Bianca Extra Band 21

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DER SÜßE KUSS DER PRINZESSIN von RIMMER, CHRISTINE
Der süße Kuss von Prinzessin Rhia hat Marcus Desmarais damals das Herz gestohlen. Nie wieder darf das geschehen, denn Welten trennen sie! Doch jetzt wird ausgerechnet Marcus zu Rhias Bodyguard ernannt. Plötzlich sind sie sich quälend nah, und mit jedem Tag wächst das Verlangen …

WENN EINE HOCHZEITSPLANERIN HEIRATET von PADE, VICTORIA
Als Hochzeitsplanerin erfüllt Vonni Träume - nur sie selbst hat kein Glück in der Liebe. Als sie die Hoffnung endgültig aufgibt, trifft sie Dane Camden. Der attraktive Unternehmer könnte ihr Mr Perfect sein! Charmant, großzügig - aber leider überzeugter Junggeselle …

AMOR TRÄGT EIN ROSA KLEIDCHEN von FERRARELLA, MARIE
Ginny will endlich eine Mami! Und sie hat sehr konkrete Vorstellungen, wie die sein soll: Lieb wie die junge Köchin Danni. Daddy zum Lachen bringen wie Danni. Ihn küssen - auch wie Danni. Moment mal! Auch wenn Ginny erst vier ist, kann sie eins und eins zusammenzählen …

DAS GEHEIMNIS VON HEARTLANDIA von MARSHALL, LYNNE
Was soll Desi mit den zärtlichen Gefühlen machen, die ihr neuer Nachbar in ihr weckt? Sie will doch nicht für immer in Heartlandia bleiben, will hier nur einem Familiengeheimnis auf die Spur kommen! Doch wenn sie wieder geht, lässt sie ihr Herz bei dem smarten Arzt Kent Larson …


  • Erscheinungstag 04.08.2015
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732547
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Rimmer, Victoria Pade, Marie Ferrarella, Lynne Marshall

BIANCA EXTRA BAND 21

CHRISTINE RIMMER

Der süße Kuss der Prinzessin

Das größte Geheimnis des Palastes ist in Gefahr! Denn Marcus Desmarais wird zum Bodyguard von Prinzessin Rhia ernannt. Wie sollen sie da die magische Anziehungskraft verbergen, die zwischen ihnen herrscht?

VICTORIA PADE

Wenn eine Hochzeitsplanerin heiratet

Dane Camden ist Junggeselle aus Überzeugung. Aber als ausgerechnet seine Großmutter heiratet, trifft er sich mit der schönen Hochzeitsplanerin Vonni – und kommt einem „Ja, ich will“ gefährlich nah …

MARIE FERRARELLA

Amor trägt ein rosa Kleidchen

Die hübsche Fernsehköchin Danni ist ein aufgehender Stern am TV-Himmel. Niemals würde er in ihre Welt passen, glaubt Single-Dad Stone Scarborough. Aber seine vierjährige Tochter Ginny sieht das ganz anders …

LYNNE MARSHALL

Das Geheimnis von Heartlandia

Mit der Liebe hat Dr. Kent Larson abgeschlossen – denkt er jedenfalls. Bis ins Nachbarhaus die exotische Schönheit Desi Rask einzieht. Und Kent erkennen muss, dass er sich nicht länger selbst belügen kann …

1. KAPITEL

Prinzessin Rhiannon Bravo-Calabretti konnte es immer noch nicht glauben. Wie war das bloß passiert? Wie hoch war denn die Wahrscheinlichkeit für dieses Aufeinandertreffen gewesen?

Ja, Montedoro war nur ein kleines Fürstentum, und Elite-Bodyguards wie Marcus Desmarais gab es nicht viele im Dienst der Herrscherfamilie.

Aber Marcus war entschlossen gewesen, ihr für den Rest seines Lebens aus dem Weg zu gehen, das hatte er überdeutlich gemacht. Warum hatte er nicht einfach Nein gesagt, als er den Auftrag bekam, bei dieser Reise für ihre Sicherheit zu sorgen?

Natürlich wusste Rhiannon die Antwort selbst: Wenn er den Auftrag abgelehnt hätte, dann hätten seine Vorgesetzten Fragen gestellt. Seine Weigerung hätte Neugier und Verdacht erregt, und das wollte er um jeden Preis vermeiden.

Trotzdem, wie konnte er sie beide nur in diese Situation bringen?

Verzweifelt versuchte Rhia das Gedankenkarussell in ihrem Kopf zu stoppen. Sie saß in der alten hölzernen Kirchenbank und starrte auf ihre nervös im Schoß verkrampften Hände. Vorne fand die Trauung in englischer Sprache statt, und entschlossen starrte Rhia geradeaus und versuchte, sich auf die Worte des Priesters zu konzentrieren. Schließlich heiratete ihre große Schwester nur einmal.

Die kleine, innen und außen weißgekalkte Kirche des Städtchens Elk Creek in Montana war schlicht und feierlich. Es roch nach Kerzenwachs und Holzpolitur, feuchten Jacken und Mänteln und altem Weihrauch.

Die schweren Eichenbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. An den Seitenwänden und im Hintergrund der Kirche drängten sich die vielen Hochzeitsgäste, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten.

Natürlich stand auch Marcus hier irgendwo. Hinten bei der Tür, stumm, diskret, wie die übrigen Security-Leute. Rhias Schultern schmerzten vor Anspannung, während sie förmlich spürte, wie seine ernsten graugrünen Augen ihr Löcher in den Hinterkopf starrten.

Es spielt keine Rolle. Vergiss es. Vergiss ihn.

Heute war Belles Tag. Ihre hinreißende Schwester Arabella stand strahlend, ganz in Weiß vor dem massiven Altar, an der Seite von Preston McCade, dem hochgewachsenen amerikanischen Rancher, den sie im letzten Jahr lieben gelernt hatte.

Es war eine Doppelhochzeit. Belles langjährige Vertraute, Lady Charlotte aus dem Mornay-Zweig der Familie, heiratete gleichzeitig Prestons Vater, den charmant ergrauten Silas McCade.

„Erheben Sie sich“, sagte der Priester.

Rhia erhob sich mit der versammelten Gemeinde. Aber es gelang ihr nicht, sich auf die Worte des Priesters zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zurück zu Marcus.

Wer hatte ihn wohl für diesen Einsatz eingeteilt? Wusste jemand, was einst zwischen ihnen geschehen war? Nur einem einzigen Menschen hatte Rhia von jenen unvergesslichen, verzauberten Wochen damals erzählt. Diese Person hätte es niemals weiter. erzählt. Und Marcus hatte sich ganz sicher keiner Menschenseele anvertraut.

Ihre Geschichte lag nun acht Jahre zurück, Rhia war damals Studentin an der Universität von Los Angeles gewesen. Sobald sie ein Zimmer im Wohnheim bewohnte und Vorlesungen und Seminare besuchte, hatte niemand sie mehr bewacht. Sie hatte es genossen, eine Studentin wie alle anderen zu sein und ein ganz normales Leben zu führen.

Sie war ja auch nur die Nummer sechs der Thronfolge in dem kleinen Fürstentum, ihre vier Brüder und Belle kamen alle vor ihr an die Reihe. Außerdem war sie immer die wohlerzogene, vorbildliche Prinzessin gewesen, und die Skandalblätter hatten sich kaum für sie interessiert.

Am Altar wurden jetzt die Versprechen ausgetauscht. Rhia reckte sich ein bisschen und lauschte den vertrauten Worten.

„Vor Gottes Angesicht nehme ich, Preston, dich, Arabella, zu meinem angetrauten Weibe …“

Seit sie gestern in Nizza an Bord des Familienjets gegangen waren, hatte Marcus keine drei Worte mit ihr gewechselt. Er war hier, um sie zu beschützen, und er würde seine Pflicht hundertprozentig erfüllen und keine Sekunde lang seine untergeordnete Stellung vergessen. So war er immer gewesen.

Sie musste nur den heutigen Tag und den Abend überstehen, und morgen flogen sie alle zurück nach Europa. Dann war sie wieder frei von ihm. Für immer.

Rhia seufzte leise. Jetzt war Belle vorne an der Reihe, und sie wandte den Blick nicht von ihrem Bräutigam. Ihr feingeschnittenes Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. „Vor Gottes Angesicht nehme ich, Arabella, dich, Preston, zu meinem angetrauten Ehemann …“

Benjamin, Prestons kleiner Sohn, krähte fröhlich auf dem Schoß einer älteren Verwandten: „Belle, Dada, Papa!“ Die Gäste lachten, als beide Brautpaare sich kurz umdrehten und dem Kleinen zuwinkten.

Es ist nur für einen Tag, sagte Rhia sich noch einmal. Bei dem Lachen des kleinen Jungen hatte ihre Stimmung sich schon ein wenig aufgehellt.

Nach der Trauung nahmen Rhias Eltern, Ihre Fürstliche Hoheit Adrienne und Prinzgemahl Evan von Montedoro, gemeinsam mit den beiden Hochzeitspaaren an der Tür die Glückwünsche entgegen. Anschließend erwartete sie noch der Fototermin, zu dem auch Rhia gebeten wurde. Die Sonne hing schon tief über den schneebedeckten Berggipfeln draußen, und die Luft war merklich abgekühlt.

Die ganze Zeit hielt Marcus sich gerade außerhalb von Rhias Gesichtsfeld auf. Er verstand es perfekt, außer Sicht und doch ständig in ihrer Nähe zu sein. Wann immer sie den Fehler beging, einen nervösen Blick in seine Richtung zu werfen, war sein Gesichtsausdruck so ruhig und unergründlich wie ein tiefer Bergsee.

Sie versuchte ihn zu ignorieren. Sie gab sich große Mühe, den Kopf nicht in seine Richtung zu drehen, aber es half nichts. Marcus Desmarais schien gleichzeitig überall und nirgends zu sein.

Während der Fotograf jetzt Fotos von Belle und Charlotte mit dem strahlenden Benjamin schoss, gingen Silas und Preston McCade freundlich winkend an Rhia vorbei und blieben irgendwo hinter ihr stehen.

Sie drehte sich um und sah, dass sie zu Marcus getreten waren.

Marcus nickte Vater und Sohn zu: „Gentlemen.“ Seine klare, ernste, beherrschte Stimme hätte Rhia unter Hunderten herausgehört. „Herzlichen Glückwunsch.“

Silas streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Schön, Sie zu sehen, Marcus. Sie haben uns gefehlt.“

Marcus erwiderte den Händedruck und sagte noch etwas, so leise, dass Rhia es nicht verstand. Silas und Preston lachten.

Überrascht und getroffen wandte Rhia sich ab. Es tat weh, wie vertraut und beinahe freundschaftlich Marcus mit den McCades verkehrte, während er sich ihr gegenüber wie ein kalter, wachsamer Fremder verhielt.

Sie hasste das Geheimnis zwischen ihnen. Sie schämte sich nicht dafür, dass sie Marcus einmal geliebt hatte. Es war Marcus gewesen, der sie beschworen hatte, dass niemand je davon erfahren durfte.

Rhia schlüpfte durch die weit offenen Eichentüren hinaus in den Kirchenvorraum. Es drängte sie, Abstand zu Marcus zu bekommen, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war. Er war sein Job, ihr überallhin zu folgen. Es gab einfach kein Entrinnen.

Im Vorraum trat ihre jüngere Schwester Alice auf sie zu, schlang einen Arm um sie und flüsterte: „Wie kommst du klar?“

„Frag nicht“, seufzte Rhia.

Alice lachte leise. „Ups, zu spät!“

Rhia verstand sich mit allen ihren vier Schwestern sehr gut, aber sie und Alice waren sich besonders nah. Sie waren nicht nur Schwestern, sie waren beste Freundinnen. Sie erzählten sich alles und hatten sich von Kindheit an geschworen, ihre gegenseitigen Geheimnisse zu bewahren. Alice war es, die Rhias und Marcus’ Geschichte kannte.

Marcus trat durch die offene Tür in den Vorraum heraus. Er sah sie und verschwand sofort hinter einer Säule im Halbschatten, wo er außer Sicht war und sie doch im Blick behalten konnte.

„Ich werde noch verrückt!“, stöhnte Rhia. „Wieso macht es mir so viel aus, Allie?“

Alice stellte sich zwischen Rhia und Marcus und versperrte dem Bodyguard damit kurzzeitig die Sicht. Jetzt konnten sie reden, ohne zu befürchten, dass Marcus sie hören oder von ihren Lippen lesen konnte.

„Wenn du es gar nicht mehr aushältst, dann rede mit Alex“, schlug Alice leise vor. „Sag ihm, dass du einen anderen Leibwächter willst.“

Ihr Bruder Alexander war Chef der gesamten Sicherheitsdienste. Er befand sich mit seiner Frau, Ihrer Königlichen Hoheit Liliana von Alagonien, und ihren drei Monate alten Zwillingen noch im Inneren der Kirche.

Rhia schüttelte den Kopf. „Es würde ein schlechtes Licht auf Marcus werfen. Außerdem könnte Alex sich fragen, ob da etwas zwischen uns ist.“

Alice schnaubte und sagte leichthin: „Na und? Dann streitest du es ab.“

„Es würde trotzdem auf Marcus zurückfallen“, murmelte Rhia. „Hatten wir das alles nicht schon mal?“

Sie sah sich vorsichtig um. Niemand schien sich für ihre Unterhaltung zu interessieren. Alice strich ihr tröstend über die Wange.

Acht Jahre lang hatte Rhia nun versucht, die Vergangenheit ein für alle Mal zu begraben. Inzwischen war sie zweimal verlobt gewesen, beides wunderbare Männer und perfekte Partien: der eine ein international bekannter Künstler aus berühmter Familie, der andere ein Angehöriger des Hochadels, der sich unermüdlich zahllosen wohltätigen Organisationen widmete.

Irgendwie hatte sie sich nicht dazu durchringen können, einen von ihnen zu heiraten. Und beide hatten irgendwann gemerkt, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war. Sie war mit ihren Ex-verlobten gut befreundet geblieben, und seltsamerweise deprimierte diese Tatsache sie im Augenblick nur noch mehr.

Alice spähte zur offenen Kirchentür hinüber. „Es geht zu Ende. Jetzt fahren wir gleich alle zur Ranch.“

Der große Empfang fand auf der Ranch der McCades statt, eine halbe Wegstunde entfernt. Alice zeigte Rhia den Autoschlüssel des glänzenden roten Pick-ups, den sie an diesem Morgen gemietet hatte. „Du fährst mit mir! Die Bodyguards können uns in einem anderen Wagen folgen. Wir bleiben ein bisschen auf der Feier, dann verdrücken wir uns. Wir machen uns irgendwo einen tollen Abend, und du vergisst alles für eine Weile.“

Rhia sah sie skeptisch an. „Heimlich abhauen? Nein, Allie, im Ernst!“

Alice legte ihr einen Arm um die Schulter. „Vertrau mir. Ein paar Stunden irgendwo inkognito werden dir guttun.“

An der Stelle hätte Rhia sofort Nein sagen sollen. Es war keine gute Idee. Aber sie fühlte sich so in dieser vertrackten Situation gefangen, dass die Idee, etwas Wildes, Verrücktes zu tun, ihr plötzlich verlockend erschien.

Sie fuhr mit Allie gemeinsam zur Ranch. Ihre Bodyguards folgten ihnen in einem der schwarzen Luxus-Geländewagen, die die Fürstenfamilie für diesen Besuch geleast hatte.

Das Haupthaus der Ranch war ein beeindruckender, mächtiger Holz- und Steinbau. Ein paar Cowboys spielten an diesem Tag formvollendete Diener, wiesen die Wagen zum Parken ein und nahmen den Gästen die Mäntel ab.

Rhia legte sich ein paar Häppchen von dem erlesenen kalten Büffet auf einen kleinen Goldrandteller, holte sich ein Glas Champagner und mischte sich unter die Hochzeitsgesellschaft.

Dabei merkte sie selbst, dass sie etwas zu laut redete und etwas zu viel lachte. Sie versuchte, sich und ihrem stummen, allgegenwärtigen Schatten zu zeigen, dass sie sich bestens amüsierte. Es war furchtbar anstrengend.

Ihr Nacken schmerzte von dem Bemühen, den Rücken durchgedrückt zu halten und das Kinn hoch zu recken. In ihren Schläfen klopfte es. Sie wollte nur noch zurück in das Hotel, das ihre Familie komplett gebucht hatte, in der warmen Badewanne liegen, ein Aspirin schlucken und unter die Bettdecke kriechen.

Aber wenn sie die Feier jetzt verlassen wollte, musste Marcus sie mit dem Wagen fahren. Um nichts auf der Welt wollte sie mit Marcus allein in einem Auto sitzen.

Also blieb sie.

„Du runzelst so die Stirn“, flüsterte Alice ihr ins Ohr. Sie war von irgendwoher wieder aufgetaucht. „Bist du bereit zur Flucht?“

Unwillkürlich sah Rhia nun doch zu Marcus hinüber. Die gleichzeitig distanzierten und glühenden Augen erwiderten ihren Blick, wissend und wachsam.

Sie seufzte. „Er fährt uns doch sofort hinterher. Das ist sein Job! Und was ist mit deinem Bodyguard?“

Alice sah unauffällig hinüber in seine Richtung. Er stand, wie Marcus, ganz in der Nähe. „Wir warten, bis sich beide einmal wegdrehen, und dann flitzen wir hinaus.“

„Marcus dreht sich niemals weg“, erwiderte Rhia überzeugt.

Alice überlegte kurz, dann nahm sie Rhia bei der Hand und zog sie mit sich in den nächsten von festlichen Gewändern und Stimmengewirr erfüllten Raum. Ehe die beiden Männer ihnen folgen konnten, drückte sie Rhia den Autoschlüssel in die Hand. „Der Pick-up steht vor der Eingangstür, abfahrbereit. Du fährst allein! Zu zweit können wir nicht unauffällig verschwinden.“

Verwirrt blickte Rhia hinunter und sah, dass der Schlüssel nicht das Einzige war, was Alice ihr in die Hand gedrückt hatte. Daneben lagen zwei Kondome.

„Das ist nicht dein Ernst“, flüsterte sie entgeistert.

„Hör auf, in deine Hand zu starren. Sonst sieht er es.“

Schnell schloss Rhia die Faust und ließ den Arm vorsichtig herunterhängen. „Was soll das? Ich werde ganz bestimmt nicht mit irgendeinem Fremden ins Bett gehen.“

„Sei auf alles vorbereitet im Leben, ist meine Devise.“ Alice’ Augen blitzten übermütig. „Beweg dich schon unauffällig Richtung Ausgang. Ich bleibe hier und lenke ihn ab! Es geht nicht anders.“

Es war eine völlig verrückte Idee, und Rhia wusste, dass sie einfach Nein sagen sollte. Sie war nicht wie Allie. Sie war immer eine Vorzeigetochter der Herrscherfamilie gewesen. Sie lebte ein ruhiges, sehr komfortables Leben in einer hübschen Villa mit herrlichem Meerblick und hatte einen wunderbaren Beruf: Sie kümmerte sich um Neuerwerbungen und Restaurierungen im Nationalmuseum von Montedoro – mehr eine angenehme Beschäftigung als echte Arbeit, ganz wie es einer Prinzessin von Montedoro zukam.

Und in einsamen Nächten sehnte sie sich noch immer nach dem einzigen Mann, der ihr je das Herz gebrochen hatte und der ihr nie wieder nahe kommen wollte. In diesem Augenblick stand er in der Tür zur Eingangshalle und beobachtete stumm die Festgesellschaft. Hochgewachsen, breitschultrig und hinreißend männlich, mit distanzierten Augen, in denen man versinken konnte, und dem jetzt so ernsten, schön geschwungenen Mund.

Vielleicht hatte Alice recht. Vielleicht musste sie einfach etwas Verrücktes tun.

„Ich hole meinen Mantel“, sagte sie leise zu Allie und wollte sich zur Treppe wenden, die ins obere Stockwerk führte. Dort lagen die Gästezimmer, in denen an diesem Tag die Cowboy-Diener Mäntel und Jacken der Festgesellschaft untergebracht hatten.

Allie packte sie am Arm und flüsterte: „Als Kriminelle bist du wirklich nicht begabt. Wenn du deinen Mantel holst, sieht er doch, dass du fortwillst.“

„Aber es ist kalt draußen“, protestierte Rhia schwach.

„Der Pick-up hat eine Heizung. Und jede Cowboy-Bar ebenfalls. Viel Glück, mach was draus!“ Mit diesen Worten klopfte Alice ihr noch einmal auf die Schulter und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Rhia sah ihr hinterher und ärgerte sich über ihre eigene Unentschlossenheit. Nein, alles war besser, als sich noch Stunden auf Arabellas Hochzeitsfeier zu quälen und sich dabei ständig weit weg zu wünschen!

Langsam bog sie um eine Ecke, wo Marcus sie für einen Augenblick nicht sehen konnte, und steckte den Autoschlüssel und die völlig überflüssigen Kondome in die Jacketttasche zu ihrem Führerschein, den sie auf Allies Anraten – „für alle Fälle“ – schon vorher an sich genommen hatte.

Dann trat sie an einen der blumengeschmückten Tische mit Getränken und nahm sich eine kleine Flasche Wasser. Sie nippte an der Flasche und wanderte mit unschuldigem Gesichtsausdruck hinüber ins Wohnzimmer, wo sie stehen blieb und kurz mit ihrem Bruder Rule und seiner Frau plauderte.

Ohne Eile schlenderte sie Richtung Diele, blieb unterwegs bei jedem stehen, mit dem ihre Blicke sich kreuzten, und wechselte ein paar Worte. Bis sie auf diese Weise irgendwann in der Nähe des Ausgangs landete.

Inzwischen machte es ihr sogar Spaß, die heimliche Flucht vorzubereiten.

Würde Allie das Ablenkungsmanöver gelingen? Und wo war Allie überhaupt?

In diesem Augenblick trat ihre Schwester in Aktion. Ein spitzer Schrei ertönte, und alle Köpfe fuhren herum Richtung Wohnzimmer. Dort war Allie gerade mit einem vollen Teller und einem großen Glas Eistee in den Händen auf Marcus zugestolpert.

Der Bodyguard fing sie blitzschnell auf, bevor sie der Länge nach auf dem Parkett landen konnte.

Den Teller mit Essen und das gefüllte Glas erwischte er allerdings nicht mehr. In hohem Bogen flogen die Köstlichkeiten vom Büffet Marcus ins Gesicht, und der Tee ergoss sich über seine schmucke Uniform.

Rhia sah nicht mehr, was weiter geschah. Während alle Augen auf Alice und dem mit Essen und Tee überschütteten Bodyguard ruhten, öffnete sie schnell die Haustür und schlüpfte hinaus.

2. KAPITEL

Der große rote Pick-up wartete am Fuß der breiten Eingangstreppe und glänzte schwach im Mondlicht. Atemlos eilte Rhia die Stufen hinunter und um den Wagen herum zur Fahrerseite.

In der nächsten Sekunde saß sie hinter dem Lenkrad. Mit ruhigen Händen drückte sie den Startknopf, legte den Gang ein und fuhr die lange Auffahrt hinunter, die zum Highway führte.

Viel schneller als erlaubt fuhr sie in Richtung Elk Creek, bis sie irgendwann einen Blick in den Rückspiegel riskierte. Niemand folgte ihr. Da warf sie den Kopf in den Nacken und lachte laut heraus. Im Wagen war es kuschelig warm, und ein Sender mit Country-Musik verbreitete muntere Stimmung.

Als sie Elk Creek erreichte, ging sie vom Gas und hielt Ausschau nach irgendeiner Cowboy-Bar, von denen es laut Allie hier an jeder Ecke eine geben sollte. Aber Elk Creek schien ein hoffnungslos verschlafenes Städtchen, und nirgends sah Rhia die Art Lokal, wo man sich mit Cowboys, Tequila und Rundtänzen amüsieren konnte.

Bevor es ihr richtig bewusst wurde, lag Elk Creek schon hinter ihr. Sie fuhr einfach weiter, der fast runde, helle Mond leitete sie, in ihrem hochhackigen Designer-Schuh trat sie wieder aufs Gas. Früher oder später würde Marcus ihr hinterherfahren. Bis dahin musste sie nur genügend Vorsprung gewinnen, damit er sie an diesem Abend nicht mehr fand.

Vielleicht sollte sie den Highway verlassen und sich an Nebenstraßen halten, um ihre Spur zu vertuschen? Aber dann verirrte sie sich am Ende noch in der ihr völlig unbekannten Gegend!

Also fuhr sie immer weiter geradeaus.

Captain Marcus Desmarais jagte den schwarzen Geländewagen durch die Nacht. Er diente seinem Land und der Herrscherfamilie mit Leib und Leben, in diesem Augenblick aber war er einer Katastrophe ziemlich nahe.

Er nahm den Fuß kaum vom Gas, als er Elk Creek erreichte, während er rechts und links nach einem roten Pick-up oder einer wunderschönen dunkelhaarigen Frau im blauen, perfekt sitzenden Seidenkostüm Ausschau hielt.

Weit und breit waren weder die Frau noch der Pick-up zu sehen. Das hieß hoffentlich, dass Rhiannon sich noch vor ihm befand. Wenn sie nur nicht von dem Highway herunter gefahren war! Dann fand er sie womöglich nie.

Nein! Natürlich fand er sie, oder aber sie kam in den nächsten Stunden von selbst zurück. Marcus verbot sich jeden anderen Gedanken. Er biss die Zähne zusammen, trat wieder stärker aufs Gas und konzentrierte sich auf die Straße vor ihm.

Seine Hoheit Alexander hatte ihm eine Stunde Zeit gegeben, die Prinzessin zu finden und das Problem unauffällig zu lösen, ohne Alarm zu schlagen. Wenn Marcus das nicht gelang, wollte der Fürst Verstärkung kommen lassen. Das würde die Familie in Angst und Schrecken versetzen, die Hochzeitsfeier ruinieren und ein gefundenes Fressen für die Skandalpresse bedeuten.

Fast die Hälfte seiner Frist war bereits verstrichen.

Warum hatte Rhiannon das getan? Was wollte sie damit beweisen, dass sie sich so unsinnig und rücksichtslos in Gefahr begab?

Marcus wusste die Antwort, und es tat weh. Die Prinzessin war weggelaufen, weil sie seiner Nähe entkommen wollte.

Er hätte diesen Auftrag niemals annehmen dürfen. Natürlich fand Rhiannon die Situation unerträglich. Er hätte um Ablösung bitten müssen, egal, was seine Vorgesetzten dann dachten. Wenn man es ihm verweigert hätte, dann hatte er wenigstens alles versucht.

Aber er war zu stolz gewesen. Und zu ehrgeizig. Außerdem wollte er nicht, dass Rhiannon ins Gerede kam, er hatte ihr schon genug Leid zugefügt. Er wollte vermeiden, dass jemand womöglich in der Vergangenheit stocherte und herausfand, was vor so langer Zeit passiert war.

Deshalb hatte er geschwiegen und den Auftrag akzeptiert. Es war seine Schuld, dass Rhiannon mithilfe ihrer leichtsinnigen Schwester auf diesen verrückten Fluchtplan verfallen war.

Die Stadt war hinter ihm verschwunden. Vor ihm lag der dunkle Highway, Wolken zogen vor den Mond und verdeckten die hellen Sterne, die Nacht wurde immer schwärzer. Marcus beschleunigte noch ein wenig, rückte den Bluetooth-Knopf in seinem Ohr zurecht und fuhr immer weiter.

Im Autoradio des Pick-up sang ein einsamer Cowboy von seiner großen Liebe. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rhia die Lautstärke voll aufgedreht.

Kurz darauf erschien vor ihr am dunklen Horizont Rowdy’s Roadhouse als wundervolles grelles Licht: Musik, Alkohol, Poolbillard, Videopoker und jeden Abend Tanz. Genau das Richtige!

Sie bremste ab, als sie die Einfahrt zu dem großen, unbefestigten Parkplatz erreichte. Helle Laternen auf hohen Masten beleuchteten eine Unmenge schlammverkrusteter Pick-ups und dicker Geländewagen.

Rowdy’s selbst war ein quadratisches Gebäude mit Schindeldach und einem gigantischen Neonschild über der Tür.

Ein großer grüner Geländewagen rollte heraus, und Rhia fuhr in die Lücke. Bevor sie ausstieg, tastete sie noch einmal nach ihrem Führerschein, denn sie wusste, dass Barkeeper in den USA auf das Alter ihrer Gäste achteten.

Und da ging ihr auf, dass sie überhaupt kein Geld bei sich hatte. Es würde schwierig werden, ohne Bargeld oder Kreditkarte an ein Bier oder einen Tequila zu kommen.

Aber dann zuckte sie die Achseln und stieg aus. Auch ohne Alkohol konnte sie sich amüsieren und mit irgendwelchen Cowboys tanzen, wenn die sie nur auffordern würden. Vielleicht suchte sie sich auch kühn einfach selbst jemanden aus!

Der Parkplatz war aufgeweicht und schlammig – Pech für ihre Satinpumps! Jetzt war sie so weit gekommen, da machte sie nicht kehrt. Auch wenn sie damit ihre Lieblings-Manolos ruinierte. Rhia schloss den Wagen ab und ging auf die Musik und die Neonlichter zu.

Der Himmel über ihr war jetzt eine undurchdringliche dunkle Masse. Dicke Wolken verdeckten den Mond und die Sterne. Rhia schlang die Arme um sich und fröstelte. Es war kalt geworden. Am Eingang lehnten ein paar Cowboys an der Veranda und blickten ihr entgegen.

Einer von ihnen pfiff langsam durch die Zähne. „Oho, Süße. Heiß und mit Klasse. Ganz wie ich es mag.“ Er war groß und sehr schlank. Jetzt grinste er sie an, und eine breite Lücke blitzte zwischen seinen Vorderzähnen.

Eine rothaarige Frau in Jeans und strassbesetztem Shirt schlug ihm seinen großen Hut vom Kopf. „Wo sind denn deine Manieren, Bobby Dale!“

Bobby Dale bückte sich und setzte den Hut wieder auf. „Immer mit der Ruhe, Mona. War doch nur Spaß.“

Mona schnaubte, dann lächelte sie Rhia freundlich an. „Kommen Sie nur rein. Die Musik ist prima und die Gesellschaft ganz annehmbar.“

Wie sich herausstellte, war Mona Barkeeperin bei Rowdy’s. Sie nahm Rhia mit hinein und schob ihr ein Bier mit einem Schuss Tequila auf Kosten des Hauses über die Theke.

Beim Anblick von Rhias Führerschein, der ihren vollen Namen, jedoch keinen ihrer Titel enthielt, fragte Mona: „Aus Montedoro? Kommen Sie von Pres McCades Hochzeit mit unserer Prinzessin?“

Unsere Prinzessin. Die Leute hier hatten Arabella schon adoptiert. Rhia musste lächeln. „Stimmt“, sagte sie. „Es war eine sehr schöne Hochzeit.“

Die Band spielte wieder los, und ein Cowboy tippte Rhia auf die Schulter. Sie trank noch einen Schluck Bier, zwinkerte Mona verschwörerisch zu und ließ sich auf die Tanzfläche führen und einen Western-Tanz namens Two-Step beibringen.

Zwanzig Minuten später hatte sie mit drei weiteren Cowboys getanzt, und alle waren echte Gentlemen gewesen. Sie fühlte sich herrlich. Vielleicht sollte sie sich schnell ein Handy ausleihen und Allie anrufen, dass sich niemand Sorgen zu machen brauchte. Sie wollte ihr sagen, dass sie hier im Warmen und in Sicherheit war, nur ein Bier und einen Schuss Tequila getrunken hatte und zur Ranch zurückkommen würde, sobald Rowdy’s Roadhouse an diesem Abend dichtmachte.

Mona mixte Drinks am anderen Ende der Bar. Rhia kletterte auf ihren Barhocker, kippte den Rest von ihrem Bier hinunter und wartete auf eine Gelegenheit, Mona kurz um ihr Handy zu bitten.

Sie spürte, dass jemand hinter ihr stand. Lächelnd drehte sie den Kopf, um dem nächsten Cowboy zu sagen, dass sie gern mit ihm tanzte, nur erst noch schnell telefonieren musste.

Ihr Herzschlag setzte aus, und die Luft blieb ihr weg, als sie sah, dass es überhaupt kein Cowboy war.

3. KAPITEL

Vor ihr stand Marcus.

Jemand von der Ranch musste ihm nach seinem Zusammenstoß mit Allies Essen frische Kleider geliehen haben.

Er trug alte Jeans und Lederstiefel, ein dunkles Sweatshirt und eine schwere schwarze Lodenjacke. Er roch nach der kalten Bergluft draußen und sah aufregender und hinreißender aus als alle attraktiven Cowboys, mit denen sie bisher getanzt hatte.

Sein Gesichtsausdruck jedoch war noch distanzierter und ausdrucksloser als gewöhnlich. „Zeit, zu gehen, Ma’am.“

Beim Klang seiner warmen, klaren Stimme lief Rhia ein erregter Schauer über den Rücken. Sie schluckte, straffte sich und rührte sich keinen Millimeter. „Nein, danke. Ich amüsiere mich bestens und habe nicht vor, so bald aufzubrechen.“

Er runzelte die Stirn, dann fasste er an den Knopf in seinem Ohr und lauschte. Nach einem Augenblick sagte er: „Ja, Sir. Alles in Ordnung, Sir. Allerdings scheint Ihre Hoheit noch nicht geneigt, das Lokal zu verlassen.“

Rhia stöhnte. „Ist es mein Bruder?“

Marcus warf ihr einen kurzen Blick zu, während er weitersprach. „Jawohl, Sir. Das werde ich. Danke, Sir.“

Das Gespräch schien zu Ende zu sein, also fragte sie ein zweites Mal: „War das mein Bruder?“

Er sah sie direkt an, gleichzeitig hellwach und unendlich müde. „Seine Hoheit Alexander, ja. Wollen wir gehen, Ma’am?“

Ma’am. Er war so ein Protokollfanatiker. Als hätte er sie niemals nackt gesehen! Rhia juckte es in den Fingern, ihm ihren Drink ins Gesicht zu schütten. Leider war ihr Glas leer.

„Nein“, gab sie zurück. „Ich möchte noch nicht gehen. Wenn du warten willst, dann bitte etwas weiter weg.“ Sie wies vage zu einer entfernten Wand hinüber. „Niemand fordert mich zum Tanz auf, wenn du neben mir stehst und alle finster anstarrst.“

Ungerührt wiederholte er: „Ma’am, wir müssen fahren.“

„Nein, das müssen wir nicht. Geh, wenn du willst. Ich bleibe.“

Er stand noch aufrechter da, falls das noch möglich war. „Ma’am, ein Schneesturm ist im Anzug.“

Leise antwortete sie: „Wenn du noch einmal Ma’am zu mir sagst, schreie ich.“

Mit völlig ausdrucksloser Miene und Stimme versuchte er es weiter. Aber er ließ das Ma’am weg: „Ein Schneesturm zieht auf. Wir müssen zurückfahren nach Elk Creek.“

„Was soll das heißen? Es war kein Schneesturm angekündigt.“

„Ich habe die Wolken gesehen und den Wetterbericht gehört“, erklärte Marcus ihr jetzt geduldig, wie einer Schwachsinnigen oder einem kleinen Kind. „Ein Schneesturm ist im Anzug. Ich schwöre es.“

„Und was machen dann all die anderen noch hier?“ Rhia breitete die Arme aus. „Wenn es gefährlich wird, warum fahren sie dann nicht?“

„In Montana schneit es oft im April. Diese Leute leben hier, sie sind an Schneestürme gewöhnt. Sie haben die richtige Kleidung und die richtigen Autos dafür und wissen, wie sie fahren müssen.“

„Ich habe auch das richtige Auto. Und ich kann durchaus damit umgehen. Was meine Kleidung betrifft: Mein Pick-up hat eine hervorragende Heizung.“

„Rhiannon. Wir müssen fahren.“

Verwirrt sah sie ihn an. Er musste tatsächlich nervös sein, denn er hatte sie, gegen jedes Protokoll, bei ihrem Namen genannt.

Sekundenlang erwiderte er ihren Blick, dann sagte er leise: „Bitte.“ Es klang heiser.

Rhia spürte, wie sie schwankend wurde. Sie kam sich immer mehr wie ein launisches, ungezogenes Kind vor.

Nein! Sie würde sich nicht mitten aus dem Vergnügen davonschleichen, nur weil Marcus Desmarais das wollte. Sie nahm ihm die Geschichte mit dem Schneesturm nicht ab. Er sagte das nur, damit sie mitkam.

Sie tat hier nichts Unrechtes. Die Uhr über der Bar zeigte gerade mal halb elf, und sie hatte jedes Recht der Welt, noch eine Weile zu bleiben, wenn ihr danach war. Umso mehr, da Marcus sie nun aufgespürt hatte und seiner kostbaren Pflicht nachkommen und sie beschützen konnte. Auch wenn sie seinen Schutz bisher nicht im Geringsten gebraucht hatte.

Ihr Bruder Alex wusste jetzt, wo sie war und dass sie ihren Bodyguard bei sich hatte, also würde sich auch niemand mehr Sorgen machen.

„Ich möchte gern noch tanzen“, erklärte sie fest. „Ich sage dir Bescheid, wenn ich bereit bin zu gehen.“

Marcus’ Gesicht war wie in Stein gemeißelt, nur seine jetzt fast grünen Augen blitzten. Er sah sie so intensiv an, dass sie kurz fürchtete, er würde sie mit seiner großen, starken Hand am Arm packen und gewaltsam mit sich ziehen. Bei der Vorstellung überlief sie ein warmer Schauer.

Aber Marcus besaß eiserne Selbstbeherrschung. Er wandte sich schließlich auf dem Absatz um und verschwand jenseits der Tanzfläche aus ihrem Blick.

Marcus sah Rhiannon zu.

Das war alles, was er durfte. Zusehen, wie sie mit dem nächsten Cowboy tanzte. Und danach mit einem weiteren.

Seine Frustration wuchs. Er wollte Rhiannon packen, über seine Schulter werfen und aus diesem Lokal hinaustragen. Natürlich war das undenkbar. Sie war eine Prinzessin von Montedoro, und er diente ihrer Familie. Wenn ihr Wille gegen seinen stand, hatte sie alle Trümpfe in der Hand.

Sogar, wenn ein Schneesturm im Anzug war und sie, hinreißend und wunderschön, mit lauter Unbekannten tanzte und ihr Lächeln an jeden verschenkte.

Er ahnte, dass es mit einem dieser Männer noch Ärger geben würde. Früher oder später würde einer von ihnen zu weit gehen, wenn der Abend später wurde und der Alkohol weiter in Strömen floss. Dann musste er womöglich eingreifen. Der Gedanke entlockte ihm einen müden Seufzer.

Aber je mehr Cowboys einen Tanz von Rhiannon bekamen und je länger Marcus gezwungen war, dazustehen und zuzusehen, wie diese Männer ihre gewöhnlichen Pranken an sie legten, desto mehr spürte er, wie sich die Hitze in ihm ansammelte. Und der Gedanke, irgendjemandem einen harten, gezielten Fausthieb zu verpassen, wurde immer verlockender.

Rhia hatte mit einem weiteren Cowboy getanzt. Aber es machte nicht mehr so viel Spaß wie zuvor. Mit Marcus’ Anwesenheit hatte ihr kleines Abenteuer plötzlich seinen Reiz verloren.

Als der nächste Cowboy zu ihr trat, lehnte sie dankend ab. Sie setzte sich wieder an die Bar, wo jemand ihr einen weiteren Tequila und ein frisches Bier spendiert hatte.

Mona kam zu ihr. „Das ging auf Bobby Dale.“

Ein paar Hocker weiter hob Bobby Dale grüßend seine Bierflasche und grinste mit seiner breiten Zahnlücke.

Warum nicht? Rhia kippte den Tequila hinunter und nahm einen unprinzessinnenhaft großen Schluck Bier. Irgendwo im Dunkel hinter ihr schnaubte Marcus sicher angewidert.

Das ist egal, sagte sie sich. Völlig egal.

Bobby Dale signalisierte Mona, dass sie Rhia noch einen ausgeben sollte, und Mona hatte das Glas schon gefüllt, ehe Rhia sie davon abhalten konnte. Ohne nachzudenken kippte sie auch diesen Tequila noch.

Es war dumm von ihr, das wusste sie. Der Tequila zog eine heiße Spur durch ihre Kehle, und Hitze breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie bereute schon, dass sie ihn getrunken hatte. Und auch den davor.

Was bewies sie damit, dass sie sich betrank? Nichts Gutes. Außerdem musste sie nun aufs Klo.

Sie ging zu den Waschräumen, wo sie warten musste, bis eine Kabine frei wurde. Als sie sich die Hände wusch, sah sie, dass ihr Haar sich aus dem dicken Knoten an ihrem Hinterkopf löste. Ihr Pony war völlig durcheinander und ihr Lippenstift schon längst verschwunden. Sie sah genau so aus, wie sie sich fühlte: verloren und müde, ein bisschen beschwipst von den Tequilas und dem Bier, mit leichten Ringen unter den Augen.

Sie steckte ihr Haar wieder fest, glättete ihren Pony, strich sich Rock und Jackett gerade, straffte die Schultern und trat wieder hinaus. Natürlich stand Marcus an der Saaltür und wartete auf sie, eisern, geduldig, unerschütterlich.

Ihr war klar, dass es keinen Sinn mehr hatte. Der Abend war vorüber. Es war Zeit, in das Motel zurückzufahren und ein paar Stunden zu schlafen, bevor sie morgen alle mit dem Familienjet wieder nach Montedoro zurückflogen.

Nach den Tequilas und dem Bier sollte sie sich nicht mehr ans Steuer setzen. Sie würde vernünftig sein und mit dem Mann zurückfahren, dem sie an diesem Abend eigentlich entkommen wollte. Den Pick-up konnten die Leute vom Autoverleih morgen hier abholen.

Rhia sah Marcus an. „Du hast gewonnen, wir können gehen.“

Wortlos folgte er ihr, als sie sich zum Ausgang wandte.

„He, schöne Frau. Wohin so schnell?“ Bobby Dale war plötzlich erschienen und baute sich vor ihr auf. „Kriege ich nicht noch einen letzten kleinen Tanz?“

Rhia spürte, wie Marcus hinter ihr näher trat. Das brauchte er nicht! Sie kam mit Bobby Dale schon klar. Mit einer Handbewegung hielt sie Marcus zurück.

„Gut, Bobby Dale. Einen Tanz. Und dann muss ich wirklich gehen.“

Bobby sah nicht betrunken aus, aber auch nicht mehr ganz nüchtern. Er ließ die Zahnlücke sehen und musterte den stummen Mann hinter Rhia aus schmalen Augen: „Wer ist das? Ihr Freund?“

„Nein, er ist nicht mein Freund. Wollen Sie nun tanzen oder nicht?“

„Und ob ich will, Schätzchen.“ Er nahm sie beim Arm.

Mit einem leicht unguten Gefühl ließ sie sich von ihm führen.

Sie merkte sofort, dass es ein Fehler gewesen war. Er zog sie zu fest an sich und wirbelte sie vom Tanzboden fort in die dunkleren Ecken des großen Raumes. Als sie versuchte, etwas Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, tatschte er mit der Hand an ihrem Rücken noch weiter hinunter.

„Ich hab sofort gewusst, dass du was Besonderes bist“, flüsterte er in ihr Ohr, und sein Atem stank nach Bier. „Außen ganz die Lady, innen heißer als eine Rakete. Du wartest nur darauf, dass der richtige Mann dich zündet.“

Das war zu viel. „Es reicht. Lassen Sie los.“

Hinter Bobbys Schulter tauchte Marcus auf. Rhia sah nur vollkommene Konzentration und Ruhe in seinen Augen. Er war noch Zentimeter entfernt.

Bobby Dale schien keine Ahnung zu haben, dass Marcus hinter ihm stand.

Marcus streckte eine Hand aus.

„Oh, Süße, jetzt werde nicht zickig“, flüsterte Bobby. Er steckte seine Nase in ihr Haar. „Zwischen uns stimmt die Chemie.“

Da fasste Marcus nach Bobbys Schulter, und Bobby hörte auf zu reden. Der Mund des Cowboys formte ein rundes „O“ und seine Augen wurden leer. Er ließ Rhia los, seine Arme fielen leblos herab, dann knickten ihm die Knie ein, und er ging zu Boden.

Rhia blinzelte, sah auf den bewusstlosen Cowboy hinunter, ratlos, was gerade geschehen war. „Ist er …?“

„In zehn Minuten geht es ihm wieder gut“, sagte Marcus trocken.

Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Sie standen hinter einer Säule jenseits der Tanzfläche, außerhalb der Lichter.

Und dann berührte Marcus sie, zum ersten Mal seit acht Jahren. Rhia sog scharf die Luft ein, als er sie in die Arme nahm und mit ihr tanzte, sie herumwirbelte und unauffällig und zügig zur Tür bugsierte.

Sie widersprach nicht. Seine Berührung hatte sie so elektrisiert, dass sie kein Wort herausbrachte. Außerdem war sie nur allzu bereit, Rowdy’s Roadhouse hinter sich zu lassen. Sie sah hoch in diese magischen graugrünen Augen und verspürte nur noch die tiefste, traurigste Sehnsucht. Nach ihm.

Die Sehnsucht machte alles noch viel schlimmer. Sie blickte in Marcus’ distanzierte Augen und sah sich selbst: ein komplettes Desaster, als Prinzessin und als Frau.

Marcus hatte erwartet, dass Rhiannon sich wehren und ihm befehlen würde, nie wieder Hand an sie zu legen. Aber sie tat nichts dergleichen. Sie ließ es zu, dass er sie tanzend zur Tür führte, und als er dort nach ihrer Hand griff, folgte sie ihm weiter, zur Tür hinaus und die Stufen hinunter. Dabei sagte sie kein Wort.

Es schneite bereits heftig, und der Wind hatte zugelegt. Der Himmel über ihnen war sternenlos, tiefgrau und bedrohlich. Marcus hatte in Elk Creek den letzten Winter verbracht und für die Sicherheit Ihrer Hoheit Arabella gesorgt. Er wusste, was ihnen jetzt bevorstand: mehr und mehr Schnee, vermutlich sehr viel. Es war kalt und wurde immer noch kälter.

Rhiannon stolperte neben ihm her und blickte ratlos hoch zum Himmel. „Es schneit wirklich. Sieht nicht besonders gut aus.“

„Nicht stehen bleiben“, befahl Marcus. „Der Wagen ist da drüben …“

Sie senkte den Kopf und lief weiter. Er fühlte ihre kleine, kalte Hand in seiner und verdrängte mit Macht alle bittersüßen Erinnerungen. In ihren wenigen, verbotenen Wochen an der Universität von Los Angeles hatten sie damals ständig Händchen gehalten. Es war in einer anderen Zeit und in einem anderen Leben gewesen.

Er führte Rhiannon zwischen ein paar Wagen hindurch. Seit seiner Ankunft hatte der Parkplatz sich stark geleert. Jetzt gab es viele freie Plätze. Offenbar hatten sich viele von Rowdy’s Stammgästen auf den Weg gemacht, bevor es richtig losschneite.

Sie kamen an dem roten Pick-up vorbei, auf dessen Dach und Kühlerhaube schon eine dicke weiße Schicht lag. Dann erreichten sie endlich Marcus’ Geländewagen. Er öffnete für Rhiannon die hintere Tür, Schnee rutschte vom Dach und landete zu ihren Füßen.

Sie löste ihre Hand aus seiner und sagte: „Nein.“

Er musste sich beherrschen, um die zarte, schwankende Gestalt nicht einfach hochzuheben und ins Auto zu setzen. Stumm starrte er sie an.

Rhiannon schlang die Arme um sich. Sie zitterte vor Kälte. „Nein, ich sitze nicht hinten. Ich werde vorne sitzen, neben dir.“

Es verstieß gegen jede Etikette, dass Ihre Hoheit vorne neben dem Fahrer saß. Das wusste sie selbst genau. Aber Marcus hatte keine Kraft mehr. Er nickte und begleitete sie um den Wagen herum. Dann hielt er ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie sicher saß und sich angeschnallt hatte.

Als er sich hinters Steuer schwang, klapperte Rhiannon neben ihm vor Kälte mit den Zähnen. Er startete den Motor, und die Heizung ging an, während er rückwärts aus dem Parkplatz rollte.

Etwas stimmte nicht.

Da dämmerte es ihm: Niemand außer ihnen fuhr auf die Straße hinaus. Sie hatten als Einzige das Lokal verlassen, seither schien kein anderer herausgekommen zu sein. Die Ortsansässigen taten vermutlich das Richtige: Wer nicht schon früher gefahren war, fuhr jetzt nicht mehr los. Die Leute warteten im Lokal, bis das Schlimmste vorbei war.

Marcus trat auf die Bremse, bevor sie auf den windumtosten, schneebedeckten Highway hinausfuhren. „Vielleicht ist es klüger, hier abzuwarten. Offenbar machen es alle anderen so“, sagte er ruhig.

Rhiannon sah ihn nicht an. Sie hatte die Arme fest um sich geschlungen und den Kopf zwischen die Schultern gezogen, wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Immerhin schien sie nicht mehr so heftig zu zittern.

„Nein“, entgegnete sie leise und ohne Feindseligkeit, aber ihre Stimme klang unendlich traurig. „Bitte. Können wir einfach nach Elk Creek fahren? Ich möchte um nichts auf der Welt jetzt da noch einmal hinein.“

Es schneite heftiger. Und der Wind blies die dichten Flocken waagerecht gegen die Windschutzscheibe. Marcus fuhr langsam und vorsichtig.

Doch es wurde immer schwieriger. Inzwischen gab es fast keine Sicht mehr, sie fuhren in eine weiße Wand hinein. Er überlegte, entgegen Rhiannons Wunsch kehrtzumachen und zurückzufahren. Aber war das wirklich sicherer? Er sah die Straßenränder zu beiden Seiten nicht mehr. Und wenn ein anderer Wagen kam, während er zu wenden versuchte …

Marcus fuhr weiter. Die Scheibenwischer schoben unablässig den Schnee beiseite, Rhiannon saß stumm und reglos neben ihm.

Auf einmal sog sie scharf die Luft ein.

Ein anderer Wagen war aufgetaucht und fuhr viel zu schnell auf sie zu. Marcus sah keine Umrisse, nur vier gleißende Lichter: ein Paar Frontscheinwerfer und ein Paar oberhalb der Windschutzscheibe, wie die Farmer dieser Gegend sie gern anbrachten.

„Marcus!“, flüsterte Rhia. „O Gott …“

„Alles in Ordnung“, gab er zurück, obwohl das keineswegs stimmte.

„Marcus, es tut mir so leid! Wegen allem …“

„Schsch“, beruhigte er sie. „Alles in Ordnung“, log er noch einmal und drückte mit aller Kraft auf die Hupe.

Aber es nutzte nichts.

Die vier gleißenden Lichter begannen sich zu drehen. Auf einmal leuchteten sie seitlich über den Straßenrand hinaus, und der Wagen selbst wurde sichtbar: ein brauner Pick-up, der seitlich ins Rutschen gekommen war – nicht mehr auf der Gegenfahrbahn, sondern auf ihrer. Er schlitterte direkt auf sie zu.

Im Seitenfenster des Pick-up sah Marcus den Fahrer: ein alter Mann mit einem Cowboyhut, die Augen zwei schwarze Löcher, der Mund weit aufgerissen.

Instinktiv riss Marcus das Steuer herum. Der Pick-up schoss an ihnen vorbei und streifte sie am Heck, ein heftiger Schlag, dann schleuderte er weiter und verschwand in dem Schneewirbel hinter ihnen.

Marcus versuchte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber er hatte keine Chance. Die eisige, schneebedeckte Fahrbahn bot keinen Halt. Der Geländewagen rutschte weiter, über den Straßenrand hinaus und die Böschung hinunter.

4. KAPITEL

Rhias leicht benebeltes Hirn konnte nicht so schnell folgen, als der Crash passierte. Sie sah den braunen Pick-up seitlich auf sich zuschleudern, das Gesicht eines entsetzten alten Mannes mit einem großen Hut. Dann waren sie auf einmal nicht mehr auf der Straße, die Schnauze des Geländewagens zeigte plötzlich steil nach unten. Sie schloss die Augen und wartete auf den Tod, als sie über den Rand der Klippe stürzten.

Aber es war keine Klippe.

Im nächsten Augenblick landeten sie auf festem Boden, und die Schnauze des Geländewagens wies wieder mehr oder weniger in die Horizontale. Der Aufprall fuhr Rhia heftig in den Rücken. Eine riesige weiche Wand erschien, kam direkt auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht und auf die Brust. Das Ding ließ schon wieder Luft ab, als sie erkannte, dass es der Airbag war.

Der Wagen stand jetzt vollkommen still. Nur ein leises Ächzen und Knacken ertönte, und das eigenartige leichte Seufzen des Gefährts, das vielleicht nie mehr fahren würde.

„Rhia, o Gott …“ Marcus war halb aus seinem Sitz gestiegen und beugte sich über sie. „Rhia, bist du …?“

Sie wagte es, die Hand auszustrecken und das verbotenerweise geliebte Gesicht zu berühren. Es war echt. Warm und ein wenig kratzig von den frisch gewachsenen Stoppeln, genau wie sie es in ihren einsamen Träumen in Erinnerung gehabt hatte.

„Du hast mich Rhia genannt …“ Den Namen hatte er seit ihrer kurzen gemeinsamen Zeit nie mehr ausgesprochen.

„O Gott“, sagte er noch einmal heiser. „Bist du verletzt?“

Sie schloss die Augen und versuchte zu erkennen, wie ihr Körper sich anfühlte. Als sie die Augen wieder öffnete, lächelte sie nervös. „Nein. Alles in Ordnung. Ziemlich zittrig, aber ok.“

„Gott sei Dank.“

„Und du?“

„Nichts passiert“, sagte Marcus knapp. Er überging seinen eigenen Zustand, so, wie er immer über alles hinweg ging, was ihn selbst betraf.

Da fiel Rhia der andere Fahrer ein, und sie erstarrte.

„Was hast du?“, fragte Marcus alarmiert. „Irgendwo Schmerzen? Sag es mir.“

„Der arme alte Mann in dem Pick-up …“ Sie begann ihren Gurt zu lösen. „Wir müssen zu ihm. Der Pick-up muss irgendwo hinunter gerutscht sein.“

„Warte.“

„Aber, Marcus …“

„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Er sprach in sein Bluetooth-Set: „Neun-eins-eins“ und lauschte.

Sie wartete angespannt. Doch Marcus war verstummt, und im nächsten Augenblick zog er sein Handy aus der Tasche und prüfte das Display.

„Was ist los?“, fragte sie.

Er sah sie wieder an. „Kein Netz. Das muss der Sturm sein.“ Entschlossen steckte er das Handy ein und schnallte sich wieder an. „Schnall dich auch wieder an. Ich versuche, uns herauszufahren.“

Vielleicht schafften sie es ja tatsächlich. Die Scheinwerfer des Geländewagens leuchteten noch immer, strahlten eigenartig, weil das Auto halb in dem Schneewall vergraben war. Windschutzscheibe und Fenster waren heil. Die Kühlerhaube – so viel man erkennen konnte – sah allerdings übel aus, verbogen und zerknautscht.

Marcus griff um seinen erschlafften Airbag herum und startete den Motor.

Zumindest versuchte er es. Man hörte nur ein Klicken, und im nächsten Moment erloschen die Scheinwerfer.

Rhia sah das Weiße in seinen Augen im Dunkel schimmern. „Ich versuche es noch mal.“ Wieder ein Klicken, dann noch ein paar Mal, aber der Motor blieb aus.

Sie holte tief Luft. Dann dachte sie an den alten Cowboy. „Wir müssen aussteigen und zurück zur Straße gehen. Wir müssen nach dem alten Mann sehen.“

Marcus sah sie im Halbdunkel an. „Du zitterst.“

Der Motor war tot, und das hieß, auch die Heizung funktionierte nicht. Rhia schlang die Arme um sich und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern.

„Mir geht es gut.“ Sie war schrecklich wütend über sich selbst. Hier saß sie nun mitten in der Nacht in einem Schneehaufen ohne warme Kleidung. Ein alter Mann starb womöglich, weil sie sich benommen hatte wie ein verwöhntes kleines Kind.

„Es tut mir leid, es tut mir so leid“, stieß sie aus. „Es ist alles meine Schuld. Aber wir müssen etwas tun. Wir müssen wenigstens nach dem Mann sehen.“

Marcus griff nach hinten auf den Rücksitz und hielt ihr gleich darauf eine Decke hin. „Wickel dich in die Decke.“ Er löste ihren Gurt, legte ihr die Decke um und schlang die Enden vorne übereinander.

Rhia atmete seinen so vertrauten Duft ein. „Aber, Marcus …“

„Ich gehe allein, okay?“, sagte er sanft und beruhigend. „Nimm die Decke.“ Er zog eine ihrer Hände hervor. „Halte sie fest.“

Sie tat, was er sagte. Er ließ sie los, und sie fühlte Bedauern darüber. Im nächsten Augenblick kletterte er so gewandt nach hinten auf die Rückbank, dass ihr erst bewusst wurde, was er tat, als er schon hinter ihr saß.

Verwirrt drehte Rhia sich um und sah ihn an. Ihr Hirn funktionierte wie in Zeitlupe, alle Reaktionen kamen verspätet und nicht ganz angemessen. Sie hatte Marcus dazu gedrängt, hinauszugehen und nach dem alten Mann zu sehen. Aber jetzt, wo er genau das tun wollte, erschien der Gedanke ihr auf einmal völlig verrückt.

„Warte“, rief sie hastig. „Nein … du kannst nicht allein gehen. Da ist ein Blizzard draußen, es ist gefährlich …“

Marcus, der sich gerade hinter der Rückbank an irgendetwas zu schaffen machte, richtete sich auf und sah sie an.

„Wir müssen nach dem Mann sehen“, erklärte er ruhig. „Du kannst nicht gehen. Also gehe ich.“

Hilflos starrte Rhia ihn an. Er seufzte leise und beugte sich wieder über die Rückenlehne. Da streifte sie endlich ihre ruinierten Schuhe ab, schob den Airbag zur Seite und zog ihre Füße zu sich unter die Decke.

Marcus richtete sich wieder auf, und Licht flammte durch das Wageninnere.

Sie blinzelte. Er hatte eine Taschenlampe!

Er streckte ihr eine weitere Decke hin. „Leg die hier über deine Beine und Füße.“

Schnell tat Rhia, was er gesagt hatte. „Aber woher …?“

„Im Boden hier hinten gibt es eine Notfallausrüstung. Noch eine Decke, eine zweite Lampe, Starterkabel, Leuchtfeuer, eine Plane, alles da.“

„Es gibt da wohl nicht auch ein Paar Schneestiefel Größe 38 und eine kuschelige Daunenjacke?“, fragte sie in komischer Verzweiflung.

In dem schrägen Strahl der Taschenlampe sah sie, wie es um Marcus’ Mundwinkel zuckte. Beinahe hätte er gelächelt!

„Marcus, ich habe meine Meinung geändert. Ich will nicht, dass du da rausgehst.“

„Ist das ein Befehl?“

„Ach, sei nicht albern.“ Sie seufzte frustriert und zog die Decken fester um sich.

Er sah sie weiter unverwandt an. „Es war eine ernst gemeinte Frage.“

„Können wir das nicht einfach alles beiseite lassen, wenigstens, bis wir wieder bei den anderen sind?“

Er schien zu überlegen. „Gut. Dann entscheide ich. Ich versuche, zurück auf die Straße zu kommen. Ich werde ein paar Leuchtfeuer anzünden.“ Er hielt das Bündel hoch. „Und ich sehe nach, ob ich etwas für diesen Fahrer tun kann.“

Rhia wusste, dass er recht hatte, auch wenn sie ihn am liebsten angefleht hätte, bei ihr zu bleiben. „Du gehst nicht weit weg?“

„Nein. Meine Hauptverantwortung bist du.“

Es tat so gut, das zu hören, gleichzeitig schämte sie sich, dass sie sie beide in diese furchtbare Lage gebracht hatte.

Noch ein paar Mal testete Marcus den Empfang seines Handys, dann schüttelte er den Kopf. Die Fahrertür war blockiert, aber er zog am Griff der hinteren Tür und stemmte sich mit seiner starken Schulter dagegen. Unter Knirschen und Ächzen ging die Tür langsam ein wenig auf, bis sie im Schnee stecken blieb. Eisige Luft wirbelte herein.

„Bleib unter der Decke. Ich bin bald wieder da.“ Mit diesen Worten verschwand er draußen im Schneesturm.

„Komm heil zurück“, flüsterte Rhia, als er mühsam die Tür von außen zudrückte.

Sie sah ihm durch die Heckscheibe nach und verfolgte den Schein der Lampe, als er davonstapfte. Er begann die Böschung zu erklimmen. Viel zu schnell verlor sie das Licht und Marcus aus dem Blick.

Schnell kletterte sie nach hinten auf die Rückbank, um etwas besser zu sehen. Ja, in der Ferne war noch ein schwacher Schimmer.

„Lieber Gott, bitte mach, dass er heil zurückkommt …“, betete Rhia hastig. Dabei unterdrückte sie den Drang, Gott im Gegenzug irgendein verrücktes Versprechen zu geben. Sie hatte sich an diesem Abend schon albern genug benommen. Sie würde nicht noch versuchen, mit Gott einen Handel abzuschließen!

Durch die wirbelnden Schneeflocken blitzte ein heller Strahl auf, gefolgt von einem roten Leuchten. Dann erschien ein zweites Leuchtfeuer. Ihr roter Schein blieb Rhias einziger Trost, an dem sie sich festhielt.

Das Warten dauerte endlos. Andere Autos schienen nicht vorbeizukommen. Rhia hatte keine Ahnung, wie spät es war; sie hatte weder Uhr noch Handy dabei.

Irgendwann sah sie auf einmal wieder den Schein der Taschenlampe, und ein glücklicher Aufschrei entfuhr ihr. Marcus’ Gestalt nahm in dem wirbelnden Schnee Form an, materialisierte sich langsam aus dem formlosen Weiß und kam näher.

An der Böschung hielt das Licht noch einmal inne. Ein weiteres Leuchtfeuer flammte zwischen den ersten beiden auf.

Und dann endlich begann Marcus die Böschung herabzusteigen.

Rhia half, die Tür aufzudrücken, als er da war. Gleichzeitig mit der großen, kalten Gestalt und dem Schein der Lampe kamen Schnee und kalte Luft herein. Marcus zog die Tür zu, und Rhia rutschte zurück ans äußerste Ende der Rückbank, um dem heftigen Drang zu widerstehen, die Arme um ihn zu schlingen und ihn an sich zu drücken.

„Du bist heil wieder da“, flüsterte sie erleichtert. „Ich wette, dir ist hundekalt.“

Marcus schaltete die Lampe aus, legte sie weg, strich sich den Schnee von den Schultern und klopfte die Stiefel ab. Sie sah ihm zu, während ihre Augen sich wieder an das Halbdunkel gewöhnten.

Resigniert murmelte er: „Habe ich nicht gesagt, du sollst unter den Decken auf dem Vordersitz bleiben?“

Sie lachte ein wenig hysterisch. „Ich bin ja unter den Decken. Vom Vordersitz hast du nichts gesagt. Und hast du den Mann gefunden?“

Als er den Kopf schüttelte, flog Schnee aus seinem Haar und landete in kalten Tropfen an ihrer Wange.

Sie wischte die Tropfen fort. „Aber … wie kann das sein?“

„Der Schnee schneit die Spuren schnell zu. Aber dort, wo er seitlich auf unsere Fahrbahn gerutscht ist, waren sie so tief, dass man sie noch sah. Ich bin ihnen gefolgt, bis sie irgendwann wieder geradeaus liefen.“

„Geradeaus?“ Es erschien ihr unmöglich. „Du meinst, er hat sich irgendwie wieder gefangen?“

Marcus zuckte mit den breiten Schultern. „Ich glaube, er hat es irgendwie geschafft.“ Er schlang die Hände um sich und rieb sich die Arme.

„Du frierst“, sagte Rhia sanft.

„Ich wärme mich schon wieder auf, keine Sorge.“

Sie schnaubte. „Hier drin ist es fast so kalt wie draußen.“

Es war kalt im Wagen und wurde immer kälter. Ihre Nase fühlte sich an wie ein Eiszapfen. Rhia rutschte auf ihren Füßen hin und her und zog die Decken fester um sich.

Marcus blickte noch einmal auf sein Handy. „Nichts“, sagte er nach einer Weile.

„Wie spät ist es?“

Er zog den Ärmel seiner Jacke und seines Sweatshirts zurück, und eine große Militär-Multifunktionsuhr kam zum Vorschein. „Zwölf Uhr vierzig.“

Rhia fröstelte. „Schon morgen …“ Sie sah zu, wie Marcus sich vorbeugte, die letzte Decke hinten herauszog und um sich schlang. „War da nicht auch eine Plane?“, fragte sie.

Er saß einfach nur da, eine große dunkle Gestalt im Halbdunkel. Fast hätte sie frustriert geseufzt. Captain Desmarais hatte das Verleugnen seines eigenen minimalen Komforts zur Kunstform erhoben. Nur, weil sie ihnen diese Situation eingebrockt hatte, brauchte er nicht zu erfrieren, bevor Hilfe eintraf!

Da beugte er sich noch einmal über die Rückenlehne und zog die Plane hervor, eine Art vielfach gefaltete Aluminiumfolie. Sie schimmerte silbrig in dem spärlichen Licht. Wortlos hielt er ihr die Plane hin.

Sie machte keine Anstalten, sie zu nehmen. „Du brauchst sie mehr als ich.“

„Nimm sie, Rhiannon.“

Sie wandte den Kopf ab. „Wie lange werden die Leuchtfeuer brennen?“

„Ich weiß nicht. Eine Stunde vielleicht.“ Er hielt ihr noch immer die Folie hin. Als sie sich nicht rührte und keine Anstalten machte, sie zu nehmen, ließ er sie auf den Sitz zwischen ihnen fallen.

„Und wenn bis dahin keine Hilfe kommt?“

„Der Schneesturm wird irgendwann aufhören. Am Morgen werden sie Suchtrupps losschicken. Wir sind an einem vielbefahrenen Highway. Wir müssen uns nur lange genug warm halten.“

Rhia sah ihn an. Dann sprach sie es aus: „Wir müssen uns gegenseitig wärmen. Wir müssen gemeinsam unter die Decken und die Plane.“

Marcus saß sehr still, und sie spürte seinen intensiven Blick. Endlich entgegnete er rau: „Das ist richtig.“

Sie bewegten sich gleichzeitig. Er nahm das Tarp und begann es aufzufalten. Rhia half ihm dabei. Es war groß, viel größer als die Decken.

Als es über beide Sitze ausgebreitet lag, sagte Marcus: „Ich setze mich mit dem Rücken an die Tür, du kommst zwischen meine Knie. Wir schlingen zwei Decken und das Tarp um uns beide. Die dritte Decke kommt um deine Füße.“

Rhia spähte zu Boden. Es war zu dunkel, um richtig zu sehen, aber sie hatte das deutliche Gefühl, dass Marcus’ Stiefel durchnässt waren.

„Du musst deine Stiefel ausziehen. Du kannst nicht die ganze Nacht mit nassen Füßen hier sitzen. Das gibt Erfrierungen.“

„Es ist alles in Ordnung.“

„Mit unserer gemeinsamen Körperwärme werden die Socken bald trocken.“

Langsam wiederholte er: „Unsere … gemeinsame … Körperwärme …“

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Er klang so mutlos. Und unendlich müde. „Hör mich an, Marcus. Ich meine es ehrlich. Es tut mir furchtbar leid, dass das alles passiert ist, es ist alles meine Schuld. Ich weiß, dass du wahrhaftig nicht mit mir unter einer Decke stecken willst.“

Hatte er gerade ein Stöhnen unterdrückt?

„Es tut mir so leid.“ Fast hätte sie hysterisch gekichert. „Aber wir haben keine andere Wahl.“

„Du ahnst nicht, was ich will“, murmelte er heiser.

Ihr Herz raste auf einmal. „Wir haben keine Wahl.“

„Ja“, sagte er. „Ich weiß.“

„Also zieh die Stiefel aus. Ich helfe dir.“

Marcus warf ihr einen kurzen Blick zu, und selbst im Dunkel konnte sie in seinen Augen lesen, weil sie einfach wusste, was er dachte: ‚Ausgeschlossen, dass Eure Hoheit ihrem Bodyguard aus den Stiefeln hilft.‘

Aber dann hielt er ihr zu ihrer Überraschung sein Bein hin. Sie ließ die Decken los, nahm den nassen Stiefel in beide Hände und zog ihn ab. Darauf hielt Marcus ihr auch den anderen hin, und sie zog ihm auch den aus.

Es erschien Rhia auf einmal wie ein unglaublich intimer Vorgang. Und es machte sie so traurig, dass es ihr die Kehle zuschnürte, weil es sie zurückversetzte in jene verzauberten Wochen vor acht Jahren.

Sie war achtzehn gewesen, im ersten Jahr ihres Kunstgeschichte-Studiums, und er gerade mal zweiundzwanzig. Er war mit einem speziellen Stipendium zu einem zweimonatigen Kurs in Militärpsychologie und Führungswissenschaften nach Los Angeles gekommen.

Sie waren sich in der Universitätsbuchhandlung begegnet, und er hatte die Tochter seiner Regentin erkannt. Rhia hatte gemerkt, wie er sie ansah, und ihn direkt gefragt, wieso er sie so anstarrte.

Ihr Herz hatte einen Satz gemacht, als er salutierte: „Eure Hoheit. Leutnant Marcus Desmarais aus der Fürstlichen Garde zu Ihren Diensten.“

Sie hatte sich sehr gefreut, auf dem Campus einen Landsmann anzutreffen. Und sie hatte Marcus zu einem Kaffee eingeladen. Zu ihrer und seiner Überraschung hatte er die Einladung angenommen.

Sie waren schnell Freunde geworden. Es fühlte sich so natürlich an, sie waren beide so weit weg von zu Hause. Der Abgrund zwischen ihnen, einem Bürgerlichen und der Prinzessin, hatte überhaupt keine Rolle gespielt.

Zumindest nicht für Rhia. Für sie hatte es nie eine Rolle gespielt. Immerhin regierte ihre Mutter das Land und hatte selbst einen Bürgerlichen geheiratet, einen Schauspieler aus Texas. Es war eine glückliche Ehe geworden.

Adrienne Bravo-Calabretti, die Letzte ihrer Linie und Erbin eines damals massiv verschuldeten Fürstentums, hatte ihrem Mann und ihrem Land vier Prinzen und fünf Prinzessinnen geschenkt. Unter ihrer Regentschaft und mit der unerschütterlichen Unterstützung ihres Mannes war Montedoro aufgeblüht. Das Land war jetzt reich. Der Thron hatte einen Erben und zahlreiche weitere Nachfolger. Das war dabei herausgekommen, dass eine Prinzessin einen Bürgerlichen geheiratet hatte!

Rhia ließ den zweiten Stiefel zu Boden fallen.

„Komm her“, sagte Marcus rau. „Du zitterst.“

Mit einem Seufzer rutschte Rhia vorsichtig zwischen seine harten Schenkel. Sie drapierte die Decken zu einem schützenden Nest und wickelte eine von ihnen um ihre Füße und Beine, wie er angewiesen hatte. Die anderen stopfte Marcus um sich und damit um sie beide fest, darüber legte er die Plane. Dann lehnte er sich wieder mit dem Rücken an die Tür.

Die Aluplane war groß genug, um sie völlig zuzudecken und hatte genug Überhang, dass sie noch einmal um ihre Füße und Beine passte. Marcus legte seine starken Arme um Rhia und zog sie an seine breite Brust.

Sofort fühlte sie sich warm und herrlich beschützt. Sein warmer Atem streifte ihr Haar. „Schlaf jetzt.“

„Schneit es noch?“ Sie versuchte sich aufzurichten, um aus dem Rückfenster zu sehen.

Ein leiser Laut entfuhr ihm, den er sofort unterdrückte. Seine starken Arme hielten sie fest. „Bleib hier. Im Warmen.“

Seine geliebte Stimme vibrierte an ihrem Rücken, und weiter unten spürte sie … ihn. Warme Röte stieg ihr in die Wangen, als ihr klar wurde, dass ihr Hin- und Herrutschen ihn erregte.

Sie schluckte und versuchte still zu sitzen. Zum Glück konnte er ja nicht sehen, wie rot sie geworden war. Es war zu dunkel, und sie hatte ihm den Rücken zugewandt.

„Ich wollte nur sehen, ob es noch schneit“, sagte sie leichthin.

„Ja, es schneit. Schlaf jetzt.“

Sie konnte ganz bestimmt nicht schlafen. Unmöglich. Es war alles zu aufregend und wundervoll. Es war, als wären ihre Fantasien plötzlich alle Wirklichkeit geworden: sie beide, im Finstern, unter festen Decken aneinandergekuschelt.

Ihn so hart an sich zu spüren, erregte sie. Es schien ihr ein wunderbarer, unleugbarer Beweis, dass er sie immer noch begehrte, nach all diesen Jahren. Dass sie ihm nicht so gleichgültig war, wie er vorgab. Es war ein billiger kleiner Triumph.

Gleich darauf sagte sie sich, dass er nichts gegen seine biologische Reaktion tun konnte, wenn sie so an seine intimsten Körperteile drückte. Seine körperliche Reaktion bewies gar nichts, außer dass er ein Mann war und sie eine Frau.

Aber sie war ihm unendlich dankbar für alles, was er an diesem Abend für sie tat und wie er mit der ganzen Situation umging. Jetzt, wo ihr endlich nicht mehr kalt war, wurde sie fast optimistisch.

Ja, es war eine furchtbare Geschichte. Aber sie waren beide unverletzt, der alte Cowboy in seinem Pick-up war offenbar auch irgendwie davongekommen, und sobald der Schneefall aufhörte und der Tag anbrach, würde man sie hier herausholen.

Es hätte alles noch viel schlimmer sein können. Und sie war nun doch ganz schön erschöpft … Rhia schloss die Augen und lehnte den Kopf an Marcus’ feste, zuverlässige Brust. Sie hörte das regelmäßige, beruhigende Schlagen seines Herzens und versank in Erinnerungen …

5. KAPITEL

Nur zwei Wochen hatte es damals in der entspannten, heiteren Atmosphäre von Südkalifornien gebraucht. In dieser Zeit, fern von ihren gewohnten getrennten Welten, war aus ihrer Freundschaft eine Liebesbeziehung geworden.

Rhia war kaum achtzehn und hielt ihre Gefühle für eine Schwärmerei. Sie war überzeugt davon, viel zu jung zu sein, um sich schon fest zu binden. Und Marcus war durch und durch Militär, erfüllt von Pflichtgefühl. Er empfand sich als unter ihr stehend und hatte geradezu absurde Schuldgefühle darüber, dass er ihr erster Geliebter war. Dass er überhaupt ihr Geliebter war. Sie hielten ihre Beziehung vor der Welt geheim.

Aber in jenen paradiesischen Tagen öffnete Marcus sich ihr gegenüber und entspannte sich völlig mit ihr. Er erzählte ihr von seiner Kindheit. Er war bei den Nonnen im Waisenhaus von Sankt Stefan aufgewachsen, nachdem man ihn als Neugeborenen auf den Stufen der ältesten Kirche von Montedoro gefunden hatte. Er hatte keine Familie und wusste nicht, wer seine Eltern waren. Er hatte sein Leben ganz auf sich gestellt begonnen.

Sie hatte ihn dafür bewundert, dass er nach allem, was er durchgemacht hatte, ein so starker, guter Mensch geworden war.

Da hatte er ihr Gesicht in seine großen Hände genommen. „Ich bin nicht besonders gut. Und überhaupt nicht stark. Wenn ich gut und stark wäre, wäre ich jetzt nicht hier mit dir.“

Sie hatten auf dem Rasen neben der großen, schönen, im neoromanischen Stil gebauten Universitätsbibliothek gestanden. Rhia erinnerte sich an die mächtigen Bäume und den dämmrigen grünen Schatten der Blätter. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie wären in diesem Augenblick die einzigen Menschen auf der Welt.

Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gereckt und ihn geküsst. „Ich bereue nichts. Ich bin so froh, dass du hier bist.“

Und da hatte er ihr das Versprechen abgenommen, dass ihre Wege sich am Ende trennen würden, wenn sein Stipendium abgelaufen war und er nach Montedoro zurückkehrte. Er beschwor sie, dass diese gemeinsame Zeit für immer ihr Geheimnis bleiben sollte. „Versprich es mir, Rhia. Wenn ich gehe, ist alles vorbei. Und niemand wird je davon erfahren.“

Sie hatte es lächelnd und strahlend versprochen, erfüllt von köstlichem Begehren und dem Glück ihrer Freundschaft. Damals war sie so sicher, dass auch sie einen klaren Schnitt wollte, wenn Marcus abreiste. Nicht, weil er „nur“ Soldat war, sondern weil sie sich so jung fühlte und weil ihr ganzes Leben noch vor ihr lag. Sie hatte sich nie vorgestellt, dass ihr gleich in ihrem ersten Studienjahr die Liebe ihres Lebens begegnen könnte.

Auf dem Campus lebten sie in verschiedenen Häusern. Marcus teilte ein Zimmer mit drei Mitstudenten, Rhia hatte eine Mitbewohnerin. Auf ihren Zimmern konnten sie nicht zusammen sein.

Als sie entschieden hatten, dass sie wirklich zusammen sein wollten, fanden sie ein kleines Hotel in der Nähe. Es erschien ihnen damals wunderschön, im spanischen Stil, mit Stuck an den Wänden und rotem Ziegeldach. Die Zimmer waren eher winzige Apartments, die alle auf einer Ebene lagen und auf einen zentralen Flur hinausgingen.

La Casa de la Luna hatte es geheißen – das Haus des Mondes.

Rhia liebte ihr Mondhaus. Vor allem das Zimmer, in dem sie ihr allererstes Mal erlebten, war „ihr“ Zimmer geworden. Weiße Bougainvilleen kletterten draußen neben dem Fenster an der weißen Wand hoch, und zwei Paradiesvögel flankierten die Tür. Ihr Zimmer hatte eine kleine Sitzecke, in der sie manchmal saßen und zusammen lernten. Im Bad stand eine alte Badewanne auf Löwenfüßen, und der Spiegel über dem Waschbecken war fast blind vor Alter.

Es war ein verzauberter Ort. Jedes Mal, wenn sie dort waren, wünschte sie, sie müssten nie mehr fortgehen. Und wenn sie ihr Mondhaus verließen, lebte Rhia nur darauf hin, bis sie sich wieder dort treffen würden. Aber Marcus war nur für zwei Monate in Amerika, und die Zeit verflog rasend schnell.

Sie trennten sich wie geplant. Rhia brachte Marcus zum Flughafen von Los Angeles, küsste ihn zum Abschied und schaffte es, nicht zu weinen. Er ging durch die Sicherheitsschleusen davon, stolz und hochaufgerichtet, ohne sich ein einziges Mal nach ihr umzudrehen. Und sie redete sich ein, dass es das war, was sie wollte. Ihre gemeinsame Zeit war wunderschön gewesen, und jetzt brach jeder von ihnen zu neuen Ufern auf.

Leider hatte sie ihn nie vergessen können. Leider war irgendwie kein anderer Mann jemals an ihn herangekommen …

„Marcus?“ Er hörte ihre Stimme, sanft und zögernd.

Er tauchte aus verworrenen Träumen auf, in denen es in seiner Mitte hart und schmerzhaft pulsierte und Rhiannon sich eng an ihn presste. Er konnte keinen Abstand zwischen sie beide bringen. Aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, der aber wichtig war, musste er sie an sich drücken und in seinen Armen festhalten. Er konnte sie nicht wegschieben.

Aber er konnte sie auch nicht küssen. Er konnte ihr nicht die Kleider abstreifen und sich in ihrer samtweichen Wärme vergraben …

Das war verboten. Das durfte nie mehr sein. Es war Folter der unerträglichsten Art.

„Marcus?“

Er blinzelte, schlug die Augen auf und starrte ins Dunkel. Da kam die Erinnerung wieder. Die Hochzeit Ihrer Hoheit Arabella. Rowdy’s Roadhouse. Der Unfall.

Rhia lag tatsächlich an ihn gedrückt. Sein quälender Erregungszustand war Wirklichkeit.

„Bist du wach?“, fragte sie.

„Jetzt ja“, brummte er und konzentrierte sich darauf, alle körperlichen Empfindungen auszublenden.

Sie hatten es warm in ihrem Kokon aus Decken und dem Tarp, und nur darum ging es. Seine Socken waren schon trocken, und er brauchte sich auch keine Sorgen mehr zu machen, ob Rhiannon Erfrierungen oder eine Lungenentzündung bekam, oder gar erfror, ehe Hilfe eintraf.

„Schneit es noch?“, fragte sie.

Er spähte nach hinten. „Sieht so aus.“

„Wie spät ist es?“

Er befreite seinen Arm kurz, um auf die Uhr zu sehen. „Zehn vor zwei.“

„Geht dein Telefon?“

Er probierte das Headset aus. „Tot. Schlaf weiter. In ein paar Stunden ist alles vorbei.“

„Ich muss etwas beichten“, flüsterte sie.

„Heb es für einen Priester auf“, murmelte er schroffer, als beabsichtigt.

Rhia gab einen leisen, kehligen Laut von sich, der ihm direkt in die gemarterten Körperteile fuhr. „Ich habe Alice von uns erzählt. Sie weiß es seit acht Jahren. Eine Woche, nachdem du abgereist warst, habe ich sie angerufen und ihr alles erzählt.“

Im Grunde war er nicht einmal überrascht. „Das war nicht klug.“

„Sie würde es nie jemandem weitererzählen.“

Rhiannon in seinen Armen fühlte sich himmlisch an. Und sie duftete nach Vanille und Jasmin und etwas anderem, das nur ihr gehörte. Er würde sie in der finstersten Nacht, inmitten einer Menschenmenge, mit verbundenen Augen erkennen.

„Schlaf jetzt“, brummte er.

„Das sagst du andauernd.“

Beinahe hätte er einen Kuss in ihr dunkles, duftendes Haar gedrückt. Aber er fing sich gerade noch rechtzeitig. „Wir müssen hier so sitzen, damit wir warm bleiben. Da ist Schlafen das Beste.“

„Wir könnten auch reden.“

„Es gibt nichts zu reden.“

„Lügner“, sagte sie heftig. „Du bist so ein Lügner, Marcus.“

Er widersprach ihr nicht. Sie hatte ja recht. Als sie sich zwei Jahre nach ihrem Abschied noch einmal wiedersahen, hatte er ihr all die Lügen aufgetischt, zu denen er gezwungen gewesen war. Und er hatte nicht die Absicht, in dieser Nacht – oder überhaupt jemals – die Wahrheit wieder ans Licht zu holen.

Ein trauriger kleiner Seufzer entschlüpfte Rhia. „Es gibt so vieles, worüber wir reden müssten.“

„Nein, gibt es nicht“, entgegnete er tonlos.

Da verstummte sie. Zum Glück. Sie mussten nur diese Nacht überstehen, ohne etwas Dummes zu tun, ohne etwas zu sagen, das sie auf gefährliches Terrain führte. Und danach kehrte jeder von ihnen in sein Leben zurück. Ende.

Marcus lehnte den Kopf an die eisige Scheibe und befahl sich zu schlafen und die verführerische Frau in seinen Armen auszublenden, die er in all den Jahren nicht vergessen hatte.

Er schlief wirklich ein. Und er träumte von jenem Tag, zwei Jahre nach ihrem Abschied in Kalifornien, als Rhia nach Montedoro zurückgekehrt war und ihn ausfindig gemacht hatte.

Irgendwie war sie an seine private E-Mail-Adresse gekommen und hatte ihm drei Mails geschickt. Auf die ersten beiden hatte er nicht geantwortet.

Es war von Anfang an gegen alle Regeln gewesen, sich mit Ihrer Hoheit Rhiannon anzufreunden. Aber er war ihr Geliebter geworden und hatte damit alles verraten, was ihm heilig war.

Ihre Mutter, die Fürstin von Montedoro, war eine ideale Regentin, die sich selbst um die niedrigsten ihrer Untertanen kümmerte. Sie hatte auch das Haus von Sankt Stefan unterstützt. Und jedes Jahr an Weihnachten stattete sie dem Heim einen Besuch ab, brachte Geschenke für jedes einzelne Kind und redete ein paar Worte mit jedem. Seit seinem dritten Lebensjahr hatte die Fürstin jedes Jahr an Weihnachten ein wenig mit ihm geplaudert. Und jedes Jahr schien sie sich an die Dinge zu erinnern, die er ihr im Vorjahr gesagt hatte.

Als er sechs war, erzählte er ihr, dass er ein Soldat für sein Land werden, der Garde beitreten und der Fürstenfamilie dienen wollte. Ihre Hoheit nahm ihn beim Wort. Er erhielt die entsprechende Ausbildung und wurde mit achtzehn Anwärter für die fürstliche Garde.

Sir Hector Anteros, der damalige Hauptmann der Garde, nahm ihn unter seine Fittiche und wurde eine Art Vater für Marcus. Er sorgte dafür, dass sein Schützling mit einundzwanzig, nach seinem Abschluss an der Universität von Montedoro, ein Offizierspatent erhielt. Marcus war ein Niemand, ein Findelkind. Aber dank Fürstin Adrienne hatte sich ihm die Zukunft eröffnet, von der er immer geträumt hatte.

Er verdankte der fürstlichen Familie alles, sein Leben, seine Ausbildung, sein Verhältnis zu dem Mann, der ihm den Weg ebnete, und seinen Lebensunterhalt. Und er hatte ihre unendliche Güte damit vergolten, dass er ein Verhältnis mit einer ihrer Töchter begann.

Als Rhiannon ihm vor nun sechs Jahren jene ersten beiden Mails geschickt hatte, hatte er deshalb so getan, als hätte er sie nicht erhalten. Doch dann kam die dritte, in der sie ankündigte, dass sie persönlich zu der Kaserne unweit des Palastes kommen wollte, in der er lebte. Da hatte er zugestimmt, sich heimlich mit ihr zu treffen.

Sie hatte den Ort ausgesucht: Ein verlassenes Anwesen ihrer Familie wenige Autominuten außerhalb von Montedoro in den Wiesen und Feldern Südfrankreichs.

Er war als Erster eingetroffen. Er stand auf den Eingangsstufen und überlegte gerade, ob sie Vernunft angenommen und beschlossen hatte, doch wegzubleiben, als ein kleiner gelber Sportwagen auf der staubigen Straße auf ihn zufuhr. Sie bremste wenige Schritte vor ihm und stieg aus.

Ihr kaffeebraunes Haar leuchtete in der Sommersonne. In einem ärmellosen roten Baumwollkleid stand sie neben dem Wagen und sah zu ihm herauf, und er litt Höllenqualen. Er sehnte sich nur noch danach, zu ihr laufen und sie in seine Arme zu reißen. Dabei wusste er, dass er sie dann nie mehr gehen lassen konnte.

In ihren großen dunklen Augen las er, dass sie Dinge sagen würde, die sie nie mehr ungesagt machen konnte. Aber er stand einfach nur dort, im Schatten des Olivenbaums vor der verschlossenen Tür des alten Bauernhauses, und hörte sie diese Dinge sagen.

„Ich glaube … ich liebe dich, Marcus. Ich glaube, wir haben einen Riesenfehler gemacht, alles so zu beenden. Ich denke oft an dich. Die ganze Zeit. Als wärst du in meinem Herzen. Hier drin.“ Sie legte ihre schlanke Hand auf ihre Brust. „Als wärst du ein Teil von mir. Denkst du … nie an mich? Denkst du nie, du würdest es gern noch einmal versuchen?“

Und da sprach er die schreckliche, notwendige Lüge aus: „Nein. Es tut mir leid. Wir haben eine Übereinkunft getroffen. Ich wünsche Euch alles Gute. Bitte, fahrt zurück und nehmt keinen Kontakt mehr zu mir auf.“

„Aber, Marcus …“ Ihre riesigen Augen sogen ihn in sich hinein. „Fragst du dich nie, ob wir vielleicht einen Fehler gemacht haben? Wünschst du dir nie, stellst du dir nie vor, es könnte mit uns beiden alles anders sein?“

„Nein“, sagte er noch einmal mit ungeheurer Selbstbeherrschung. „Es war alles meine Schuld. Der Fehler war, dass wir es je angefangen haben. Bitte haltet das Versprechen ein, das Ihr mir vor zwei Jahren gegeben habt, Ma’am.“

Ma’am? Das kann nicht dein Ernst sein!“, schrie sie, so schön und verzweifelt, dass es ihm das Herz zerriss.

Er sah sie nur stumm an.

„Oh, Gott!“ Sie stand dort auf dem Feldweg und streckte ihre Hände nach ihm aus. „Bitte, Marcus. Bitte. Gib uns eine Chance.“ Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Du fehlst mir so. Können wir nicht noch einmal darüber reden … Marcus! Schick mich nicht einfach weg.“

Aber er musste es tun. Eines Tages würde sie ihm dafür dankbar sein, das wusste er.

Er zwang sich dazu, still und aufrecht zu stehen wie eine Statue. „Ihr müsst fahren, Ma’am. Ich kann nichts weiter sagen.“

Sie starrte ihn aus roten nassen Augen einen endlosen Moment lang an. Und dann verbarg sie mit einem heftigen Schluchzen ihr Gesicht in den Händen. Er stand da wie festgefroren; er wusste, wenn er sich einen Zentimeter rührte, wäre es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei, und er würde zu ihr stürzen und sie in seine Arme reißen.

Also regte er sich nicht. Er blieb wo er war und sah mit an, wie ihre schlanken Schultern bebten, während sie versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.

Nach einer Ewigkeit wischte sie die letzte Träne fort, straffte sich und sah ihn wieder an.

„Du bist ein Feigling, Marcus.“ Ihre Stimme war jetzt kalt, eisig vor Verachtung, auch wenn in ihren geschwollenen roten Augen noch Tränen glitzerten.

Er sagte nichts und rührte sich nicht. Er wartete nur und flehte den Himmel an, dass sie schnell wegfuhr.

„Also gut“, sagte sie schließlich. „Adieu.“

Er sah zu, wie sie sich von ihm abwandte und hasste sich selbst für den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. In seiner Brust saß eine schreckliche Leere, und doch war er sogar noch in diesem Augenblick davon überzeugt, dass er das Richtige tat. Sie stieg in den Wagen und fuhr davon.

Das war das Ende gewesen. Zumindest im richtigen Leben. In seinem Traum aber, der jetzt einsetzte, veränderte sich dieses Ende auf den Bauernhausstufen und wurde zu etwas völlig anderem.

In seinem Traum war er erregt. Er begehrte sie. In seinem Traum wandte sie sich wieder ihrem gelben Wagen zu und zog die Tür auf, wie zuvor.

Aber dann schlug sie sie wieder zu.

Von da an wurde alles völlig verrückt. Sie wirbelte herum und kam zu ihm gerannt, ihr Gesicht war rot, noch immer geschwollen vom Weinen, ihr dunkles Haar löste sich aus dem Knoten und ringelte sich um ihr unvergessliches Gesicht.

„Sag es mir noch einmal“, verlangte sie. „Sag mir, dass ich gehen soll …“

Und da war es zu viel.

Die Sehnsucht übermannte ihn. Er breitete die Arme aus, und sie sank mit einem Seufzer hinein. Sie drehte sich in seinen Armen, und er merkte, dass sie von ihm abgewandt gewesen war und sich an ihn gelehnt hatte. Aber jetzt lag sie gegen ihn gedrückt, Gesicht an Gesicht, ihre weichen Brüste an seine Brust gepresst. Ihr warmer Atem an seiner Kehle.

Und plötzlich befanden sie sich auf irgendeiner schmalen, weichen Oberfläche im Innern des verschlossenen, verlassenen Bauernhauses. Es war dunkel und kalt, aber sie wärmten sich gegenseitig unter einem Zelt aus Decken, das sie schützte.

Sie küsste ihn, ihr Mund öffnete sich an seinen Lippen, ihr Atem floss in ihn, ihre Zungen begegneten sich endlich wieder, nach einer Ewigkeit aus Einsamkeit und Leugnen. Er erwiderte den Kuss mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft, die er so tief verborgen hatte.

Es fühlte sich so echt an. Er konnte sie schmecken, Honig, Ambrosia, Götternektar. Sie schmeckte nach allem, auf das er kein Recht hatte. Sie schmeckte nach dem Paradies.

Es war um Welten besser als alle hungrigen, einsamen, sehnsüchtigen Träume von ihr in all den letzten Jahren …

Sie stöhnte, bewegte sich in seinen Armen und machte ihn wahnsinnig, sie fuhr mit den Händen über seine Brust und nahm sein Gesicht in ihre zarten, schmalen Hände. „Marcus. Marcus, schläfst du etwa?“

Er versuchte, ihren Mund wieder zu erhaschen, aber sie zog sich zurück. Nur ihre zärtlichen Hände lagen noch immer an seinen Wangen.

„Marcus!“ Jetzt klang sie ungläubig und vorwurfsvoll.

Langsam kam er zu sich: die Hitze zwischen ihnen, die harte Tür im Rücken, die Kälte jenseits ihres Zeltes aus Decken und Tarp …

Es fühlte sich so echt an, weil es echt war.

Marcus schlug die Augen auf. Da war Rhia, dicht an seinem Gesicht, und sah ihn groß an. Ihre strahlenden Augen glitzerten in der Dunkelheit.

„Heilige Jungfrau Maria“, hörte er sich selbst flüstern.

Rhia bewegte sich, drehte sich ein wenig zwischen seinen Beinen und erinnerte ihn wieder heftig daran, wie sehr er sie begehrte. Er unterdrückte ein Stöhnen, als sie sagte: „Und ich dachte schon, du hättest endlich zugegeben, dass du einfach mit mir schlafen musst …“

Sie hatte recht. Genau das hatte er mehr oder weniger getan. In seinen Träumen, buchstäblich.

„Rhiannon, ich …“ Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

Sie lehnte sich wieder mit ihrem hinreißenden Körper an ihn. Er biss die Zähne zusammen und spürte gleichzeitig, dass er keine Kraft mehr hatte zu widerstehen.

Ihre weichen Lippen streiften ihn am Kinn. „Ich habe eine Frage.“

Marcus gab einen hilflosen, sehnsüchtigen, unterdrückten Laut von sich. Rhias Lippen bewegten sich an seinen, und er spürte ihren warmen Atem an seinem Mund, an seiner Wange.

„Es war ein furchtbarer Abend, Marcus. Wie er schlimmer nicht sein kann.“

Er räusperte sich. „War das eine Frage?“

„Warte, was ich sagen will.“

Ein leises Stöhnen entfuhr ihm.

Und Rhia sagte: „Meine Frage ist: Warum nicht?“

Er brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Er wusste es genau.

Sie strich über die winzigen Stoppeln an seiner Wange und flüsterte: „Warum tun wir es nicht? Wenn wir es doch beide wollen, nur noch ein einziges Mal?“

Marcus wusste genau, wie er auf diese gefährlichen Fragen antworten musste. Er musste Rhiannon bei den Schultern nehmen und sanft, aber bestimmt von sich fortschieben. Stattdessen krächzte er rau und atemlos: „Es wäre … falsch.“

Sie streichelte das kurz geschnittene Haar an seinen Schläfen. „Das ist mir egal, Marcus. Es ist mir wirklich egal, ob es falsch ist. Ich weiß, dass es mit uns beiden nie etwas werden kann. Das ist seit vielen Jahren vorbei.“

Er versuchte etwas zu sagen.

Sie legte ihm die Hand auf die Lippen. „Schsch. Ich bin noch nicht fertig.“

Sie nahm ihre Hand fort und kam ihm wieder ganz nah. „Hier sitzen wir beide und warten, dass der Schneesturm aufhört und unsere Wege sich wieder trennen. Heute Nacht ist die einzige Gelegenheit … Es könnte unser süßes Geheimnis sein, für immer … Damit nicht alles so trostlos endet. Du und ich, Marcus. Noch ein einziges Mal …“

Mit schier übermenschlicher Willensanstrengung sagte er: „Es ist zu gefährlich. Ich habe nichts dabei, um …“

Sie kannte seine Haltung zu Verhütung. Er war ohne Vater und Mutter aufgewachsen. Er hatte immer gesagt, dass seine Kinder beides haben sollten, und dass er nur mit der Frau Kinder bekommen wollte, mit der er eine Familie gründete.

„Ich habe Kondome hier“, sagte Rhia leise und hielt eines hoch.

Er starrte sie fassungslos an im Halbdunkel. Heiliger Himmel! Sie hatte also wirklich vorgehabt, die Nacht mit irgendeinem Fremden aus Rowdy’s Roadhouse zu verbringen?

Rhiannon ließ das Kondom irgendwo zwischen den Decken verschwinden und kam ihm noch näher, bis ihre Nase ihn sanft berührte. „Frag nicht, ja? Ich habe sie eben einfach.“

Es war zu viel für ihn. Den ganzen Tag hatte er sie beobachtet und aus aller Kraft die Erinnerungen verdrängt. Er hatte sich nach ihr verzehrt und es vor sich selbst zu leugnen versucht, hatte ihr hinterherfahren müssen, als sie versuchte, ihm zu entkommen. Und dann hatte er ihr weiter zusehen müssen, wie sie mit einem Cowboy nach dem anderen tanzte. Er musste den Idioten attackieren, der gewagt hatte, bei ihr zu weit zu gehen.

Die Fahrt durch den Blizzard. Der alte Mann in dem Pick-up. Der Unfall.

Und vor allem die letzten Stunden, in denen sie sich an ihn presste und die alten Erinnerungen ihn mit solcher Macht überfluteten, dass er sie nicht mehr wegschieben konnte. Sie brachen ihm sein einsames Herz gerade zum zweiten Mal.

Es war zu viel.

Wenn Rhiannon ihn immer noch wollte, ein letztes Mal – wer war er, dass er es ihr verweigerte? Dass er es sich selbst verweigerte?

Zum Teufel mit allem Leugnen. Ein einziges Mal, in dieser verrückten Nacht.

Rhiannon gab einen leisen, hoffnungsvollen Laut von sich, und da fiel sein letzter Widerstand in sich zusammen.

Er fand ihren Mund und küsste sie, heftig und tief. Sie kam ihm entgegen, und er schlang die Arme um sie und liebkoste sie, ohne irgendetwas zurückzuhalten.

Seufzend löste sie sich irgendwann von ihm. Dann nestelten sie fieberhaft im Dunkeln und versuchten, die Kleider aus dem Weg zu bekommen, ohne sich ganz auszuziehen und gleichzeitig die Decken und das Tarp um sie beide festzuhalten. Sie öffnete seine schwere Jacke und schob seinen Pullover hoch. Nun war sein Körper frei genug, um ihn richtig zu berühren, zu streicheln, zu greifen. Rhia knöpfte noch seine geborgten Jeans auf und schloss ihre weichen Finger um ihn – und er hätte glücklich sterben können in diesem Augenblick.

Er zog ihr das Satinjackett ab, löste ihren kleinen Spitzen-BH und befreite ihre Brüste mit seinen hungrigen Händen. Er schob ihren Rock hoch bis zur Taille, und sie half ihm, die Seidenstrumpfhose hinunterzustreifen. Es war ein ungeschicktes, hastiges Grapschen und Ziehen. Aber das war ihm egal. Er hörte ihr lustvolles Stöhnen und ihre atemlosen, süßen Seufzer und erkannte, dass es ihr ebenfalls egal war. Endlich lagen sie Bauch an Bauch, Haut an Haut, aufs Neue, nach all diesen Jahren.

Sie war so wie in seiner Erinnerung. Nur besser. Ihre Brüste ein wenig voller, ihre Haut noch immer wie warme Seide unter seinen Händen, ihr Duft berauschend. Bevor sie ganz zusammenkamen, zog sie das Kondom heraus und streifte es ihm über. Er blinzelte, berauscht und benebelt von der Sehnsucht nach ihr.

Sie lachte leise, und der kehlige Laut tanzte in allen seinen Nervenenden. Endlich hob er sie auf sich, er packte die rutschenden Decken und das Tarp, zog alles wieder zurecht, um die herrliche Hitze zu bewahren, die sie erzeugten, und endlich war er in ihr, sie half ihm, seufzend, köstlich.

Er folgte ihr, wohin sie sich bewegte, ertrank in ihrer Weichheit, viel zu schnell fühlte er, wie die Wellen über ihm zusammenschlugen. Um ihretwillen versuchte er es hinauszuzögern, bis er die Veränderung in ihrem Atem spürte. Gemeinsam ließen sie sich forttragen. Er war im Paradies. Etwas öffnete sich, gab den Weg frei, und er spürte sie noch stärker als zuvor. Es war perfekt. Irgendwann ruhte sie an seiner Brust, weich und träge. Er streichelte ihr Haar und küsste ihre Stirn und wünschte sich, diese süße Zeit des Friedens würde nie enden.

Als die Dämmerung kam, lagen sie wortlos und eng umschlungen beieinander, geborgen und vertraut, wie sie es seit Los Angeles und ihrem kleinen Zimmer in der Casa de la Luna nicht mehr gewesen waren.

Schließlich brach Rhia das Schweigen „Ich glaube, der Schneesturm ist vorbei.“

Er brummte zustimmend und zögernd.

Sie küsste ihn am Hals. „Ich glaube, ich muss dich loslassen. Wir müssen in die Wirklichkeit zurück.“

Autor

Victoria Pade
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