Bianca Extra Band 52

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DER ZAUBER EINER BESONDEREN NACHT von TRACY MADISON
Dieser Mann ist zum Vernaschen: Schon im ersten Moment träumt Haley von einer Nacht mit Gavin Daugherty. Sie will dem exzentrischen - und überaus attraktiven! - Außenseiter näherkommen. Wenn er sie nur nicht dauernd mit einem so traurigen Blick ansehen und sich immer wieder abwenden würde …

SANTA CLAUS UND DIE LIEBE … von KAREN TEMPLETON
Diese stillen Winternächte auf der Ranch! Deanna wird klar, sie hat in der Stadt den Zauber ihrer Heimat vermisst. Und Josh, der sie liebevoll empfängt. Doch seinen zärtlichen Küssen zu verfallen hieße auch, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Ist sie dazu wirklich bereit?

IST UNSER GLÜCK NUR GELIEHEN? von MARIE FERRARELLA
"Sag Ja, sonst verlierst du deinen Sohn!" Anderson Dalton hat keine Wahl: Er muss eine Zweckehe mit Marina eingehen. Deswegen nimmt er ihre Hilfe an - von Liebe war nie die Rede. Bis Anderson merkt, dass er plötzlich viel mehr von ihr möchte als nur einen Freundschaftsdienst …

SÜßE LÜGNERIN von SANDRA STEFFEN
Sie muss Riley Merrick unbedingt kennenlernen! Er ist der Mann, in dessen Brust das Herz ihres verstorbenen Verlobten schlägt. Als Madeline den berühmten Architekten trifft, verliebt sie sich Hals über Kopf in ihn. Dabei weiß Riley gar nichts von ihrem bittersüßen Geheimnis …


  • Erscheinungstag 19.12.2017
  • Bandnummer 0052
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734527
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tracy Madison, Karen Templeton, Marie Ferrarella, Sandra Steffen

BIANCA EXTRA BAND 52

TRACY MADISON

Der Zauber einer besonderen Nacht

Ihr ansteckendes Lachen bringt die Mauer um sein Herz fast zum Bröckeln! Fast! Denn für Gavin kann es keine Liebe mehr geben. Das wird auch Haleys auffordernder Blick nicht ändern – denkt er …

KAREN TEMPLETON

Santa Claus und die Liebe …

Santa Claus erfüllt Joshs größten Wunsch: Seine Deanna ist zurück! Wieder sprühen die Funken zwischen den beiden. Aber kann er Deanna wirklich vertrauen? Schon einmal ist sie einfach verschwunden …

MARIE FERRARELLA

Ist unser Glück nur geliehen?

Natürlich hilft sie Anderson, damit er das Sorgerecht für seinen Sohn behält! Marina bietet ihrem Freund eine Zweckehe an. Dass sie heimlich in ihn verliebt ist, muss er ja nicht wissen …

SANDRA STEFFEN

Süße Lügnerin

Madeline ist eine Frau ganz nach Riley Merricks Geschmack: sexy, mutig und liebevoll. Doch seine romantischen Träume versanden, als er feststellen muss, dass Madeline ihn von Anfang an belogen hat …

1. KAPITEL

Für Haley Foster konnte der Sommer gar nicht schnell genug nach Steamboat Springs, Colorado, kommen. Nicht weil die Tage dann endlich entspannt und unbeschwert sein würden – im Gegenteil. Jetzt waren die Tage entspannt und unbeschwert, vielleicht sogar erholsam.

Doch Haley langweilte sich zu Tode.

Was zugegebenermaßen seltsam war. Die hektische Wintersaison war vorbei, und die Sommersaison hatte noch nicht recht begonnen – eigentlich müsste sie die Ruhe vor dem Sturm genießen. So wie immer in der Vergangenheit. Doch dieses Jahr war sie irgendwie … rastlos.

Mehr als das sogar. Sie verspürte jenes unangenehme Gefühl, das man immer dann hat, wenn man darauf wartet, dass etwas passiert. Worauf sie wartete, wusste sie allerdings selbst nicht. Einfach … irgendetwas.

Und deshalb sehnte sie sich nach dem Sommer, wenn die Touristen in Steamboat Springs zum Wildwasser-Rafting, Wandern oder Kanufahren einfielen und die verschlafene Kleinstadt zu neuem Leben erweckten. Dann würde sie wieder von morgens bis abends beschäftigt sein und kaum Zeit haben, darüber nachzudenken, warum sie so komisch drauf war.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Stuhl in der Beanery zurück, dem einzigen Coffeeshop vor Ort, und versuchte, ihrer langjährigen Freundin Suzette Solomon Aufmerksamkeit zu schenken. Sie hatten sich am Morgen zur Spinning-Stunde im Fitnessstudio getroffen und wollten jetzt eigentlich ihre Belohnung genießen, während sie einander darüber auf dem Laufenden hielten, was in ihren Leben in letzter Zeit so passiert war.

Suzette erzählte gerade eine drollige Geschichte über einen ihrer Viertklässler, doch obwohl es Haley gelang zu lachen und ab und zu mal einen Kommentar einzuwerfen, konnte sie sich nicht konzentrieren. Verdammt! Sie hatte wirklich gehofft, dass sich ihre Unruhe durch eine Stunde Sport und ein Gespräch mit einer Freundin legen würde.

Fehlanzeige!

Warum war sie nur so verdammt rastlos? Warum hatte sie das Gefühl, dass das Leben an ihr vorbeizog? Sie war doch noch gar nicht so alt! Mit sechsundzwanzig Jahren hatte sie noch das ganze Leben vor sich. Aber in letzter Zeit kamen ihr die Tage und Nächte unerträglich lang vor. Sogar im Beisein ihrer Familie oder von Freunden fühlte sie sich irgendwie einsam. Von einer unbestimmbaren Sehnsucht gequält.

Vielleicht brauchte sie ein neues Hobby. Oder ein Haustier. Oder … Da die rettende Erleuchtung ausblieb, beschloss sie, der langweiligen Zwischensaison die Schuld zu geben. Ja, das musste es sein. Warum nach irgendwelchen tiefschürfenden Erklärungen suchen, wenn die Antwort so einfach war?

Suzette räusperte sich und sah Haley erwartungsvoll an. Anscheinend wartete sie auf eine Antwort. Oh, verdammt! Musste Haley jetzt lachen, schockiert reagieren oder Anteilnahme vortäuschen? Sie entschied sich für ein zurückhaltendes Lachen. Damit konnte man nichts falsch machen.

„Süß, oder?“, fragte Suzette und fuhr sich mit einer Hand durchs kurze schwarze Haar.

„Total süß“, stimmte Haley enthusiastisch zu.

„Ach ja? Welcher Teil hat dir am besten gefallen?“

„Also, ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht entscheiden. Die ganze Geschichte war absolut hinreißend. So etwas passiert dir als Lehrerin bestimmt jeden Tag, oder?“

„Im Ernst, Haley?“ Suzette sah sie amüsiert an. „Willst du wirklich behaupten, dass du nicht schon vor mindestens fünf Minuten abgeschaltet hast?“

Haley seufzte wieder und lächelte schuldbewusst. „Tut mir leid. War das so offensichtlich?“

„Klar, sonst wäre es mir ja nicht aufgefallen.“ Suzette nahm ihre Kaffeetasse. „Keine Sorge. Ich weiß selbst, dass ich manchmal zu viel über meine Schüler rede.“

„Ich höre deine Geschichten gern!“ Das stimmte sogar. Meistens zumindest. „Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie wenig hier gerade los ist und dass ich den Sommer kaum erwarten kann. Das ist alles.“

„Seit wann? Fast den ganzen Winter über hast du dich beklagt, dass du nicht dazu kommst, ein Buch zu lesen oder einen Film zu gucken oder deine Wohnung zu streichen.“ Suzette hob eine schmal gezupfte Augenbraue. „Oder Männer kennenzulernen. Wonach ich dich ehrlich gesagt schon fragen …“

„Ich habe sämtliche Bücher gelesen und Filme geguckt, die ich noch auf dem Zettel hatte, und du hast mir beim Streichen geholfen. Deshalb bin ich jetzt bereit für den Sommer.“

„Hm, mag sein. Aber du hast einen Punkt ausgelassen. Erzähl mal, wie oft warst du in den letzten Monaten mit einem Mann aus?“

Haley rümpfte die Nase und trank einen Schluck Chai-Tee. Suzette kannte die Antwort auf diese Frage schon. „Meine Langweile hat nichts damit zu tun, dass ich keine Dates habe.“ Ihre Einsamkeit schon eher, aber darüber wollte sie nicht reden. „Ich langweile mich halt.“

„Aha. Schon klar.“

„Du weißt ja, wie es zwischen den Saisons ist“, widersprach Haley. „Ich habe einfach nicht genug um die Ohren.“

Haleys Familie gehörte ein Sportgeschäft und ein Restaurant in Steamboat Springs, an denen sämtliche Fosters – Haley, ihre drei älteren Brüder und ihre Eltern – gleichberechtigt beteiligt waren. Was hieß, dass Haley in den Winter- und Sommermonaten, abgesehen von ihren normalen Aufgaben im Büro, zusätzlich im Restaurant und im Laden aushalf.

Im Frühling und Herbst kümmerte sie sich vor allem um die Buchhaltung, aktualisierte die Websites und gab Bestellungen auf. Was sie inzwischen jedoch schon längst erledigt hatte.

„Ich weiß, was du meinst“, stimmte Suzette zu. Ihre Eltern hatten ein Deli, in dem Suzette bis zum Ende ihres Studiums während der Sommerferien gejobbt hatte. „Aber deine Arbeitszeiten sind nicht das eigentliche Problem. Warum reden wir nicht über das, was dich wirklich umtreibt?“

„Hör auf.“ Haley zwang sich zu einem Lachen. Sie wünschte, Suzette würde sie nicht so gut kennen. Zumindest nicht in dieser Hinsicht. „Da gibt es nichts.“

„Du hast einfach Bammel vor Dates“, stellte Suzette sachlich fest. „Das geht jedem mal so. Aber um ein Problem zu lösen, muss man es sich erst mal eingestehen. Ich habe auch schon eine Idee, wie ich deine Langeweile vertreiben …“

„Hör auf“, wiederholte Haley. Sie ahnte schon, worauf Suzette hinauswollte – auf die wundervolle Welt der Blind Dates. „Ich habe kein Problem. Gar keins! Und ich habe keine Lust, mich verkuppeln zu lassen.“

„Noch nicht mal, wenn der Typ süß, lieb und witzig ist?“

„Noch nicht mal dann.“

„Und intelligent und warmherzig?“

„Auch dann nicht. Außerdem – wenn er so toll ist, warum bist du dann nicht mit ihm zusammen? Es sei denn … Oh nein, Suzette! Du willst mich doch nicht etwa mit einem deiner abgelegten Lover verkuppeln, oder?“

„Wir hatten nur ein Date, und noch nicht mal ein echtes“, winkte Suzette ab. „Also nein, er ist kein Ex. Versprochen.“

„Aber fast. Lieber Himmel!“

Suzette seufzte tief. „Ich sage nur: Bammel vor Dates.“

„Sagt die Frau, die jedes Wochenende mit drei Männern jongliert“, sagte Haley nur halb im Scherz. Ihre Freundin war ständig von Männern umschwärmt.

„Nur weil ich nicht so wählerisch bin wie du.“ Suzette zuckte die Achseln. „Wenn mich ein netter Typ einlädt, neige ich dazu, Ja zu sagen. Während du nach Ausreden suchst, um Nein zu sagen.“ Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Mal anders gefragt, Haley: Wie vielen Männern hast du in den letzten Monaten einen Korb gegeben?“

Haley zählte die Gelegenheiten im Kopf zusammen. Sie hatte fünf Einladungen abgelehnt. Na und? Einsam zu sein war schlimm genug, aber mit jemandem auszugehen, der sie nicht interessierte, war noch viel schlimmer. „Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu, den Abend mit einem Mann zu verbringen, nur weil er nett ist.“

„Sind nette Männer denn so schrecklich?“

„Ganz und gar nicht! Natürlich sollte ein Mann nett sein, aber das reicht nicht.“

„Sexuelle Anziehung ist natürlich immer ein Pluspunkt, aber …“

„Das meine ich noch nicht mal“, unterbrach Haley sie. Nicht dass sie das anders sah. Aber … „Ich will nicht schon alles über einen Mann wissen, bevor wir die Getränke bestellen. Ich will … neugierig auf einen Mann sein. Mich fragen, wie er tickt.“

Und genau da lag ihr Problem. Obwohl viele Männer im Ort total nett waren, kannte sie sie einfach zu gut. Wenn man sich noch daran erinnern konnte, wie jemand früher ständig in der Nase bohrte, war es nicht einfach, ihn plötzlich in einem anderen Licht zu sehen. Das mochte unfair sein, aber so war es nun mal.

Klar war sie mit vielen Männern ausgegangen, aber es hatte sich nie etwas Längeres daraus entwickelt. Entweder hatten die Typen sich als Idioten entpuppt, oder die Chemie hatte einfach nicht gestimmt. Mit anderen Worten, ihre Liebesprognosen waren ganz schön düster, wenn sie nicht woandershin ziehen würde – was sie absolut nicht vorhatte.

Sie seufzte tief. „Du hast vermutlich recht damit, dass ich zu wählerisch bin.“

Suzette sah sie besorgt an. „Weißt du was, Haley? Du denkst zu viel nach! Geh einfach mit ein paar Männern aus, und hab etwas Spaß. Du musst ja keinen von ihnen heiraten, aber dann sitzt du zumindest nicht zu Hause rum und sehnst dich nach Zwölfstundentagen. Das ist nämlich verrückt.“

„Ich weiß, aber …“

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann trat ein. In einer Hand hatte er ein Clipboard, während er die andere Hand zu einer Faust geballt hatte. Er wirkte total angespannt, fast aggressiv.

Diesen Eindruck hatte sie schon von ihm gehabt, als sie ihm Ende letzten Jahres zum ersten Mal begegnet war. Er hieß Gavin Daugherty und war neu in Steamboat Springs. Sie hatte ihm damals den Tipp gegeben, im Sportgeschäft nach einem Job als Skilehrer zu fragen, aber sie hatten keine Stelle frei gehabt.

Haley hatte ihn nicht vergessen, sogar oft an ihn denken müssen. Was natürlich albern war, da sie kaum etwas über ihn wusste und ihn seitdem nur einige Male flüchtig gesehen hatte.

Neugierig beobachtete sie, wie er sich hinter vier anderen Gästen anstellte. Die Frau vor ihm ging sofort ein Stück vor, als ginge sie instinktiv auf Abstand zu ihm. Als er nachrückte, wie man es in Schlangen eben so tat, wich sie zur Seite aus.

Gavin trat sofort wieder einen Schritt zurück und bedeutete ihr, ihren vorherigen Platz einzunehmen. Die Frau tat jedoch so, als bemerkte sie ihn nicht.

Haley war es sehr unangenehm, das zu beobachten. Sie befürchtete, dass viele Menschen so auf Gavin reagierten. Was vermutlich zum Teil mit seiner Körpergröße und seinem Körperbau zusammenhing, denn er war riesig – etwa zwei Meter – und kräftig gebaut. Er könnte auch dringend einen Haarschnitt und eine Rasur gebrauchen, um den Einsiedler-Look loszuwerden. Ihr persönlich machte seine Erscheinung zwar keine Angst, aber sie konnte verstehen, dass andere ihn bedrohlich fanden.

„Und? Was sagst du dazu?“, riss Suzette sie aus ihren Gedanken. „Nächstes Wochenende geht es nicht, aber wie wär’s mit übernächstem? Bitte sag Ja.“

„Na klar“, antwortete Haley geistesabwesend, vom Anblick von Gavin gefesselt. „Mir ist beides recht.“

„Toll! Wir werden viel Spaß haben, wart’s ab. Und Matt wird dir gefallen.“

„Äh … was?“ Haley richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Freundin. „Moment mal! Wer ist Matt, und warum ist es wichtig, ob er mir gefällt oder nicht?“

„Wir haben doch gerade über ihn gesprochen. Matt ist einer meiner Kollegen“, erklärte Suzette. Selbstzufrieden verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Du hast gerade einem Doppeldate zugestimmt.“

„Oh nein, Suzette!“ Haley schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Interesse an einem Blind Date, weder doppelt noch sonst wie.“

„Pech, du hast bereits Ja gesagt. Glaub mir, er ist ein toller Typ. Und da er nicht hier aufgewachsen ist, gibt es für dich noch jede Menge zu entdecken. Das wolltest du doch, oder?“

Haley zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Stimmt, aber du bist unfair! Ich wusste nicht, wozu ich Ja sage.“ Sie konnte nicht anders, als sich wieder nach Gavin umzudrehen.

„Klar, aber wessen Schuld ist das?“

„Meine, aber du hast die Situation ausgenutzt.“

„Stimmt. Trotzdem, du hast zugesagt. Außerdem meine ich es nur gut mit dir.“ Suzette folgte Haleys Blick. „Was gibt es denn da Interessantes zu sehen?“

„Siehst du den Typen da drüben?“

„Mr. Mountain Man? Ja, der ist schwer zu übersehen.“

„Wenn du mit ihm in einer Schlange stehen würdest – würdest du dich dann unbehaglich fühlen … oder bedroht?“

Suzette zuckte die Achseln. „Kommt drauf an, ob er mich komisch ansieht oder nicht. Toller Body. Wie er wohl unter all den Haaren aussieht? Kennst du ihn?“

„Nicht wirklich.“ Haley trank den Rest ihres Tees und stand auf. „Ich hol mir noch einen. Willst du auch noch etwas?“

„Nein, danke.“ Suzette sah neugierig zwischen Haley und Gavin hin und her. „Interessierst du dich etwa für ihn? Der ist doch gar nicht dein Typ.“

Haley schoss das Blut in die Wangen. „Ich will nur einen zweiten Tee, das ist alles, Suzette! Und woher willst du wissen, auf welchen Typ ich stehe? Das weiß ich ja selbst noch nicht mal.“

Suzette warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und verzog das Gesicht. „Ich muss los. Ich habe heute Abend was vor und bis dahin eine Menge zu erledigen.“

„Kannst du nicht noch etwas bleiben?“

„Leider nein. Und sogar wenn ich könnte, hätte ich keine Lust, das fünfte Rad am Wagen zu sein.“ Sie stand auf und umarmte Haley rasch. „Diese Woche wird es vielleicht noch nichts, weil Matt für ein paar Tage bei seiner Familie ist, aber sobald ich Näheres weiß, ruf ich dich an.“

„Yippie!“, rief Haley ohne jede Begeisterung. „Ich kann es kaum erwarten.“

„Okay, ich muss los.“ Suzette warf Gavin einen letzten neugierigen Blick zu. „Sei vorsichtig. Mit deinem Tee.“

Haley öffnete den Mund, um zu protestieren, klappte ihn jedoch wieder zu. Zu viel Protest war verräterisch, also lächelte sie nur und winkte Suzette zum Abschied zu.

Kaum hatte ihre Freundin die Beanery verlassen, atmete sie erleichtert auf und glättete ihren Rock. Sie unterdrückte den Impuls, das Gleiche mit ihrem Haar zu tun, und ging zum Tresen … direkt auf den Mountain Man zu.

Nur aus Neugier, versuchte sie sich einzureden, weiter nichts. Denn Suzette hatte in einem recht – Gavin Daugherty war nicht ihr Typ. Er war sogar das optische Gegenteil der Männer, mit denen Haley bisher ausgegangen war. Größer, breiter, rauer.

Doch er faszinierte sie, und das Gefühl hatte sie schon lange nicht mehr bei einem Mann. Es wurde Zeit, die Dinge ein bisschen voranzutreiben.

2. KAPITEL

Gavin Daugherty mochte keine Menschenansammlungen. Zu viele Leute um sich herum zu haben löste immer sehr unangenehme Empfindungen in ihm aus. Seine Kehle wurde trocken und rau, seine Hände schwitzten, und sein Hemdkragen wurde immer enger.

Deshalb hatte er sich den Vormittag ausgesucht, um zur Beanery zu gehen. Er hatte gehofft, dass der Coffeeshop dann fast leer war. Was er jedoch nicht bedacht hatte, war, dass Samstag war und der Laden aus allen Nähten platzte. Um ein Haar wäre er wieder umgekehrt.

Doch er hatte schon viel zu lange mit seinem Besuch gewartet, und so stand er jetzt hier in der langsamsten Schlange der Welt, was ihm überhaupt nicht gefiel. Im Geiste wiederholte er die Worte, die er sich schon seit Wochen zurechtgelegt hatte, und versuchte, die Dame, die vor ihm zur Seite getreten war, nicht noch weiter zu verschrecken.

Jemanden um etwas zu bitten war Gavin genauso unangenehm, wie mitten in einem vollen Coffeeshop zu stehen, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er etwas erreichen wollte. Zumindest konnte er sich nicht darauf verlassen, dass sein mieses Leben sich von allein um hundertachtzig Grad drehte.

Allerdings … Wenn er es recht bedachte, war nicht alles an seinem Leben mies. Ganz und gar nicht. Zurzeit konnte er sich jedenfalls nicht beklagen. Und er durfte auch nicht Russ und Elaine Demko vergessen, die beide leider nicht mehr lebten, ihm aber so viel mit auf den Weg gegeben hatten.

Damals, als er zwölf Jahre alt war, hatte er keine Ahnung gehabt, wie sehr ihm die zwei ans Herz wachsen würden. Er war dabei, auf die schiefe Bahn zu geraten, als Russ und Elaine seine Pflegeeltern wurden, aber irgendwie hatten sie es geschafft, seine harte Schale zu durchdringen und ihm zu vermitteln, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein.

Elaine war vor sieben Jahren an Krebs gestorben und Russ vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt. Oder vielmehr einem gebrochenen Herzen. Er hatte Gavin etwas Geld hinterlassen. Nicht viel, aber genug, um in Steamboat Springs, wohin Russ und Elaine ihn öfter mitgenommen hatten, ein Grundstück mit Haus zu kaufen und von vorn anzufangen.

Ja, es waren gute Zeiten gewesen bei Russ und Elaine. Zeiten, an die er schöne Erinnerungen hatte.

Obwohl es ihm natürlich lieber wäre, Russ und Elaine wären noch da.

Gavin unterdrückte einen halb wehmütigen, halb erleichterten Seufzer, als es in der Schlange endlich voranging. Kein Zweifel – Lola, die Betreiberin, liebte es, mit ihren Gästen einen Schwatz zu halten.

Bevor er aufrückte, rechnete er damit, dass die Frau auf der Seite sich wieder vor ihm einreihen würde, aber nein. Sie ging zwar ein Stück vor, hielt sich jedoch immer noch abseits.

Gavin war solches Verhalten gewohnt, aber es verletzte ihn trotzdem.

Seine Kleidung mochte nicht gerade brandneu sein, war jedoch sauber und gepflegt. Er selbst war auch sauber und … na ja, halbwegs gepflegt, obwohl es nicht schaden würde, sich mal wieder zu rasieren. Es wurmte ihn, dass manche Menschen ihm instinktiv auswichen. Oder dass alte Damen bei seinem Anblick ihre Handtaschen an die Brust pressten und ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst beäugten. Er war zwar daran gewöhnt, aber er wünschte sich, dass die Leute nicht so reagierten.

Wie naiv von ihm zu glauben, dass es in Steamboat Springs anders sein würde. Die Menschen hier waren auch nicht besser als anderswo – bis auf ein paar Ausnahmen. Lola war eine von ihnen, und deshalb hatte Gavin sich vorgenommen, bei ihr anzufangen.

Eines Tages würde er diese Straßen entlanggehen, und die Leute würden ihm zuwinken und ihn grüßen. Eines Tages würde er hierhergehören. Und nicht nur er, sondern auch die Jungs, denen es genauso ging wie ihm früher. Er würde ihnen zumindest für eine bestimmte Zeit einen Zufluchtsort bieten … eine Chance.

So wie Russ und Elaine ihm eine gegeben hatten.

Sein Ziel war es, eine Art Camp zu eröffnen, in dem Jungs ohne echtes Zuhause Skifahren lernen konnten oder wandern und zelten gehen. Er wollte ihnen vermitteln, was Russ und Elaine ihm vermittelt hatten – dass das Leben weiterging und ständig im Fluss war. Wenn etwas heute schlimm war, hieß das noch lange nicht, dass es auch so bleiben musste. Und diese Einsicht kam einem am besten in der Natur.

Im Freien hatte er oft das tröstliche Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, etwas Besserem. Und genau dieses Gefühl – diesen Glauben – wollte er weitergeben. Er wusste zwar noch nicht genau, wie, aber da würde ihm bestimmt noch was einfallen.

Er verfolgte dieses Ziel, seitdem er den Scheck aus Russ’ Nachlass bekommen und den Brief gelesen hatte, den Russ ihm geschrieben hatte.

Darin stand, dass die Demkos ihn damals zusammen mit dem anderen Jungen in ihrer Obhut adoptieren wollten, bevor sie aus beruflichen Gründen nach Massachusetts umziehen mussten. Leider war aus der Adoption nichts geworden. Stattdessen war Gavin mal wieder bei seiner Mutter gelandet, die ihr Leben vorübergehend so weit im Griff hatte, um das Sorgerecht für ihren Sohn zu bekommen. Schon wenige Wochen später war jedoch wieder alles vorbei. Genauso wie mehrere Male danach auch.

Der Brief – die Nachricht, dass die Demkos Gavin als Sohn gewollt hatten – war gerade noch rechtzeitig gekommen. Gavin war da gerade in Aspen gewesen und hatte vor einer schweren Entscheidung gestanden. Und Russ’ Worte hatten ihm dabei geholfen, die richtige Wahl zu treffen. Oh ja, er schuldete Russ und Elaine eine Menge. Alles, was er zu geben hatte.

Aber mehr als das war er sich selbst schuldig.

Gavin war so tief in Erinnerungen versunken, dass ihm gar nicht auffiel, dass sich jemand hinter ihm anstellte. Erst die Stimme der Person riss ihn aus seinen Gedanken. Es war eine weibliche Stimme – warm und lebendig. Irgendwie übersprudelnd. Für einen Moment stand er ganz still da und genoss den bezaubernden und beruhigenden Klang.

„Entschuldigen Sie bitte, Ma’am?“, fragte die Frau wieder, diesmal lauter und insistierender. Er drehte sich halb zu ihr um, um zu sehen, wer sie war.

Aha. Haley Foster. Der Liebling von Steamboat Springs höchstpersönlich. Er war ihr unter anderem im Sportgeschäft ihrer Familie begegnet, wo er nach einem Job gefragt hatte, hatte aber auch sonst viel von ihr gehört. In dieser Stadt waren die Fosters eine Institution. Soweit er wusste, war Haley die Jüngste von vier Geschwistern.

Etwas in seinem Inneren zog sich zusammen, als er sie betrachtete. Ihr langes kastanienbraunes Haar war zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, aber das machte sie für ihn nicht weniger anziehend. Ihre Augenfarbe war eine faszinierende Mischung aus Grau und Grün. Sie hatte den Blick auf die Frau geheftet, der er Angst zu machen schien.

„Ma’am?“, wiederholte sie. „Stehen Sie hier an oder …?“

Erst jetzt merkte die Frau, dass sie gemeint war. „Ja, natürlich.“

Haley riss die Augen mit gespielter Überraschung auf. „Ach. Ich dachte, Sie sehen sich nur die Speisekarte an, weil Sie so weit abseits stehen.“

„Ich stehe hier an“, wiederholte die Frau.

Haley schüttelte den Kopf. „Ich würde sagen, Sie stehen mindestens dreißig Zentimeter außerhalb der Schlange. Vielleicht sogar mehr.“ Sie berührte Gavin an einem Arm. „Würden Sie nicht auch sagen, es sind etwa dreißig Zentimeter? Mehr oder weniger?“

Gavin unterdrückte ein Lachen, als er den peinlich berührten Gesichtsausdruck der Frau sah. „Auf jeden Fall. Eher mehr“, bestätigte er.

Schweigend reihte die Frau sich in die Schlange ein. Und Haley zwinkerte ihm verschwörerisch zu und murmelte etwas über Borniertheit.

Gavin war bewusst, dass er sich nichts darauf einzubilden brauchte, aber der Liebling von Steamboat Springs hatte sich gerade für ihn eingesetzt – etwas, das bisher nur zwei Menschen für ihn getan hatten. Sie hatte ihn in Schutz genommen. In seinen Augen machte sie das zu etwas Besonderem.

Welches Wort hatte Russ immer im Zusammenhang mit Elaine gebraucht? Mumm. Ja, das war es. Und Miss Haley Foster mit ihrem frechen, selbstzufriedenen Lächeln strotzte nur so vor Mumm.

Bevor er noch irgendetwas Albernes zu ihr sagte, nickte er ihr rasch zu und wandte sich wieder Richtung Tresen. Vor seinem inneren Auge konnte er sie jedoch immer noch sehen. Er spürte ihre Gegenwart sogar. Intensiv. Es war, als würden Sonnenstrahlen seine Haut streicheln. Warm und lebensbejahend.

Hastig verdrängte er diese Assoziationen. Er kannte diese Frau nicht, genauso wenig wie sie ihn. Sie hatte ihn keineswegs in Schutz genommen, sondern nur etwas geklärt, das war alles. Und was für ein Schwachsinn, sie mit der Sonne zu vergleichen!

Außerdem war er hier, um Lola um Unterstützung zu bitten. Also konzentrierte Gavin sich auf das bevorstehende Gespräch und tat so, als habe die Wärme, die ihn durchströmte, nichts mit der Frau hinter ihm zu tun.

Absolut nichts.

Als Haley Gavins steifen flanellbedeckten Rücken betrachtete, fragte sie sich, ob der Mann überhaupt noch atmete. Dass er nicht auf ihren Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, reagiert hatte, war eine Enttäuschung. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Dass er sich mit ihr unterhalten würde, nur weil sie die hochnäsige Frau in ihre Schranken verwiesen hatte?

Tja, ehrlich gesagt ja.

Sie biss sich auf die Unterlippe und betrachtete den langen, breiten Rücken. Sie war versucht, ihn einfach anzutippen und draufloszureden. Eine Bemerkung über das Wetter zu machen zum Beispiel. Oder ihn zu fragen, ob er lieber Kaffee oder Tee trank oder … oder vielleicht doch lieber etwas weniger Langweiliges. Und … Vorhersehbares. Vielleicht sollte sie einfach zu seinen Füßen ohnmächtig werden und hoffen, dass er sie hochhob, mit zu sich nahm und … und … über sie herfiel?

Echt jetzt? Sie schüttelte den Kopf, um diese unanständige Fantasie loszuwerden, aber irgendwie klappte das nicht recht. Das Blut schoss ihr in die Wangen, während ihr innerlich richtig heiß wurde. Es war schon eine Ewigkeit her, dass sie so auf einen Mann reagiert hatte.

Voller Verlangen. Voller Sehnsucht danach, berührt zu werden.

Unglaublich, dass das ausgerechnet jetzt passierte, mitten in einem verdammten Coffeeshop, in Gegenwart eines Mannes, den sie kaum kannte! Wie erbärmlich. Wie peinlich. Ja, vielleicht sogar etwas traurig.

Aber auch … interessant. Oder?

Als Haley in der Schlange vorrückte, dachte sie über die komplexen und doch so einfachen Signale ihres Körpers nach. Zweifellos hatte sie eine chemische Reaktion auf Gavin, obwohl sie ihn gar nicht kannte. Weder wusste sie, woher er kam, noch welche Ziele er hatte oder was er am liebsten aß. Sie wusste nur, dass er gut genug Ski fahren konnte, um sich zuzutrauen, als Skilehrer zu arbeiten. Und dass er Ende letzten Jahres nach Steamboat Springs gezogen war.

Das war alles.

Okay, es war eine chemische Reaktion. Nicht mehr und nicht weniger.

Sie ließ den Blick von seinem dunkelgrauen Flanellhemd über seine in Jeans steckenden Beine bis hin zu seinen schweren Wanderstiefeln gleiten. Die Jeans und das Hemd saßen wie angegossen. Er sah verdammt gut aus in dem Look.

Sie hob den Blick zu seinem vollen, glänzenden Haar, das glatt und ziemlich lang war. Entweder war er schon länger nicht mehr beim Friseur gewesen, oder er ließ die Haare wachsen. Es fiel ihr schwer, die Farbe zu beschreiben. Braun traf es nicht wirklich, dazu war es zu facettenreich. Es schimmerte in sämtlichen Tönen von Kastanie über Kaffee, Schokolade und Zimt bis hin zu Gold.

Nein, „braun“ wurde diesem Farbenspiel noch nicht mal ansatzweise gerecht.

„Schön“ traf es besser. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sich sein Haar genauso weich anfühlte, wie es aussah.

Irritiert über sich selbst, schüttelte Haley den Kopf. Vielleicht hatte Suzette ja doch recht. Vielleicht war ein Date mit Matt, dem Lehrer, jetzt genau das Richtige.

Die hochnäsige Frau war gerade an der Reihe und bestellte einen Cappuccino. Aus irgendeinem Grund wollte Lola aber keinen Schwatz mit ihr halten, sondern fragte nur höflich, ob sie normale oder fettarme Milch wollte. Die Frau bezahlte und eilte aus dem Laden, ohne Gavin oder Haley auch nur eines Blickes zu würdigen.

Auch das fand Haley irgendwie traurig.

Bevor Gavin an den Tresen trat, drehte er sich wieder zu Haley um. Diesmal fielen ihr seine Augen auf. Himmel, hatte der Mann tolle Augen. Deren Farbe war ebenfalls schwer zu definieren. Grau, aber irgendwie auch wieder nicht. Etwas bläulich vielleicht. Haley seufzte. Auch hier passte „schön“ am besten.

„Sie sind dran“, sagte sie zu ihm, während sie verzweifelt versuchte, ihm nicht zu aufdringlich in die Augen zu starren.

„Gehen Sie ruhig vor“, sagte er. Seine tiefe, klangvolle Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Es könnte eine Weile dauern. Ich muss mit Lola … Also, gehen Sie ruhig vor.“

„Nein, nein. Ich warte gern.“ Wenn sie vorging, war sie hier gleich fertig, und sie wollte noch nicht an ihren Tisch zurückkehren. „Sie sind vor mir dran.“

Er öffnete den Mund, als wolle er protestieren, doch dann nickte er achselzuckend und drehte sich zum Tresen um. Er begann so leise mit Lola zu sprechen, dass Haley sich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen.

„Ich nehme einen Haselnuss-Latte, einen großen“, sagte er. „Außerdem wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich hätten. Wenn es gerade nicht geht, warte ich auch gern. Oder komme ein andermal zurück.“

„Wie lange wird es dauern?“, fragte Lola freundlich.

„Nicht lange. Glaube ich zumindest.“

Lola ging nickend zur Espressomaschine. „Okay, ich höre.“

„Also gut. Okay.“ Er richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und seufzte nervös. „Ich weiß nicht, ob Ihnen das bereits bekannt ist, aber schon bevor ich letztes Jahr offiziell hierhergezogen bin, habe ich die Gegend gründlich erkundet und alle notwendigen Lizenzprüfungen absolviert. Ich kann Wanderungen führen, Wildwasserrafting und sogar Klettertouren anbieten …“ Er holte tief Luft. „Wie gesagt, ich habe alle nötigen Lizenzen. Für die Sommersaison, aber auch für den Winter. Als Skilehrer zum Beispiel.“

„Oh, große Leistung“, sagte Lola. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke. Tja, und jetzt, wo ich alle Papiere zusammenhabe, brauche ich Kunden, und ich kenne noch nicht so viele Leute hier. Und deshalb komme ich zu Ihnen. Ich dachte, ich frage mal nach, ob Sie vielleicht Interesse hätten …“

„Ich?“ Lola lachte. „Sie sind bestimmt ein ausgezeichneter Führer, aber ich habe noch nicht mal ansatzweise Lust auf Rafting oder Wandern.“ Immer noch lachend schäumte sie die Milch auf. „Trotzdem lieb von Ihnen zu fragen. Danke.“

„Äh … Na ja … So habe ich das nicht gemeint, auch wenn ich nicht finde, dass man je zu … also, es ist nie zu spät, die Natur zu genießen“, stammelte er. „Aber das ist es nicht, worüber ich mit Ihnen reden wollte.“

Haley fand ihn hinreißend. Vor allem seine Mischung aus Nervosität und Ernsthaftigkeit.

Lola griff nach einer Sirupflasche und bedeutete ihm mit einer Hand fortzufahren.

„Also, es ist so …“ Er hüstelte verlegen. „Ich habe ein paar … Flyer gemacht. Und ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht ein paar hier auslegen dürfte. Und ob Sie eventuell ein gutes Wort für mich einlegen könnten. Falls einige Ihrer Kunden nach einem guten Bergführer fragen oder so …“ Er verstummte und schob Lola sein Clipboard über den Tresen zu. „Ich glaube, das war’s so ungefähr.“

Gavin wirkte total verkrampft, als er auf Lolas Antwort wartete. Das, gepaart mit seiner hoffnungsvollen Stimme, erweichte Haleys Herz. Sie merkte ihm an, dass ihm das hier sehr wichtig war. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es ihr plötzlich genauso wichtig. Sie reckte den Kopf, um das Clipboard besser sehen zu können.

Oje! Die Flyer waren nicht wirklich schlecht, aber viel zu schlicht. Auf ihnen stand nichts weiter als sein Name, sein Leistungsangebot und seine Kontaktdaten. Alles war korrekt geschrieben und gut lesbar, aber es gab nichts, das einen potenziellen Kunden dazu bewegen würde, Gavins Dienste denen anderer Anbieter hier in der Gegend vorzuziehen. Und es gab jede Menge Anbieter.

Zum Beispiel das Sportgeschäft ihrer Familie.

Lola reichte Gavin seinen Kaffee und griff nach dem Clipboard. Haley verkrampfte sich genauso nervös wie Gavin.

„Haben Sie Referenzen? Und woher beziehen Sie Ihre Ausrüstung? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich gebe Ihre Informationen gerne weiter, aber die Leute haben manchmal Fragen.“ Lola sah ihn prüfend an. „Und dann wäre es gut, wenn ich ihnen eine Antwort geben könnte.“

Spontan trat Haley einen Schritt vor. „Gavin kriegt seine Ausrüstung von uns, Lola. Aus dem Laden. Wir haben eine Art … Partnerschaft. Du kannst meinen Namen gern als Referenz angeben. Uns alle sogar. Wir haben schon mit Gavin zusammengearbeitet, und … er ist ein ausgezeichneter Bergführer. Ganz ausgezeichnet.“

„Ist das so? Komisch, deine Mutter hat ihn noch nie erwähnt.“ Lolas Lippen zuckten belustigt. Sie wusste anscheinend ganz genau, was los war. Nämlich dass keine Partnerschaft existierte. Zumindest noch nicht. „Ich wundere mich auch, dass diese Information nicht auf dem Flyer steht, Gavin. Vielleicht sollten Sie das nach…“

„Das ist meine Schuld!“, platzte Haley heraus. Hastig griff sie nach dem Clipboard und presste es an sich. „Ich wollte mich um die Flyer, Broschüren und die Website kümmern, bin aber noch nicht dazu gekommen.“ Sie drehte sich zu Gavin um. „Tut mir echt leid. Aber in spätestens einer Woche ist alles fertig, versprochen!“

Gavin, sichtlich verwirrt, streckte eine Hand nach dem Clipboard aus, doch Haley festigte ihren Griff und wich einen Schritt zurück. „Ich … Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Miss Foster. Ich komme auch ohne unsere … Partnerschaft zurecht. Darf ich bitte mein Clipboard zurückhaben?“

„Nein, ich bestehe darauf. Wirklich! Außerdem brauche ich die hier, um sie zu bearbeiten.“ Haley wurde bewusst, dass Lola sie mit einer Mischung aus Neugier und Erheiterung beobachtete. „Ich hätte gern noch einen Chai-Tee, bitte“, sagte sie, um Lola loszuwerden.

Die ältere Frau musterte sie skeptisch, nickte jedoch und drehte sich um.

„Was machen Sie da?“, flüsterte Gavin.

„Ich versuche, Ihnen zu helfen.“ Oh Gott, in was hatte sie sich da nur reinmanövriert? Ihr Bruder Cole würde sie umbringen, wenn er davon erfuhr. Aber sie konnte jetzt unmöglich einen Rückzieher machen. „Ich kann Ihnen helfen. Wenn Sie mich lassen.“

Gavin presste die Lippen zusammen. „Warum wollen Sie mir helfen?“

„Einfach so.“

„Warum?“

„Weil ich es will“, beharrte sie.

Misstrauisch sah er sie an. „Man bietet Fremden nicht grundlos seine Hilfe an. Nicht, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“

„Ich schon. Ich will nichts von Ihnen, also würde ich sagen, Sie irren sich.“ Warum widersprach sie ihm eigentlich? Wenn er ihr Angebot nicht annehmen wollte, war das seine Sache. Aber irgendetwas trieb Haley dazu, nicht lockerzulassen. „Sagen Sie schon Ja.“

Seine grauen Augen färbten sich eine Spur blau – eine weitere Schattierung, für die sie keine Bezeichnung hatte. Kopfschüttelnd streckte er eine Hand aus. „Mein Clipboard, bitte.“

Haley spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern, aber sie hatte sich schon genug zur Idiotin gemacht. Bevor sie ihm das Clipboard zurückgab, nahm sie jedoch den obersten Flyer weg und stopfte ihn in ihre Tasche. „Falls Sie Ihre Meinung noch ändern, finden Sie mich im Foster’s Pub and Grill. Ich arbeite meistens im Büro, also fragen Sie nach Haley, falls Sie mich nicht sehen.“

„Ich werde meine Meinung nicht ändern.“ Gequält schloss er die Augen und öffnete sie wieder. „Sorry, ich will nicht unhöflich sein“, fügte er hinzu. „Aber ich kenne Sie nicht. Außerdem kümmere ich mich selbst um meine Angelegenheiten.“

Sie nickte und straffte die Schultern. „Okay. Wie gesagt, mein Angebot steht.“

Er musterte sie neugierig. „Sie sind mir vielleicht eine, Miss Haley Foster. Keine Frage.“ Er zog zwei Fünfdollarscheine aus seiner Tasche und legte sie auf den Tresen. „Für meinen Kaffee und ihren Tee“, sagte er zu Lola. „Und danke für Ihre Zeit.“ Sprach’s und marschierte aus dem Coffeeshop.

Haley fragte sich, wann sie je aus ihren Erfahrungen lernen würde. Das war nicht das erste Mal, dass sie sich ungefragt in die Angelegenheit eines anderen Menschen einmischte und auf Widerstand stieß.

„Tja, das war wohl nichts“, murmelte sie trocken und nahm den Tee von Lola entgegen.

„Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber dieser Mann … Er hat reichlich Ecken und Kanten. Und ich habe den Eindruck, dass er Freundlichkeit nicht gewohnt ist.“ Lola tätschelte Haley lächelnd eine Hand. „Trotzdem, lieb von dir.“

„Du hast sofort gewusst, dass ich nur Quatsch erzähle, oder?“

„Deine Mom erzählt mir so gut wie alles über euch Kinder, also ja.“

„Na ja, ich hab’s zumindest versucht“, sagte Haley achselzuckend. „Tust du mir einen Gefallen und erwähnst das hier nicht meiner Mutter gegenüber? Und auch sonst keinem Foster?“

Lola lachte. „Kein Problem.“

„Danke, Lola.“

Die Schlange hinter Haley wurde wieder länger, also kehrte sie an ihren Tisch zurück. Ecken und Kanten? Freundlichkeit nicht gewohnt? Das bestärkte Haley nur noch in ihrem Entschluss, ihm zu helfen. Denn abgesehen von der chemischen Reaktion mochte sie Gavin Daugherty tatsächlich, mit Ecken und Kanten oder ohne.

Seufzend zog Haley seinen Flyer aus ihrer Tasche und las ihn sich durch. Vielleicht sollte sie ausnahmsweise mal auf ihren Verstand hören und nicht auf ihr Herz. Das wäre bestimmt das Klügste. Genau das, was ihre Brüder ihr raten würden.

Leider ignorierte sie ihre Brüder meistens, wenn sie ihr gute Ratschläge gaben. Und auf ihren Verstand hören? Auf die gute alte Logik anstatt auf ihr Bauchgefühl? Niemals! Das hatte sie noch nie gekonnt. Und mal ehrlich – warum sollte sie ausgerechnet jetzt damit anfangen?

Nachdem sie alle Alternativen in Erwägung gezogen hatte, streifte sie sich entschlossen ihre Jacke über. Mit viel Glück konnte sie Gavin noch abfangen, bevor er die Flyer auslegte. Und dann …

Irgendetwas würde ihr schon einfallen.

3. KAPITEL

Gavin war völlig durcheinander, als er zu seinem ramponierten Pick-up zurückkehrte. Was ihm am meisten zu schaffen machte, war, dass er um ein Haar nachgegeben hätte. Für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, dass ihm jemand helfen wollte, der ihn gar nicht kannte. Und dieser Moment hatte sich verdammt gut angefühlt.

Mehr als das sogar. Irgendwie … verheißungsvoll.

Wie dumm von ihm! Warum sollte Haley Foster ausgerechnet ihm helfen wollen? Das ergab absolut keinen Sinn, und alles, was keinen Sinn ergab, ließ bei ihm immer sämtliche Alarmglocken schrillen.

Er warf das Clipboard auf den Beifahrersitz und knallte die Autotür zu. Verdammt! Er hatte es so eilig gehabt, den Coffeeshop zu verlassen, dass er ganz vergessen hatte, ein paar Flyer dazulassen. Er würde das nachholen müssen, aber erst, nachdem er eine plausible Erklärung dafür hatte, warum es keine Partnerschaft mit den Fosters gab und auch nie eine geben würde. Keine Ahnung, warum Haley das Gegenteil behauptete.

Erschöpft schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und seufzte tief. Er konnte natürlich noch wie geplant weitere Läden aufsuchen, aber dazu fehlte ihm gerade die Energie. Außerdem musste er sich erst wieder beruhigen.

Bis dahin würde er auf seinem Grundstück arbeiten. Sich so richtig an der frischen Luft verausgaben. Ja, das müsste funktionieren. Wenn er allerdings nicht bald mehr Geld verdiente als bei seinem Job im Baumarkt, würde er nicht weit kommen. Andererseits drängte ihn ja niemand.

Es gab keinen Grund zur Eile. Hauptsache, es ging überhaupt voran.

Gavin öffnete die Augen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Nach einem harten Arbeitstag würde es ihm bestimmt wieder besser gehen.

Dann würde er auch Haley Foster und ihre seltsame Hilfsbereitschaft vergessen können … und ihre grünlichen Augen, mit denen sie ihn angesehen hatte, als würde sie ihn kennen. Ja, so würde er das machen. Sie war schließlich nur eine Frau, streng genommen kaum mehr als ein Mädchen. Selbst wenn ihr Angebot ehrlich gemeint war – er kümmerte sich lieber allein um seine Angelegenheiten.

Die meisten Menschen interessierten sich nur für sich selbst. Die Demkos waren die einzige Ausnahme, die er je kennengelernt hatte, und es gab absolut keinen Grund, Haley Foster auch für eine zu halten.

Er stieß einen Fluch aus, als ihm bewusst wurde, wie traurig ihn dieser Gedanke machte. Wie beunruhigend. Solche Gefühle gefielen ihm nicht – kein bisschen.

Er schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke hoch, um seine Gedanken zu übertönen – ein Trick, der normalerweise gut funktionierte. Heute allerdings nicht. Als er zu Hause ankam, war er stinksauer.

Dagegen gab es nur ein Mittel: harte körperliche Arbeit!

Und zu diesem Mittel hätte er auch gegriffen, wenn nicht dreißig Sekunden, nachdem er seinen Pick-up in der Einfahrt abgestellt hatte, ein himmelblaues Auto hinter seinem angehalten hätte – mit keiner Geringeren als Miss Haley Foster am Steuer.

Sie war ihm bis nach Hause gefolgt? Spinnt die jetzt total?!

Von wegen Mumm! Diese Frau war total durchgeknallt und hatte anscheinend absolut keinen Selbsterhaltungstrieb. Er könnte schließlich ein Axtmörder sein. Wie konnte sie nur so leichtsinnig sein?

Um sein Befremden im Zaum zu halten – und seine unverständliche Sorge um Haley –, fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und zählte innerlich bis zehn. Was auch immer sie vorhatte, er musste dem einen Riegel vorschieben, bevor er womöglich noch eine Dummheit begehen würde.

Seine Hoffnung keimen lassen zum Beispiel. Oder anfangen zu glauben, dass die Regeln sich plötzlich geändert hatten. Da würde er sich nämlich irren – und unter Garantie dafür bezahlen.

Und das konnte er auf keinen Fall zulassen!

Wenn Haley nicht mit drei älteren Brüdern aufgewachsen wäre, hätte sie sich vielleicht von Gavins Nicken und seinem lässigen Gang täuschen lassen. Dank Reid, Dylan und Cole sah sie ihm jedoch sofort an, dass er kurz vorm Explodieren war.

Okay, ihm hinterherzufahren war vielleicht keine gute Idee gewesen. Sie hätte ihn besser anrufen sollen. Ihm eine Chance geben, sie ein bisschen näher kennenzulernen, bevor sie sich einfach so in sein Leben drängte. Aber sie hatte mal wieder nicht nachgedacht, sondern spontan gehandelt.

Und jetzt, wo sie schon mal hier war, würde sie das auch durchziehen. Sollte er sie danach bitten – oder seinem Blick nach zu urteilen vielmehr ihr befehlen – zu gehen, würde sie es tun. Wahrscheinlich. Nein, ganz bestimmt.

Sie holte tief Luft, schnallte sich ab und stieg lächelnd aus dem Wagen. Ihr Herz klopfte so heftig, als ob sie eine ganze Packung Koffeinpillen mit einer großen Cola runtergespült hätte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass dieser Augenblick – und dieser Mann hier – bedeutsam waren und sie deshalb keinen Mist bauen durfte.

Er blieb vor ihr stehen, musterte sie von Kopf bis Fuß und schüttelte langsam den Kopf. „Haley“, sagte er schroff. „Das kommt etwas … unerwartet. Was wollen Sie hier?“

Die Art, wie er dastand und sie ansah, machte sie noch nervöser. Schade, dass sie sich noch keine Erklärung für ihr Auftauchen hier zurechtgelegt hatte. Also sagte sie das Erste, was ihr einfiel, so blöd es auch war. „Sie waren so schnell verschwunden, dass ich mich gar nicht bei Ihnen bedanken konnte.“

Er blinzelte verwirrt. „Bedanken wofür?“

„Na, für den Tee. Also … danke!“

Er runzelte irritiert die Stirn. Es fiel ihm sichtlich schwer, seinen Ärger zu zügeln. „Stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“

„Nein.“

„Ihnen ist kein durchgeknallter Freund auf den Fersen, vor dem Sie beschützt werden müssen?“

„Nein“, wiederholte sie, seltsam gerührt wegen seiner Frage. „Ich habe gerade keinen Freund, geschweige denn einen durchgeknallten.“ Sein ungläubiger Blick gefiel ihr auch.

„Ihr Wagen macht keine seltsamen Geräusche?“, fragte er scharf. „Sie sind nicht krank oder verletzt oder brauchen medizinische Hilfe?“

„Mein Auto läuft hervorragend … Na ja, vielleicht nicht gerade hervorragend, aber ganz normal, und es geht mir gut. Ehrlich. Aber ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen.“ Sie vertiefte ihr Lächeln und klimperte mit den Wimpern. „Sehr sogar. Lieb von Ihnen zu fragen.“

„Freut mich, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist. Gute Heimfahrt.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Sein Gang war nicht länger lässig. Er sah aus wie jemand, der richtig sauer war.

Haley keuchte erschrocken auf. Sie war nicht daran gewöhnt, dass Menschen sie einfach so stehen ließen. Und was jetzt? Sollte sie ihm wieder hinterherlaufen oder sich ins Auto setzen und wegfahren? Sie konnte förmlich hören, wie ihre Brüder sie drängten zu verschwinden. Sofort. Bevor sie noch etwas tat, das sie hinterher bereuen würde.

Das Problem war nur, dass sie keine Lust dazu hatte. Sie fand Gavins Fragen nach ihrem Befinden rührend. Ihrer Meinung nach ließen sie auf einen guten Charakter schließen. Vielleicht hatte ihr Bauchgefühl ja doch recht.

Oh, ja, sie mochte ihn!

Sie spürte wieder jenes heiße Gefühl im Unterleib, genauso stark und intensiv wie zuvor im Coffeeshop – schockierend intensiv sogar.

Okay, mögen traf es anscheinend nicht wirklich.

„Warten Sie!“, rief sie ihm hinterher. Sie kam sich wie ein ausgesetztes Hündchen vor – vielleicht sogar wie eine Stalkerin –, als sie ihm auf wackligen Beinen hinterherrannte. „Bitte! Ich will nur ein paar Minuten mit Ihnen reden. Danach verschwinde ich wieder. Versprochen.“

Sie hatte keine Ahnung, ob es am „bitte“ oder am „versprochen“ lag, aber er blieb stehen, drehte sich zu ihr um und sah sie wütend an. Als sie ihn einholte, brach der Sturm los, der sich schon so lange zusammengebraut hatte. „Sind Sie verrückt oder nur naiv?“, rief er. „Sie können doch nicht einfach einem Mann nach Hause folgen – noch dazu einem, den Sie gar nicht kennen!“

„Da gebe ich Ihnen recht“, antwortete sie ruhig, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. „Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich nichts zu befürchten habe.“

Unruhig begann er, vor ihr auf- und abzugehen. „Wo bleibt Ihr Selbsterhaltungstrieb? Ihre Vorsicht? Sehen Sie sich doch nur mal um, Haley!“

Sie erwiderte seinen Blick tapfer. Ihr war durchaus aufgefallen, wie einsam es hier war, aber sie hatte keine Angst. Sie war davon überzeugt, dass Gavin ihr nichts antun würde. Das wusste sie einfach.

„Mein Selbsterhaltungstrieb funktioniert hervorragend, vielen Dank auch“, sagte sie so würdevoll wie möglich. „Ich habe zufällig eine gute Menschenkenntnis. Wenn ich Ihretwegen Bedenken gehabt hätte, wäre ich nicht gekommen. Ich bin ja nicht blöd.“

„Das habe ich auch nicht behauptet! Aber ich nehme an, Sie haben keinem Menschen gesagt, wo Sie gerade stecken, oder?“

„Okay … das nicht. Aber …“

„Und genau da liegt das Problem!“ Er blieb stehen. „Ich bin größer und stärker als Sie, verdammt! Haley, ein anderer Mann, ein gefährlicher Mann, würde diese Situation sofort ausnutzen.“ Er stieß einen lauten Fluch aus. „Von wegen Selbsterhaltungstrieb!“

Dieser Wortwechsel kam ihr irgendwie bekannt vor. Wut stieg in ihr auf. „Ja, Sie sind größer und stärker als ich, aber ich weiß mich zu verteidigen. Und ja, Sie wohnen sehr abgeschieden, doch das tun hier viele. Und … Gavin, Sie sind kein anderer Mann. Sie sind Sie.“ Trotzig hob sie das Kinn und hielt seinem Blick stand. „Sie sind nicht gefährlich.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich weiß es eben!“ Haley hatte selbst keine Ahnung, wie sie darauf kam. Diese Situation lief gerade aus dem Ruder, und daran war nur sie selbst mit ihrer dämlichen Impulsivität schuld.

„Das können Sie gar nicht wissen!“

„Aber ich weiß es! Klar war es unüberlegt von mir, Ihnen zu folgen.“ Sie gab sich innerlich einen Ruck. „Und das tut mir auch aufrichtig leid. Aber ich wollte einfach mit Ihnen reden, und als ich Sie in Ihrem Pick-up sah, bin ich Ihnen einfach gefolgt.“

Wütend starrte er sie an, sie starrte zurück, und plötzlich schien seine innere Anspannung von ihm abzufallen, und in seinem Blick blitzte ein Fünkchen Humor auf. Bei dem Anblick wurde Haley wieder ganz warm ums Herz. „Fällt es Ihnen immer so schwer, Ihre Impulse zu zügeln?“, fragte er. „Oder ist das etwas Neues?“

„Sie sind der erste Mann, dem ich je nach Hause gefolgt bin“, gab sie zu. „Aber ich treffe öfter impulsive Entscheidungen.“

„Hören Sie, Haley, Sie kennen mich nicht …“

„Das haben Sie schon gesagt.“ Fast hätte sie hinzugefügt, dass sie ihn gern näher kennenlernen würde, aber sie bremste sich gerade noch rechtzeitig.

„Trotzdem hätte das hier übel für Sie ausgehen können, wenn ich ein anderer Mann wäre“, sagte er betont langsam und deutlich. „Es gibt viele schlechte Menschen. Und die Vorstellung, dass Ihnen etwas Schlimmes …“ Er verstummte abrupt. „Sie sollten in Zukunft vorsichtiger sein“, schloss er lahm.

„Ich hab’s ja verstanden.“ Wieder folgte ein Blickduell. „Ich mag Sie eben, Gavin“, platzte sie heraus. „Ich kann es mir selbst nicht erklären, also fragen Sie mich nicht, warum. Es ist eben so, okay? Verklagen Sie mich!“

„Sie treiben mich in den Wahnsinn“, murmelte er.

Fest entschlossen, ihm endlich ein richtiges Lächeln zu entlocken, zwinkerte Haley ihm grinsend zu. „Ich muss zugeben, dass Sie ein paar sehr gute Argumente hervorgebracht haben. Ich werde Ihren Rat also befolgen, wenn ich das nächste Mal den Impuls verspüre, jemandem hinterherzufahren.“

„Ach ja? Ich glaube Ihnen kein Wort.“

„Sie klingen genau wie meine Brüder.“ Das war nicht unbedingt etwas Schlechtes. Ihre Brüder waren wie Felsen in der Brandung – solide und verlässlich. Natürlich hatte Haley keine schwesterlichen Gefühle für Gavin, aber das brauchte er nicht zu wissen. Noch nicht.

„Ihre Brüder scheinen ziemlich klug zu sein.“

„Das sind sie. Aber bitte behalten Sie das für sich, ja?“

Auf seinem Gesicht blitzte etwas auf, das fast wie ein Lächeln aussah. Oh, wie sehr Haley sich nach einem echten Lächeln sehnte! Eins, das auch seine Augen erreichte. Das wäre ein echtes Geschenk für sie.

„Sie sind mir vielleicht eine, Haley Foster“, sagte er.

„Das haben Sie vorhin schon gesagt.“ Da hatte sie es allerdings noch für ein Kompliment gehalten. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. „Zehn Minuten nur, Gavin, mehr verlange ich nicht. Bitte!“

Er seufzte. „Sonst lassen Sie mich nicht in Ruhe?“

„Nein.“ Trotzig hob sie das Kinn. „Erst wenn Sie mich ausreden lassen.“

„Akzeptieren Sie eigentlich je ein Nein?“

„Natürlich.“ Auch wenn sie normalerweise einen Weg fand, das zu umgehen. Oder so tat, als habe sie nichts gehört. „Sagen Sie ruhig Nein. Aber verlassen Sie sich lieber nicht darauf, dass ich mich damit abfinde.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, murmelte er. „Schießen Sie los. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, bevor ich noch meine Meinung ändere.“

Innerlich stieß Haley einen lauten Triumphschrei aus, ließ sich jedoch nichts anmerken. „Ich habe Sie vorhin anscheinend etwas überrumpelt, als ich Ihnen in der Beanery meine Hilfe angeboten habe. Sorry, das war nicht sehr geschickt von mir.“

„Stimmt“, war alles, was er dazu sagte. Doch seine Mundwinkel zuckten ein bisschen, und das … Na ja, das war besser als nichts. „Reden Sie weiter.“

„Ich würde Ihnen mein Angebot gern näher erläutern und hoffe, dass Sie es sich danach anders überlegen. Ich habe nämlich schon ein paar Ideen, und ich glaube …“

„Nein“, antwortete er. „Ich werde meine Meinung nicht ändern, obwohl ich Ihre … Hartnäckigkeit zu schätzen weiß.“

„Ernsthaft, Gavin? Sie wollen mich noch nicht mal ausreden lassen?“

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nichts von dem, was Sie sagen, wird mich umstimmen.“

„Das können Sie nicht wissen.“

Er zögerte. „Haley, manche Menschen sind Einzelkämpfer. Das ist nun mal so.“

„So einfach ist das nicht.“

„Doch, ist es. Ehrlich, Haley, ich finde Ihr Angebot … sehr großzügig, aber ich verlasse mich nun mal nicht gern auf andere. Das war immer schon so und wird auch immer so sein.“

„Immer?“

„Ja, immer“, bestätigte er, ohne zu zögern.

Ach, verdammt! Er klang so überzeugend, dass ihr beim besten Willen kein Gegenargument mehr einfiel.

Sie hatte das Gefühl, dass etwas ganz Wundervolles fast zum Greifen nah war, aber eben nur fast, und es tat weh, dass sich diese Chance letztlich doch nicht erfüllte.

„Sie tun mir leid“, sagte sie leise. „Ich bin nämlich ein guter Mensch, und ich glaube, Sie sind auch einer. Klar, meine Impulsivität hat mich schon oft in Schwierigkeiten gebracht, aber jetzt bin ich nun mal hier, Gavin, und biete Ihnen meine Hilfe an. Und meine … Freundschaft. Aber Sie sind zu stolz oder zu stur oder was auch immer, um es auch nur zu versuchen. Und das finde ich traurig.“

Gavin sagte nichts, sondern stand regungslos da. Für ihn war sie anscheinend nur eine durchgeknallte Irre, die die Frechheit hatte, ihm bis nach Hause zu folgen. Sie konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen.

Da ihr nichts anderes übrig blieb, ging sie zurück zu ihrem Wagen – immer noch erfüllt von jenem schrecklichen Gefühl, dass ihr etwas entgangen war.

Sie hatte auf ganzer Linie versagt.

Sie versuchte, sich einzureden, dass sie albern und überempfindlich reagierte. Und bis zu einem gewissen Grad glaubte sie sich sogar. Aber es gelang ihr nicht, sich davon zu überzeugen, dass Gavins Zurückweisung das Beste für sie war und sie seine Gründe eines Tages verstehen würde. Es fühlte sich einfach verkehrt an.

Und es brach ihr fast das Herz.

Vor ihrem Wagen blieb sie einen Moment stehen, um sich zu sammeln. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und Äste knarrten im Wind. Irgendwie hatten die Geräusche etwas Beruhigendes. Sie hatte nichts falsch gemacht, lediglich versucht zu helfen. Es gab keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen.

Sie würde auf dem Heimweg Eiscreme kaufen und sich zu Hause einen Film ansehen oder ein Buch lesen. Sich entspannen. Und wenn sie anschließend ins Bett ging, würde sie die Begegnung mit Gavin ganz nüchtern und abgeklärt sehen und wieder zur Normalität zurückkehren. Und falls das nicht klappte, musste sie eben auf den Sommer warten … und auf Zwölfstundentage.

Klang ganz vernünftig. Haley wollte gerade die Fahrertür ihres Wagens öffnen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie erstarrte, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Hitze stieg in ihr auf, und sie bekam eine Gänsehaut. Gavin war ihr nachgegangen? Wow … einfach wow.

„Warum wollen Sie meine Freundin sein?“, hörte sie ihn zögernd hinter sich fragen. „Was … was hat Sie zu so einer Entscheidung bewogen, wo Sie mich doch gar nicht kennen?“

Haley drehte sich nicht um. Sie rührte sich nicht vom Fleck, holte noch nicht mal Luft. „Ich habe keine Ahnung“, gestand sie. „Irgendetwas an Ihnen spricht mich an, und ich will herausfinden, was es ist. Ich will Sie kennenlernen und … Na ja, das war’s eigentlich schon. Ich glaube nämlich, es würde sich lohnen.“

Der Griff seiner Hand festigte sich. Nicht viel, aber genug, um sie spüren zu lassen, dass ihre Worte nicht wirkungslos blieben. Für ein paar Sekunden … oder eine Ewigkeit schien die Natur zu verstummen und die Zeit stillzustehen.

„Wenn Ihr Angebot noch steht, würde ich es gern annehmen“, hörte sie wieder Gavins tiefe Stimme. „Was die Freundschaft angeht, meine ich.“

Zu Haleys Überraschung schossen ihr die Tränen in die Augen. Von einem Mann wie ihm waren solche Worte etwas Besonderes, das spürte sie in ihrem tiefsten Innern. „Mein Angebot hat kein Verfallsdatum“, sagte sie betont locker. „Ja, Gavin, es steht noch.“

„Okay“, sagte er, halb überrascht, halb ungläubig.

Kein Problem für Haley. Er würde schon noch merken, dass sie nichts leichtfertig dahinsagte, das sie nicht so meinte.

„Haben Sie Hunger?“, fragte er immer noch zögernd, immer noch skeptisch. „Ich könnte uns etwas zum Mittagessen machen. Falls Sie noch ein bisschen bleiben wollen.“

„Ehrlich gesagt bin ich am Verhungern.“ Tief durchatmend ließ sie ihren Autoschlüssel in ihre Handtasche fallen und drehte sich zu Gavin um. Als sie ihm in die graublauen Augen sah, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sich Bruchstücke in ihr zu einem Ganzen zusammenfügten. „Gern“, sagte sie lächelnd. „Was steht auf der Speisekarte?“

„Also … keine Ahnung. Mal sehen, was ich im Haus habe.“

Er streckte eine Hand nach ihrer aus, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung. Haley sah Unsicherheit und noch etwas anderes in seinem Blick – Sehnsucht vielleicht – und fühlte sich noch etwas vollständiger. Das Gefühl, dass ihr etwas Wundervolles entgangen war, verschwand. Ja, dieser Mann würde eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen, das spürte sie einfach.

Sie ergriff seine Hand und drückte sie, und Hand in Hand gingen sie zum Haus. Das hier war genau das, worauf sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. All ihre Einsamkeit und ihre Rastlosigkeit endeten bei diesem einen Mann … Gavin Daugherty.

Er war der Grund. Er war das Heilmittel.

Er war derjenige, auf den sie immer gewartet hatte. Und wenn die Fosters sich verliebten, dann gab es kein Halten mehr. Es war natürlich noch viel zu früh, um mit Gewissheit zu sagen, dass sie Gavin liebte, aber dieses Gefühl lag eindeutig in der Luft.

Stark und echt.

Und in diesem Augenblick, als sie ihre Hand in seiner spürte und ihr die Sonne auf die Schultern schien, war ihr das genug. Es war ein Anfang, vielleicht sogar ein gemeinsamer. Sie hoffte, dass auch Gavin schon lange auf sie gewartet hatte, ob ihm das bewusst war oder nicht. Und an dieser Hoffnung würde sie festhalten.

So waren die Fosters nun mal.

4. KAPITEL

Noch eine Frage, stöhnte Gavin innerlich, als er die E-Mail las, die vor einer Viertelstunde in seinem Postfach gelandet war. Himmel, was wollte diese Frau denn noch alles wissen?

Nicht dass ihre Neugier ihm wirklich etwas ausmachte. Es war ihm nur schleierhaft, wie man sich so für einen anderen Menschen interessieren konnte. Ihm war das noch nie passiert.

Na ja, zumindest früher nicht. Denn wie sich herausstellte, war er wahnsinnig neugierig auf Haley Foster … obwohl er ihr keine Fragen stellte. Dazu konnte er sich einfach nicht überwinden, obwohl er schon ein paar in den Computer getippt hatte. Doch irgendetwas – Nervosität oder Zweifel – brachte ihn immer wieder dazu, sie nicht abzuschicken. Eines Tages würde er den Mut vielleicht aufbringen, doch vorerst war er zufrieden mit dem Status quo.

Okay, zufrieden war etwas übertrieben.

Dreizehn Tage waren vergangen, seitdem sie zusammen bei ihm zu Mittag gegessen hatten, und fast die ganze Zeit über hatte er Panik gehabt, dass er die Begegnung nur geträumt hatte. Oder dass Haley trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen zu dem Schluss gekommen war, dass er die Mühe doch nicht lohnte. Dass sie es inzwischen bereute, ihm zu seinem Haus gefolgt zu sein. Er konnte diese negativen Gedanken und Ängste einfach nicht abschütteln, so unbegründet sie auch sein mochten.

Ein paarmal hatte er mit dem Gedanken gespielt, Haley anzurufen, aber er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Und als ihm dann endlich etwas eingefallen war, war sie ihm mit einer E-Mail zuvorgekommen. Seitdem schickte sie ihm täglich eine Mail mit einer oder zwei Fragen, und er beantwortete sie.

Anscheinend hatte sie es doch ernst gemeint. Anscheinend hatte sie ihre Meinung doch nicht geändert. Sie wollte ihn wirklich kennenlernen.

An diese Vorstellung hatte Gavin sich erst mal gewöhnen müssen. Inzwischen war es fast so weit. Fast hielt er etwas für möglich, das ihm zugleich Angst einjagte und ihn … wenn nicht glücklich, so doch zumindest optimistisch machte.

Wie war das nur möglich? Wie konnte etwas – erst recht eine Frau – diese zwei gegensätzlichen Gefühle in ihm auslösen? Er verstand das nicht, aber er hatte beschlossen, nicht zu viel darüber nachzudenken. Er hatte schon genug damit zu tun, Haley Fosters Mails zu beantworten.

Trotzdem musste er lächeln, als er Haleys letzte Nachricht las. Wie kam sie nur auf solche Fragen? Das letzte Weihnachtsfest war Monate her und das nächste noch weit entfernt. Warum also gerade jetzt? Und spielte es wirklich eine Rolle, was seine schönste Weihnachtserinnerung war?

Noch so ein negativer Gedanke. Er verdrängte ihn, bevor er Fuß fassen konnte – bevor sein tief eingegrabener Pessimismus ihn wieder verunsichern würde. Immerhin hatte Haley sich die Mühe gemacht zu fragen, oder? Anscheinend war ihr seine schönste Weihnachtserinnerung wichtig, auch wenn er das nicht nachvollziehen konnte.

Also dann.

Er brauchte nicht lange für seine Antwort. Weihnachten war für ihn meistens alles andere als magisch oder fröhlich gewesen. Mit ein paar Ausnahmen. Vor allem einer. Einer, die er nie vergessen würde.

Gavin begann zu tippen. Hörte wieder auf. Überlegte, mit welchen Worten er seine Gedanken – oder vielmehr seine Gefühle – am besten ausdrücken konnte, ohne sentimental zu klingen. Oder albern. Oder … Verdammt, warum tat er sich das eigentlich an?

„Hör auf nachzudenken und beantworte einfach die verdammte Frage“, knurrte er wütend. Und tippte mit einem Finger weiter:

Meine schönste Weihnachtserinnerung? Das war wahrscheinlich, als wir einen Welpen bekamen. Er hat jedes Geschenk unter dem Weihnachtsbaum aufgerissen, bevor wir aufgestanden waren. Überall lag zerfetztes Geschenkpapier herum. Er hatte ein Riesenchaos angerichtet. Das war saukomisch. Ich nehme an, deshalb war das mein Lieblingsweihnachtsfest. Es tat einfach gut, am Weihnachtsmorgen zu lachen.

Gavin starrte seinen Text an, hinterfragte ihn etliche Male und drückte schließlich auf Senden. Er hatte nicht die ganze Wahrheit geschrieben – nicht den wahren Hintergrund, warum ihm diese spezielle Erinnerung so viel bedeutete. Warum er dieses eine Weihnachtsfest nie vergessen hatte.

Gedankenverloren rieb er sich seinen Bart und gab sich für einen Moment seinen Erinnerungen hin. Damals, mit zwölf Jahren, war er erst seit ein paar Monaten bei den Demkos gewesen, und er hatte es ihnen weiß Gott nicht leicht gemacht. Er war so abweisend und unfreundlich wie nur möglich gewesen und hatte alles abgelehnt, das Russ und Elaine für ihn tun wollten.

Dabei hatten sie ihn gut behandelt, sehr gut sogar, während er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit provoziert hatte. Er hatte zum Beispiel die Schule geschwänzt oder Geld aus Russ’ Brieftasche gestohlen. Ein oder zwei Mal waren sie richtig sauer geworden, aber sie hatten ihm nie damit gedroht, ihn wieder wegzuschicken. Immer wieder hatten sie versucht, seinen Schutzpanzer zu durchdringen, während er sich verzweifelt dagegen gewehrt hatte.

Bis zu jenem Weihnachtsmorgen. Bis dahin hatte er gehofft, dass seine Mutter sich so weit zusammenreißen würde, um mit ihm gemeinsam zu feiern. Daraus war natürlich mal wieder nichts geworden, aber an jenem Morgen war ihm das von einem Moment zum anderen egal gewesen. Und das hatte er dem Welpen zu verdanken gehabt.

Roxie – der Welpe hieß Roxie – hatte im Wohnzimmer ein einziges Chaos angerichtet. Überall lagen Papierfetzen und heruntergefallener Christbaumschmuck, und Roxie saß mittendrin. Der Anblick hatte etwas in Gavin gelöst – eine Reaktion in ihm hervorgerufen, die er sich nicht hatte erklären können. Er war in schallendes Gelächter ausgebrochen, genauso wie Russ und Elaine und der andere Junge.

Und dieses Lachen, das Chaos und der Welpe hatten seinen Schutzpanzer gesprengt. Sogar jetzt noch musste er bei der Erinnerung an diesen Tag lächeln, an dem er Russ und Elaine endlich an sich herangelassen hatte. In diesem Augenblick hatte er zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, was es hieß, Teil einer Familie zu sein – einer echten Familie.

Er hatte diesen Tag nie vergessen. Nie.

Dieser Morgen hatte ihn stärker verändert als jeder andere Morgen oder jedes andere Weihnachtsfest davor und danach. Aber wie sollte er das einem anderen Menschen vermitteln – noch dazu einem Menschen, der wahrscheinlich nur glückliche Weihnachtserinnerungen hatte? Der keine Ahnung hatte, wie es war, keine richtige Familie zu haben?

Gavin stieß einen leisen Fluch aus und begann, wieder zu schreiben. Noch eine Mail an Haley – etwas umfangreicher diesmal, jedoch ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Sie brauchte zum Beispiel nicht zu wissen, wie sehr er damals litt.

Als er die Mail gesendet hatte, konnte er sich nicht von seinem Klappstuhl rühren. Er starrte auf den Bildschirm und wartete auf ihre Antwort. Hoffentlich hatte er nicht zu viel preisgegeben.

Fünf … zehn … zwanzig Minuten vergingen, bevor sein Postfach den Eingang einer Nachricht signalisierte. Zwanzig schreckliche Minuten, in denen er bitter bereute, nicht einfach die Klappe gehalten zu haben. Vor lauter Angst, dass Haley ihn nicht verstehen würde.

Fast hätte er ihre Nachricht ignoriert. Verdammt, sie wusste schließlich nicht, wie oft er seine Mails checkte.

Aber er brachte es einfach nicht fertig. Er musste wissen, ob sie verstanden hatte, was ihm so schwergefallen war zu beschreiben. Er wusste selbst nicht, warum ihm das so wichtig war. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass sie so ganz anders aufgewachsen war als er, und vielleicht hatte er sich auch nicht gut ausgedrückt.

Hoffentlich hatte er jetzt nicht ihr Mitleid erregt. Er wollte kein Mitleid, von niemandem!

Nervös klickte er die Nachricht an und schluckte, bevor er las:

Danke, Gavin, dass du dich mir anvertraut hast. Ich fühle mich geehrt, diese Geschichte über dich und dein Leben zu kennen. Wow, bin ich froh, dass du Russ und Elaine hattest! Und dass sie dir diese schöne Erinnerung beschert haben.

Haley.

P.S.: Nur so aus Neugierde: Was ist deine Lieblingspizza?

Gavin las ihre Nachricht nicht weniger als vier Mal, bevor Emotionen in ihm aufstiegen, die er nicht näher beschreiben konnte. Doch was auch immer ihre Mail in ihm auslöste – es fühlte sich verdammt gut an. Er hatte einem anderen Menschen etwas sehr Wichtiges über seine Vergangenheit anvertraut, und dieser Mensch – Haley – hatte ihn sofort verstanden. Unglaublich!

Als sein Blick auf ihren Nachsatz fiel, musste er grinsen. Pizza? Das war leicht!

Ich kann dir eher sagen, welche Pizza ich nicht mag: die mit Sardellen. Alles andere schmeckt mir. Und gern geschehen. Das mit dem Anvertrauen, meine ich.

Er klickte auf Senden und kehrte in die Küche zurück, um die Wände mit dem Sandstrahler zu bearbeiten. Etwas, das er schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte.

Eine Stunde harte Arbeit verging wie im Flug, weil Gavin in Gedanken bei Haley war. Er fragte sich, wie sie wohl den Abend verbringen würde … und eine Menge andere Dinge, die ihn eigentlich nichts angingen.

Aber er bekam sie einfach nicht aus dem Kopf.

Haley fragte sich, ob sie Gavin hätte vorwarnen sollen, als sie ihn nach seiner Lieblingspizza fragte, aber sie hatte ihm nicht die Möglichkeit geben wollen, sie abzuwimmeln. Also war sie jetzt auf dem Weg zu ihm – mal wieder unangemeldet – mit einer extragroßen Pizza mit jedem nur erdenklichen Belag außer Sardellen. Außerdem zwei Flaschen Limonade, einer Tüte Chips und zwei großen Schokoladenkuchenstücken, die sie aus dem Restaurant hatte mitgehen lassen.

Noch so eine impulsive Tat, aber sie wollte Gavin unbedingt wiedersehen, und zwar seit … na ja, eigentlich schon seit ihrer letzten Begegnung. Bisher hatte sie diesen Impuls erfolgreich unterdrückt – bis sie vorhin erfahren hatte, dass er überwiegend bei Pflegefamilien aufgewachsen war und seine schönste Weihnachtserinnerung seine erste glückliche Weihnachtserinnerung überhaupt war. Und er war damals schon zwölf gewesen! Es war herzzerreißend. Sie musste ihn einfach wiedersehen.

Seitdem sie Mails austauschten, war eine Menge passiert. Gavin kommunizierte endlich mit ihr. Jedes Mal, wenn er eine ihrer Mails beantwortete, würde sie am liebsten vor Freude jubeln. Außerdem wurden seine Antworten länger, was bedeutete, dass er allmählich Vertrauen zu ihr fasste.

Vielleicht sogar zu ihnen.

Eine Freundschaft war – ganz egal, was zwischen ihnen noch entstehen konnte – eine solide Ausgangsbasis. Ja, sie freute sich über die Fortschritte, die sie machten.

Kaum war sie in Gavins Einfahrt gebogen, klingelte ihr Handy. Ein Blick auf das Display verriet ihr, wer die Anruferin war: Suzette. Oje, bestimmt ging es um das Blind Date. Haley hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht.

Da sie absolut keine Lust hatte, einen Abend mit einem Mann zu verbringen, der nicht Gavin Daugherty war, beschloss sie, Suzette die Wahrheit zu sagen, und stellte den Motor aus. „Hey“, begrüßte sie ihre Freundin. „Ich nehme an, du rufst wegen des Dates an. Ehrlich gesagt ist mir nicht ganz wohl bei der Idee …“

„Oh nein, Haley“, fiel Suzette ihr ins Wort. „Du hast bereits zugesagt. Ich habe mit Matt gesprochen, und … okay, ich brauchte etwas Überzeugungsarbeit, aber der Termin steht.“

„Dann sag eben wieder ab. Ich habe keine Lust.“ Okay, das war vielleicht etwas zu abrupt. „Sorry, aber ich habe meine Meinung geändert. Er wird bestimmt nicht allzu enttäuscht sein, wenn du erst mal Überzeugungsarbeit leisten musstest.“

„Tu mir das nicht an! Ich muss mit dem Typen zusammenarbeiten und … die Situation zwischen uns hat sich gerade erst wieder entspannt, verstehst du?“

Haley zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das?“

Suzette seufzte tief. „Wir haben ein paar Monate lang geflirtet. Dann gingen wir miteinander aus, aber es hat nicht gefunkt. Zumindest nicht auf meiner Seite. Die Chemie stimmte einfach nicht.“

„Ah, ich verstehe. Du hast Angst, dass euer Verhältnis wieder verkrampft wird, wenn ich absage?“

„Ja, aber das ist nicht alles. Bitte, Haley!“

„Ich weiß nicht. Das nimmt bestimmt kein gutes Ende.“

„Das kannst du nicht wissen. Ich werde mich auch revanchieren, versprochen. Du kannst mich jederzeit um einen Gefallen bitten, ohne Angabe von Gründen. Bitte!“, flehte Suzette.

Haley schloss genervt die Augen. „Okay, aber es bleibt bei diesem einen Date. Ich habe nämlich jemanden kennengelernt.“ Sie spähte in Richtung von Gavins Haus. „Frag mich aber nicht, wer er ist.“

Totenstille folgte. Gute dreißig Sekunden lang. „Na schön, du hast gewonnen“, sagte Suzette widerstrebend. „Ich werde mich mit Fragen zurückhalten.“

„Dann wäre das ja geklärt. Wo und wann treffen wir uns?“

Suzette nannte ihr die Details. „Verrat mir wenigstens, wie dieser geheimnisvolle Unbekannte aussieht. Ein bisschen was musst du mir schon über ihn erzählen.“

„Mal nachdenken … Er hat Augen und eine Nase und einen Mund. Zwei Beine. Haare. Wenn ich mich recht entsinne, hat er auch zwei Arme. Und Hände mit jeweils fünf Fingern. Und ich nehme an …“

„Du Witzbold!“, sagte Suzette lachend. „Spann mich nicht so auf die Folter.“

„Ich werde dir eines Tages erzählen, wer er ist“, antwortete Haley lächelnd. „Aber jetzt muss ich auflegen.“

Nachdem Haley das Telefonat beendet hatte, ließ sie sich einen Moment Zeit, um sich zu sammeln. Wenn ihr Besuch Gavin nicht allzu sehr überrumpelte, wurde dieser Abend vielleicht ein Wendepunkt.

Worauf zum Teufel wartete sie dann noch?

Sie nahm die Pizzaschachtel, schob eine Hand unter den Riemen ihrer Handtasche und den Henkel der Tüte mit den restlichen Lebensmitteln und stieg aus dem Wagen. Sie war so aufgeregt, dass sie das Gefühl hatte zu schweben, als sie den Weg zum Haus entlangging.

Vor Gavins Tür angekommen, war ihr fast schlecht vor Nervosität. War es vielleicht ein Fehler, zum zweiten Mal unangemeldet hier aufzutauchen? Aber jetzt war sie schon mal hier, und sie war nicht der Typ, der einen Rückzieher machte. Warum also jetzt damit anfangen?

Sie gab sich innerlich einen Ruck und drückte mit einem Ellenbogen auf die Klingel. Sie holte tief Luft und hoffte, dass ihr Instinkt sie nicht ausnahmsweise mal trog.

Und wartete.

Gott sei Dank wurde ihre Geduld nicht allzu lange auf die Probe gestellt, denn kurz darauf öffnete Gavin die Tür und sah sie überrascht und … vielleicht ein bisschen irritiert an.

Sie setzte ein Lächeln auf und ließ den Blick über den weißen Staub in seinem bräunlichen Haar, auf seinem schwarzen T-Shirt und seiner engen Jeans gleiten. Er sah aus wie einem Schneesturm entronnen … und verdammt sexy. Stark und männlich.

Sein bloßer Anblick reichte, um wieder jene Hitze in ihr aufsteigen zu lassen, die ihr inzwischen so vertraut war. „Entweder ist dir gerade eine Tüte Mehl geplatzt, oder du bearbeitest Wände mit einem Sandstrahler“, sagte sie so locker wie möglich.

„Wände“, bestätigte Gavin kurz einsilbig. „Ich kann nicht backen.“

Der Henkel der schweren Tüte schnitt Haley ins Handgelenk, und die Pizzaschachtel wurde unangenehm heiß. Vielleicht hätte sie es doch beim Mailaustausch bewenden lassen sollen.

Aber jetzt war es für diese Erkenntnis zu spät.

„Ich habe Pizza mitgebracht“, erklärte sie fröhlich. „Und Getränke und Kuchen. Zum Abendessen.“

Schweigend zupfte er an dem Mundschutz, der ihm am Hals baumelte. „Abendessen?“

Haley rutschte das Herz in die Hose. Gavin klang alles andere als erfreut. Verdammt, warum war sie nur gekommen? „Ja, Abendessen.“ Sie zwang sich weiterzulächeln. „Die Mahlzeit, die normalerweise den Tag abschließt. Es sei denn, man zählt das Dessert als Extra-Mahlzeit, aber …“

„Ich weiß, was ein Abendessen ist“, fiel er ihr schroff ins Wort. „Ich verstehe nur nicht, warum du hier bist. Haben wir eine Verabredung oder …?“

„Nein. Aber … ich brauche ja nicht zu bleiben. Ich wollte dir nur ein bisschen helfen, weil ich mir gedacht habe, dass du bestimmt alle Hände voll zu tun hast und vielleicht nicht dazu kommst, was zu essen.“ Sie raffte ihr letztes bisschen Mut zusammen. „Freunde machen so etwas füreinander, Gavin.“

„Freunde bringen Überraschungspizza?“ Er nahm ihr die Schachtel und die Tüte ab. „Danke für die Mühe.“

„Das war keine Mühe, und gern geschehen.“ Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Situation jetzt noch retten konnte. „Sorry, dass ich nicht vorher angerufen habe.“

„Das hätte dir auch nichts genützt. Mein Handyakku ist gerade leer.“

„Na ja, ich hätte in meiner letzten Mail erwähnen können, dass ich vorbeikomme.“

„Das ja“, stimmte er zu. „Aber es ist ja nichts Schlimmes passiert, und ich könnte tatsächlich eine Pause gebrauchen. Diese Wände sind einfach sch… schwierig.“

„Pausen machen ist wichtig. Lass dir dein Abendessen schmecken und …“ Was zum Teufel war bloß los mit ihr?! Sie straffte die Schultern und intensivierte ihr Lächeln. Wenn Haley Foster eins nicht tat, dann klein beigeben. „Die Pizza ist extragroß. Ich könnte bleiben und dir Gesellschaft leisten. So etwas tun Freunde nämlich auch. Gemeinsam essen.“

Wieder sah er sie auf jene für ihn typische reglose Art an. Es fiel ihr schwer, ihre Worte nicht zurückzunehmen. Angespannt wartete sie auf seine Antwort, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst.

„Okay“, sagte er nach qualvoll langem Schweigen. „Ich habe nichts dagegen, wenn du bleibst.“

„Es wäre kein Problem für mich, wenn du mich wegschickst. Und diesmal würde ich sogar auf dich hören, versprochen.“

„Wenn ich dich wegschicken wollte, würde ich es tun“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. Er trat zur Seite, um Haley ins Haus zu lassen. „Danke, dass du an mich gedacht hast.“

„Ich war dabei nicht ganz uneigennützig“, gestand sie und ging an ihm vorbei. „Ich wollte dich sehen und Zeit mit dir verbringen. Also habe ich eine Pizza gekauft, und hier bin ich.“

Er musterte sie eindringlich aus schmalen Augen. Für einen Moment presste er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Verwirrung blitzte in seinem Blick auf, aber vielleicht auch eine Spur Belustigung. Freude möglicherweise sogar. So oder so war das ein gutes Zeichen.

„Ich weiß einfach nicht, was ich von dir halten soll“, gestand er. „Du überraschst mich immer wieder.“

Sie hätte gern mehr gehört. Dass er sie auch hatte sehen und Zeit mit ihr verbringen wollen zum Beispiel. Es lag ihr auf der Zunge, ihn danach zu fragen, aber sie entschied sich dagegen. Vorerst. „Ich hoffe, du hast nichts gegen Überraschungen, denn so schnell werde ich nicht damit aufhören“, sagte sie lächelnd.

„Nein, habe ich nicht. Was mich ebenfalls überrascht.“ Wieder musterte er sie eindringlich, bevor er zu einem ramponierten Couchtisch am anderen Ende des Zimmers ging und die Pizza und die Tüte ablegte. Er zeigte auf das ebenfalls schäbige Sofa dahinter. „Lass uns hier essen. In der Küche herrscht nämlich gerade Chaos. Ich hole Gläser und Teller. Fühl dich … einfach wie zu Hause.“

Haley nickte. Sie wartete, bis Gavin durch die Tür verschwunden war, bevor sie sich stöhnend aufs Sofa fallen ließ und erst mal tief durchatmete.

Wie albern von ihr, so nervös zu sein. Und wie ungewöhnlich für sie.

Aber bestimmt war das ein gutes Zeichen. Wegen eines Mannes nervös zu sein, war gut. Nach zwei weiteren tiefen Atemzügen hatte ihr Herzschlag sich einigermaßen beruhigt. Für alle Fälle holte sie noch mal tief Luft und dehnte den Hals, um ihre Verspannungen zu lösen. Ja, besser so. Eindeutig besser.

Neugierig begann sie, sich im Wohnzimmer umzusehen. Wie in der Küche gab es kaum Möbel – nur das abgenutzte Sofa, auf dem sie saß, den Couchtisch, einen Sessel und in einer Ecke einen Tisch mit Klappstuhl und Laptop.

Gavin hatte hier noch nichts renoviert, aber das würde er bestimmt nachholen. Vermutlich, wenn er mit der Küche fertig war.

Das Zimmer war groß und rechteckig. Es erstreckte sich über die gesamte Länge des Hauses und hatte an den beiden Schmalseiten breite und hohe Fenster. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet. Ein hässlicher avocadogrüner Teppich bedeckte den Boden, der vermutlich aus Dielen bestand.

Sie richtete den Blick auf das Besondere des Raums – einen massiven offenen Kamin aus vielfarbigen Natursteinen in der Mitte der langen Außenwand.

Ein wahres Prachtstück.

Sie konnte sich gut vorstellen, sich hier abends vor einem Feuer zu entspannen und über ihren Tag zu plaudern. Sie seufzte sehnsüchtig. Hoffentlich würde Gavin den Kamin nicht herausreißen. Das wäre eine echte Schande.

Warum er wohl dieses große Haus gekauft hatte, anstatt sich etwas Kleineres zuzulegen? Für einen allein war es riesig. Sie nahm sich vor, ihn danach zu fragen. Vielleicht nicht gleich heute, aber eines Tages.

Ihr fiel auf, dass ihre Liste mit Fragen immer länger anstatt kürzer wurde. Ihre Neugier auf Gavin schien unstillbar zu sein. Sie hatte das Gefühl, gar nicht genug über ihn erfahren zu können – wollte nicht nur alles über seine Vergangenheit wissen, sondern auch über seine Träume und Zukunftspläne.

Und wie es wohl wäre, ihn zu küssen …

Sie stieß einen leisen Seufzer aus, denn sie verspürte sofort wieder dieses Kribbeln im Bauch, und ihr wurde heiß.

Sie wickelte sich eine Haarsträhne um einen Finger und versuchte vergeblich, an etwas anderes zu denken. Wenn allein schon der Gedanke an einen Kuss eine so starke Reaktion in ihrem Körper auslöste, würde ein echter Kuss ihr vermutlich den Rest geben. Sie erschauerte lustvoll bei der Vorstellung, wie Gavins Lippen ihre berührten.

Der Abend war noch jung … alles war möglich.

Absolut alles.

5. KAPITEL

Kaum hatte Gavin die Küche betreten, ging er rastlos auf und ab, um sich zu beruhigen. Leider vergeblich. In seinem Innern herrschte das reinste Gedanken- und Gefühlschaos.

Einerseits war er glücklich darüber, dass Haley plötzlich bei ihm aufgekreuzt war, andererseits auch genervt, weil sie sich nicht vorher angekündigt hatte. Außerdem hatte er Angst, sich auf sie einzulassen und dann enttäuscht zu werden. Und zu allem Überfluss fing er an, sich wirklich Hoffnungen zu machen. Hoffnungen, die immer stärker wurden, je öfter er von Haley Foster hörte, an sie dachte oder sie sah.

Wenn das so weiterging, würde er noch einen Herzanfall bekommen! Und das alles wegen einer Frau. Einer dreisten, impulsiven und schönen Frau, die anscheinend ein Herz aus Gold hatte und fest an das Gute im Menschen glaubte.

Hoffentlich würde sich das eines Tages nicht bitter für sie rächen.

Eine Vorstellung, die auch noch seinen Beschützerinstinkt weckte. Seit wann war Haley ihm wichtig genug, um sie beschützen zu wollen? Tja, seit … fast von Anfang an. Schon bevor sie ihm nach Hause gefolgt war.

Abrupt blieb er stehen und gestand sich die Wahrheit ein: Haley war ihm wichtig.

Fragte sich nur, was er jetzt mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.

Er senkte den Kopf und klopfte sich, so gut es ging, den Staub von den Kleidern. Anschließend wusch er sich in der Spüle Gesicht, Hände und Arme. Eigentlich musste er dringend unter die Dusche und sich umziehen. Und er hatte sich immer noch nicht rasiert.

Irritiert griff er nach einem Küchenhandtuch und trocknete sich ab. Worüber sollte er bloß mit Haley reden? Vielleicht sollte er immer dann kauen, wenn ihm nichts einfiel. Das gab ihm dann etwas Zeit. Ja, das klang machbar. So jämmerlich es auch war.

Erleichtert, wenn auch nicht gerade glücklich über diese Lösung, nahm Gavin Geschirr und Besteck aus dem Schrank. Eine andere Option wäre, ihr selbst ein paar Fragen zu stellen. Es würde ihm zum Beispiel nichts ausmachen, ihre Lieblingsweihnachtserinnerung zu hören.

Keine schlechte Idee.

Noch immer ziemlich nervös, wenn auch nicht mehr so wie vorher, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Haley saß auf dem Sofa und sah aus, als fühle sie sich hundertprozentig wohl in ihrer Haut und in ihrer Umgebung … mit ihm. Sie war … zauberhaft. Das war das einzige Wort, das ihm einfiel. Keins, das er oft benutzte, aber es passte irgendwie zu ihr.

Sie trug ihr langes Haar heute offen, genau so, wie er es hatte sehen wollen. Ihre Augen leuchteten, und ihre Lippen waren … nicht rot, aber rosig. Etwas dunkler als ihre geröteten Wangen. Ihre Kleidung war schlicht: Sie trug eine Jeans und ein blassgrünes T-Shirt, das nicht zu locker und nicht zu eng saß.

Was sie jedoch so zauberhaft machte, war ihr Lächeln.

Noch nie in seinem Leben hatte Gavin ein solches Lächeln gesehen. Warm und aufrichtig und … lieb, könnte man sagen. Und keck, so albern dieses Wort auch war. Was um alles in der Welt sah diese Frau nur in ihm, dass sie ihm Mails schickte, ihm etwas zu essen vorbeibrachte und ihm neugierige Fragen stellte?

Oder mit diesem kecken Lächeln in seinem Wohnzimmer saß?

Alle auf ihn jetzt einstürzenden Fragen machten seine nur mühsam errungene Gelassenheit wieder zunichte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – irgendetwas –, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.

Er schluckte und zwang sich weiterzugehen, bevor Haley ihm womöglich noch seine Verlegenheit anmerkte. Oder eine Bemerkung dazu machte. Oder schlimmer noch, nichts sagte, ihn aber spüren ließ, dass ihr sein Zustand aufgefallen war.

Gott, er war ein Wrack!

Aufgewühlt. Verwirrt. Unrasiert. Ja, ein Wrack.

Plötzlich musste er unbedingt wissen, was hinter Haley Fosters seltsamem und völlig unverständlichem Verhalten steckte. „Warum bist du gekommen, Haley?“ Als er ihre sich erschrocken weitenden Augen sah, bereute er seine Frage sofort. „Sorry, das war unhöflich von mir, und eigentlich wollte ich dich das auch gar nicht fragen. Ich …“

„Es war eine impulsive Entscheidung“, fiel sie ihm ins Wort. Etwas flackerte in ihrem Blick auf – eine Gefühlsregung, die er nicht deuten konnte. Sie blinzelte verlegen, senkte den Kopf und starrte auf den Fußboden. „Tut mir leid, Gavin. Ich bin einfach hier reingeplatzt und …“ Abrupt stand sie auf, glättete ihre Jeans und zuckte die Achseln. „Ich sollte gehen. Du bist beschäftigt … Also gehe ich jetzt.“

Er musterte sie verblüfft. Dann fiel ihm etwas auf, das ihm bisher entgangen war: Sie war mindestens genauso nervös wie er. Die Entdeckung machte ihn sprachlos. Und plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen.

„Ich will nicht, dass du gehst“, versicherte er ihr hastig. „Ehrlich gesagt bekam ich gerade Hunger, als du an meiner Tür geklingelt hast. Und ich möchte lieber mit dir essen als mit sonst jemand anderem. Bitte bleib.“

„Ist das so?“, fragte sie leise. „Lieber als mit jemand anderem?“

„Ja.“

Ihre Wangenröte vertiefte sich, und ihr Lächeln kehrte zurück. „Ich esse auch lieber mit dir als mit jedem anderen … und alles andere auch. Falls du dich das fragst.“

Ihm stockte der Atem. Bevor er es sich anders überlegen konnte, ging er zum Sofa, setzte sich und klopfte auf das Polster, von dem sie gerade aufgestanden war. „Dann würde ich sagen, wir sind beide genau da, wo wir sein sollen. Lass uns anfangen.“

Haley nahm wieder Platz, und sie begannen zu essen. Gavin goss ihnen Limonade ein, und sie verteilte die Chips. Für eine Weile wechselten sie kein Wort miteinander, aber das Schweigen fühlte sich nicht unangenehm an. Gavin verspürte keine Notwendigkeit, die Stille zu vertreiben, hatte nicht das unangenehme Gefühl, etwas sagen zu müssen, das er sonst in der Gegenwart anderer Menschen empfand.

Es war viel leichter als gedacht.

Irgendwann wechselten sie doch ein paar Worte – über das Haus, die Renovierungsarbeiten, seinen Job im Baumarkt, ihren Job und dies und das. Nichts Bedeutsames, aber das Gespräch plätscherte angenehm dahin, ohne dass Gavin auch nur einmal ins Stocken kam. Er wusste selbst nicht, was los war, nur dass bei Haley anscheinend alles anders war.

Er war anders, wenn er mit ihr zusammen war.

Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie die Teller zusammen. „Tut mir wirklich leid, dass ich heute hier so reingeschneit bin“, wiederholte sie. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, so etwas nie wieder zu tun. Aber das geht nicht, das kann ich noch nicht mal mir vormachen.“

Er wollte schon antworten, dass das in Ordnung für ihn war, aber wenn sie schon so ehrlich zu ihm war, sollte er es auch ihr gegenüber sein. „Kein Problem, wenn es nicht zu oft vorkommt“, sagte er stockend. „Mir ist es lieber, wenn ich vorher Bescheid weiß.“ Unbehaglich veränderte er seine Sitzposition. Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen. „Ich bin nicht so spontan wie du, Haley. Ich möchte lieber vorbereitet sein.“

„Natürlich“, sagte sie ernst. Und vielleicht sogar ein bisschen traurig. „Ich hoffe, mein Auftauchen hier ist dir nicht allzu unangenehm. Ich bin halt … spontan und impulsiv. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, ziehe ich es einfach durch. Ich bin nicht der Typ, der alles von vorn bis hinten durchplant.“

„Warum nicht?“, fragte er. Es interessierte ihn wirklich. Er wollte nicht nur ihre Meinung hören, sondern auch ihre Beweggründe verstehen. Sie verstehen. „Wenn man die Dinge durchplant, weiß man genau, was auf einen zukommt. Dann gibt es keine bösen Überraschungen.“

„Hm, gute Frage.“ Sie verschränkte die Finger im Schoß. Wieder fiel ihm auf, wie nervös sie war. „Es ist ja nicht so, dass ich nichts plane. Bei der Arbeit gehe ich sehr methodisch vor, auch vor wichtigen Entscheidungen. Aber in den Momenten dazwischen eben nicht.“ Sie zuckte die Achseln. „Wenn man alles durchplant, ist man nicht offen für andere Möglichkeiten, und das fände ich furchtbar. Ich fände es furchtbar, dadurch etwas Großartiges zu verpassen.“

Autor

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<p>Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...
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