen habe – ein schimmerndes Meergrün.“

Georgianna lächelte.

Plötzlich wurde Jani bewusst, dass sie in eine Falle getappt war. Um den Schaden zu begrenzen, behauptete sie: „Wie er aussieht, interessiert mich nicht. Von mir aus könnte er hässlich wie Quasimodo sein. Er ist einfach nur die Person, mit der ich mich abgeben muss, um meine Mission zu erfüllen. Ob männlich oder weiblich, attraktiv oder unansehnlich, das ist mir ganz egal.“

Georgianna lächelte noch immer. „Natürlich ist sein Aussehen unwichtig. Ich war nur neugierig.“

„Er hasst uns, GiGi“, gab Jani erneut zu bedenken und betonte dabei jedes einzelne Wort.

„Und genau das wollen wir ändern.“

„Seine Sekretärin hat mich heute Morgen angerufen. Ich soll ihn nach Feierabend auf einen Kaffee treffen. Was ist, wenn er unseren Vorschlag strikt ablehnt und nichts mehr mit mir zu tun haben will?“

„Dazu bräuchte er keine ganze Tasse Kaffee. Das hätte er dir am Telefon sagen oder durch seine Sekretärin ausrichten lassen können. Ich denke, es besteht Hoffnung, wenn er sich mit dir irgendwo treffen will.“

„Mag sein. Aber vielleicht will er bloß einen Scheck von uns und danach mich nie wiedersehen. Was dann?“

„Dann bring ihn dazu, es sich anders zu überlegen.“

Jani verdrehte die Augen. „Du hast gut reden!“ Mehr sagte sie nicht dazu, denn sie musste zurück an die Arbeit und räumte schnell den Tisch ab.

Dabei dachte sie an das bevorstehende Treffen am Abend und überlegte, ob es sich zeitlich einrichten ließ, schnell zu Hause vorbeizufahren und sich umzuziehen.

Am Morgen hatte sie nämlich noch nichts von dem Wiedersehen mit Gideon gewusst und sich daher alltäglich angezogen. Nun wünschte sie sich, die Hose zu tragen, die knalleng am Po saß. Und dazu die neue Bluse mit dem hohen Kragen und tiefen V-Ausschnitt.

Im Büro trug Jani nämlich nie aufreizende Kleidung. Wenn es jedoch um Gideon ging, war es ratsam, alle Waffen einzusetzen, die ihr zur Verfügung standen.

Natürlich nur um der Sache willen. Keineswegs, weil es mich interessiert, wie ich in seinen Augen aussehe …

Gideon verspätete sich, und Janis Füße taten höllisch weh.

Nach dem Lunch bei ihrer Großmutter hatte sie nicht nur die Kleidung, sondern auch die Schuhe gewechselt. Die spitzen Stilettos mit den superhohen Absätzen waren – genau wie die tiefrote Bluse mit dem tiefen Ausschnitt – nicht für die Arbeit gedacht. Aber sie sahen einfach fantastisch aus.

Zum Glück befand sich gleich neben dem vereinbarten Café ein Parkplatz, sodass der Fußweg nicht weit war. Allerdings war Gideon noch nicht da, weshalb Jani vor dem Eingang auf ihn wartete.

Stehenden Fußes! Schon seit einer geschlagenen halben Stunde!

Gerade als sie sich damit abzufinden versuchte, dass er nicht erscheinen würde, kam ein schnittiger kleiner Sportwagen angebraust und hielt neben ihrem Auto an.

War es ein Machtspiel für ihn, sie warten zu lassen? Eine Warnung, dass er es ihr schwer machen wollte?

Egal. Ich komme damit klar.

Mit seinem Aussehen klarzukommen, das stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Jani konnte nicht anders, als ihn anzustarren, während er sich dem Café näherte.

Er trug einen dunkelgrauen Anzug, der unverkennbar maßgeschneidert war und seine breiten Schultern, seine schmalen Hüften und seine langen Beine betonte.

Sein markantes Gesicht war glatt rasiert, die silbergraue Krawatte tadellos gebunden. Falls er tatsächlich ein Machtspiel im Sinn hatte, war er bestens dafür gekleidet, denn er strahlte Autorität aus.

Doch bei der Begrüßung überraschte Gideon mit einer Entschuldigung, die nicht einmal einen Anflug von Arroganz oder Genugtuung enthielt. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich hatte einen Termin bei einer Stadträtin aus Lakeview, die es nicht eilig hatte, die Besprechung zu beenden.“

Vielleicht hat die Stadträtin einfach den Anblick genossen …

Das tat Jani jedenfalls noch immer. Ganz unwillkürlich. „Kein Problem.“ Sie war erleichtert, dass er nicht absichtlich zu spät kam. Dennoch fiel ihr unangenehm auf, dass seine Haltung weiterhin distanziert und kein bisschen freundlich wirkte.

„Der Kaffee geht auf den Zuspätkommer“, verkündete er auf dem Weg zum Tresen, allerdings ohne eine Spur von Wärme in der Stimme. „Oder was immer Sie sonst möchten.“

Sie bestellte einen Latte macchiato, er einen Espresso. Sie trugen die Getränke zu einem Bistrotisch in einer Ecke.

Jani zog sich den knielangen Wollmantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Sie sah, dass Gideon sie eindringlich musterte und sichtlich unruhig wirkte. Sobald er merkte, dass sie ihn ertappt hatte, wandte er den Blick hastig ab.

Sie konnte sich nicht erklären, warum er sich so unwohl fühlte. Hoffentlich glaubte er nicht, dass sie ihn mit dem tiefen Ausschnitt, den Stilettos und der knallengen Hose verführen wollte.

„Dass Sie sich gemeldet haben, freut mich sehr“, eröffnete sie freundlich. „Ich hätte Sie auch während der Geschäftszeit getroffen, um Sie nicht von Ihrer Familie fernzuhalten.“ Ja, sie wollte ihn aushorchen. Schließlich war es ihre Aufgabe, Fakten über ihn in Erfahrung zu bringen. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie persönlich an ihm interessiert war!

„Ich bin geschieden“, teilte er ihr knapp mit. „Aber vermutlich haben Sie Ihren Mann nur ungern allein gelassen.“

„Ich bin nicht verheiratet.“ Jani fragte sich, ob er sie ebenfalls aushorchen wollte. Dann fiel ihr der Zwischenfall mit ihrer Handtasche am vergangenen Abend ein. „Oh, Sie meinen wegen des Buchs! Nein, kein Ehemann. Derzeit ist nicht mal ein Verlobter oder fester Freund in Sicht. Trotzdem lasse ich mich nicht von meinem Kinderwunsch abhalten.“

Nicht zu fassen, dass du das laut ausgesprochen hast! Zu reden, ohne vorher zu denken, war immer ein Fehler. Nicht, dass sie ihre Absicht geheim halten wollte. Sie schämte sich dessen nicht. Im Gegenteil, sie war stolz darauf.

Aber Gideon war ein Fremder und zudem noch aus Prinzip gegen die Camdens eingestellt. Daher war es unangemessen, mit ihm über ihre Nachwuchspläne zu reden. Nicht, dass er sie zu näheren Auskünften ermutigte. Er starrte in seine Tasse, ohne ein Wort zu sagen.

Nach einer Weile eröffnete er: „Ich habe über Ihren Vorschlag nachgedacht.“

Ganz geschäftsmäßig. Na schön. Jani trank einen Schluck Kaffee und blickte Gideon nur fragend an, ohne sich zu äußern.

„Ich denke schon eine ganze Weile über ein Gemeindezentrum nach“, fuhr er fort. „Eine Einrichtung, die neben Freizeitbeschäftigung und Kinderbetreuung auch Erwachsenenbildung anbietet, damit die Fabrik- und Lagerarbeiter von Camden sich weiterbilden können, um innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzusteigen. Aber es liegt nicht im Budget, und ich konnte bisher nicht die nötigen Geldmittel auftreiben.“

Franklin Thatcher Community Center … Ja, so könnte es heißen. Das klingt gut.“

„Ich habe da ein Gebäude im Sinn, das den Anforderungen gerecht werden könnte, aber es steht seit über zwölf Jahren leer und ist stark renovierungsbedürftig. Außerdem muss das Außengelände bearbeitet werden, um darauf Sport- und Spielplätze errichten zu können. Dazu kommen laufende Kosten für Personal und Betrieb.“

„Das wäre wirklich von Nutzen für Lakeview.“

Mit herausfordernder Miene gab er zu bedenken: „Es ist allerdings mehr als bloß ein Park.“

„Trotzdem scheint es ein lohnenswertes Projekt zu sein.“ Wenn auch ein sehr kostspieliges …

Gideon lockerte die Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf. Dann neigte er mehrmals den Kopf nach rechts und nach links, wohl um seinen verkrampften Nacken zu entspannen.

Jani sah jede Bewegung wie in Zeitlupe. Sie prägte sich jede Nuance ein, fand jedes Detail faszinierend und fühlte sich plötzlich befangen und unruhig.

Unwillkürlich fragte sich, ob er zuvor aus demselben Grund so unruhig gewirkt hatte. Hat ihm mein Anblick gefallen?

Wahrscheinlich nicht, versuchte sie sich einzureden. Und doch mochte sie die Vorstellung, dass er ebenso fasziniert von ihr wie sie von ihm war, dass er ihr nicht nur Verachtung entgegenbrachte. Dadurch fühlte sie sich mehr auf Augenhöhe mit ihm.

„Dann sind die Camdens also bereit, für sämtliche Kosten aufzukommen?“ Sein Ton war ebenso herausfordernd wie zuvor sein Gesichtsausdruck. „Einschließlich aller Gehälter und Betriebskosten, bis das Zentrum sich selbst finanziert?“

„Ich halte ein Gemeindezentrum für eine gute Idee und kann mir gut vorstellen, dass meine Angehörigen mir beipflichten werden. Natürlich muss ich ihnen zuerst die genauen Zahlen vorlegen.“

„Dazu stelle ich allerdings noch folgende Bedingungen: Das Projekt wird im Namen meines Urgroßvaters durchgeführt. Ohne Profit für die Camdens, weder jetzt noch in Zukunft. Die Stiftung bleibt anonym und bringt Ihrer Familie keinerlei Anerkennung ein. Sie akzeptieren, dass einige Ihrer Arbeitskräfte nach erfolgreicher Fortbildung möglicherweise abwandern.“

„Einverstanden“, sagte Jani.

„Das Projekt wird Sie eine ganze Stange mehr kosten als ein Park“, warnte er unnötigerweise.

„Um das Geld geht es nicht. Wir wollen einfach etwas für die Gemeinde tun, das Ihren Urgroßvater ehrt.“

Gideon musterte sie schweigend. Schließlich bemerkte er: „Das beweist nur, wie ausgeprägt das Schuldbewusstsein Ihrer Familie ist. Sie müssen ein unglaublich schlechtes Gewissen haben.“

Jani hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich weiß, dass Sie das Schlimmste von uns denken. Aber es gibt auch eine andere Seite, von der ich Ihnen vielleicht einmal erzählen werde, wenn Sie bereit sind, sie zu hören.“

„Ist dem wirklich so?“

„Allerdings“, bestätigte sie leise und dennoch mit Nachdruck.

Für einen langen Moment ruhte der Blick seiner fantastischen meergrünen Augen auf ihrem Gesicht. Sie wusste, dass er abzuschätzen versuchte, ob sich eine Falle oder Verschwörung hinter ihrem Angebot verbarg. Doch sie spürte, dass er sie nicht nur als ein Mitglied der Familie Camden betrachtete, sondern auch als attraktive Frau.

Allerdings verriet seine Miene nicht, zu welchem Schluss er kam.

Schließlich schlug er vor: „Zunächst einmal sollten Sie sich das Gebäude ansehen, um eine Vorstellung von dem zu bekommen, worauf Sie sich einlassen.“

Sein Ton klang schon ein bisschen weniger feindselig in Janis Ohren. Oder bildete sie es sich nur ein? „Gut. Sagen Sie mir, wann und wo.“

„So übereifrig“, stellte er fest und wirkte dabei schon wieder misstrauisch.

„Ich bin nur kooperativ.“

Er sagte nichts dazu. Stattdessen wechselte er das Thema und bemerkte völlig unvermittelt: „Sie sind also nicht verheiratet.“

„Nein. Nie gewesen.“

„Trotzdem sind Sie fest entschlossen, ein Kind zu bekommen – sogar ohne Verlobten oder festen Freund in Aussicht?“

Sie nickte.

„Ein gewagter Schritt.“

„Manchmal kommt es mir auch so vor“, gab Jani zu. „Aber ich habe gerade erst mit der Prozedur angefangen und lasse alles ganz gemächlich auf mich zukommen.“

„Da Sie eine Camden sind, fehlt es Ihnen sicherlich nicht an finanzieller Unterstützung, aber dennoch … Wird der Erzeuger eine Rolle spielen?“ Abrupt richtete Gideon sich auf und hielt beschwichtigend die Hände hoch. „Das geht mich nichts an, ich weiß.“

„Schon gut.“ Da er sich ihr öffnen sollte, schadete es sicherlich nicht, sich ihm gegenüber zugänglich zu zeigen. „Nein.“

Gideon runzelte die Stirn und musterte Jani forschend. „Glauben Sie wirklich, dass ein Kind keinen Vater braucht?“

„Keineswegs. Ich habe meinen Vater über alles geliebt. Ich war durch und durch Daddys Mädchen. Und ganz egal, wie Sie über H. J. denken, auch ihn hatte ich lieb. Er war ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Aber ich wünsche mir schon seit ewigen Zeiten ein Baby und will nicht länger warten. Ich werde mein Kind so sehr lieben, dass es ihm vorkommt, als hätte es zwei Elternteile.“

Die Falte zwischen Gideons Augen vertiefte sich und erinnerte an Georgiannas Einstellung zu diesem Thema.

„Ich weiß, dass nicht jeder mein Vorhaben billigt. Meine Großmutter zum Beispiel ist strikt dagegen. Aber manchmal entwickeln sich die Dinge eben nicht so, wie wir es gern hätten.“

„Das kann man wohl sagen.“

„Manchmal muss man einfach tun, was zu tun ist, um zu bekommen, was man will.“

„Ist das H. J. Camdens Philosophie?“, warf er ein – erneut in missbilligendem Ton.

Selber schuld, dachte Jani. Doch sie gab vor, seine Bemerkung falsch verstanden zu haben, und erklärte nachdrücklich: „Die Familie war meinem Großvater immer sehr wichtig. Ebenso wichtig ist es mir, eine Familie zu gründen. Deswegen will ich es nicht mehr dem Zufall überlassen.“

„Hm. Nun, ich kann nicht behaupten, dass es sich für mich jemals ausgezahlt hat, Dinge dem Zufall zu überlassen. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.“

„Vielen Dank.“

„Möchten Sie noch einen Kaffee?“

„Nein, vielen Dank.“

„Gut, dann sollte ich jetzt gehen. Ich habe heute Abend noch zu arbeiten.“ Gideon stand auf, brachte die leeren Tassen zum Tresen und zeigte Jani damit, dass er gute Manieren besaß.

Und eine unglaublich sehenswerte Rückenansicht. Das wurde deutlich, als er sich bückte und eine Packung Servietten aufhob, die einer Serviererin auf dem Weg vom Lager zum Tresen heruntergefallen war.

Aber es war vollkommen unangebracht, seinen Po zu bewundern. Deshalb stand Jani auf und griff nach ihrem Mantel. Trotzdem blieb ihr Blick auf Gideon ruhen, selbst als er sich wieder aufrichtete. Während sie seine breiten Schultern und schmalen Hüften musterte, fand sie nicht in das zweite Ärmelloch. Sie stocherte noch immer danach, als er an den Tisch zurückkehrte und ihr half.

„Danke“, murmelte sie. Sein Arm lag auf ihren Schultern und erweckte ein wohlig-warmes Gefühl in ihr, was lächerlich und unangebracht war.

Dann wich Gideon zurück, und sie bedauerte es, was ihr noch verrückter erschien.

Entschieden ermahnte sie sich zur Vernunft und fragte: „Wir wollen uns also das Gebäude ansehen?“

„Richtig. Ich werde morgen den ganzen Tag in Lakeview verbringen. Wir könnten uns vor Ort treffen. Sagen wir vorsichtshalber erst um halb fünf? Bei einem früheren Termin müsste ich Sie wohl wieder warten lassen.“

„Halb fünf ist mir recht. Schicken Sie mir die Adresse?“

„In Ordnung.“

„Danke für den Kaffee“, sagte Jani, während sie den Coffeeshop verließen. „Ich bin froh, dass Sie uns erlauben, etwas für Lakeview und Ihren Urgroßvater zu tun.“

Seine Miene verfinsterte sich.

Offensichtlich hatte Gideon für ein paar Minuten vergessen, dass sie eine Camden war. Schade, dass sie ihn wieder daran erinnert hatte.

Schweigend gingen sie zu ihren Fahrzeugen.

Während sie ihr Auto aufschloss, lehnte er sich an seinen Wagen und beobachtete sie.

„Wir sehen uns also morgen?“, rief sie ihm zu.

„Richtig“, bestätigte er und wandte sich ab.

Sie stieg ein. Durch das Seitenfenster warf sie zum zweiten Mal einen Blick auf seinen Po, als er sich vorbeugte und seine Fahrertür aufschloss.

Damit er nicht merkte, wie begierig sie ihn anstarrte, wandte sie sich hastig ab, sobald er einstieg.

Gemächlich ließ sie ihr Auto vom Parkplatz rollen und spähte währenddessen in den Rückspiegel, um Gideon ein letztes Mal zu mustern.

Der Gedanke, ihn am nächsten Tag wiederzusehen, erregte Jani ein bisschen. Vielleicht sogar mehr als nur ein bisschen. Sie freute sich darauf, als wäre es das Highlight des Tages.

Und sie überlegte bereits, ob sie das figurbetonte Kleid in Fuchsia anziehen sollte, das ihr eigentlich viel zu eng und bei Weitem zu kurz fürs Büro erschien.

3. KAPITEL

Auf Anhieb fand Jani die Immobilie, die Gideon für das neue Gemeindezentrum ausgewählt hatte. Es handelte sich um ein schlichtes dreistöckiges Backsteinhaus – das ehemalige Verwaltungsgebäude von Lakeview.

Als sie vorfuhr, stellte sie fest, dass hier tatsächlich umfangreiche Renovierungsarbeiten erforderlich waren. Mehrere Fensterscheiben waren zerbrochen und mit Brettern vernagelt. Das Grundstück war verwildert und von Unkraut überwuchert, und der Asphalt auf dem Parkplatz war rissig und aufgebrochen.

Dann entdeckte sie Gideon und vergaß alles andere um sich herum. Er trug eine helle Hose und eine kurze Lederjacke über einem kakaobraunen Hemd und lehnte an der Motorhaube seines Wagens. Die langen Beine hatte er vor sich ausgestreckt und die Knöchel übereinandergeschlagen. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und sein Haar war vom Wind zerzaust.

Mit einem malerischen Hintergrund hätte er geradewegs einem Werbeplakat für Herrenbekleidung oder der Sportwagenfirma entsprungen sein können. Er sah umwerfend aus und hatte ein jungenhaft-unartiges Charisma, das ihn besonders interessant machte.

So ein Bild sollte er auf seine Website stellen, dachte Jani, während sie neben ihm einparkte und tief durchatmete, um ihren Puls zu beruhigen. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie sich nicht zum Vergnügen trafen, dass Gideon ihre Familie verunglimpfte und sie sich durch sein attraktives Äußeres nicht ablenken lassen durfte. Schließlich hatte sie einen Auftrag zu erledigen, und danach würde sie Gideon nie wieder begegnen. Außerdem verfolgte sie andere Ziele im Leben, als sich wieder mit einem Mann einzulassen.

Doch sein Anblick machte es ihr schwer, im Gedächtnis zu behalten, dass außer ihm noch etwas anderes existierte. Noch einmal atmete sie tief durch, um ihren Herzschlag zu beruhigen, bevor sie ausstieg und in ihre hüftlange Jacke schlüpfte. „Bin ich zu spät?“

Er stieß sich von der Motorhaube ab. „Nein. Ich bin früher gekommen, um Strom und Heizung einzuschalten, damit es nicht allzu unangenehm im Haus ist.“ Sein Blick glitt zu ihren Beinen unter dem Saum ihres kurzen fuchsiafarbenen Kleides. „Das war wohl eine gute Idee von mir, denn sonst wären Sie womöglich erfroren.“

Jani argwöhnte, dass er sie eigentlich kritisieren wollte, es ihm aber nicht recht gelang, weil ihm ihre Beine gefielen.

Er sah ihr ins Gesicht. „Ich muss Sie warnen. Es ist kein schöner Anblick im Haus. Anscheinend sind Jugendliche eingebrochen und haben wilde Partys veranstaltet. Außerdem haben Mäuse und vielleicht sogar Waschbären Einzug gehalten. Ein totes Eichhörnchen habe ich auch gefunden. Ich habe es mit einer alten Zeitung zugedeckt. Fassen Sie lieber nichts an.“ Er deutete mit dem Kopf zu ihren High Heels. „Und passen Sie auf, wohin Sie mit den Dingern treten. Der Asphalt hat überall Risse.“

Sein Blick verriet, dass er Jani nur zur Vorsicht ermahnen wollte und ansonsten nichts gegen die schwarzen Wildlederschuhe einzuwenden hatte, die ihre Beine zur Geltung brachten.

„Oh, keine Sorge. Ich bin so sehr an hohe Absätze gewöhnt, dass ich den Kilimandscharo mit ihnen besteigen könnte“, versicherte sie ihm.

Im nächsten Augenblick blieb sie jedoch mit einem Absatz in einer Ritze hängen und wäre zu Boden gegangen, hätte Gideon sie nicht blitzschnell am Arm gepackt und gestützt.

„Okay, vielleicht könnte ich das doch nicht“, murmelte sie verlegen lachend.

„Haben Sie sich verletzt?“

„Höchstens meinen Stolz.“ Jani wollte nicht daran denken, wie sehr es ihr gefiel, seine Hand auf dem Arm zu spüren. Und wie sehr es ihr missfiel, als er sich zurückzog. „Ich werde einfach besser aufpassen.“

Offensichtlich traute er ihr nicht, denn auf dem Weg zu dem alten Gebäude hielt er sich dicht hinter ihr, um sie aufzufangen, falls sie erneut stolpern sollte.

Er hält mich für tollpatschig …

Diesen Eindruck wollte Jani ihm wirklich nicht vermitteln. Deswegen stieg sie besonders vorsichtig die Stufen zum Gebäude hinauf.

Gideon öffnete einen Türflügel und ließ sie vorangehen. Drinnen war es unwesentlich wärmer als draußen. Die uralten, verstaubten Glühbirnen gaben nur ein schwaches Licht. Ein Glück! dachte sie unwillkürlich, denn sie wollte lieber nicht zu viele Details erkennen.

Er schlüpfte in die Rolle eines Fremdenführers, wies Raum für Raum und Stockwerk für Stockwerk auf Nachteile und Vorzüge hin und erläuterte seine Pläne.

Es roch modrig und wirkte ein bisschen unheimlich in dem alten Gebäude. Jani dachte, dass ihr Staub und Spinnweben, Müll und Verfall wesentlich mehr zu schaffen gemacht hätten, wenn Gideon nicht bei ihr gewesen wäre. Seine Gegenwart wirkte beruhigend auf sie.

Das dritte Stockwerk bestand aus einem einzigen Raum, dem früheren Gerichtssaal von Lakeview.

Gideon lotste Jani an dem toten Eichhörnchen unter der Zeitung vorbei zu den Fenstern. Sie waren verschmutzt und teilweise zerbrochen, boten aber eine gute Aussicht auf die Außenanlagen. Er erklärte, wo er welche Sport- und Spielplätze geplant hatte.

Jani stellte einige Fragen und ließ ihn überwiegend reden. Der Klang seiner tiefen Stimme gefiel ihr ebenso wie die Tatsache, dass er Feindseligkeit und Misstrauen ihr gegenüber zu vergessen schien, während er über das Projekt sprach.

Auf dem Rückweg zählte er noch einmal alle erforderlichen Renovierungsarbeiten auf, zu der auch die Erneuerung sämtlicher Stromkabel und Wasserleitungen zählte.

„Wäre es nicht einfacher – und günstiger – einfach neu zu bauen?“, fragte sie, als sie an den Ausgangspunkt zurückkehrten.

„Nein. Das würde hohe Abrisskosten bedeuten“, gab er zu bedenken. „Außerdem hat dieses Gebäude eine Geschichte in Lakeview. Sollte ein Geschenk an die Gemeinde nicht eine gewisse Bedeutung für die Gemeinde haben?“

„Das Verwaltungsgebäude“, sinnierte Jani, anstatt seine Frage zu beantworten. „Hatte Ihr Urgroßvater hier sein Büro als Bürgermeister?“

„Allerdings. Er war hier praktisch der King und stolz darauf.“

„Dann sollte dieses Gebäude tatsächlich seinen Namen tragen.“

„Apropos – dieser Name muss erst mal reingewaschen werden, bevor Lakeview ihn auf irgendetwas zu setzen bereit ist.“

Damit hatte Jani überhaupt nicht gerechnet. Bevor ihr eine Erwiderung dazu einfiel, bat Gideon sie, auf ihn zu warten. Dann ging er in den Keller, um Heizung und Strom abzuschalten.

Anstatt über die neueste Komplikation nachzudenken, beobachtete sie fasziniert seinen Abgang und starrte ganz besonders auf seinen knackigen Po, der durch die taillenkurze Jacke bestens zur Geltung kam.

Das ganze Projekt wäre viel leichter durchzuführen, wenn der Typ nicht so aufregend und attraktiv wäre …

Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, wurde es dunkel im Haus und dazu unheimlich still, bis das Echo von Schritten auf der Kellertreppe Gideons Rückkehr ankündigte.

Er hielt Jani den Türflügel auf, und sie trat hinaus in die beginnende Abenddämmerung. Ihr wurde bewusst, dass sie wegen des Geruchs nach Staub und Verfall in dem alten Haus ganz flach geatmet hatte. Nun holte sie tief Luft und stellte fest, dass es nach frischem Gebäck duftete. „Hier draußen riecht es wesentlich besser.“

„Das kommt von der Bäckerei gegenüber. Da gibt es leckere Donuts.“

„Nachdem Sie mich gestern Abend zum Kaffee eingeladen haben, revanchiere ich mich heute gern mit Donuts, und dabei können wir unser weiteres Vorgehen besprechen“, schlug sie vor.

„Okay. Gehen oder fahren?“

„Ich denke, dass ich das kleine Stück zu Fuß schaffe, ohne auf die Nase zu fallen, wenn ich mich richtig anstrenge“, scherzte sie und erntete dafür den Anflug eines Lächelns.

„Also dann, versuchen wir es.“

Tatsächlich erreichten sie die Bäckerei auf der anderen Straßenseite ohne Zwischenfall. Sie bestellten Kaffee und Donuts, wählten einen Fenstertisch und legten die Mäntel ab.

Als Jani auf die Sitzbank schlüpfte, merkte sie, wie eingehend Gideon ihr Kleid musterte, das sich wie eine zweite Haut um ihre Rundungen schmiegte. Wenn sie sich nicht sehr irrte, fiel es ihm schwer, den Blick von ihr zu lösen. Erst nach einer Weile konzentrierte er sich auf seinen dampfenden Kaffee.

Sie war froh, dass sie sich für dieses Outfit entschieden hatte. Lächelnd biss sie in den Donut. Er war innen weich, außen knusprig und mit einem Hauch von Orangenkonfitüre glasiert. Nach dem ersten Bissen lobte sie die sündhafte Gaumenfreude in den höchsten Tönen.

Gideon stimmte ihr zu, bevor er zum Geschäftlichen kam. „Lakeview gibt eine Monatsschrift heraus, die eine Artikelserie über Vergangenheit und Gegenwart bringt. In der nächsten Ausgabe erscheint ein Bericht über meinen Urgroßvater und mich. Das wurde bereits geplant, bevor Sie an mich herangetreten sind, und ich habe mich schon mehrmals mit dem Reporter getroffen. Der Teil über meinen Urgroßvater wird klarstellen, dass er seine Versprechungen in gutem Glauben abgab und nicht mit H. J. Camden unter einer Decke steckte.“

„Wird der Artikel den Namen meines Urgroßvaters beschmutzen?“, wollte Jani wissen.

„Das ist nicht vorgesehen. Die Zeitung will nicht von den Camdens verklagt werden. Und obwohl niemand glücklich ist, dass die Konjunktur in Lakeview von Ihren Fabriken und Lagerhallen abhängt, will keiner die Hand beißen, die sie füttert. Der Artikel soll nur ganz sachlich darlegen, dass Franklin Thatcher wirklich an das glaubte, was er seinen Wählern versprach. Dass er Einblick in die Bauzeichnungen für die Errichtung des Neubaugebiets hatte und die Verwirklichung fest einplante.“

„Nun gut.“

„Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Stellungnahme von Ihnen in diesem Sinne erheblich dazu beitragen würde, meinen Urgroßvater zu entlasten. Sozusagen direkt von der Quelle.“

„Nur dass besagte Quelle 1996 versiegte und die Stellungnahme lediglich von einem Nachkommen stammen würde.“

„Trotzdem. Eine Bestätigung von Ihnen verleiht Glaubwürdigkeit. Vor allem die Aussage, dass Franklin Thatcher nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat und fest davon überzeugt war, dass dem Bau der Fabriken und Lagerhallen die Erschließung des Wohngebietes folgen sollte.“

„Das kann ich bestätigen, weil es der Wahrheit entspricht.“

Ihre Worte schienen erneut Gideons Verdacht zu erregen. „Sie geben also zu, dass mein Urgroßvater von H. J. reingelegt wurde?“

Jani schüttelte den Kopf. „Es ist wahr, dass Ihr Urgroßvater an die Weiterentwicklung glaubte, weil H. J. das tatsächlich geplant hatte.“

„Aha. Und irgendwann, wenn ich bereit bin, es mir anzuhören, werden Sie mir Ihre Version der ganzen Geschichte erzählen.“

„Richtig.“

„Sinn des Artikels ist nicht, dass H. J. rehabilitiert wird“, warnte Gideon. „Der Reporter ist mit mir befreundet. Wenn Sie auch nur mit einem Wort versuchen, H. J.s Verhalten zu beschönigen oder meinen Urgroßvater zu beschuldigen …“

„Das habe ich auch gar nicht vor. Ich werde bestätigen, dass Franklin Thatcher ein ehrlicher und ehrenwerter Mann war.“

Wie bei jeder bisherigen Begegnung fixierte Gideon sie eindringlich, als wollte er zwischen den Zeilen lesen, weil er ihr nicht über den Weg traute.

Jani hielt der Musterung wie üblich stand und betrachtete es als Fortschritt, dass er diesmal nicht sonderlich lange für die Erkenntnis brauchte, dass ihre Worte aufrichtig gemeint waren.

„Ein Gebäude zu Ehren meines Urgroßvaters ergibt erst einen Sinn, wenn sein Name reingewaschen ist und er wieder als der Mensch angesehen wird, der er war – ein anständiger Mann, der Lakeview liebte und glaubte, das Beste für den Ort und seine Bürger zu tun. Warum sollten die Einwohner beim gegenwärtigen Stand der Dinge einen Bürgermeister ehren, der aus der Stadt vertrieben wurde?“

„Das tut mir leid. Davon wissen wir nichts. Wir kennen nur H. J.s Seite. Was aus Ihrem Urgroßvater oder dem Rest Ihrer Familie wurde, ist uns nicht bekannt.“

Sichtlich verärgert presste Gideon die Lippen zusammen und machte keinerlei Anstalten, sie aufzuklären.

Jani erkannte, dass es mehr brauchte, um ihm weitere Informationen zu entlocken. Sie musste sich wohl oder übel in Geduld üben und schnitt daher ein unverfängliches Thema an. „Welchen Tenor wird der Teil des Artikels haben, der sich mit Ihnen befasst?“

„Bisher ging es bei den Interviews zwischen mir und meinem Freund lediglich um die Entstehung der Thatcher Group.“

„Wie ist das Unternehmen denn zustande gekommen?“

Für einen Moment starrte Gideon nachdenklich in seinen Kaffeebecher und schien nicht antworten zu wollen. Doch dann erklärte er sachlich: „Ich habe Architektur studiert …“

„Wo denn?“

„An der Universität von Colorado. Allerdings nur in Denver. Ein Studium in Boulder konnte ich mir leider nicht leisten, weil ich es mir selbst verdienen musste.“

„Sie mussten während der gesamten Ausbildung arbeiten? Ohne Stipendium oder Darlehen?“

„Ich habe geringfügige Zuschüsse bekommen und ein spärlich bezahltes Berufspraktikum bei einem Architekten absolviert. Ohne seine Unterstützung hätte ich es nicht geschafft. Deshalb nehme ich aus Dankbarkeit auch bezahlte Praktikanten auf.“

„Möglicherweise wären wir interessiert, uns daran zu beteiligen.“

Gideon schüttelte den Kopf. „Dafür nehmen wir keine Spenden an.“

„Haben Sie nach dem Examen bei dem Architekten gearbeitet?“

Er nickte. „Fünf Jahre, um so viel wie möglich zu lernen und Berufserfahrung zu sammeln. Mein Ziel war von Anfang an die Gründung einer eigenen Firma, die sich nicht bloß auf Architektur beschränkt.“

„Sagt Ihnen denn die Branche nicht zu?“

„Oh doch. Ich entwerfe nach wie vor die meisten unserer Bauwerke selbst. Aber ich will mehr – ganze Gemeinden entwickeln, nicht nur hier und da ein einzelnes Gebäude.“

„Also geht es Ihnen um Gesamtplanung.“

„Genau. Es ist wie mit dem Gemeindezentrum. Natürlich könnte ich einfach einen modernen Neubau entwerfen, aber das bestehende Gebäude hat eine Geschichte und eine Bedeutung in der Landschaft, in der es seit Generationen steht. Das sehe ich als Gesamtes – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich will mehr als nur ein hübsches Haus errichten. Ich will ein Gemeinwesen erschaffen, das den Bedürfnissen der darin lebenden Menschen entspricht und ihnen gleichzeitig Erinnerungen an frühere Zeiten und Inspiration für künftige Betätigungen bietet.“

Ironisch verzog er das Gesicht. „Ich wollte eigentlich nicht so philosophisch daherschwafeln, als ob …“

„Als ob Sie lieben, was Sie tun?“, warf Jani ein. Sie bewunderte seine Leidenschaft für seinen Beruf.

„Das tue ich allerdings wirklich“, gab er zu.

„Und Sie sind sehr erfolgreich auf dem Gebiet. Ich habe auf Ihrer Website gelesen, dass Sie weltweit tätig sind.“

„Es läuft ganz gut bei uns“, bestätigte Gideon bescheiden. „Dadurch bin ich in der Lage, endlich zu bereinigen, was in Lakeview schiefgelaufen ist. Das ist mir sehr wichtig.“

„Nachdem ich von den Leistungen und Auszeichnungen der Thatcher Group gelesen habe, wundere ich mich nur, dass Sie ein so unbedeutendes Projekt wie Lakeview übernommen haben. Sie haben weit größere und wichtigere Maßnahmen durchgeführt.“

„Dieses Projekt ist für mich eine Herzensangelegenheit. Weil ich ein Thatcher bin, musste ich sehr viel Lobbyarbeit betreiben, das hohe Ansehen der Thatcher Group in die Waagschale werfen und mit dem Preis erheblich runtergehen, um den Zuschlag zu bekommen.“

„Das haben Sie sicher nicht bei vielen Aufträgen nötig.“

„Bei keinem anderen. Aber es ist für mich die Gelegenheit, den Namen Thatcher zu rehabilitieren.“

„War das vor Ihnen niemandem in der Familie wichtig?“

„Oh doch, sogar allen. Aber ich bin als Erster in der Lage, tatsächlich auch etwas zu bewirken.“

„Sie haben doch wohl nicht Architektur studiert, nur um die Dinge in Lakeview ins rechte Licht rücken zu können, oder? Wären Sie eigentlich lieber Balletttänzer oder so geworden?“ Jani sah ein vages Lächeln um seine Lippen spielen. Es war im Grunde genommen unbedeutend und rief doch Freude hervor.

Balletttänzer? Wie kommen Sie denn ausgerechnet darauf?“

„Na ja, wenn Sie Arzt oder Anwalt geworden wären, hätten Sie hier eine Praxis eröffnen und auf diese Weise der Stadt und den Einwohnern helfen können. Bei Balletttanz sieht die Sache anders aus. Es sei denn, es gibt hier eine Tanztruppe, von der ich nichts weiß.“

„Nein, die gibt es nicht“, erwiderte Gideon. „Und ich habe mich nicht deshalb für Architektur entschieden, sondern weil ich mich schon immer dafür interessiert habe. Zufällig hat mich mein Beruf in die Lage versetzt, helfen zu können, wofür ich dankbar bin.“

„Lakeview kann sich glücklich schätzen, Sie als Sponsor zu haben“, bemerkte Jani leise.

Das Kompliment war Gideon sichtlich unangenehm, und er wechselte hastig das Thema. „Was ist mit Ihnen? Haben Sie studiert oder nur im Familienunternehmen gelernt?“

„Ich habe die Universität von Los Angeles besucht. Weil sie für den Fachbereich Public Relations besonders angesehen ist und weil sie in Kalifornien liegt. Sonnenschein, Strände, Berühmtheiten – das erschien mir sehr reizvoll.“

„Und? Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?“

Jani bekam Gewissensbisse, weil sie es so leicht und Gideon es so schwer gehabt hatte. „Ja, es hat schon Spaß gemacht. Aber ich habe miterlebt, wie mein großer Bruder im ersten Studienjahr beinahe durchgefallen wäre, weil er zu viel gefeiert hat. Das hätte meine Großmutter nie durchgehen lassen. Deshalb habe ich fleißig gelernt.“

„Haben Sie das Studium auch erfolgreich abgeschlossen?“

„Ich habe einen Bachelor in Public Relations und einen Master in Marketing gemacht.“

Gideon vermutete: „Mit dem Ziel, im Familienunternehmen zu arbeiten?“

„Stimmt. H. J. hat meiner Großmutter geholfen, uns großzuziehen – mich, meine drei Brüder und meine sechs Cousins. Er hat oft von unserer Verantwortung gesprochen, den Familienbetrieb weiterzuführen. Wir alle sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass wir einmal bei Camden Incorporated arbeiten müssen. GiGi …“

GiGi?“

„So nennen wir unsere Großmutter“, erklärte Jani. „Sie heißt Georgianna. Jedenfalls hat sie uns darin bestärkt, die Firma zu übernehmen, und uns eingeschärft, dass sehr viele Menschen von den Camdens abhängen und wir ihnen verpflichtet sind.“

„Wollten Sie denn lieber Balletttänzerin werden?“, erkundigte er sich mit jenem Anflug eines Lächelns.

„Sie haben ja gesehen, wie graziös ich bin.“

Sein Lächeln vertiefte sich, aber es wirkte noch immer nicht so unbefangen, wie Jani insgeheim gehofft hatte.

„Also keine Balletttänzerin. Hätten Sie denn irgendeinen anderen Beruf ergriffen, wenn Sie hätten frei entscheiden können?“

„Jeder von uns konnte selbst bestimmen, in welcher Form er sich in den Familienbetrieb einbringen will. Hätte ich mich beispielsweise für Architektur interessiert, würde ich jetzt die Camden-Supermärkte und Bürogebäude entwerfen. Mir hat Public Relations und Marketing zugesagt. Insofern habe ich diese Bereiche übernommen.“

„Und wer führt das Familienunternehmen?“

„Wir zehn Enkel bilden den Vorstand und haben jeweils eine Stimme in allen Belangen. Mein Bruder Cade ist Vorstandsvorsitzender auf dem Papier, hat aber auch nicht mehr zu sagen als wir anderen. H. J. hat es so festgelegt, und bisher kooperieren wir bestens und mögen uns.“

„Als Einzelkind kann ich das nicht wirklich nachempfinden.“

Jani fiel auf, dass sich die Bäckerei mit Menschen gefüllt hatte und mehrere Gäste einen freien Tisch suchten. Obwohl es ihr widerstrebte, das Thema zu beenden, schlug sie vor: „Wir sollten entweder noch etwas bestellen oder gehen.“

Insgeheim hoffte sie, dass Gideon bleiben wollte. Doch nach einem Blick durch das Lokal sammelte er die leeren Becher und Servietten ein. „Wir haben den Tisch wohl schon zu lange besetzt.“

Während er den Abfall entsorgte, schlüpfte sie in ihren Mantel.

Er zog sich auf dem Weg zum Ausgang die Jacke an. „Wenn Sie immer noch am Gemeindezentrum interessiert sind, erstelle ich bis Freitag einen Kostenvoranschlag, den Sie Ihrer Familie vorlegen können. Sofern alle ihr Einverständnis geben, bringe ich die Sache in Gang.“

„Davon können Sie ausgehen.“ Sie erreichten ihr Auto. Jani schloss die Fahrertür auf und plapperte drauflos, ohne nachzudenken: „Ich bin am Freitag tagsüber voll ausgelastet, aber wir könnten die Unterlagen am Abend bei einem Geschäftsessen durchgehen. Ich würde es auf mein Spesenkonto setzen.“

Ohne zu zögern, erwiderte er überraschend: „Ich hätte Zeit. Wo?“

„Ich kenne da ein hervorragendes toskanisches Restaurant in der Nähe vom Einkaufszentrum.“

„Ja, das ist ein guter Treffpunkt. Um welche Uhrzeit?“

„Halb acht?“

„Abgemacht.“

„Großartig.“ Warum es Jani plötzlich wie ein Date erschien, wusste sie selbst nicht. Doch dort auf dem Parkplatz in der Abenddämmerung hatte sie plötzlich das Verlangen, Gideon zu küssen.

Das kam natürlich überhaupt nicht infrage. Trotzdem heftete sie den Blick auf seine vollen Lippen und fragte sich unwillkürlich, wie er wohl küssen mochte. Zögerlich? Draufgängerisch? Trocken? Feucht? Genau richtig?

Das werde ich natürlich nie erfahren. Schade eigentlich. „Also dann …“ Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass er sie ebenso anstarrte wie sie ihn. Dabei mag er mich doch gar nicht, und es kann zu nichts führen … „Bis Freitag um halb acht.“

„Mitsamt Kostenvoranschlag“, fügte er hinzu, und seine Stimme klang rauer und sanfter als gewöhnlich.

Jani stieg ein und startete den Motor; Gideon ging zu seinem Auto. Während sie den ersten Gang einlegte, blickte sie zu ihm hinüber. Er sah starr geradeaus, und das nahm sie zum Anlass, um loszufahren.

Als sie durch den dichten Feierabendverkehr nach Denver zurückkehrte, war sie in Gedanken bei Gideon Thatcher und fragte sich nach wie vor, wie er wohl küssen mochte.

4. KAPITEL

„Werden da drinnen Babys verschenkt?“ Gideon grinste spitzbübisch.

Jani lachte. „Ich helfe nur aus.“

Nach einem ausgezeichneten Essen und der Besprechung des Kostenvoranschlags war sie in die Damentoilette gegangen und mit einem schlafenden Baby zurückgekehrt.

Nun folgte sie einer Frau, die ein weinendes Kleinkind trug, zu deren Tisch und übergab das Baby dem Vater.

Dann setzte Jani sich zu Gideon und erklärte: „Während die Mutter dem Baby die Windel gewechselt hat, ist das Mädchen auf das Waschbecken geklettert und runtergefallen. Es hat sich so wehgetan, dass es nicht mehr laufen mag. Weil die Mutter nicht beide Kinder gleichzeitig tragen kann, habe ich ihr geholfen. Nein, leider werden da drinnen keine Babys verschenkt. Andernfalls hätte ich eins genommen. Oder zwei oder drei.“

„Wow! Sie sind wirklich heiß auf Kinder“, bemerkte er.

Die Kellnerin brachte die Rechnung, und Gideon bezahlte mit seiner Kreditkarte.

„Aber ich habe Sie doch eingeladen!“, protestierte Jani.

„Sie können mir das Gemeindezentrum spendieren“, konterte er. „Mir ist nach einem Spaziergang. Ihnen auch?“

Sein Vorschlag überraschte sie. Wie gewöhnlich hatte er sich während des Essens und der Besprechung reserviert und ganz dienstlich gegeben. Aber ein Spaziergang nach dem Dinner? Das übersteigt eindeutig ein Geschäftsessen.

„Es ist nicht sehr kalt und fängt gerade an zu schneien.“ Er deutete zum Fenster. „Ein Abend, wie geschaffen für einen kleinen Bummel. Aber wenn es Ihnen nicht zusagt …“

Und wie es mir zusagt! „Doch, doch, das klingt gut“, versicherte sie hastig und war froh, dass sie sich gegen ein Kleid und High Heels für lange Hose, Sweater und bequeme Schuhe entschieden hatte.

Während Gideon sich eine elegante Lederjacke über den weißen Rollkragenpullover zog, steckte Jani seinen Kostenvoranschlag in ihre Umhängetasche. Dann half er ihr in ihren knielangen roten Wollmantel. Dabei spürte sie die Kraft, die er ausstrahlte. Im Geist lehnte sie sich an seine breite Brust und ließ sich von seinen Armen umfangen wie von dem roten Wollstoff.

Erschrocken riss Jani sich aus diesem unmöglichen Tagtraum und trat einen Schritt zurück. „Danke.“

Sie knöpfte den Mantel zu, wickelte sich den dazugehörigen Angoraschal gleich zweimal fest um den Hals und zog sich Handschuhe an.

Als sie das Restaurant verließen, schlug Gideon zielstrebig eine bestimmte Richtung ein. Er führte Jani vorbei an Restaurants, Bars und kleinen Boutiquen, die zu dieser Stunde geschlossen waren. Das gehobene Viertel wich mehr und mehr einer bescheidenen Gegend.

Schließlich blieb er stehen und deutete zur nächsten Kreuzung. „Sehen Sie das Lokal dort an der Ecke?“

Sie musterte das alte, heruntergekommene Gebäude, an dem ein Neonschild blinkte. „Die Spelunke, die einfach nur Bar zu heißen scheint?“

„Richtig. Dort ist mein Urgroßvater gelandet, nachdem er aus Lakeview vertrieben wurde.“

Autsch! Anscheinend ist das nicht nur ein kleiner Verdauungsspaziergang …

Selbst von Weitem merkte Jani, dass die Bar alles andere als einladend wirkte. „Wie konnte es denn dazu kommen?“

„Er wurde ausgestoßen, weil die Versprechungen nicht in die Tat umgesetzt wurden, die er im Namen von H. J. machte. Nach damaligem Gesetz hatte der Stadtrat Entscheidungsgewalt. Der Bürgermeister war zwar der Vorsitzende, besaß aber nur eine Stimme.“

„Genau wie im Camden-Vorstand.“

„Richtig. Der Bürgermeister führte den Vorsitz, hatte einige kleinere Verantwortungsbereiche und natürlich repräsentative Aufgaben, aber es brauchte nicht viel, um ihn abzuschieben.“

„Wie wurde das gemacht?“

„Niemand vom Stadtrat sprach mit ihm oder hörte auf seine Vorschläge. Mein Urgroßvater wurde bei allen Entscheidungen überstimmt und durfte nicht mehr an den Feierlichkeiten teilnehmen, die eigentlich zu seinen Pflichtveranstaltungen zählten. Er wurde sozusagen ein unsichtbarer Bürgermeister, bis er schließlich abdanken musste.“

„Das klingt gar nicht gut“, flüsterte Jani hilflos. Sie wusste nicht, was sie sonst dazu sagen sollte. „Und dann ist er in der Bar da drüben gelandet? Hat er sie gekauft oder da gearbeitet oder …“ Sie verstummte, weil sie nicht auszusprechen wagte, dass sein Urgroßvater womöglich dem Alkohol verfallen war.

„Während er als unsichtbarer Bürgermeister der Gemeinde zu beweisen versuchte, dass er nicht mit H. J. unter einer Decke steckte, ging es mit seinen privaten Geschäften den Bach hinunter.“

Ihr gefiel gar nicht, was sie da zu hören bekam, obwohl Gideon ganz sachlich und ohne Feindseligkeit sprach. „Was war das für ein Geschäft?“

„Franklin Thatcher Insurance. Ein Versicherungsunternehmen, das hervorragend lief. Er zählte zu den führenden Geschäftsleuten in Lakeview, weshalb man ihn überhaupt erst zum Bürgermeister gewählt hatte. Als nach dem Bau des Gewerbegebiets nichts weiterging, wurde die Versicherungsagentur jedoch boykottiert. Danach wurde sogar sein Wohnhaus abgefackelt.“

„Oh nein!“, rief Jani betroffen. Sie stopfte die Hände in die Taschen und zog den Kopf ein, weil sie plötzlich fröstelte.

„Oh doch! Zumindest achteten die Brandstifter darauf, dass sich zu dem Zeitpunkt niemand im Haus aufhielt. Aber meine Urgroßeltern verloren alles. Wortwörtlich. Ihnen blieben nur die Kleidung am Körper und ein Auto, das ein paar Nächte zuvor mit Baseballschlägern demoliert worden war.“

„Oh, Gideon …“

„Daraufhin landeten sie hier. Mein Urgroßvater arbeitete als Reinigungskraft und Hausmeister, und meine Urgroßmutter verkaufte Sandwiches an der Bar. Aus Mitleid überließ der Besitzer ihnen eine Zweizimmerwohnung über der Bar.“

Das wird ja immer schlimmer, dachte Jani entsetzt und kauerte sich noch tiefer in ihren Mantel – teils vor Kälte, teils vor Beschämung.

Gideon fiel auf, dass sie fror, und deshalb kehrten sie um.

„Ihr Großvater ist also über der Bar aufgewachsen?“ Eigentlich wollte Jani nichts mehr davon hören, aber sie hatte nun einmal den Auftrag, Erkundigungen über die Thatchers einzuholen. Deshalb musste sie die Gelegenheit nutzen, da Gideon sich ausnahmsweise gesprächig zeigte.

„Er kam erst mit zwölf Jahren hierher. Auch für ihn war es hart. In Lakeview hatten sich sogar seine Freunde gegen ihn verschworen und mit Steinen beworfen und vermöbelt. Als gebranntes Kind versuchte er gar nicht erst, hier neue Freundschaften zu schließen. Er fand sich in der neuen Schule nicht zurecht und ging mit sechzehn zur Armee.“

„Wie lief es dort?“

„Er geriet oft wegen Ungehorsam in Schwierigkeiten.“

„Wahrscheinlich hatte er viel Wut im Bauch“, vermutete Jani. „Das ist kaum verwunderlich.“

„Ja, mein Großvater war sein Leben lang ein aggressiver Mann.“ Er atmete tief durch. „Nach dem Militärdienst landete er wieder in der Bar. Als Barkeeper, nicht als Reinigungskraft, was gegenüber meinem Urgroßvater immerhin schon einen Aufstieg bedeutete.“

„Hat er sein ganzes Leben dort verbracht?“

„Meine Familie kam nicht von dem Lokal los. Nach den schlechten Erfahrungen in Lakeview fehlte ihnen wohl der Mut, sich allzu weit von dem Loch zu entfernen, in das sie sich verkrochen hatten.“

„Haben Sie Ihre Urgroßeltern kennengelernt?“

Gideon nickte. „Ich war noch sehr klein, aber ich habe sie als zerbrechliche und ängstliche alte Menschen in Erinnerung. Mein Großvater dagegen war bis zu seinem Tod wütend und unglücklich und gab seine pessimistische Einstellung an meinen Vater weiter.“

„Ist der auch in der Bar aufgewachsen?“

„Ja. Meine Großmutter war dort Stammgast. Dadurch lernte sie meinen Großvater kennen. Sie mussten heiraten. Zwei Jahre später lief sie mit einem anderen Typen davon und ließ nie wieder von sich hören. Meine Urgroßmutter war mittlerweile gestorben, und die beiden Männer blieben allein mit einem zweijährigen Kind.“

„Bewohnten sie das Apartment über der Bar?“

„Richtig. Ihr größtes Ziel war, das ganze Haus zu kaufen.“

„Und? Kam es dazu?“

„Nein. Sie konnten nie genügend Geld aufbringen. Mein Vater und sein Vater waren dem Schnaps gleichermaßen zugetan. Mein Großvater wurde immerhin über sechzig, bevor er an Leberzirrhose starb, mein Vater nur siebenundvierzig.“

Und alles ist auf das zurückzuführen, was mein Urgroßvater angerichtet hat …

„Das tut mir sehr leid“, sagte Jani niedergeschlagen. Dann fragte sie zögerlich: „Sind Sie auch in der Bar aufgewachsen?“

„Nur die ersten vier Jahre. Meine Eltern lernten sich dort kennen, aber meine Mutter war keine Bardame. Sie arbeitete als Schwesternhelferin. Eines Abends auf dem Heimweg streikte ihr Auto direkt vor der Bar, und sie ging hinein.“

„Und Ihr Vater war der Barkeeper?“

„Richtig. Er lud sie auf einen Drink ein, flirtete mit ihr und sah sich nach Feierabend ihr Auto an. Ein halbes Jahr später heirateten sie. Zehn Monate danach kam ich zur Welt.“

„Und sie bewohnten das Apartment über der Bar?“

„Ja. Meine Mutter stammte selbst aus bescheidenen Verhältnissen und störte sich anfänglich nicht daran.“

„Wohnten Ihre Urgroßeltern und Ihr Großvater auch noch dort?“

„Nein. Sie überließen den Jungvermählten das Revier und mieteten sich in einer nahe gelegenen Pension ein.“

Autor

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