Bianca Extra Band 23

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LUCY UND DIE KUNST DES KÜSSENS von RIMMER, CHRISTINE
Nach langer Krankheit will Lucy so vieles nachholen. Erotik inklusive. Und ausgerechnet er soll ihr Lehrmeister sein! Dabei empfindet Damien wie ein Bruder für die zarte Designerin. Bis sie ihn küsst, und ein knisternder Weihnachtsflirt beginnt. Ein Strohfeuer … oder mehr?

WO MEIN HERZ ZU HAUSE IST von THAYNE, RAEANNE
Peng! Ein Schneeball landet in Hopes Auto - und mit ihm die Liebe. Denn der Onkel des kleinen Schützen ist unwiderstehlich … und Hope irgendwie vertraut. Erst nach innigen Wochen mit Rafe erfährt sie, woher sie den Ex-Seal kennt - und das junge Glück wird auf die Probe gestellt.

MEIN TRAUMMANN, DAS BABY UND ICH von STEFFEN, SANDRA
Richtiger Mann, richtiger Ort, falsche Zeit: Die sonst so fröhliche Ruby hadert mit dem Schicksal, als sie Reed Sullivan kennenlernt. Denn trotz der sinnlichen Anziehung zwischen ihnen ist er in Gedanken bei einer anderen: der Mutter eines Findelkinds, das sein Sohn sein könnte …

VERLIEBT HOCH FÜNF von TEMPLETON, KAREN
Juliette plant eine Weihnachtsromanze. Die Stars: ihr Daddy und Claire, die Schauspiellehrerin. In den Nebenrollen: ihre Geschwister, sie und der Hund. Leider wollen die Hauptdarsteller auch ein Wörtchen mitreden. Und das lautet: Nein. Obwohl sie einander verzaubert zulächeln …


  • Erscheinungstag 29.09.2015
  • Bandnummer 0023
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732578
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Rimmer, RaeAnne Thayne, Sandra Steffen, Karen Templeton

BIANCA EXTRA BAND 23

CHRISTINE RIMMER

Lucy und die Kunst des Küssens

Schneeflocken fallen glitzernd vom Himmel, als Damien sie im Central Park küsst. Doch der perfekte Moment ist flüchtig: Wenn der Schnee schmilzt, kann auch Damien nicht mehr bei Lucy sein …

RAEANNE THAYNE

Wo mein Herz zu Hause ist

Hope will die Ranch retten, auf der sie aufwuchs – und Rafe tut alles, um ihr zu helfen. Denn der Ex-SEAL fühlt sich schuldig am Schicksal der schönen Waise. Doch das ist nicht alles, was er empfindet …

SANDRA STEFFEN

Mein Traummann, das Baby und ich

Die Chancen stehen 50 zu 50, dass Findelkind Joey sein Sohn ist – und 99 zu 1, dass Reed sein Herz an Ruby verliert. Doch sollte er das nicht für die verschollene Mutter des Kleinen reservieren?

KAREN TEMPLETON

Verliebt hoch fünf

Claires Augen leuchten wie tröstende Sterne in der Nacht. Doch anders als seine stürmischen Kids zögert Ethan, ihr sein Herz zu schenken. Denn wäre das nicht Verrat an seiner verlorenen Liebe?

1. KAPITEL

Am Morgen von Thanksgiving wurde Damien Bravo-Calabretti, Prinz von Montedoro, von einem lauten Klopfen aus dem Schlaf gerissen.

Er richtete sich auf und sah sich verärgert im Zimmer um. Wer konnte so dreist sein, ihn an einem seiner spärlichen freien Tage so früh zu belästigen? Er warf einen Blick auf die Uhr. Na schön, es war halb neun.

Trotzdem wäre er gern noch länger liegen geblieben. Doch das Klopfen wollte nicht enden. Für gewöhnlich hätte sein Butler Edgar die Tür geöffnet, doch Damien hatte seinem treuen Diener für heute freigegeben. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, griff nach dem Morgenmantel und durchmaß das Apartment mit langen Schritten. Auf dem Weg zur Tür kam ihm ein Gedanke: Ob die frühe Besucherin etwa Vesuvia war?

Hoffentlich nicht. Es war definitiv viel zu früh, um sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Außerdem war es zwischen ihnen aus. Sie wusste das ebenso gut wie er.

Davon abgesehen war sie doch gerade in Italien, oder nicht? Und selbst wenn nicht – keiner der Türsteher hätte sie eingelassen, ohne Damien Bescheid zu geben. Niemand kam ungesehen und ohne Schlüssel durch die Haupttür.

Allerdings ging es hier um Vesuvia. Ihre Wirkung auf Männer war legendär.

Unwirsch knotete Damien im Gehen das seidene Band des Morgenmantels zu. Seine Wut wuchs mit jedem Schritt – auch wenn er sich eigentlich besser im Griff haben sollte. Mit einer ungeduldigen Geste öffnete er die Tür – und hielt erstaunt inne.

Die Besucherin war keineswegs Vesuvia.

Es war die süße junge Lucy Cordell, die Schwester seines zukünftigen Schwagers Noah, der im kommenden Frühjahr Damiens Schwester Alice heiraten würde.

Beim Anblick seines mürrischen Gesichtsausdrucks wich Lucy erschrocken zurück. Eine entzückende zarte Röte blühte auf ihren Wangen. „Oh“, entfuhr es ihr. „Es ist zu früh, stimmt’s? Ich hätte es wissen müssen. Du hast noch geschlafen …“

Ihr Blick huschte über seinen Körper, von den nackten Füßen über die halb entblößte Brust bis zu dem leichten Schatten um sein Kinn und den schwarzen, verstrubbelten Haaren.

Mit einem Mal war Damien verlegen. Er zog den Morgenmantel zu und strich sich durch das Haar. „Luce. Hallo.“

„Sag schon: Es ist zu früh, richtig? Oh, ich wusste es.“

„Nein. Wirklich. Ist schon in Ordnung.“ Wenn er gewusst hätte, dass es Lucy war, hätte er zumindest seine Shorts angezogen. Dami hatte Lucy sehr gern. Sie war so erfrischend ungekünstelt. Alles an ihr war frisch und unverdorben und auf eine liebliche Art charmant.

Und heute Morgen sah sie wirklich bezaubernd aus, mit ihren großen, braunen Augen und dem kurz geschnittenen, gewollt zerzausten Haar, das ihr Gesicht so gut zur Geltung brachte. Außerdem trug sie wie immer eines ihrer cleveren, selbst entworfenen Outfits. Damien konnte einfach nicht anders, als ihr die frühe Störung zu vergeben.

Allerdings wollte sie ihm das nicht abnehmen. Ihr hübsches Gesicht war gezeichnet von peinlich berührter Reue. „Ach du liebes bisschen. Du hast Besuch, stimmt’s?“ Sie wich einen Schritt zurück. „Oh, Dami. Es tut mir wirklich, wirklich leid. Ich wollte dich nicht stören. Aber ich habe wochenlang gebraucht, um mich dazu durchzuringen, und dachte, ich gehe lieber sofort und frage dich, bevor ich wieder die Nerven verliere.“

„Die Nerven verliere?“ Er sah sie amüsiert an. „Warum? Was möchtest du mich fragen?“

„Oh.“ Sie schlug die Augen nieder. „Ich hasse mich.“

Er winkte sie in das Apartment. „Komm doch rein. Hier im Flur lässt es sich nicht so gut reden.“

„Aber du bist doch … beschäftigt.“

„Nein, bin ich nicht. Ich schwöre dir, dass ich ganz allein in der Wohnung bin.“

„Wirklich?“

„Wirklich wirklich. Und jetzt komm rein.“

Lucy zögerte. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. „Das ist so peinlich. Aber heute Morgen war ich mir so sicher, und ich wollte nicht länger warten, und dann …“

„Nun, was auch immer es ist, ich würde es lieber drinnen besprechen. Ich mache uns einen Kaffee, einverstanden?“

Kopfschüttelnd nahm sie die Hände vom Gesicht – doch nur, um die Arme schützend um ihren schmalen Körper zu legen. „Ich musste dich einfach sehen. Und ich wollte es machen, bevor mich der Mut verlässt. Aber ich hätte zumindest warten können bis neun oder bis … wann auch immer du wach bist, oder … Lieber Himmel, jetzt denkst du bestimmt, dass ich überhaupt keine Manieren habe.“

Eine winzige Sorgenfalte störte ihre mädchenhaften Züge. „Oh, Dami. Sorry, sorry, sorry. Das ist so albern, nicht wahr?“

„Luce, worum geht es hier überhaupt?“

Sie schlug erneut die Augen nieder und starrte für einen Moment auf ihre Schuhspitzen. Dann sah sie auf und sagte mit zitternder Stimme: „Weißt du was? Ich komme später wieder, und dann können wir vielleicht …“

Sie verstummte, als er energisch nach ihrem Handgelenk griff. Mit leicht geöffnetem Mund sah sie ihn an. Ihre Lippen zitterten ein wenig – ein Umstand, den Dami zugleich erheiternd und anziehend fand.

„Komm jetzt rein“, sagte er sanft.

„Ich will dich nicht …“

„Luce.“ Er fing ihren Blick und hielt ihn fest.

„Oh, Gott.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Komm rein. Bitte.“

Das wirkte. Endlich. Sie nickte kurz und ließ traurig die schmalen Schultern hängen, doch immerhin ließ sie sich von ihm über die Schwelle ziehen. Mit der freien Hand schloss Dami die Tür hinter ihr und führte sie behutsam den Flur entlang, vorbei an seinem Wohnzimmer und dem kleinen Arbeitszimmer bis zur Küche.

Nicht, dass er sehr viel Zeit hier verbracht hätte, doch ab und zu bevorzugte er es, zu Hause zu essen. Allein.

Er deutete auf einen Stuhl am Fenster. „Setz dich.“ Während er die frischen Kaffeebohnen mahlte und die elegante Stempelkanne in Gang setzte, sagte Lucy kein Wort. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und regte sich nicht.

Dami wurde wieder bewusst, dass er gar nichts unter dem schwarzen Seidenmantel trug. Am liebsten wäre er rasch in sein Schlafzimmer gegangen, um sich anzuziehen. Doch er befürchtete, dass Lucy in einem unbeobachteten Moment kalte Füße bekommen und aus dem Apartment flüchten würde.

Und inzwischen war er mehr als neugierig auf das, was sie wohl auf dem Herzen hatte. „Es überrascht mich, dich so früh im Palast zu sehen“, sagte er leichthin.

„Ich wohne hier. Ich habe ein wunderschönes Zimmer im dritten Stock.“

„Ich war davon ausgegangen, dass du bei deinem Bruder und Alice in der Villa wohnst.“

„Um ehrlich zu sein, habe ich Alice gebeten, mir hier ein Zimmer zu geben. Für das …. Lebensgefühl, weißt du?“

An der Art, wie sie zögerte, konnte Dami sofort ablesen, dass noch etwas anderes dahintersteckte.

„Und wegen Noah?“

Sie hob die Schultern. „Er hat versprochen, mir mehr Freiraum zu geben und mich endlich mein eigenes Leben führen zu lassen. Trotzdem denkt er immer noch, er wüsste, was das Beste für mich ist. Hier im Palast bin ich freier. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Und ich brauche keinen großen Bruder, der darauf achtet, wann ich abends nach Hause komme.“ Sie seufzte tief. „Mal ehrlich: Manchmal benimmt er sich, als sei ich zwölf – und nicht dreiundzwanzig.“

„Er liebt dich und will dich beschützen.“

Sie warf ihm einen düsteren Ich-will-das-nicht-hören-Blick zu, und er beschloss, das Thema zu wechseln.

Der Kaffee war mittlerweile fertig. Dami goss ihr eine Tasse ein und stellte Milch und Zucker auf den Küchentisch. Im Brotkorb fand er sogar noch ein paar süße Gebäckstücke, die er zusammen mit Serviette und Silbergabel auf einem hübschen Porzellanteller anrichtete. Er schob ihr den Teller hin und lächelte sie aufmunternd an. „Greif zu.“

Dann nahm er ihr gegenüber Platz, lehnte sich zurück und beobachtete, wie Lucy sorgfältig Milch und Zucker in den Kaffee rührte. Vorsichtig nahm sie einen kleinen Schluck. „Mhmm. Der ist gut.“

„Das Leben ist zu kurz für schlechten Kaffee.“

Das zauberte ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht.

Er neigte den Kopf. „Was amüsiert dich?“

„Es ist so merkwürdig. Die ganze Situation … Von einem Prinzen Kaffee und Gebäck serviert zu bekommen …“

Dami winkte lässig ab. „Für gewöhnlich würde Edgar das übernehmen, aber ich habe ihm heute freigegeben.“

Ihre Wangen färbten sich erneut in einem zarten Rot. „Danke, Dami. Du bist immer so nett zu mir.“ Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.

„Luce?“ Er sprang auf, ging um den Tisch und kniete neben ihrem Stuhl nieder – in der ständigen Bemühung, den Morgenmantel geschlossen zu halten, um ihnen beiden die Peinlichkeit zu ersparen. „Was muss ich da sehen? Tränen?“

Sie schniefte leise. „Oh, Dami …“ Als sie den Kopf hob, drang ihm ihr süßer Duft in die Nase. Kirschen und Seife. So war Luce. Am liebsten hätte er gelächelt, doch sein Ausdruck blieb ernst.

Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Brusttasche des Morgenmantels und reichte es ihr. „Hier.“

Lucy wandte traurig den Blick ab und betupfte ihre Wangen mit dem Seidentuch. „Ich mache mich lächerlich.“

„Nein, das tust du nicht. Das hast du noch nie getan.“ Er erhob sich, doch dann zögerte er – so, als ob er an ihrer Seite bleiben wollte, falls sie wieder anfing zu weinen.

Lucy wedelte mit dem Tuch in Richtung seines Stuhls. „Bitte, setz dich doch wieder. Dein Kaffee wird ja kalt.“

Ruhig nahm er wieder Platz und sah sie lange an. „Nimm ein Gebäck. Es gibt Himbeer- und Mandelgebäck – such dir eins aus.“

Gehorsam griff sie nach dem Himbeerplunder und nahm einen winzigen Bissen. Ein kleiner Klecks der roten Füllung haftete an ihrer Unterlippe. Dami beobachtete, wie sie ihn ableckte. „Mjam!“

„Schön, dass es dir schmeckt.“ Dami lächelte. „So. Worüber wolltest du nun mit mir reden?“

Sie holte tief Luft. „Zunächst einmal …“

„Ja?“

„Oh, Dami. Zunächst einmal möchte ich mich bei dir bedanken.“

„Aber warum?“

„Ach, komm schon. Du weißt, warum. Dafür, dass du mich gerettet hast, als ich keinen Ausweg mehr sah. Als mir die Ideen ausgingen.“

Lucy hatte Dami über ihren Bruder Noah kennengelernt. Die beiden Männer waren gute Freunde, und Dami hatte das Geschwisterpaar zu Hause in Kalifornien besucht. Dami war dabei nicht entgangen, dass Lucy sich nach all den Jahren ihrer Krankheit und unter der Aufsicht ihres älteren Bruders eingesperrt fühlte.

Es war sein Vorschlag gewesen, dass sie ihrem Traum folgen und nach New York ziehen sollte, um dort am College Modedesign zu studieren.

Dami hob die Schulter. „Du hast mir schon gedankt. Sogar mehrmals.“

„Aber ich kann dir gar nicht genug danken. Du hast genau zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen. Noah und ich hatten uns festgefahren. Du bist zu ihm durchgedrungen, als es mir nicht mehr möglich war.“

Noah wollte zunächst nicht einsehen, dass Lucy ihr eigenes Leben in New York haben sollte. Doch nach dem Gespräch mit Dami war ihm klar geworden, dass Mode ihr Leben war – und das College in Manhattan eine großartige Gelegenheit, Karriere zu machen.

„Ich habe es nur dir zu verdanken, dass ich jetzt in Manhattan lebe. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie schwierig es ist, hier eine Wohnung zu bekommen? Nach all den Jahren zu Hause bin ich vielleicht ein bisschen weltfremd, aber nicht naiv. Und ich weiß, dass ich dank dir nur einen Spottpreis dafür bezahle.“

In Manhattan bewohnte Lucy ein kleines Apartment in einem wunderschönen alten Gebäude, das Dami gehörte. Sie mochte die Lage und ihre freundlichen Nachbarn und fühlte sich sehr wohl dort.

Jetzt legte Lucy einen Scheck auf den Küchentisch und schob ihn Dami hin. „Ich möchte dir etwas zurückgeben. Zumindest ein bisschen.“ Sie legte die Fingerspitzen an ihre Brust. „Du hast so viel für mich getan.“ Knapp oberhalb des Ausschnitts konnte man die Spitze einer blassen Narbe erkennen, die von ihrer Operation zurückgeblieben war.

Darüber trug sie ein geschmackvolles Oberteil, dazu einen engen, geblümten Rock mit einem breiten, schwarzen Gürtel und hohe Stiefel. Alles, was Lucy anzog, zeugte von Modebewusstsein und einem untrüglichen Gespür für den eigenen Stil.

Dami musterte sie eindringlich. Er schüttelte den Kopf. „Sei nicht albern. Noah hat bereits für alles bezahlt.“

Noah besaß ein riesiges Anwesen in Carpinteria, in der Nähe von Santa Barbara. Nachdem er eingesehen hatte, dass Lucy ihr eigenes Leben führen wollte, hatte er nicht nur ihrem Umzug zugestimmt, sondern auch die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt.

„Dami, du hast mich in deinem Privatjet mitgenommen. Du hast mir dieses fantastische Apartment besorgt und nicht einmal eine Kaution dafür verlangt.“

„Nimm den Scheck zurück, Lucy.“

„Nein! Ich habe jetzt einen Treuhandfonds. Mir geht es gut. Und ich möchte dir etwas zurückgeben.“ Sie war plötzlich sehr ernst.

Damien wurde bewusst, wie wichtig ihr diese Geste war. Den Scheck nicht zu nehmen wäre beleidigend – und würde ihr das Gefühl geben, auf Almosen angewiesen zu sein. „Na schön. Damit sind wir also quitt.“

Ein großes Lächeln erstrahlte in ihrem Gesicht. „Fantastisch.“

Dami griff nach dem Mandelgebäck und sah sie forschend an. „War es das, worüber du mit mir reden wolltest?“ Wenn es so wäre, wäre er enttäuscht. All die Gesten, das Erröten, die Tränen – wegen Geldschulden, die im Grunde überhaupt keine waren.

Doch Lucy presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

Mit einem Mal war er wieder völlig bei der Sache. „Da gibt es noch etwas?“, fragte er mit wachsendem Interesse.

Sie nickte. Als sie sprach, hielt sie den Blick stur auf ihr Gebäck gerichtet. „Du und deine Freundin, Vesuvia …?“

V? Sie wollte allen Ernstes über V reden? Warum? Er wollte das jedenfalls nicht. Aber ganz offensichtlich hatte Lucy ohnehin schon wieder der Mut verlassen.

„Was ist mit Vesuvia?“, fragte er vorsichtig.

Ruckartig hob sie den Kopf. Ihr kurzes Haar glänzte im Licht der Morgensonne. Sie schluckte und seufzte leise. „Na ja, sie ist so wunderschön und glamourös und … sie ist auf den Titelseiten aller Magazine, die ich gerne lese … Vogue und Bazaar und Glamour und Elle.“

Er hob die Braue. Dann gab er sich Mühe, unbefangen zu klingen. „Möchtest du, dass ich sie dir vorstelle?“ Vielleicht gab es dafür einen bestimmten Grund. Vielleicht hoffte sie, Vesuvia könne irgendwann ihre Kleider vorführen.

Hoffentlich nicht, dachte er missmutig.

„Mir vorstellen? Oh, nein. Nein, gar nicht.“

Erleichtert lehnte er sich zurück. „Was dann?“

„Nun, seid ihr, äh, noch immer zusammen?“, fragte sie atemlos.

Damien war versucht, ihr zu sagen, dass seine Beziehung mit Vesuvia allein seine Sache war. Im Grunde ging es sie überhaupt nichts an. Doch er konnte es nicht. Dafür mochte er Lucy einfach zu sehr. Und davon abgesehen war ihr das Gespräch ohnehin schon unangenehm genug.

Deswegen erklärte er geduldig: „Nein, wir treffen uns nicht mehr. Ich fürchte, es hat einfach nicht funktioniert.“

Lucy sah ihn durchdringend an. Plötzlich hatte Damien das Gefühl, er befände sich in einem Verhör.

„Also habt ihr Schluss gemacht, du und Vesuvia? Und du hast gerade niemand anderes?“

Ein leises Lachen entfuhr ihm. „Ja, haben wir – und nein, habe ich nicht. Luce, Liebes, möchtest du mir nicht endlich sagen, worum es eigentlich geht?“

Entmutigt sank sie zurück auf ihren Stuhl. „Oh, Dami. Es ist nur … Da gibt es einen Mann. Einen ganz besonderen Mann, den ich getroffen habe.“

„Ein Mann?“ Jetzt war er wirklich ratlos. Von V zu einem besonderen Mann in weniger als drei Sätzen.

„Ja. Er ist wirklich heiß. Er ist Schauspieler. Und er wohnt in meinem Haus in NoHo. Ich meine natürlich in deinem Haus. Brandon? Brandon Delaney?“ Offenbar erwartete sie, dass er alle Mieter persönlich kannte.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung.“

Aber sie gab noch nicht auf. „Blondes Haar, die tollsten Karamellbonbon-Augen …“

Dami beschäftigte einen Manager und einen Hausverwalter für das Gebäude in New York und hatte nur eine vage Vorstellung davon, wer darin wohnte. Einige Apartments waren vermietet, andere verpachtet.

Und Karamellbonbon-Augen? Ging es hier um einen Kerl oder um ein Dessert?

„Ich fürchte, ich kenne keinen Brandon Delaney.“

„Oh, Dami. Er hält mich für ein Kind, verstehst du? Aber das bin ich nicht. Ich meine, na schön, ich bin unerfahren und vielleicht sogar ein bisschen naiv. Das weiß ich selbst. Aber ich bin nicht dumm. Ich bin nur über die Hälfte meines Lebens krank gewesen. Deswegen sind viele Dinge … an mir vorbeigegangen. Aber jetzt nicht mehr. Mir geht es gut. Ich bin gesund und stark und lebe meinen Traum. Und langsam muss ich wirklich damit anfangen, die Dinge zu tun, die alle normalen Leute auch tun. Ich meine, ich bin ja normal, und ich habe, hm, Bedürfnisse, so wie alle anderen auch …“

Sie zögerte. „Was ich sagen will: Ich will auch mal jemanden abschleppen.“

Dami versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. „Abschleppen“, wiederholte er langsam.

„Genau. Du weißt schon. Sex haben?“

„Äh, sicher. Ich verstehe.“

„So. Aber ich fühle mich so unsicher und unvorbereitet.“ Sie hob die Hände und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. „Ich meine, ich habe in den vergangenen anderthalb Monaten ein paar Typen in Manhattan getroffen.“ Jetzt vollführten ihre Hände große, umfassende Gesten über ihrem Kopf. „Da waren ein paar nette dabei, aber bei keinem von ihnen hatte ich das Gefühl, dass es passen würde. Dass ich mich, na ja, ihnen hingeben könnte. Außer Brandon. Er ist wahnsinnig attraktiv. Aber in seinem Leben dreht sich alles um die Schauspielerei. Und er sagt, dass ihm Lebenserfahrung am allerwichtigsten ist. Er würde niemanden daten, der so unerfahren ist wie ich. Er will keinen langweiligen Sex mit einer unschuldigen Jungfrau.“

Damiens Kopf schwirrte. „Du hast diesen Brandon gefragt, ob er …?“

„Oh, nein!“ Erneutes Erröten. „Nicht direkt, meine ich. So gut kenne ich ihn nun auch wieder nicht.“

„Ach so. Verstehe.“ Er verstand nicht im Mindesten, aber er zog es vor, zu nicken und zu schweigen.

„Aber ich habe versucht, ihn zu küssen …“

„Und?“

„Er hat mich davon abgehalten. Zwar sehr sanft, aber trotzdem.“

„Also hast du ihn nicht geküsst?“

„Nein. Er hat es verhindert. Er hat mir gesagt, dass ich zu jung und unerfahren bin und dass ich meine Gefühle so offensichtlich mit mir herumtrage. Er will mir nicht wehtun. Und das würde er natürlich, weil ich mich ja Hals über Kopf in ihn verlieben würde. Er sagte, er würde nichts mit Jungfrauen anfangen und dass er momentan sowieso an keiner ernsthaften Beziehung interessiert sei. Außerdem ist die Schauspielerei sein Leben.“

Was für ein anmaßender Vollidiot, dachte Dami bei sich. Laut sagte er: „Du bist umwerfend, Luce, und absolut bezaubernd. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.“

Sie legte die Hand auf ihr Herz. „Oh, Dami. Siehst du? So bist du. Du hast mir von Anfang an das Gefühl gegeben, jemand zu sein. Du hast mich ernst genommen. Irgendwie findest du immer die richtigen Worte, damit ich mich … besser fühle.“

Dami fragte sich zum wiederholten Mal, wo das alles hinführen sollte. „Also bist du zu mir gekommen, weil du meinen Rat möchtest?“ Er griff nach seiner Kaffeetasse.

Lucy entgegnete: „Nein. Nicht deinen Rat. Sex.“

Die Tasse knallte auf den Tisch. „Wie bitte?“

„Dami, es ist so einfach. Ich möchte, dass du mit mir schläfst. Ich möchte, dass du der Erste bist.“

2. KAPITEL

Die Situation war so unwirklich, dass Dami einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. „Liebste Luce“, setzte er an. „Hast du mich gerade gebeten, dein Liebhaber zu sein?“

Sie nickte eifrig, und ihr glänzendes braunes Haar wippte im Takt. „Oh ja. Ich meine, bitte. Ich mag dich Dami. Wirklich. Und wenn ich mir vorstelle, mit dir Sex zu haben, ist da nichts Sonderbares oder … Peinliches. Du bist so erfahren. Ich brauche jemanden, der genau weiß, was er tut, und ….“ Sie verstummte.

Dami öffnete den Mund, doch da entfuhr ihr ein leises Stöhnen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, ihre Wangen zu verstecken, die mittlerweile in einem entzückenden Himbeerrot leuchteten. „Oh, mein Gott. Du solltest dein Gesicht sehen. Bis hierher läuft es nicht so besonders gut, oder?“

„Luce, ich …“

Doch bevor er noch mehr sagen konnte, sprang sie auf und sah panisch zur Tür. Dami hielt sie am Handgelenk fest. „Warte.“

„Ehrlich, ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Es war eine dumme, lächerliche Idee. Und jetzt hältst du mich für kindisch. Für eine vollkommene Idiotin.“

Er trat näher. „Nein. Ich halte dich weder für kindisch noch für eine Idiotin. Es ist in Ordnung, Lucy, ehrlich.“

Sie wollte sich losmachen. „Bitte lass mich gehen. Das ist so peinlich.“

Doch Dami hielt sie fest. Er hob die Hand und hauchte einen leichten Kuss auf ihren Handrücken. Dann sah er ihr aufmerksam in die Augen. „Bitte, Lucy. Beruhige dich. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich schwöre dir, dass ich dich nicht kindisch finde. Und um ehrlich zu sein, fühle ich mich ziemlich geschmeichelt.“

„Nein, bist du nicht“, jammerte sie leise.

Mit dem Daumen strich er beruhigend über ihre Hand. „Hör mir zu.“

Ein leiser Schluchzer löste sich in ihrer Brust.

„Hörst du mir zu, Luce?“

Sie nickte langsam. Dann ließ sie sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken, genau zwischen zwei kunstvolle Gemälde, die Dami bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung ersteigert hatte. „Ja, ich höre dir zu“, flüsterte sie schließlich.

„Ich fühle mich geschmeichelt.“ Er lächelte sie an, bis sich auch auf ihrem bekümmerten Gesicht der Anflug eines Lächelns zeigte.

„Mal ehrlich, Luce, du bist so unberechenbar. Bei dir weiß man nie, was als Nächstes kommt. Dir gelingt es immer wieder, mich zu überraschen. Und weißt du, was das Erstaunlichste daran ist? Du überraschst mich mit deiner umwerfenden Ehrlichkeit. Du bist ein so wertvoller, aufrichtiger Mensch.“

Sie schlug die langen, dunklen Wimpern nieder. „Aufrichtig. Das ist nicht gerade aufregend, stimmt’s? Nicht attraktiv.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich nicht gesagt. Du bist unvorhersehbar und deshalb aufregend, aber gleichzeitig erfrischend ehrlich.“

Vorsichtig hob sie den Blick und sah ihn an.

In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie gern er sie hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich in ihrer Gegenwart wohlgefühlt. Sie hatte ihm ihr Zimmer in Carpinteria gezeigt, das von oben bis unten mit Nähmaschinen, Stoffen und eigenen Kreationen vollgestopft war.

Dann hatte sie ihm ihre Bewerbungsmappe gezeigt und ohne Punkt und Komma davon geschwärmt, welche Designs sie für die Zukunft plante.

Und jetzt stand sie vor ihm, und in ihrem Blick spiegelten sich Hoffnung und ein unerschütterliches Vertrauen. Und ein Funken Ironie. „Du weißt genau, wie man den Frauen Komplimente macht.“

„In diesem Fall ist das einfach. Ich erzähle nur die Wahrheit.“

„Na sicher.“

Er verzog den Mund mit gespieltem Entsetzen. „Luce. Du verletzt mich.“

Sie kicherte leise, doch dann brach sie abrupt ab und blinzelte. „Moment mal. Heißt das, du machst es?“

Autsch. So viel zu erfrischender Ehrlichkeit.

Im Grunde hätte er gerne zugesagt. Ja, er wäre gerne ihr Liebhaber. Aber er war ebenso wenig ein Verführer von Jungfrauen wie Brandon der Karamellaugenmann.

Er fand sie definitiv attraktiv – aber so, wie ein junges Mädchen eben ist: lieblich und süß. Nicht heiß und verrucht.

Sie war so anständig und ungekünstelt und voll Begeisterung für die Welt, die sie erst jetzt zu erobern begann. Außerdem war sie feinfühlig und hatte ein gutes Gespür für Stimmungen.

Nicht zu vergessen ihr großartiges Talent, mit dem sie es eines Tages – mit den richtigen Kontakten – in der Modewelt vielleicht zu etwas bringen würde.

Und dennoch: Er sah in ihr nicht den Typ Frau, die am Abend in seinem Bett landen würde.

Sie musterte ihn scharf. „Langes Schweigen. Ich deute das als Nein.“

Am allerwenigsten wollte er ihr wehtun. „Du bist wirklich bezaubernd, Luce. Dein glänzendes Haar und deine wunderschönen, großen Augen und dieses kleine Grübchen auf deiner linken Wange …“

„Immerhin gelingt es dir, dass man sich besser fühlt.“

„Warum? Du siehst sehr gut aus, Luce. Das brauche ich dir nicht zu erzählen.“

„Das beantwortet aber noch nicht meine Frage.“

Dann kam ihm die rettende Idee. „Pass auf, ich weiß was.“

„Oh, oh. Das klingt nicht gut.“ Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch Dami hielt sie noch immer fest.

„Warte doch ab. Ich habe eine Idee. Wir lassen das Ganze einfach ein bisschen langsamer angehen.“

Sie hob die Braue. „Wie, langsamer?“

„Du verbringst das lange Wochenende hier in Montedoro, richtig?“

„Ja, stimmt.“

„Dann lass es uns gemeinsam verbringen.“

„Du meinst … als ob wir ein Date hätten?“

„Genau. Als ob wir ein Date hätten.“

„Okay. Ich bin vielleicht naiv, aber ich verstehe schon, was du hier machst. Du willst es mir leicht machen.“

Das stimmte zwar, aber Dami hatte nicht vor, sie zu täuschen. „Setz dich wieder hin. Dann können wir in Ruhe reden.“

Er hatte damit gerechnet, dass sie sich noch mehr zieren und winden würde. Aber wie so oft überraschte sie ihn. Ohne ein weiteres Widerwort nickte sie und ging zurück an ihren Platz.

Während Lucy den Becher leer trank, beobachtete sie jede seiner Bewegungen. Er sah umwerfend aus in seinem seidenen schwarzen Morgenmantel. Der Mantel ließ die Konturen seiner breiten Brust nur erahnen, aber er betonte die schmalen Hüften und den flachen Bauch.

Sein dichtes schwarzes Haar schimmerte, und die Farbe seiner Augen schien sich je nach Lichteinfall zu verändern: Mal war es ein dunkles Braun, dann ein tiefes, fast schwarzes Grün.

Er war so anders als Brandon. Brandon, der Schauspieler, mit seinem klaren, durch und durch amerikanischen Gesicht. Er war der Typ, dem man ohne zu zögern den Wohnungsschlüssel anvertraute oder dessen Gesicht man auf einer Cornflakes-Verpackung fand.

Dami dagegen wirkte geheimnisvoller. Sein Auftreten strahlte zu jedem Zeitpunkt Macht und Gelassenheit aus. Darin verbarg sich auch ein Hauch Gefahr – und gleichzeitig ein feinsinniger Humor und eine tiefe Zärtlichkeit.

Man nannte ihn den Player Prinz. Überall wurde erzählt, dass er schon mit unzähligen Frauen liiert gewesen war. Sogar mit mehr als Noah, ihr charmanter Bruder, der weiß Gott auch kein Heiliger war – bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Alice kennengelernt hatte. Das war ungefähr ein Jahr her.

Lucy verehrte Alice. Alice war die perfekte Frau für ihren Bruder. Jetzt konnte Lucy mit gutem Gewissen ihren neu erworbenen Freiraum genießen, in dem Wissen, dass Noah jemand zur Seite stand und ihn so liebte, wie er es lange Zeit nicht zugelassen hatte.

Davon abgesehen war Alice eine starke Frau. Sie war Noahs Launen gewachsen und konnte sich behaupten, wenn er mal wieder zur Selbstüberschätzung neigte.

„Luce.“ Auf Damis Stirn zeigten sich kleine Grübelfalten. „Was geht dir bloß gerade durch den Kopf?“

Sie nippte an ihrem Kaffee. „Ich habe nur gedacht, wie gut Noah und Alice zusammenpassen.“ Nachdem ich deinen perfekten Körper bewundert habe.

„Ja, das tun sie“, stimmte er zu.

Lucy lachte. Plötzlich fühlte sie sich unbeschwert. Na schön, Dami war nicht bereit, ihr Liebe und Sex beizubringen. Aber wenigstens hatte er nicht sofort versucht, sie loszuwerden – so wie Brandon es getan hatte.

Dami würde trotz allem ihr Freund bleiben. Das wusste sie. Ganz gleich, wie albern oder unreif sie sich auch benahm.

„Was ist so lustig?“

„Ich weiß nicht. Ich hatte wirklich Angst, dich zu fragen. Aber jetzt habe ich es getan, und es ist in Ordnung. Die Welt ist nicht untergegangen. Du hast mich nicht rausgeworfen.“

„Ich würde dich niemals rauswerfen.“

„Ganz genau. Und das mag ich an dir.“

Nachdenklich nahm Dami einen Bissen von dem Mandelgebäck. „Mir ist bewusst, dass ich einen gewissen Ruf habe, was Frauen angeht“, erklärte er. „Aber selbst jemand wie ich fällt nicht mit jeder attraktiven Frau sofort ins Bett.“ Er verzog den Mund, doch das Lächeln missglückte. „Nun, zumindest nicht in den letzten Jahren.“

Jetzt wurde es interessant. „In deiner Jugend warst du also ein ziemlich wahlloser Frauenheld.“

„So kann man es ausdrücken.“

„So kann man es ausdrücken? Ach, komm schon, Dami. Du hast es ganz schön krachen lassen, was?“

Er lachte leise. „Ich mag dich, Luce.“

Sie strahlte. „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“

„Und ich glaube, ein gemeinsames Wochenende ist eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, ob es da mehr als Freundschaft zwischen uns geben könnte.“

Sicher. In ihren Ohren war die Botschaft unmissverständlich: Er wollte nur nett zu ihr sein und dafür sorgen, dass sie ihr Gesicht wahrte – deswegen schlug er ein nettes, gemeinsames Wochenende vor, ganz harmlos. Dafür war sie nicht gekommen.

Na wenn schon.

Immerhin war die Idee verlockend, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Und vielleicht würde etwas von seiner Weltgewandtheit und Eleganz auf sie abfärben. Das konnte nicht schaden.

Schweigend tranken sie ihren Kaffee. Dann stellte Lucy die Tasse ab. „Schön. Sonntag fliege ich zurück nach New York. Bis dahin verbringen wir das Wochenende gemeinsam. Wie ein Date.“

Er neigte den Kopf. „Heute ist Donnerstag. Wir haben also drei volle Tage. Und wir fangen gleich an – und zwar mit dem Thanksgiving-Bazar in der Rue St. Georges.“

Dami beugte sich so dicht herüber, dass seine Lippen fast Lucys Haar berührten. „Ignorier sie“, flüsterte er. „Tu einfach so, als seien sie gar nicht da.“

Doch das war gar nicht so einfach. Seit sie in die belebte, mit Kopfsteinpflaster belegte Straße gebogen waren, folgten ihnen die Paparazzi auf Schritt und Tritt.

Seite an Seite schlenderten sie an den beschaulichen Buden entlang und betrachteten die Auslagen. Gleich an der ersten machte Dami Halt, um sich die handbemalte Weihnachtsdekoration anzusehen.

Die alte Gasse war ziemlich eng, und die Marktstände waren dicht gedrängt. Es gab Schmuckstände, handgemachte Seifen, Töpferwaren, Bilder und wunderschöne Stoffe. In der Luft lag der köstliche Duft von gebratenen Kartoffeln, Mandeln und frischem Kuchen.

Lucy warf einen hastigen Blick über die Schulter. „Die sind ja überall!“

In der Menge der Touristen tauchten ständig weitere Fotografen auf, die ein besonders gutes Bild vom Prinzen und seiner Begleitung schießen wollten.

„Ja, Liebes. Aber sie kennen die Regeln. Im Fürstentum Montedoro müssen sie einen gewissen Abstand einhalten. Glaub mir, das ist noch nichts im Vergleich zu Frankreich, England oder Amerika. Da sind sie gnadenlos, halten einem die Kamera ins Gesicht und löchern einen mit Fragen.“

Während er sprach, hatte seine Stimme einen tiefen, melodischen Ton angenommen. Es klang fast so, als würde er flirten. Wahrscheinlich redete sich Lucy das nur ein. Man hört eben immer nur das, was man hören will, dachte sie finster. Er will einfach nur nett zu dir sein.

Aber an seiner Seite konnte man einfach keine finsteren Gedanken haben. Wenn er nett zu ihr sein wollte, würde sie das gnadenlos ausnutzen – und jede Minute davon genießen.

„Was passiert, wenn sie dir zu nahe kommen?“

„Die Palastwache oder die verdeckte Personenschutzeinheit meines Bruders Alex greift ein und befördert den Kerl direkt über die Grenze.“

„Wie? Einfach so?“

„Einfach so“, bestätigte er leichthin.

Dami hatte drei Brüder und fünf Schwestern, doch bisher war Lucy außer Alice noch keinem von ihnen vorgestellt worden. „Alex ist dein Zwillingsbruder, richtig?“

„Richtig. Aber obwohl wir gleich aussehen, hat uns noch nie jemand verwechselt. Alex ist ein ernsthafter, nachdenklicher Mensch.“ Er hob nachlässig die Hände. „Und du kennst mich. Ich habe mir vorgenommen, nichts im Leben ernst zu nehmen.“

Dami nickte einem vorbeigehenden Paar zu, das seinen Gruß freundlich erwiderte. Er neigte den Kopf. „Luce?“

Sie roch einen Hauch seines Aftershaves. Das hatte sie von Anfang an gemocht: Es vereinte Zitrone, Holz und eine angenehme Gewürznote, die Lucy an einen verzauberten Wald erinnerte. Und an eine Limousine mit schweren Ledersitzen. Sehr männlich.

Ihr wurde schwindlig. „Ja?“

„Würdest du bitte aufhören, dich nervös umzusehen? Das ermutigt die Fotografen bloß.“

Sie lachte und griff nach seinem Arm. „Entschuldige. Das ist alles so neu für mich. Immerhin habe ich die meiste Zeit meines Lebens zu Hause verbracht. Ich hatte sogar Privatunterricht. Ich muss so viel nachholen. Alles fasziniert mich. Sogar ein paar Männer mit Kameras.“

Sie wandten sich einer Bude mit außergewöhnlichen Schmuckstücken zu. Die rundliche, ältere Verkäuferin mit dem gutmütigen Gesicht hielt ein Paar Ohrringe hoch. Sie hatten die Form von Schneeflocken und waren aus zartem Silber gefertigt, mit winzigen Kristallen in der Mitte.

„Eure Hoheit“, grüßte sie Dami. Sie drehte die Schmuckstücke in der Hand, sodass sie das späte Novemberlicht einfingen und wunderschön glitzerten. „Für die Lady …?“

Dami nickte. „Sie sind bezaubernd. Ich nehme sie.“ Er reichte der Verkäuferin das Geld, ohne sich auch nur nach Lucy umzudrehen.

Lucy wollte protestieren, doch die ältere Frau sah so zufrieden aus, und die Ohrringe waren wirklich schön und nicht zu teuer. Außerdem war es eine gute Übung: so zu tun, als sei man die Art Frau, die jeden Tag Geschenke von einem aufmerksamen Prinzen bekam.

Dami erstand noch ein paar weitere Dinge, darunter einen Seidenschal, den Lucy sich eigentlich selbst kaufen wollte. Sie begann zu protestieren, aber er ließ nicht zu, dass Lucy auch nur ihre Handtasche öffnete, um ihren Geldbeutel herauszunehmen.

Seltsamerweise schien man genau das von ihm zu erwarten. Dami erklärte es ihr: „Dieser Markt wurde zu Ehren meines Vaters Evan ins Leben gerufen. Nur dank ihm wird in Montedoro überhaupt Thanksgiving gefeiert. Es ist eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass meine Geschwister und ich an jedem Stand etwas kaufen, wenn wir den Markt besuchen. Ich tue ihnen praktisch einen Gefallen.“

„Oh.“ Lucy musste sich erst daran gewöhnen, an der Seite eines Mannes zu sein, der mit so viel Aufmerksamkeit beschenkt wurde – und dessen Bewegungen genau verfolgt wurden.

Doch nach einiger Zeit vergaß sie tatsächlich die Fotografen und die ungeschriebenen Gesetze und ließ sich völlig in das bunte Markttreiben fallen. Voll Freude befühlte sie die bunten Stoffballen und ließ sich inspirieren. Im Kopf war sie schon damit beschäftigt, aus dem wunderschönen Material filigrane Kleider zu entwerfen.

Bald hatte Dami so viel eingekauft, dass er seinen Butler anrief, um ihm zu helfen, die unzähligen Tüten und Taschen zu tragen. Darin befanden sich hauptsächlich Spielsachen – und Lucy fragte sich, ob sie für Damis Neffen und Nichten vorgesehen waren.

Wie in Trance ließ sie sich von Damien durch die Straße führen. Alles wirkte so farbenfroh und verzaubert, und sie wollte jede Sekunde davon genießen. Dieser Tag sollte sie für all die langen, einsamen Jahre entschädigen, die sie allein in ihrem Zimmer oder im Krankenhaus verbracht hatte.

Schließlich gelangten sie ans Ende der Straße, wo einige bunt bemalte Wagen im Kreis aufgestellt waren. An jedem Wagen gab es die köstlichsten Speisen zu kaufen. Dami bestellte Gebäck, Pasteten, Würstchen und einen ganzen Korb voller Süßigkeiten.

Lucy lachte. „Wer soll das alles essen?“

„Wart’s nur ab. Da findet sich schon jemand.“

Und jetzt bemerkte Lucy die Schar neugieriger Kinder, die sich um sie gesammelt hatten und ihnen in respektvollem Abstand folgten.

„Dami, was geht hier vor? Bist du der Kinderkönig?“

Er hob die Braue. „So was in der Art, ja. Aber nur für heute.“

Voll Erstaunen beobachtete Lucy, wie die Schar der Kinder immer größer wurde. Und als Dami den Weg zum Hafen einschlug, folgten ihnen die Kinder lachend und schwatzend.

Es war bereits Nachmittag, und das weiche Licht legte sich schmeichelnd auf die eleganten Jachten, die im Hafen vertäut lagen. Dami griff nach Lucys Hand und steuerte zielstrebig eine Bank an, von wo aus man einen schönen Blick auf die Promenade und Schiffe hatte.

Während Lucy und Dami sich auf die Bank setzten, ließen sich die Kinder in einem großen Kreis davor auf dem Rasen nieder und sahen Dami erwartungsvoll an. Lucy bemerkte, dass die Eltern der Kinder in einigem Abstand gefolgt waren.

Jetzt wies Dami den Butler an, die Taschen zu öffnen. Jedes Kind bekam ein Geschenk. Nachdem Spielsachen und Süßigkeiten vergeben waren, fragte Dami: „Möchtet ihr eine Geschichte hören?“

„Ja!“, riefen die Kinder wie aus einem Mund.

Ohne zu zögern, erzählte Dami ein Märchen. Darin ging es um ein magisches Buch, einen lachenden Drachen und einen bösen Riesen, der sich niemals badete. Es war zugleich lustig und wehmütig, und Dami konnte so gut erzählen, dass die Kinder wie gebannt an seinen Lippen hingen.

Als er geendet hatte, wünschte er allen ein frohes Thanksgiving und schickte die Kinder zurück zu ihren Eltern. Er stand auf und reichte Lucy die Hand.

„Das war wunderschön“, lobte sie und erhob sich. „Hast du dir das ausgedacht?“

Elegantes Schulterzucken. „So clever bin ich nun auch wieder nicht.“ Er zwinkerte ihr zu. „Es ist ein altes Volksmärchen aus Montedoro. Bei uns ist es Tradition, dass die Prinzen den Kindern an den Feiertagen Geschenke machen und ihnen Volkssagen erzählen.“

„Was für eine schöne Tradition.“

Seine Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln. „Du findest alles schön. Man könnte meinen, du bist die glücklichste Person auf Erden.“

Ein warmer Schauer rann über ihren Rücken. „Ich ziehe es eben vor, glücklich zu sein. Die Alternative gefällt mir nicht.“

„Du hörst dich genauso an wie Lili, die Frau von meinem Bruder Alex.“

„Liliana? Sie ist die Kronprinzessin von Alagonien, richtig? Ich habe von ihr gehört. Alagonien ist eine kleine Insel vor der Küste von Spanien, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Das ist richtig. Meine Geschwister und ich kennen Lili, seit wir klein sind. Sie ist ein Sonnenschein – und hat sich ausgerechnet in Alex verliebt, der alles andere als ein Sonnenschein ist. Oder besser, war. Lili scheint einen guten Einfluss auf ihn zu haben.“

„Und? Sind die beiden glücklich?“

„Ja. Sehr.“

„Das freut mich. Aber ich möchte dich etwas fragen: Hältst du es für möglich, dass man gleichzeitig glücklich und lebenserfahren ist?“

Da tat Damien etwas unglaublich Liebevolles. Er berührte ihr Gesicht mit den Händen und zeichnete zärtlich die Linie ihres Kinns mit dem Zeigefinger nach. „Warum? Hast du Angst, dass du dich irgendwann entscheiden musst?“

Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Oh, er war ziemlich gut darin, es wie ein Date aussehen zu lassen. „Ich will mich nicht entscheiden. Aber wenn ich es müsste, dann würde ich Glück wählen.“

Er kam näher. „Gut zu wissen, wo deine Prioritäten liegen.“

„Dami?“

„Ja?“

„Wirst du mich küssen?“ Ihre Augen waren leicht geschlossen.

„Würde dir das gefallen?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und sandte ein Prickeln über ihren Nacken.

Lucy entfuhr ein kleines, ersticktes Geräusch. „Das wäre fantastisch. Ja.“

„Bist du dir sicher? Die Paparazzi sehen uns zu. Ein Kuss würde definitiv für Schlagzeilen sorgen.“

Lucy unterdrückte ein Kichern. „Ach, komm schon.“ Sie suchte seinen Blick und hielt ihn fest. „Es ist zu spät für einen Rückzieher.“

„Luce, du bist so unschuldig – und gleichzeitig so frech.“

„Frech? Gut. Das ist viel besser als …“

Sie wollte noch mehr sagen, doch mit einem Mal waren die Worte wie ausgelöscht.

Seine weichen, warmen Lippen legten sich auf ihre.

3. KAPITEL

Er küsste Luce.

Nicht auf die Wange. Das war kein zarter, flüchtiger Freundschaftskuss auf die Stirn oder auf ihre süße Nasenspitze.

Das war ein richtiger Kuss.

Und eigentlich hatte er das nicht geplant.

Aber ihre zarten roten Lippen waren geöffnet und ihre dunklen Augen voll süßer Erwartung, und zweifellos sah sie so einladend aus …

Aber das war nicht alles. Den Tag mit ihr zu verbringen war eine Freude.

Das traf es im Grunde am besten: Lucy Cordell war eine Freude. Durch ihre Augen betrachtet, wurde die Welt zu einem magischen Ort. Zu einem guten, edlen Ort voll endloser Wunder und einfachem, anständigem Vergnügen.

Ihre Sicht der Dinge hatte im Lauf des Tages ein bisschen auf Dami abgefärbt, und zum ersten Mal seit Jahren hatte er wieder das Gefühl, sich ernsthaft an etwas erfreuen zu können. So, als sähe er die Dinge zum ersten Mal.

Nicht, dass es ihm in ihrer Gegenwart nicht schon einmal so ergangen wäre. Seit ihrem ersten Treffen war er von ihrer frischen, unvoreingenommenen Art sehr angetan.

Und er würde alles dafür tun, dass sie sich wohlfühlte.

Aber der Kuss?

Der passte überhaupt nicht in seinen Plan. Alles, was er vorhatte, war, ihr ein schönes Wochenende zu schenken, ihr ein wenig von den Traditionen in Montedoro nahezubringen und sie am Ende zurück nach New York zu schicken – und zwar so unschuldig und begeisterungsfähig wie eh und je.

Küsse passten einfach nicht ins Bild.

Aber wie sollte man ihr widerstehen?

Als sein Mund ihren berührte, stieß sie einen sehr leisen Seufzer aus. Sie schmeckte süß und zauberhaft.

Und da war …

Mehr.

Viel mehr, als er erwartet hatte.

Es war kein gieriger, leidenschaftlicher Kuss. Nur ihre Lippen berührten sich zärtlich. Und dennoch fühlte es sich an wie eine Offenbarung.

Ihr Duft nach Kirschen und Seife hüllte ihn ein.

Aber es gelang ihm nicht mehr, nur die Kindfrau in ihr zu sehen.

Nein. Jetzt sah er die unwiderstehliche Frau, die sie war. Und würde sie von nun an immer sehen.

Geschehen ist geschehen, dachte er resigniert.

Und für einen Augenblick war er versucht, Lucy an sich zu reißen und aus dem unschuldigen Kuss einen leidenschaftlichen zu machen. Jedenfalls hätte er früher so gehandelt. Er war kein Kostverächter. Wenn die Versuchung an die Tür klopfte, öffnete er ihr.

Warum auch nicht? Das Leben war zu kurz und die Versuchung zu … verführerisch.

Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund behielt er seine Hände dieses Mal bei sich. Er hob den Kopf. Und als Lucy ihn mit großen, offenen Augen ansah, war er seltsam stolz auf sich.

„Oh, Dami“, flüsterte sie. Ein glücklicher Ausdruck lag auf ihrem zarten Gesicht.

Er berührte ihr Kinn. Ihre Haut war rein und makellos und erinnerte ihn an Milch und Porzellan. „Es war nur ein Kuss“, sagte er. Im gleichen Moment wusste er, dass es eine schamlose Lüge war.

Sofort korrigierte sie ihn mit einem Lächeln. „Es war ein absolut perfekter Kuss.“

Dami bot ihr den Arm. Sie hakte sich unter, und gemeinsam schlenderten sie zurück zum Wagen, wo der Chauffeur darauf wartete, sie in den Palast zurückzubringen.

Dami hatte betont, dass das Thanksgiving Dinner im Palast eine reine Familienangelegenheit war. Nichtsdestotrotz war es eine sehr große Angelegenheit.

Das wurde Lucy bewusst, als sie durch die prächtigen Prunkgemächer schritt und schließlich den großen, reich geschmückten Speisesaal betrat.

Zumindest war sie sehr zufrieden mit ihrer Kleiderwahl. Ihr hübsches violettes Spitzenkleid mit den schmalen Satinträgern war weder zu übertrieben noch zu leger für den Anlass. Es war eine ihrer eigenen Kreationen und zeigte gerade genug Haut, dass sie nicht wie ein unschuldiges Engelchen wirkte.

Dazu trug sie hohe, pflaumenfarbene Pumps, deren Absätze mit großen violetten Schleifen verziert waren.

Betont lässig schlenderte sie zum Buffet und nahm sich einen Drink. Unauffällig glitt ihr Blick durch die Menge der unbekannten Gesichter, doch Dami konnte sie nirgendwo entdecken.

Dafür sah sie Alice und Noah am anderen Ende des Raumes. Alice trug ein wunderschönes kupferrotes Kleid und lächelte Noah liebevoll an. Er lächelte zurück. Lucys Herz machte bei ihrem Anblick einen kleinen Freudensprung. Dennoch ging sie nicht zu ihnen hinüber. Für heute Abend brauchte sie keinen großen Bruder, der jede ihrer Bewegungen überwachte.

Sofort fühlte sie sich ein bisschen schuldig. Noah mochte sich manchmal benehmen wie eine übervorsichtige Glucke, aber man konnte es ihm nicht verdenken.

Bereits in jungen Jahren hatten die Geschwister ihre Eltern verloren, und Noah hatte schreckliche Angst, dass auch Lucy etwas zustoßen könnte. Ihre Krankheit hatte noch dazu beigetragen, dass Noah übervorsichtig wurde und sie immerfort in Watte packte.

Und er hatte jedes Mal den fähigsten Spezialisten aufgetrieben, um ihr Herz vor dem Versagen zu bewahren.

Lucy liebte ihn über alles. Einen besseren großen Bruder konnte man sich nicht vorstellen. Aber auch ein großer Bruder musste irgendwann einsehen, dass seine jüngere Schwester erwachsen wurde und ihr eigenes Leben führen wollte.

Unbemerkt schob sich Lucy hinter eine schmale, mit Gold verzierte Säule. Dann legte sich eine Hand auf ihren Rücken. „Dein Kleid ist hinreißend. Und deine Schuhe sind ziemlich aufreizend.“ Damis tiefe Stimme sandte einen angenehmen Schauer über ihre nackten Arme.

Sie wandte sich um. „Dami. Da bist du ja endlich.“ Er trug einen tadellosen dunklen Anzug und war zweifellos der bestaussehende Mann im Raum. Und das war nicht so einfach, denn alle Bravo-Calabrettis waren ungemein attraktiv.

Er reichte ihr eine Champagnerflöte. „Fröhliches Thanksgiving.“

Ihre Gläser berührten sich mit einem sanften Klingen. „Dir auch, Dami.“

Sie nahm einen kleinen Schluck. „Oh. Das ist köstlich.“

Die Champagnerperlen prickelten auf ihren Lippen. Es erinnerte Lucy an den Kuss, den er ihr am Mittag gegeben hatte, und ihr Herz schlug schneller.

Wie konnte ein einfacher Kuss sie derart durcheinanderbringen?

Sogar eine Anfängerin wie sie wusste, dass bei einem echten Kuss zumindest die Zunge zum Einsatz kam. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sich noch mehr dahinter verbarg. Als sei der Kuss ein Versprechen gewesen – für mehr.

Mach dir nichts vor, ermahnte sie sich. Dami hat sehr deutlich gemacht, dass ihr nur Freunde seid. Nichts weiter.

„Komm.“ Dami reichte ihr den Arm. „Ich möchte dich meinen Eltern vorstellen. Immerhin sind es Noahs zukünftige Schwiegereltern.“

Ihre königliche Hoheit Adrienne von Montedoro und ihr Mann Evan waren ebenso liebenswürdig, anmutig und elegant wie Dami und Alice.

Adrienne sah um einiges jünger aus, als sie in Wirklichkeit war, und ihr Stil und ihre perfekten Umgangsformen waren beeindruckend. Sie begrüßte Lucy herzlich, lobte ihre Ambition, Designerin zu werden, und machte ihr sogar ein Kompliment zu ihrem Kleid. Dann brachte sie sehr liebevoll zum Ausdruck, wie sehr sie sich darüber freute, dass Noah und Lucy Teil der Familie wurden.

Als Dami sie wenige Minuten später an ihren Platz am Esstisch führte, hatte Lucy das Gefühl, zu schweben. „Deine Eltern sind unglaublich“, flüsterte sie. „Dass sie sich überhaupt an mich erinnern!“

Dami lächelte belustigt. „So alt sind sie nun auch wieder nicht.“

„Oh. Das meine ich nicht. Aber deine Mutter führt dieses Land, hat neun Kinder und unzählige Nichten, Neffen und Enkel, und trotzdem weiß sie, wer ich bin? Das ist erstaunlich.“

„Tja, so ist sie“, stellte Dami sachlich fest. „Eine sehr starke Persönlichkeit und eine wundervolle Frau.“ Er rückte Lucy einen Stuhl zurecht, und sie nahm Platz.

Während Dami sich abwandte, um seine Tischnachbarin zu begrüßen, sah Lucy sich bewundernd im Speisesaal um. Die Wände waren mit blauen und weißen Schnörkeln verziert, und hoch oben prangte wunderschöner Deckenputz, der mit Gold durchsetzt war.

Auch der weiße Marmorboden und die schlanken Säulen waren mit feinen goldenen Adern durchzogen. Über der langen Speisetafel hingen riesige Lüster aus Kristall, die das weiche Licht der Kerzen in tausendfachen Sprenkeln an die Decke warfen.

Auf der Tafel gab es ebenfalls Kerzen in hohen goldenen Haltern, und jeder Platz war mit feinem, bemaltem Porzellan gedeckt. Lucy zählte dreißig Plätze. Nach einigen Minuten war jeder davon besetzt.

Schräg gegenüber saßen Noah und Alice. Als Noah bemerkte, wie Lucy und Dami die Köpfe zusammensteckten, warf er ihr einen missbilligenden Blick zu. Es war nur zu offensichtlich, dass ihm Lucys Platzwahl missfiel.

Unglaublich. Schließlich waren Noah und Dami seit über zwei Jahren befreundet. Sie hatten sich über ihre Leidenschaft zu schnellen Autos und schönen Frauen kennengelernt. Und Letztere war offensichtlich der Grund, warum Noah so skeptisch aussah. Wahrscheinlich dachte er, Dami wolle seine Schwester zu einer weiteren Trophäe in der langen Reihe seiner Bettgeschichten machen.

Bei diesem Gedanken hätte Lucy beinahe laut aufgelacht. Immerhin war sie es, die Dami darum gebeten hatte, mit ihr ins Bett zu gehen. Und Dami hatte sich wie der vollendete Gentleman verhalten, um ihre Gefühle nicht zu verletzen.

Der erste Gang wurde serviert. Während des Essens fand Lucy kaum Gelegenheit, mit Dami zu sprechen, da sie von ihrem Sitznachbarn, einem ältlichen Grafen mit Jackett und Ziegenbart, in Beschlag genommen wurde.

Nach dem Essen begaben sich alle in das Gesellschaftszimmer, wo Damis Vater Evan eine berührende kleine Rede darüber hielt, was für eine wichtige Rolle die Familie in seinem Leben spielte.

Daraufhin wurden Tee und Gebäck gereicht, und ein Pianist setzte sich an den wunderschönen weißen Flügel und spielte beliebte Lieder aus Montedoro und zarte, klassische Stücke.

Gegen Mitternacht begab sich die Gesellschaft in die palasteigene Kapelle, wo ein kurzer, feierlicher Dankgottesdienst abgehalten wurde. Lucy schwelgte in den prächtigen Farben der Wanddekoration und der Robe des Priesters und dem köstlichen Duft des Weihrauches.

Nach der Messe kehrten alle zurück in das Gesellschaftszimmer. Ein letztes Mal wurden Erfrischungen gereicht, und der alte Graf ließ keine Gelegenheit aus, sich an Lucys Seite zu gesellen.

Es war bereits halb zwei in der Nacht, als die Gesellschaft sich langsam auflöste. Dami bot Lucy den Arm und begleitete sie hinaus.

Vor der Tür zu Lucys Apartment hielt Damien inne.

Der Flur war in das sanfte, gelbe Licht der Fackeln getaucht, die in gläsernen Zylindern an der Wand hingen.

„Das war ein wunderschöner Abend“, seufzte Lucy.

„Du scheinst immer eine schöne Zeit zu haben.“ Dami lachte leise. „Selbst wenn du von einem lüsternen alten Grafen verfolgt wirst.“

Lucy hob die Schultern. Ihr Lächeln war aufrichtig und gütig. „Na ja, eigentlich war er ganz nett. Nur ein bisschen … aufdringlich.“

„Ein bisschen?“ Dami beobachtete sie. Aus irgendeinem Grund dachte er an Vesuvia. V hätte den Alten sicher in seine Schranken gewiesen. Und dann hätte sie sich fürchterlich über ihn aufgeregt.

Nicht so Lucy. Sie war geduldig und nachsichtig – mit allen Menschen, denen sie begegnete.

„Na schön, er war ziemlich aufdringlich. Aber ich wollte ihn nicht brüskieren.“

„Ich weiß.“ Damis Stimme war rau. Er betrachtete Lucys Gesicht und ihren glatten, weißen Hals. Er stellte sich vor, die Stelle zu küssen.

Und das war der Augenblick, in dem ihm klar wurde, dass er ganz schnell verschwinden musste.

„Gute Nacht, Lucy.“

Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Möchtest du nicht noch mit reinkommen?“

„Ich gehe besser zu Bett.“ Dieses Mal hätte ihm fast die Stimme versagt.

Lucy schien es zu bemerken. „Aber ich …“ Sie zögerte.

„Was?“ Er erkannte sich selbst kaum wieder. Was war nur los mit ihm? Erst die Stimme und dann sein Herz, das so schnell in seiner Brust schlug, als wolle es zerspringen. Du bist keine zwölf mehr, sagte er sich.

Lucy ließ seinen Arm los. „Du hast recht. Ich muss dich gehen lassen.“ Sie klang enttäuscht. Doch dann erhellte sich ihr Gesicht. „Aber morgen ist auch noch ein Tag.“

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, machte Dami einen Schritt auf sie zu. Er lehnte sich über sie. „Ja“, hörte er sich sagen. „Morgen …“

Mit dem Finger zeichnete er die feine Linie ihres Halses nach. Und dann tat er, was er sich selbst so vehement verboten hatte.

Sein Mund berührte ihre Lippen.

Ihr Atem erinnerte an frische, süße Äpfel. Ein entzückender kleiner Laut entfuhr ihrem Mund. Dann hob sie die Arme und legte sie um seinen Hals, um ihn näher an sich zu ziehen.

Er tat es ihr nach, legte die Hände auf ihre schmale Taille und vertiefte den Kuss. Ein Kuss, der niemals geschehen durfte.

Ihr schlanker, warmer Körper schmiegte sich an ihn. Ihre Brüste berührten seine Brust.

Es fühlte sich gut an. Viel zu gut.

Und dann regte sich etwas in ihm, das er niemals mit Lucy hätte spüren dürfen: Hitze. Enge. Er merkte, wie seine Hose über dem Schritt spannte.

Und das war es. Die plötzliche heftige Erregung brach den Zauber, der sich über ihn gelegt hatte. Ganz sanft löste er sich von ihr und schob sie von sich, damit sie seine verräterische Härte nicht an ihrem Bauch spüren würde.

Mit einem verträumten Gesichtsausdruck sah sie zu ihm auf. Sie lächelte. „Hm. Gute Nacht“, flüsterte sie.

„Nacht, Luce.“ Auf wundersame Weise hatte er seine Selbstkontrolle wiedergefunden und klang vollkommen entspannt. Er ließ sie los, wandte sich ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In seinem Apartment gönnte Damien sich einen letzten Brandy.

Er ließ sich in einen Sessel sinken und schwenkte nachdenklich das Glas in der Hand. Plötzlich vibrierte sein Telefon. Er nahm es aus der Tasche. Doch nach einem schnellen Blick auf das Display hätte er das Telefon am liebsten weit weggeworfen.

Es war V. Für Damien gab es keinen Grund mehr, mit ihr zu reden. Sie würde ihn ohnehin nur beschuldigen und eine unschöne Szene machen. Sie drehten sich im Kreis, und Damien wollte nichts weiter, als aus diesem Kreis auszubrechen.

Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? Es gab nichts mehr zu sagen.

Das Telefon zeigte weitere drei Sprachmitteilungen an. Alle von V. Dami löschte alle drei nach den ersten ärgerlichen Worten, die V auf seine Mailbox gesprochen hatte.

Schließlich legte er das Telefon auf den Glastisch, trank den Brandy und dachte darüber nach, wie er aus der Nummer mit Lucy wieder herauskommen konnte.

Es war unmöglich, dieses Wochenende bis zum Ende durchzuziehen. Er musste es vorher beenden. Irgendwie.

Es stellte sich heraus, dass sein cleverer Plan alles andere als clever war. Wenn er so weitermachte, würde er sie sehr verletzen, das wusste er.

Allerdings hatte auch sie ihn verändert. Vor allem die Art, wie er sie sah – seit sie ihn darum gebeten hatte, mit ihr zu schlafen.

Das Schlimme war: Seit sie diese unmögliche Idee in seinen Kopf gesetzt hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken.

Und alles, was sie tat, bestärkte seine Faszination: ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Ehrlichkeit, ihre undramatische, offene Art, sogar ihre Nachsicht mit dem alten Grafen – all diese Dinge waren rührend und anziehend zugleich.

Kein Zweifel, sie hatte ihn verzaubert.

Trotzdem war Dami nicht entgangen, wie Noah ihn angesehen hatte. Kein Wunder, dass er seine kleine Schwester beschützen wollte.

Und wenn er ehrlich zu sich war, hatte er keine Sekunde daran geglaubt, dass Lucy unbeschadet aus einer Affäre herausgehen würde.

Sie hatte ihn zwar darum gebeten, mit ihr zu schlafen, aber sie war nicht der Typ, der danach seine Sachen packen und unbeschwert weitergehen würde. Sie war ein süßes, junges Mädchen ohne jegliche Erfahrung – es war abzusehen, dass sie am Ende mehr erwarten würde.

Und deswegen musste er dem Ganzen ein Ende machen.

Gleich morgen.

4. KAPITEL

Irgendetwas an der Art, wie Damien sich verhalten hatte, fand Lucy merkwürdig.

Zuerst war er so abweisend gewesen. Und dann hatte er sie geküsst – mit einer Intensität, als hätte er den ganzen Abend darauf gewartet.

Um dann davonzurennen, als sei der Teufel hinter ihm her.

Und warum das Ganze? Warum gerade in dem Augenblick, als er endlich begann, sie als Frau zu sehen?

Lucy hatte eine Ahnung: Es lag an Noah.

Damien waren Noahs böse Blicke nicht entgangen.

Aber das war lächerlich. Noah hatte kein Recht, sich so zu benehmen. Und er hatte kein Recht, Lucy das Wochenende mit Damien kaputt zu machen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie würde das Problem aus der Welt schaffen – und zwar jetzt sofort.

Sie war niemand, der die Dinge aufschob. Dafür hatte sie bereits viel zu viel Lebenszeit verschwendet.

Ohne zu zögern, streifte sie ihr Abendkleid ab und schlüpfte in Jeans, Sweatshirt und ihre Lieblingsturnschuhe. Leise verließ sie das Apartment und huschte die breite Treppe hinunter.

An der Eingangstür patrouillierte wie immer die Palastwache. Lucy musste dem Mann versichern, dass sie keine Begleitung benötigte und in spätestens einer Stunde zurückkehren würde. Bis zu Alices Villa war es nicht weit, und dies war eine sehr sichere Gegend, sodass der Wächter sie schließlich gehen ließ.

Lucy eilte über die gepflasterten Wege und stand wenige Minuten später vor der Villa. Nirgendwo brannte Licht, aber sie war sicher, dass Noah im Haus war. Sie würde ihn wecken müssen – und das würde ihm gar nicht gefallen. Erst recht nicht, wenn er hörte, was sie zu sagen hatte.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.

Als Lucy auf den Klingelknopf drückte, war es bereits Viertel nach zwei.

Die Minuten vergingen. Dann öffnete ein verschlafen aussehendes Hausmädchen die Tür.

„Hallo, Michelle“, begrüßte Lucy sie.

„Miss Lucy“, rief Michelle besorgt und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Gibt es einen Notfall?“

„Nicht direkt“, gab Lucy zu. „Aber ich muss dringend mit meinem Bruder sprechen. Ist er …“

„Ich bin hier.“ Noah erschien hinter Michelle im Flur. Alice folgte ihm.

„Es ist gut, Michelle. Gehen Sie wieder zu Bett“, riet Noah, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Lucy weder verletzt noch in Panik war.

Nachdem sich Michelle entfernt hatte, bat er seine Schwester herein. Zu dritt gingen sie in das große Wohnzimmer, das mit wunderschönen Möbeln und Antiquitäten ausgestattet war.

„Was zur Hölle ist hier eigentlich los?“, schimpfte Noah. „Was ist so wichtig, dass du uns aus dem Schlaf reißen musst?“

Lucy hielt seinem Blick stand. „Es tut mir leid, aber ich muss etwas mit dir besprechen, und das kann nicht bis morgen warten.“ Sie holte tief Luft. „Wir hatten eine Abmachung, stimmt’s? Du hast mir versichert, dass du dich nicht mehr in mein Leben einmischen wirst.“

Noah sah sie verwirrt an und strich sich durch das vom Schlaf verstrubbelte Haar. „Einmischen? Was habe ich denn getan?“

Lucy straffte sich. „Den ganzen Abend lang hast du Damien und mir böse Blicke zugeworfen.“

Noah hielt inne. Dann sah er sie scharf an. „Was ist da zwischen dir und Damien?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Ihr Bruder schüttelte verärgert den Kopf. „Natürlich geht es mich etwas an! Du bist meine Schwester, und ich liebe dich. Du hast behauptet, du und Damien wärt nur Freunde. Er sagt das Gleiche. Aber für mich sah das anders aus.“

Für einen Augenblick überlegte Lucy, ihm auszuweichen. Aber dann sagte sie sich, dass sie absolut nichts zu verbergen hatte. Sie war eine erwachsene Frau. Und ihr Bruder durfte wissen, dass sie mit jemandem ausging.

„Und wenn schon. Wir möchten das Wochenende miteinander verbringen. Wir möchten herausfinden, ob da vielleicht mehr als Freundschaft zwischen uns ist. Und ob wir … den nächsten Schritt wagen sollen.“

Noahs Gesicht schien die Farbe zu verlieren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Alice, die bisher geschwiegen hatte, trat neben ihn und legte beruhigend die Hand auf seinen Arm. „Setz dich doch“, sagte sie sanft. „Und du auch, Lucy.“

Sie nahmen auf den gemütlichen, weichen Sesseln Platz. Lucy war froh, dass ihre Schwägerin dabei war. Sie trug einen hübschen bestickten Morgenmantel und sah so schön aus wie immer. Ihr langes Haar fiel locker über ihre Schultern.

„Das ist doch nicht dein Ernst“, grollte Noah. „Bist du verrückt geworden?“

Lucy zog die Stirn kraus. „Na, vielen Dank, Noah. Jetzt hältst du mich nicht nur für unerwachsen, sondern auch für eine Irre.“

„So war das nicht gemeint“, verteidigte er sich. „Aber ausgerechnet Damien! Ich kenne ihn. Er hat kein Interesse an einer festen Beziehung. Er wird dir wehtun. Dir das Herz brechen. Willst du das?“

„Ich denke, du irrst dich, was Dami angeht“, beharrte Lucy. „Aber das ist nicht der springende Punkt.“

„So? Was sonst?“, fragte Noah scharf.

„Dass ich meine eigenen Erfahrungen mache, Noah. Darauf kommt es an. Vielleicht auch, dass ich meine eigenen Fehler mache. Hauptsache, ich darf allein entscheiden. Bisher durfte ich nie etwas allein entscheiden. Und du kannst nicht mein Leben für mich leben, Noah.“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Seit wann bist du so stur, Schwesterchen?“

Sie lachte leise. „Ich war es schon immer. Aber solange ich krank war, hatte ich nicht die Kraft, um mich durchzusetzen.“

Noah öffnete den Mund, doch Alice kam ihm zuvor. „Sie hat recht, Noah. Sieh es doch ein. Sie ist eine erwachsene Frau. Und sie kann ausgehen, mit wem sie will.“

Alices Stimme war ganz sanft, doch in ihren Augen brannte ein Feuer, das sogar einen willensstarken Charakter wie Noah zum Schweigen brachte.

Er verzog das Gesicht. „Das gefällt mir nicht.“

Lucy wagte ein schwaches Lächeln. „Das braucht dir auch nicht zu gefallen, Noah. Aber wer weiß? Vielleicht ändern sich die Dinge.“

Er zögerte. Dann sagte er: „Bitte pass auf dich auf, Lucy. Versuch, dir nicht das Herz brechen zu lassen.“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich werde auf mich aufpassen. Versprochen. Aber du musst mir auch versprechen, dich herauszuhalten. Tust du das?“

Noah erhob sich. Er ging auf Lucy zu und zog sie in seine Arme. „Bleibt mir etwas anderes übrig?“ Und mit einem Blick über Lucys Schultern fügte er hinzu: „Alice würde mir den Kopf abreißen, wenn ich dir im Weg stehe.“

Lucy lächelte wissend. „Ich würde mich nicht mit ihr anlegen, Bruderherz.“ Sie machte sich los. „Tut mir leid, dass ich euch um den Schlaf gebracht habe. Aber jetzt kann ich beruhigt ins Bett gehen.“

Noah schüttelte empört den Kopf. „Du willst doch jetzt nicht in den Palast zurückgehen! Du kannst hier schlafen …“

Lucy hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. „Keine Regeln mehr, Noah. Du hast es versprochen.“ Sie grinste und ging zur Tür. „Ich bin schon ein großes Mädchen.“

„Offensichtlich“, murmelte Noah ergeben. Dann griff Alice sanft nach seinem Arm und begleitete ihn zurück ins Schlafzimmer.

Als Lucy in ihr Zimmer im Palast zurückkehrte, zeigte die Uhr fünf Minuten nach drei.

Sie ließ sich auf das Bett sinken und berührte mit dem Finger die Narbe in ihrem Dekolleté. Für ihre Verhältnisse war sie noch erstaunlich fit. Es grenzte an ein Wunder, was ihr Herz heute alles geleistet hatte. Früher wäre sie schon nach dem kurzen Spaziergang erschöpft gewesen. Noch dazu mitten in der Nacht.

Das Fest, die Diskussion mit ihrem Bruder – all das hätte das Herz nicht mitgemacht.

Doch jetzt war sie hellwach.

Sie lag auf dem Bett und dachte an Dami. Und sie wusste genau, dass sie nicht einschlafen konnte, bis sie mit ihm geredet hatte. Sie musste ihm sagen, dass Noah ihnen nicht im Weg stehen würde.

Und zwar nicht irgendwann.

Jetzt sofort.

Damien erwachte von einem klopfenden Geräusch.

Er spähte in Richtung der leuchtenden Digitalanzeige auf seinem Nachttisch. Drei Uhr sechsunddreißig. Er hatte keinen Zweifel daran, wer da an seine Tür klopfte.

Lucy. Mit einem Anliegen, das sie sofort aus der Welt schaffen musste.

Eigentlich hätte er verärgert sein müssen, doch er war es nicht. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, sie bis morgen warten zu lassen.

Doch dieses Mal streifte er eine weiche, dunkle Hose und einen Pullover über, bevor er die Tür öffnete.

Und sobald seine Hand den Türgriff berührte, begann sein Herz wie wild zu schlagen.

Und nicht nur sein Herz regte sich. Da war ein erwartungsvolles, fast schmerzvolles Ziehen in seinem Bauch, das durch seinen Körper strömte und sich nach unten ausbreitete.

Er hielt für einen Augenblick inne. Das war doch lächerlich. Wie konnte er so sicher sein, dass es Lucy war? Und wieso konnte er es kaum erwarten, ihr zu öffnen – nachdem er sich doch vorgenommen hatte, ihr gemeinsames Wochenende vorzeitig zu beenden?

Dami atmete tief ein und versuchte, sich innerlich zu wappnen. Er wusste genau, warum: gegen ihren Charme, gegen den Zauber, den sie unbestreitbar auf ihn ausübte.

Er öffnete die Tür. Da stand sie.

Sie trug einen bequemen Pullover, eng anliegende Jeans und niedliche pinkfarbene Turnschuhe. Ihre Augen leuchteten. „Dami. Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder aufwecken muss. Aber ich muss mit dir reden.“

Genau das, was er erwartet hatte.

„Meine liebste Lucy.“ Er bemühte sich, seiner Stimme einen müden Klang zu verleihen, doch sein Puls raste. „Du bist wirklich die einzige Person auf der Welt, der ich verzeihen kann, dass sie mich um halb vier morgens aus dem Bett holt. Komm doch rein.“

Im Halbdunkel des Flures konnte man es nicht sehen, doch Dami war sicher, dass sie errötete. „Danke.“ Sie schlüpfte in die Wohnung und ging direkt ins Wohnzimmer.

Damien deutete auf das bequeme Sofa. „Setz dich.“ Er ließ sich im Sessel gegenüber nieder und schlug betont lässig die Beine übereinander.

Er gab sich gelassen, doch in seinem Inneren herrschte Unruhe.

Lucy stützte die Ellbogen auf die Knie. „Es gab da etwas, das ich klären musste, und ich wollte dir davon erzählen. Es hat mit Noah zu tun.“

Dami griff sich unbehaglich in den Nacken. „Hast du ihn etwa auch aus dem Schlaf gerissen?“

„Ich fürchte, ja.“ Sie hob die Schultern und lächelte unschuldig. „Aber es ging nicht anders. Noah und ich hatten eine Abmachung, und daran muss er sich halten.“

Dami ahnte nichts Gutes. „Und? Wie ist es gelaufen?“

„Nicht schlecht.“ Jetzt grinste sie triumphierend. „Er hat eingesehen, dass er mich nicht davon abhalten kann, Zeit mit dir zu verbringen.“

Genau so etwas hatte Damien befürchtet. „Dein Bruder kennt mich, Lucy. Er sieht keine Zukunft für uns und hat Angst, dass ich dir wehtun werde.“

Sie richtete sich auf. „Das hat er auch gesagt. Aber du würdest mir nie wehtun, Dami. So bist du nicht.“

Er fuhr sich durchs Haar. „Luce. Genau so bin ich. Vielleicht willst du es nicht wahrhaben. Aber ich bin schnell gelangweilt. Und wenn das passiert, ziehe ich weiter.“

Sie hob die Hände und vollführte große, ungeduldige Gesten in der Luft. „Ach, komm schon, Dami. Du weißt, was ich meine. Immerhin waren wir uns einig: ein Wochenende mit Aussicht auf … Sex. Ich meine, wenn die Stimmung passt. Ohne jede weitere Verpflichtung. Ich will nur Erfahrungen sammeln. Reifer werden. Damit ich für andere attraktiver bin.“

Am liebsten hätte er ihr widersprochen. Sie war schon attraktiv genug – zumindest für ihn. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr Komplimente zu machen. Er sollte sie doch loswerden, um Himmels willen. Stattdessen musterte er sie eindringlich, als wolle er sich ihr Aussehen für immer einprägen.

„Dein Bruder will doch nur, dass du glücklich bist“, räumte er ein, doch schon in seinen eigenen Ohren klang das ziemlich flach.

Lucy schüttelte den Kopf. „Du meinst, dass ich sicher bin. Noah hat die Dinge gerne unter Kontrolle. Es wäre ihm am liebsten, wenn ich für den Rest meines Lebens brav in Kalifornien in meinem Zimmer sitzen würde, wo mir nichts passieren kann und wo man jeden Tag meinen Herzschlag kontrolliert.“

Bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: „Aber wir haben das geklärt. Und ich weiß, dass es dir etwas ausgemacht hat, Dami. Er ist dein Freund. Er hat dich heute Abend wie einen Verbrecher behandelt. Aber ich habe das aus der Welt geschafft.“

Dami hob die Braue. All das hatte sie geklärt, während der ganze Palast in tiefem Schlaf lag? „Bist du dir sicher?“

Sie nickte heftig. „Absolut. Er hat zwar ein bisschen länger dafür gebraucht, aber so langsam begreift er, dass ich erwachsen bin und mein eigenes Leben führen will.“

Damien glaubte ihr.

Doch dann wurde ihm eines klar: Noah war nie wirklich das Problem gewesen.

Er war es. Er und sein Versprechen, mit ihr das Wochenende zu verbringen.

Seit dem Kuss am Hafen hatte er die Leidenschaft für sie entdeckt. Alles an ihr war mit einem Mal verlockend.

Es war furchtbar. Damien kam sich vor wie der alte Graf – ein lüsterner Kerl, der ein unschuldiges Mädchen verführen wollte.

Das hatte sie nicht verdient. Sie verdiente jemanden, der genauso anständig und unverdorben war wie sie und sie liebevoll in die Welt der Leidenschaft einführte. Mit einer Chance auf mehr.

„Luce“, begann er sanft.

Sie horchte auf. Ihr Gesichtsausdruck war alarmiert. „Oh nein. Du hast es dir anders überlegt, stimmt’s?“ Ihre Augen waren weit geöffnet. „Du denkst, dass Noah recht hat. Ist es nicht so?“

„Ich finde, du solltest jemanden kennenlernen, der genauso ist wie du. Hoffnungsvoll. Jung. Rein.“

Ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten. „Wieso denkst du, dass ich so jemanden will? Was soll ich mit einem Jungen anfangen, der genauso unerfahren ist wie ich? Dafür habe ich keine Zeit. Ich will keine Fummelei und ein enttäuschendes erstes Mal.“

Damien verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Wie immer war Lucy nur ehrlich – drastisch ehrlich. Er räusperte sich. „Ich hätte das Gefühl, dass ich dich ausnutze. Und ich will nicht, dass am Ende dein Herz gebrochen wird.“

Plötzlich ging eine deutliche Veränderung in ihr vor. Lucy wurde ganz ruhig. Sie legte die Hände neben sich auf das Sofa. „Du nutzt mich nicht aus, Dami“, sagte sie mit leiser Stimme. „Im Gegenteil. Du würdest mir einen Gefallen tun. Einen sehr besonderen Gefallen.“

Sie sah ihn aufmerksam an. „Warum wollt ihr das nicht verstehen? Ihr habt solche Angst, dass mein Herz gebrochen wird. Dabei war mein Herz kaputt. Fast mein ganzes Leben lang hatte ich mit dem angeborenen Defekt zu kämpfen. Ich habe versucht, damit zu leben. Ich habe versucht, jeden Tag als Geschenk und nichts als selbstverständlich zu betrachten. Aber tief im Inneren war ich zerstört. Mein Herz war gebrochen wegen all der Dinge, die ich nie würde tun können.“

Dami suchte nach den richtigen Worten, doch sie kam ihm zuvor. „Dank einer neuen Technik bin ich jetzt gesund. Und vielleicht denkt ihr, dass man mich weiterhin vor allem Schmerz bewahren muss. Aber weißt du was? Ich will alles erfahren. Ich will alles tun, was normale, gesunde Menschen auch durchmachen. Und dazu gehört, dass man Risiken eingeht. Jeder kann scheitern. Jedem kann wehgetan werden. Das ist es, was das wahre Leben ausmacht. Hinfallen und wieder aufstehen. Und wenn man großes Glück hat, findet man vielleicht irgendwann die Liebe. Ich bin stark genug, um es auszuprobieren, und genau das will ich tun.“

Dami sah sie schweigend an. Ihre kleine Rede war mehr als ergreifend. Sie hatte ihn tief im Inneren berührt. Sie hatte etwas in ihm zum Klingen gebracht, von dem er sich nicht einmal eingestehen konnte, dass es da war.

Plötzlich war er unendlich dankbar, sie zu kennen. Ihr Freund zu sein. Und genau so hätte es bleiben sollen.

„Luce. Es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Sex verkompliziert die Dinge. Vor allem, wenn es dein erstes Mal ist.“

Sie nickte langsam. „Das weiß ich. Aber jeder hat so viel Angst, dass mir wehgetan wird. Wie könntest du mir jemals wehtun? Du magst mich. Sehr. Wir sind Freunde. Wir werden darüber hinwegkommen. Und ich schwöre dir: Wenn es vorbei ist, werde ich dich in Ruhe lassen. Ich werde dir danken und lächelnd meinen eigenen Weg weitergehen. Bloß, dass ich um eine Erfahrung reicher geworden bin.“

Verdammt noch mal. Was gab es darauf zu sagen?

Es spielte keine Rolle, denn Lucy war noch nicht fertig. Sie neigte den Kopf und sah ihn mit dem süßesten Ausdruck in den Augen an. „Sei ehrlich“, forderte sie und biss sich auf die Lippe. „Als du mich vorhin geküsst hast … Das hat dir gefallen, stimmt’s?“

Er öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen – doch es kam kein einziges Wort.

Sie hob den Zeigefinger. „Es hat dir gefallen. Ich bin vielleicht unerfahren, aber nicht blind. Ich habe es gesehen. Ich habe es gespürt. Es hat dir gefallen, und du konntest dir vorstellen, mit mir zu schlafen. Und das trotz deinem schlauen Plan, mich ein Wochenende lang zu verwöhnen und trotzdem als Jungfrau zurück nach Amerika zu schicken.“

Er wollte aufstehen und das Zimmer verlassen, um so viel Abstand zwischen sich und Lucy zu bringen wie möglich.

Aber noch mehr wollte er sie in seine Arme schließen. Er wollte ihr den Pullover abstreifen und die Jeans und ihre Turnschuhe. Er wollte ihren nackten Körper sehen. Und sie in sein Bett tragen. Und ihr all das zeigen, was sie so gerne lernen wollte.

„Dami?“

Er hob den Blick. Seine Augen waren dunkel.

„Bitte antworte mir. Hat es dir gefallen?“

„Verdammt sollst du sein.“ Seine Stimme war gefährlich leise.

Und dann schwieg sie.

Mehr als alles andere auf der Welt schockierte Damien ihr Schweigen.

Kein aufgeregtes Zwitschern. Kein Herumwedeln mit den Händen.

Sie saß einfach da, die Hände im Schoß, und der Pullover fiel über ihre Schulter und enthüllte ein Stück milchweißer Haut, und in ihren Augen spiegelte sich … was?

Herausforderung.

Und einer Herausforderung konnte er noch nie widerstehen. „Ja, Lucy. Es hat mir gefallen. Es hat mir sogar sehr gefallen.“

Ein kleiner erstickter Schrei entfuhr ihrem Mund, dann presste sie rasch die Hände auf die Lippen. „Gut.“ Sie lächelte. „Dann sehe ich überhaupt kein Problem. Wir verbringen das Wochenende miteinander und warten ab, wo das hinführt.“

Ihre Augen leuchteten, als könne sie schon direkt vor sich sehen, wo genau das alles hinführte.

Und ihre Erregung übertrug sich auf ihn.

Wem sollte er noch etwas vormachen? So war er nun einmal. Der Versuchung konnte er nicht widerstehen.

Sie hatte recht. Er wollte sie. Und das änderte alles.

Allerdings betete er, dass sie noch immer Freunde sein würden, sobald es endete.

5. KAPITEL

Fünf Stunden später saß Damien ihr gegenüber an einem kleinen runden Tisch in seinem Lieblingscafé und sah zu, wie sie genussvoll das frische Croissant zerpflückte.

Trotz wenig Schlaf sah Lucy so frisch und hübsch aus wie immer. Sie trug einen kurzen, gerüschten Rock, einen zitronengelben Pullover über einer weißen Bluse und dazu schwarze Wildlederstiefel.

„Ich liebe es hier“, erklärte sie strahlend und biss in das Croissant.

Damien lächelte nachsichtig. „Und was genau liebst du?“

Sie legte das Gebäck auf den Teller, um die Hände frei zu haben und den Raum mit einer großen Geste einzuschließen. „Alles! Die holzgetäfelten Wände, die schwarzen und weißen Fliesen auf dem Boden, die Blumen auf der Fensterbank … Und die Kleidung der Kellnerinnen! Klassisch schwarze Blusenkleider und dazu diese niedlichen weißen Rüschenschürzen.“

Seit Lucy die Zusage vom Fashion Institut in New York bekommen hatte, hatte sie ihre Bemühungen im Nähen verdoppelt und studierte mit Feuereifer alles, was auch nur im Entferntesten mit Mode zu tun hatte.

Jeder Schnitt und jede Naht bargen ein neues Geheimnis, das sie entschlüsseln wollte. Und dank ihrer Beharrlichkeit war es ihr gelungen, schon vor Semesterbeginn einige Bücher von ihren Professoren zu leihen.

„Mir gefällt diese antiquierte Kluft. Sie sehen aus, als hätten sie ihr ganzes Leben hier verbracht.“ Ein winziges Stückchen des blättrigen Gebäcks haftete an ihrer vollen Unterlippe. Damien widerstand dem Impuls, sich hinüberzulehnen, um es abzulecken.

„Das haben sie auch“, erklärte er stattdessen. „Zumindest Justine. Ich kenne sie, seit ich ein kleiner Junge war. Unsere Nanny Gerta hat mich und meine Geschwister oft zum Frühstück hierhergebracht. Justine hat nie viel Aufhebens darum gemacht, wer wir sind. Sie hat uns behandelt wie jeden anderen auch.“

Lucy nickte. Sie griff nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

„Trink aus“, forderte Damien sie auf.

„Haben wir es eilig?“

„Wir wollen doch die Prozession nicht verpassen. Jeden letzten Freitag im November findet in Montedoro eine Parade zu Ehren von Gottes Gaben statt. Es ist eine Art Erntedankfest, und die Prozession geht durch die ganze Stadt, bis zur Kathedrale Maria Dolores.“

Lucy nickte eifrig. „Ich habe schon darüber gelesen. Das ist bestimmt wunderschön.“ Sie trank ihren Kaffee aus. „Aber bevor wir aufbrechen, möchte ich mir noch die Bilder an den Wänden ansehen.“

Damien legte ein paar Scheine auf den Tisch und folgte Lucy durch den Raum. Dutzende von Bildern rangen um Platz, darunter Ölgemälde, Aquarelle und feine Bleistiftzeichnungen von regionalen Künstlern.

Schließlich blieb sie vor einer kleinen Gruppe Bilder stehen. Die drei Zeichnungen bestanden aus feinen, schwungvollen Strichen und zeigten Szenen aus dem Café: Justine im Halbprofil, die Kaffee nachschenkte, die Außenfassade im Sommer und ein Blick aus dem Fenster, auf dessen Fensterbrett eine dicke, behäbige Katze saß.

„Diese drei mag ich besonders. Die Katze erinnert mich an Boris.“ Boris war ihr rot gefleckter Tigerkater. Lucys Blick glitt über die Zeichnungen.

„Ist Boris noch in Kalifornien?“, fragte Damien rasch. Doch es war schon zu spät. Sie hatte die Initialen DBC in der unteren Ecke entdeckt.

Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf. „Hannah hat ihn mir vor ein paar Wochen nach New York gebracht.“ Hannah Russo war Lucys einstige Pflegemutter, die nun ihrem Bruder Noah den Haushalt führte.

„Jetzt sitzt Boris immer am Fenster meines Apartments und beobachtet die Straße – genau wie diese Katze hier.“

Sie drehte sich abrupt um und sah ihn an. „Die Zeichnungen sind wirklich gut, Dami. Wann hast du sie gemacht?“

Er legte den Arm um ihre Taille. Für einen Augenblick genoss er ihre Nähe und ihre Wärme, bevor er antwortete. „Das ist schon viele Jahre her. Ich habe kurz am Beaux-Arts College in Paris studiert und buchstäblich alles gezeichnet, was ich gesehen habe. Dann spazierte ich mit meinem Skizzenbuch herein, trank einen Kaffee und habe Justine gemalt. Sie hat mir dafür eine Schachtel mit Gebäck gegeben.“

Lucy schmiegte sich an ihn. Sie duftete nach Vanille, Kaffee und etwas Süßem, Fruchtigem. Damien kam nicht gleich darauf, was es war. Dann wusste er es: Pfirsiche. Heute duftete Lucy nach Pfirsichen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und er musste sich dazu zwingen, ihren zarten Körper nicht noch fester an sich zu ziehen.

„Du solltest wieder mehr Zeit mit Zeichnen verbringen.“ Seit sie zum ersten Mal gehört hatte, dass er malte, drängte sie ihn, diese Beschäftigung wieder aufzunehmen.

„Das Leben ist voller Ablenkungen, und der Tag hat einfach nicht genug Stunden.“

„Trotzdem. Du hast so viel Talent, Dami. Du bist ein Künstler.“

„Nein, Darling, du bist eine Künstlerin. Ich bin vor allem Geschäftsmann, vergiss das nicht.“

Sie verzog den Mund zu einem süßen, grimmigen Lächeln. „Ich weiß, dass du in Montedoro ein Atelier hast. Ich will, dass du es mir zeigst.“

Er seufzte. „Ich werde darüber nachdenken.“

Sie stieß ihn spielerisch mit der Schulter an. „Ich werde dir so lange in den Ohren liegen, bis du es mir zeigst.“

„Das habe ich befürchtet.“ Er grinste. „Pass nur auf, sonst werde ich mir noch einmal überlegen, ob ich dich heute Abend mitnehme.“

Sie sah ihn neugierig an. „Was ist heute Abend?“

„Die Gala im Museum. Heute wird der Montedoro vorgestellt.“

„Richtig!“, rief Lucy aus. „Der neue Sportwagen, den du designt hast. Wie aufregend!“

„Es ist ja nicht so, als hätte ich ihn ganz allein entworfen“, ruderte er zurück. Dann drängte er sie sanft zur Tür. „Außerdem solltest du nicht zu viel erwarten. Es wird ein anstrengender Abend mit unzähligen Presseleuten. Und jetzt müssen wir uns beeilen, sonst fängt die Prozession ohne uns an.“

„Wow“, entfuhr es Damien, als er das rote Kleid sah.

Lucy lächelte zufrieden. Das war genau die Reaktion, die sie sich erhofft hatte. Für jemanden, den die ganze Welt für harmlos und niedlich hielt, sah sie heute Abend wirklich umwerfend aus. Verführerisch. Und im besten Fall sogar ein bisschen gefährlich.

Das rote Satinkleid war ihre eigene Kreation. Es war trägerlos, an der Hüfte gerafft und mit einer langen Meerjungfrauenschleppe versehen. Dazu trug sie eine alte, mit Schmucksteinen verzierte Brosche in der Form eines Schmetterlings an der Taille.

Damien reichte ihr den Arm, und gemeinsam betraten sie das Museum. Es befand sich auf einem Hügel in einer prunkvollen alten Villa mit Blick über den Hafen. Damiens Schwester Rhiannon arbeitete im Museum und leitete die Restaurationen der Kunstwerke.

Sie empfing die beiden im Foyer und begrüßte sie herzlich. „Wie schön, dass ihr da seid! Noah und Alice werden auch gleich kommen.“ Sie trug ein elegantes, königsblaues Satinkleid und passende Schuhe. Sie war im siebten Monat schwanger und strahlte eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit aus – und das, obwohl unzählige Gäste die Villa betraten.

Sie wies ihnen den Weg und wandte sich dann einem Reporter zu, der etwas über die Gala wissen wollte.

Damien und Lucy schlenderten durch eine lange Halle, die mit kunstvollen Wandteppichen ausgestattet war. Am Ende des Flures gelangte man in einen hohen Raum. Hier gab es nicht nur weitläufige Fenster mit Blick auf das Meer, sondern auch eine hübsche Galerie, auf der sich bereits Dutzende, elegant gekleidete Besucher drängten.

Champagnerflöten wurden gereicht, und ein Jazzquartett spielte in angenehmer Lautstärke bekannte Stücke. In der Mitte des Raumes stand ein glänzender roter Sportwagen im Licht der Scheinwerfer.

Lucy umrundete den Wagen. „Er ist fantastisch.“ Dann studierte sie eingehend die Fotos und Zeichnungen, die den Entstehungsprozess des Autos dokumentierten. Viele Bilder waren mit DBC unterzeichnet.

„Siehst du? Es geht nicht nur darum, dicke Katzen in Fenstern zu malen“, neckte Damien.

„Noah hat mir erzählt, dass du ein Diplom in Maschinenbau hast.“

Er hob die Schultern. „Ich sagte doch: Mir wird schnell langweilig“, erklärte er leichthin. „Ich muss mich beschäftigen.“

Lucy schüttelte den Kopf. „Du bist viel zu bescheiden. Du versteckst dein Talent hinter einer Jetsetter-Fassade.“

Er lachte leise. „Wer sagt denn heutzutage noch Jetsetter?“

„Ich. Es ist der perfekte Begriff für oberflächliche, reiche Leute, die in Privatjets um die Welt fliegen. Leute, die zur Schickeria gehören und zu viel Zeit haben.“ Sie senkte die Stimme. „Aber vielleicht sollte ich das hier nicht zu laut sagen. Jedenfalls solltest du nicht so tun, als ob du zu denen gehörst. Dafür bist du viel zu wissbegierig und großzügig.“

Sie stach den Zeigefinger in seinen Bauch. „Und hör auf damit, mir ständig zu erzählen, wie schnell du gelangweilt bist.“

Dieses Mal wagte Damien nicht, ihr zu widersprechen. Er neigte den Kopf. Seine Lippen berührten ihr Haar. „Einverstanden.“

Lucy atmete tief seinen Duft ein. „Wunderbar“, flüsterte sie.

Er berührte ihr Kinn mit den Fingerspitzen und streichelte über ihre Wange. „Jetzt ist mir nicht langweilig. Nicht mit dir …“

Es war ein vollkommener, intimer Moment, doch er wurde zerstört, als hinter ihnen Stimmen laut wurden. Plötzlich eilten alle Journalisten zur Tür und umringten eine Person.

Auf Damiens Stirn zeigte sich eine steile Falte.

Lucy folgte seinem Blick und sah die umwerfend schöne Frau, die sich in einer Schar Bewunderer sonnte.

Es war Vesuvia.

Autor

Rae Anne Thayne
<p>RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.</p>
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