Bianca Extra Band 54

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PLÄDOYER FÜR UNSERE LIEBE von JUMP, SHIRLEY
Warum hat sie niemand gewarnt, was für ein Traummann dieser Walker Jones ist? Die junge Rechtsanwältin Lindsay hatte eine klare Strategie, um den Fall gegen ihn zu gewinnen. Aber als Walker sie nach dem ersten Prozesstag küsst, wird daraus ein sinnliches Plädoyer für die Liebe …

DAS FÜNFTE RENDEZVOUS von THOMPSON, NANCY ROBARDS
"Fünf Dates, dann habe ich die perfekte Frau für dich." Anna ist es leid, dass ihr bester Freund Jake immer auf denselben Frauentyp reinfällt - und jedes Mal enttäuscht wird. Er soll endlich glücklich werden! Aber Anna übersieht, dass nur eine die Wahre für ihn ist: sie selbst …

WAS MUSS ICH TUN, DAMIT DU BLEIBST? von SOUTHWICK, TERESA
Auch wenn ihr Herz bricht, Olivia kündigt. Denn Brady O’Keefe ist viel mehr als ein Boss für sie. Schon viel zu lange ist sie in ihn verliebt! Der Tycoon von Blackwater Lake dagegen scheint in ihr nicht die Frau zu sehen. Doch auf ihre Kündigung reagiert er unerwartet …

EIN DADDY FÜR HENRY von MADISON, TRACY
Die zarte Brünette, der süße Bengel an ihrer Seite - als die beiden sein Restaurant verlassen, tut es Dylan fast leid. Dann sieht er, dass sie in einem Auto auf dem Parkplatz schlafen: Er muss helfen! Auch wenn Mutter und Söhnchen morgen wieder aus seinem Leben verschwinden …


  • Erscheinungstag 13.02.2018
  • Bandnummer 0054
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733544
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Shirley Jump, Nancy Robards Thompson, Teresa Southwick, Tracy Madison

BIANCA EXTRA BAND 54

SHIRLEY JUMP

Plädoyer für unsere Liebe

„Stell dir vor, wir wären keine Gegner vor Gericht.“ Leise flüstert Walker Jones es der hinreißenden Anwältin Lindsay zu. Und ihre glühenden Wangen verraten ihm, woran sie denkt. Liebe – lebenslänglich …

NANCY ROBARDS THOMPSON

Das fünfte Rendezvous

Wie konnte das nur passieren? fragt sich Jake. Plötzlich begehrt er Anna, seine beste Freundin seit Schultagen! Sie ist sexy – aber eine Affäre könnte ihre Freundschaft für immer zerstören …

TERESA SOUTHWICK

Was muss ich tun, damit du bleibst?

Sie kündigt, weil sie zu ihrem neuen Freund in eine andere Stadt ziehen will? Das geht doch nicht! Solange Brady denken kann, war Olivia ein Teil seines Lebens! Kann er denn nichts tun, damit sie bleibt?

TRACY MADISON

Ein Daddy für Henry

Gestrandet in einer fremden Stadt, der Wagen kaputt, ihr kleiner Sohn traurig: Chelsea ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Doch ihr Stoßgebet bringt ihr einen Engel – in Gestalt eines attraktiven Mannes …

1. KAPITEL

Die Mutter von Walker Jones III. erzählte gern jedem, der es hören wollte, dass ihr ältester Sohn mit einem Hang zum Debattieren auf die Welt gekommen war. Er diskutierte ständig über alles, von der Farbe des Himmels bis zur Temperatur im Raum.

In dieser Hinsicht glich er seinem Vater. Daher war es nicht verwunderlich, dass er in der Chefetage des Familienunternehmens Jones Holdings, Inc. in dessen Fußstapfen getreten war.

Walker Jones II. war ein hartgesottener Geschäftsmann, doch sein fortgeschrittenes Alter zwang ihn, beruflich kürzerzutreten.

Walker Jones III. hatte also die Führung des Betriebs übernommen und dessen Größe und Einfluss verdoppelt.

Nun hatte sein Drang, die ganze Welt zu erobern, ihn zu einem Abstecher in das beschauliche Landleben von Montana gezwungen, da es dort die Interessen eines Unternehmenszweiges zu vertreten galt.

Durch seine Augen als eingefleischter Stadtmensch waren Rust Creek Falls und der benachbarte Gerichtsort Kalispell typische Vertreter der dörflichen Idylle, die er sonst mied.

Daher hatte er anlässlich der dortigen Eröffnung seines ersten Kindergartens namens Just Us Kids Day Care vor einigen Monaten so wenig Zeit wie möglich dort verbracht. Eigentlich hatte er nur die Tür aufgeschlossen und seinen Bruder Hudson, der aus unerfindlichen Gründen Gefallen an dem Nest fand, zum Geschäftsführer ernannt.

Auch diesmal beabsichtigte Walker nicht, sich für längere Zeit in Rust Creek Falls aufzuhalten. Gerade lange genug, um ein ärgerliches Gerichtsverfahren und eine Anwältin namens Lindsay Dalton abzufertigen. Sie war frisch von der juristischen Fakultät in die Kanzlei ihres Vaters eingestiegen, der ihr diesen Fall vermutlich trotz mangelnder Fachkompetenz zugeschustert hatte. Insofern war Walker recht zuversichtlich, dass er die ganze Sache schnellstens abwickeln und in die Unternehmenszentrale in Tulsa zurückkehren konnte.

An einem Freitagmorgen betrat er also den Gerichtssaal in Kalispell in der Annahme, bei Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein.

Er zog seinen Kaschmirmantel aus, hängte ihn ordentlich auf seine Stuhllehne und nahm am Tisch des Beklagten Platz. Er legte einen Notizblock mittig vor sich, einen Aktenordner zur Linken und einige Kugelschreiber ordentlich ausgerichtet zur Rechten. Es waren Requisiten, die der Klägerpartei seine Kampfbereitschaft signalisieren sollten.

Sein Anwalt, Marty Peyton, der jahrzehntelange Gerichtserfahrung besaß, kam herein und setzte sich neben ihn.

„Das Eilverfahren durchzuboxen dürfte ein Kinderspiel sein“, prophezeite Walker. „Die Vorwürfe sind total unbegründet.“

„Das würde ich nicht unbedingt sagen.“ Marty schob sich die Brille hoch und strich sich durch das kurze weiße Haar. „Wenn Lindsay Dalton nach ihrem Vater kommt, ist sie eine brillante Anwältin.“

Walker winkte ab. Er pflegte es mit weit eindrucksvolleren Kontrahenten als einer unerfahrenen Provinzanwältin aufzunehmen.

„Außerdem geht es um kranke Kinder. Da haben Sie von vornherein die öffentliche Meinung gegen sich.“

„Nur um ein krankes Kind. Sie vertritt lediglich eine einzige Familie. Außerdem werden Kinder ständig krank. Sie sind praktisch lebende Bakterienfabriken.“

Marty schürzte die Lippen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Hoffentlich haben Sie recht. Diese Art von negativer Publicity können Sie nicht gebrauchen. Vor allem nicht, da Sie in diesem Jahr die Eröffnung fünf weiterer Kindergärten geplant haben.“

„Es wird schon gut gehen. Wir schaffen uns diese Anwältin und ihre lächerliche Klage im Handumdrehen vom Hals.“ Walker wandte den Kopf, als die Tür aufging und seine Widersacherin hereinkam.

Lindsay Dalton entsprach nicht seiner Erwartung. Nicht einmal annähernd. Angesichts des prägnanten Umgangstons ihrer Briefe und Sprachnachrichten hatte er den Typ Bibliothekarin erwartet: zugeknöpft und streng, mit Nickelbrille und farb- sowie formloser Kleidung.

Stattdessen sah sie aus wie ein Model. Sie war schlank und hochgewachsen und sehr ansehnlich gekleidet im perlgrauen Schneiderkostüm zur Seidenbluse in Pink, deren oberste Knöpfe offen standen. Ganz zu schweigen von atemberaubenden High Heels und unglaublich langen Beinen. Kurzum: Sie war faszinierend.

Ihre langen braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, Ponyfransen fielen ihr frech in die Stirn. Eine Spur Make-up betonte große blaue Augen.

Sie lächelte ihre Mandanten an – ein junges Paar, das offensichtlich seinen Sonntagsstaat trug.

Und dieses Lächeln ging ihm unter die Haut. Es war blendend, umwerfend, überwältigend. Heiliger Bimbam!Das ist Lindsay Dalton?“

Marty zuckte die Achseln. „Ich nehme es an. Ein hübsches Mädchen.“

„Gutes Aussehen macht sie nicht zu einer guten Anwältin.“

Ohne die Gegenseite eines Blickes zu würdigen, durchquerte sie den Gerichtssaal und setzte sich zu ihren Mandanten. Sie drehte sich zum Zuschauerraum und winkte mit den Fingern einem Baby, das auf dem Schoß einer älteren Frau saß.

Es gurrte.

Lindsay hielt sich eine Hand vor die Augen, öffnete die Finger und flüsterte: „Kuckuck.“

Das Baby krähte entzückt.

Sie wiederholte den Akt zwei Mal, bevor sie sich zum vorderen Teil des Gerichtssaals umdrehte.

Walker wusste, dass die Anwesenheit des Babys und dieses alberne Spielchen sorgfältig inszeniert waren, um Sympathiepunkte einzuheimsen.

Die Tür hinter dem Richtertisch öffnete sich; alle Anwesenden erhoben sich.

Richter Sheldon Andrews betrat den Saal. Er war klein, bebrillt und ein wenig dicklich. Er blickte sich um, nickte knapp und nahm seinen Platz ein. „Sie dürfen sich setzen.“

Und damit begann die Anhörung.

Diesen Teil mochte Walker am liebsten, ob in einem Gerichtssaal oder einem Konferenzraum. Stets verspürte er ein erwartungsvolles Flattern im Bauch, wenn eine Verhandlung anfing.

Richter Andrews wandte sich an Marty. „Wir sind hier aufgrund eines Antrags auf Eilverfahren bezüglich der von Ms. Dalton im Namen von Peter und Heather Marshall eingereichten Klage. Richtig?“

„Ja, Euer Ehren.“

„Dann erteile ich Ihnen das Wort, Mr. Peyton.“

„Danke, Euer Ehren.“ Marty stand auf. „Dieser Prozess gegen Mr. Jones’ Tagesstätte ist reine Zeitverschwendung. Die Klage entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Es gibt keinerlei Indiz dafür, dass sich das Kind der Kläger die gewöhnliche Erkältung bei Just Us Kids zugezogen hat. Krankheitserreger sind eine Gegebenheit des Lebens und befinden sich überall. Die Marshalls könnten sie selbst in ihr Haus gebracht haben. Dazu braucht es nur Kontakt mit einer infizierten Oberfläche an einem öffentlichen Ort oder ein Niesen von einem Fremden. Sicherlich kann man Mr. Jones’ Tagesstätte nicht verantwortlich machen für die Unfähigkeit der Welt, zur rechten Zeit ein Kleenex parat zu halten.“

Diese letzte Phrase schien den Richter zu amüsieren. Der Hauch eines Schmunzelns huschte über sein Gesicht.

„Euer Ehren“, fuhr Marty fort, „es besteht keinerlei Anlass, ein Tageszentrum zur Rechenschaft zu ziehen, wenn ein Kind sich erkältet. Daher ersuchen wir das Gericht, in einem Eilverfahren zugunsten des Beklagten zu urteilen und die unbegründete Klage abzuweisen.“

Richter Andrews wandte sich an die Gegenpartei. „Ms. Dalton?“

Sie stand auf, strich mit einer Hand ihre Kostümjacke glatt und atmete tief ein, wie um ihre Mitte zu finden.

Sie ist nervös. Sehr gut! Walker war sich seines Sieges sicher.

„Euer Ehren, Mr. Peyton bagatellisiert die Umstände. Es handelt sich keineswegs um eine gewöhnliche Erkältung. Wir werden nachweisen, dass Mr. Jones’ Tagesstätte grob fahrlässig in puncto Hygiene gehandelt hat, was zu einer lebensbedrohlichen RSV-Infektion bei der damals drei Monate alten Georgina geführt hat. Die Marshalls haben die Einrichtung mit der Fürsorge für ihr über alles geliebtes Kind betraut, nur um an seinem Krankenbett zu enden und um sein Leben beten zu müssen.“

Marty erhob sich. „Euer Ehren, RSV ist eine Atemwegsinfektion, die von Husten und Schnupfen gekennzeichnet ist. Genau wie eine gewöhnliche Erkältung.“

„Georgina hat nichts mehr gegessen“, konterte Lindsay. „Sie hat zwei Pfund verloren, was einen dramatischen Gewichtsverlust bei einem Baby ihrer Größe darstellt. Das behandelnde Krankenhaus hat die Krankheit nicht als gewöhnliche Erkältung abgetan, sondern als lebensbedrohlich bezeichnet.“ Sie starrte direkt zu Walker hinüber. „Eine lebensbedrohliche Krankheit, die durch Mr. Jones’ Nachlässigkeit verursacht wurde.“

Als ob ich persönlich dafür verantwortlich wäre, Abend für Abend die Fußböden zu schrubben und die Spielzeuge zu desinfizieren! Vielmehr war er mit der Wahrung der umfangreichen Geschäftsinteressen von Jones Holdings, Inc. hinreichend ausgelastet und hatte bisher kaum einen Fuß in die Tagesstätte in Rust Creek Falls gesetzt. Er hatte seinem Bruder Hudson und einer qualifizierten Kindergärtnerin die Leitung übertragen und zweifelte nicht daran, dass bei Just Us Kids alles so glatt lief wie bei einem Schweizer Uhrwerk.

Ms. Dalton fuhr fort: „Euer Ehren, ich ersuche Sie, das Krankenblatt zu lesen, das ich eingereicht habe. Daraus geht hervor, dass die Marshalls um ein Haar ihr einziges kostbares Kind verloren hätten.“

Marty sprang auf. „Einspruch, Euer Ehren! Die Wortwahl der Verteidigung ist höchst unsachlich. Alle Kinder sind kostbar. Bei allem Respekt vor den Marshalls ist ihr Kind nicht kostbarer als jedes andere.“

„Stattgegeben. Ms. Dalton, halten Sie sich bitte an die Fakten.“

„Die Fakten sind eindeutig, Euer Ehren“, erwiderte Lindsay. „Das Baby der Marshalls hat sich mit RSV infiziert – als unmittelbares Resultat ihres Aufenthalts in Mr. Jones’ Tagesstätte. Ebenso wie viele andere Kinder …“

„Dieses Verfahren befasst sich nur mit den Marshalls“, unterbrach Walker. „Es handelt sich nicht um eine Sammelklage.“

Sie fixierte ihn mit finsterem Blick. „Die Marshalls wollen nur Gerechtigkeit für das schwere Leid, das ihrer Tochter zugefügt wurde.“

Die wollen doch bloß einen großzügigen Vergleich, damit sie nie wieder arbeiten müssen. Walker hatte genug von Leuten, die das Rechtssystem benutzten, um schnelles Geld zu machen. „Das Kind ist jetzt gesund“, sagte er zu dem Richter, obwohl Marty versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. „Es war eine kurze Krankheit, und festzustellen, wo das Kind sich angesteckt hat, gleicht der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Es kann unmöglich meine Tagesstätte dafür verantwortlich gemacht werden.“

Der Richter blickte ihn streng an. „Mr. Jones, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Argumentation Ihrem Anwalt überließen. Sie sind hier und heute nicht als Zeuge geladen.“

„Ich entschuldige mich für das ungebührliche Verhalten meines Mandanten, Euer Ehren“, erwiderte Marty. „Es liegt nur daran, dass die Vorwürfe gegen ihn so offensichtlich unbegründet sind. Deswegen beantragen wir, die Klage abzuweisen, bevor noch mehr Zeit des Gerichts verschwendet wird.“

Richter Andrews nickte bedächtig und blätterte in den Papieren vor sich. Beide Anwälte nahmen Platz und warteten auf seinen Spruch.

Nach außen hin gab Walker sich gelassen, obwohl eine Niederlage einen schweren Rückschlag für sein Unternehmen bedeutet hätte. Jones Holdings, Inc. war stabil genug, um eine kleine Schlappe wegzustecken. Allerdings stand sein Traum von einer Kindergartenkette auf dem Spiel. Er war sich nicht sicher, ob Just Us Kids Day Care die anhaltende negative Publicity verkraften konnte, falls der Antrag auf Eilverfahren abgewiesen wurde.

Lindsay Dalton hielt die Beine übereinandergeschlagen. Ihr rechter Fuß wippte in einem nervösen Rhythmus unter dem Tisch. Sie flüsterte Heather Marshall etwas zu, die mit Tränen in den Augen nickte.

Ob die Tränen echt waren oder nur Effekthascherei, vermochte Walker nicht zu entscheiden. Er hatte in seiner beruflichen Laufbahn schon so viele vorgetäuschte Gefühle erlebt, dass ihn ein paar Krokodilstränen nicht länger rührten.

Richter Andrews räusperte sich und blickte von den Papieren auf. „Nach Auffassung des Gerichts liegen dennoch genügend Indizien vor, um diesen Fall zur Verhandlung zu bringen. Leider kann ich den ursprünglich dafür vorgesehenen Termin in vier Wochen nicht wahrnehmen. Zu den Freuden des Alterns gehört für mich ein neues Knie, und ich weiß nicht, wie lange die OP mich außer Gefecht setzen wird. Dank eines glücklichen Zufalls hat sich aber eine unerwartete Lücke in meinem Terminkalender ergeben, sodass ich die Hauptverhandlung am nächsten Dienstag eröffnen werde.“

Lindsay Dalton sprang auf. „Einspruch, Euer Ehren! Ich brauche mehr Zeit, um mich angemessen vorbereiten zu …“

„Nach meiner Einschätzung sind Sie hinreichend vorbereitet. Die Eröffnungsplädoyers werden für Dienstag, neun Uhr, festgelegt. Es sei denn, Sie und Ihre Mandanten wollen diesen Prozess unnötig in die Länge ziehen?“

Die Marshalls schüttelten die Köpfe, und Lindsay nahm wieder Platz.

„Gut. Das Gericht vertagt sich.“ Er schlug mit dem Hammer auf den Tisch und erhob sich.

Alle Anwesenden standen auf und warteten, bis der Richter den Saal verlassen hatte. Die Anwälte sammelten ihre Papiere ein.

Walker beugte sich zu Marty. „Das ist nur ein temporärer Rückschlag.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Sie mag zwar neu sein, aber wir werden uns ranhalten müssen.“

„Keine Sorge, das wird ein Kinderspiel.“

Die Marshalls gingen an ihm vorbei, Händchen haltend und mit Tränen in den Augen. Sie wirkten nicht wie Schmarotzer, die aus einer unbegründeten Klage Kapital zu schlagen versuchten. Und Lindsay Dalton wirkte nicht wie eine unfähige, von ihrem Vater protegierte Provinzanwältin, sondern eher wie eine nette Person mit strengen Prinzipien, die aus Überzeugung für Gerechtigkeit eintrat und die Welt verbessern wollte.

Aber Walker wusste es besser. Sie war nicht vor Gericht erschienen, um sich lieb und nett zu verhalten, und er beabsichtigte nicht, sie gewinnen zu lassen.

Selbst wenn die Terminänderung meine Pläne durchkreuzt und die Wahrscheinlichkeit sehr, sehr groß ist, dass ich wesentlich länger als beabsichtigt in Rust Creek Falls ausharren muss

Die Spiegelwand hinter den Tresen im Ace in the Hole reflektierte mehr als nur die Schnapsflaschen auf dem Regal. Sie führte Lindsay Dalton ihre niedergeschlagene Miene vor Augen. Obwohl sie den Gerichtssaal schon vor Stunden verlassen hatte, fühlte sie sich noch immer aufgewühlt und gestresst. Sie hatte zwar einen kleinen Etappensieg davongetragen, doch das war erst der Anfang, und ihr Gegner war nicht der, den sie erwartet hatte.

Bei ihren Recherchen über Walker Jones war sie auf einen älteren Gentleman gestoßen, der schon fast im Pensionsalter war und ein leichter Gegner zu sein schien. Ganz eindeutig hatte sie ihre Hausaufgaben nicht gut genug gemacht, denn der Mann, der stattdessen im Gerichtssaal aufgetaucht war, sah weder alt noch zerbrechlich aus. Er war jung und dynamisch, ansehnlich und … beeindruckend.

Ja, das war genau das richtige Wort, um Walker Jones III. zu beschreiben. Beeindruckend. Er strahlte ein unbekümmertes Selbstvertrauen aus. Seine Attitüde vermittelte den Eindruck, dass er genau wusste, was er tat, und es nicht gewohnt war zu verlieren.

Sie dagegen war eine frischgebackene Anwältin aus einer Kleinstadt. Sie besaß Überzeugung und Passion, aber das reichte womöglich nicht gegen sein weltmännisches Auftreten, gepaart mit der Erfahrung eines Spitzenanwalts aus der Großstadt.

„Du siehst aus, als könntest du das gebrauchen.“ Lindsays Schwester Lani schob ein Glas Chardonnay über den Tresen. Sie half von Zeit zu Zeit in der Bar aus. Lani strahlte ein solches Glück aus, seit sie sich vor gut einem Jahr in Russ Campbell verliebt hatte, mit dem sie nun auch verlobt war.

„Danke. Ich habe gar nicht erwartet, dich heute hier anzutreffen.“

„Annie hat ein Date, und ich bin für sie eingesprungen.“

Annie gehörte als erfahrene Barkeeperin zum Stammpersonal des Ace in the Hole, der beliebtesten Kneipe in Rust Creek Falls. Mit Pferdestangen draußen und Neon-Bierreklamen drinnen bot das Lokal eine heimelige Atmosphäre, in der die Gäste sich gemütlich mit Freunden unterhalten und sogar eine flotte Sohle vor der Jukebox aufs Parkett legen konnten.

Da es noch früh an einem Freitagabend war, herrschte wenig Betrieb. Ein Pärchen saß in eine Nische gekuschelt, vier Männer diskutierten an einem Tisch über die letzten Footballspiele, einige Stammgäste sahen sich am anderen Ende des Tresens eine Sportsendung im Fernsehen an.

„Also, wie ist es bei Gericht gelaufen?“, erkundigte sich Lani.

„Ich habe gewonnen.“ Lindsay grinste. „Es ging zwar nur um die Entscheidung, ob ich eine berechtigte Klage eingereicht habe, aber es ist trotzdem ein schönes Gefühl.“

„Wenn ich an unsere zahlreichen Streits früher denke, bezweifle ich nicht, dass du eine großartige Anwältin abgibst.“ Lani wischte einen Wasserfleck vom Tresen. „Ich habe vorhin mit Daddy gesprochen. Er ist stolz wie ein Gockel. Es wundert mich, dass er keine Plakatwand mit dem Richterspruch aufgestellt hat.“

Lindsay lachte. Ihr Vater Ben war unverhohlen stolz auf sie, seit sie beschlossen hatte, in seine Fußstapfen zu treten. „Es ist eine wirklich unbedeutende Entscheidung. Die Hauptverhandlung steht erst bevor. Mir bleiben nur ein paar Tage bis zum Eröffnungsplädoyer.“ Sie atmete tief durch. „Ich bin verdammt nervös.“

„Wieso denn? Du bist eine großartige Anwältin.“

„Aber ich habe das Studium erst vor ein paar Monaten beendet. Meine Erfahrung beschränkt sich auf total belanglose Fälle wie die Frage, ob George Lamberts Eiche auf Lee Reynolds Kartoffelfeld übergreift und wem das Eigentumsrecht für einen Zwergspitz gebührt.“ Weil sie noch so neu in der Kanzlei ihres Vaters war, übertrug er ihr im Allgemeinen die leichteren Fälle, damit sie in dem Metier erst einmal Fuß fassen konnte.

„Die du alle mit Bravour gewonnen hast.“

Lindsay seufzte. Sie war Anwältin geworden, weil sie in ihrer Heimatstadt etwas bewirken wollte. Bisher hatte sie nur für einen Hund und einen Garten etwas erreicht. Ob sie der Herausforderung gewachsen war, die Marshalls zu vertreten, wusste sie noch nicht. Doch sie hatte das aufgelöste Paar nicht abweisen können. Sie mochte unerfahren sein, aber sie brannte leidenschaftlich für Gerechtigkeit.

„Eins zu null für die Kartoffeln“, scherzte sie. „Jetzt mal im Ernst: Der gegnerische Anwalt ist sehr gewieft. Und der Inhaber der Tagesstätte ist genauso smart und dazu verdammt hübsch.“

Lani zog eine Augenbraue hoch. „Hübsch?“

Habe ich das wirklich gesagt? Gütiger Himmel! „Ich meinte attraktiv“, korrigierte Lindsay sich hastig, doch das klang auch nicht viel besser. Sie suchte nach einer Beschreibung, die nicht vermuten ließ, dass er sie faszinierte. Denn das war nicht der Fall. Selbst wenn er seinen blauen Nadelstreifenanzug ausfüllte wie ein Model für Brooks Brothers. Er war für sie der Feind und ein verantwortungsloser Geschäftsinhaber. „Auf eine verwirrende Weise. Das könnte den Richter beeinflussen.“

„Richter Andrews? Geht der nicht auf die hundert zu?“

„Nun, ja, aber …“ Lindsay leerte ihr Glas und schob es Lani hin. „Kriege ich Nachschub?“

„Ist das deine neueste Methode, das Thema zu wechseln?“

„Ja. Nein. Vielleicht.“

„Ich fürchte, das nützt dir nichts.“

„Sag bloß nicht, dass du mir eine Million Fragen über den Typ stellen willst! Ich möchte ihn total vergessen, bis ich ihn nächste Woche vor Gericht wiedersehen muss.“

„Das wirst du nicht schaffen.“ Lani schob das nachgefüllte Glas zurück. „Da kommt nämlich gerade ein Mann reinspaziert, der wie der sexy Betreiber eines Kindergartens aussieht.“

Lindsay wirbelte herum. Walker Jones III. betrat tatsächlich den Gastraum. Er trug noch den Nadelstreifenanzug und den Kaschmirmantel aus dem Gerichtssaal und wirkte wie jemand, der feindliches Gebiet erobern wollte. „Was will der denn hier?“

„Wahrscheinlich etwas trinken wie der Rest von Rust Creek Falls. In diesem Kaff gibt es schließlich kaum Alternativen.“

„Warum ist er überhaupt hier? Warum ist er nicht in Kalispell geblieben oder noch besser in seinen Sarg zurückgekehrt?“

„Wieso Sarg?“

„Nur Vampire sind so hübsch und ruchlos.“

Lani schmunzelte und rückte zur Tresenmitte, als Walker sich näherte. „Willkommen im Ace in the Hole. Was darf ich Ihnen bringen?“

„Woodford Reserve, auf Eis.“

„Den haben wir leider nicht. Aber ich kann Ihnen eine breite Auswahl an Bieren anbieten.“

„Dann Ihr bestes Craft Beer, bitte.“

„Kommt sofort.“

Nach außen hin gelassen nippte Lindsay an ihrem Glas und gab vor, ihn nicht zu bemerken. In Wirklichkeit raste ihr Herz, und sie sah aus den Augenwinkeln nichts anderes als ihn. Über eins achtzig groß, mit dunkelblonden Haaren und blauen Augen beherrschte er den Raum um sich her.

Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass Georgina und viele andere Kinder durch seine verantwortungslose Geschäftspraktik erkrankt waren. Was wäre, wenn es die Stockton-Drillinge erwischt hätte? Die mutterlosen Frühlinge beanspruchten selbst in gesundem Zustand eine ganze Schar freiwilliger Helfer. Der RSV-Ausbruch hätte wesentlich schwerer wiegende Konsequenzen nach sich ziehen können.

„Frau Anwältin“, murmelte Walker jetzt mit einem knappen Kopfnicken.

„Mr. Jones. Schön, Sie wiederzusehen.“ Die Begrüßungsfloskel ging ihr über die Lippen, bevor sie sich zurückhalten konnte. Es war eine Art masochistischer Automatismus. Es ist überhaupt nicht schön, ihn wiederzusehen. Ganz und gar nicht.

Lani stellte ihm ein Bier hin. „Zum Wohl. Soll ich es aufschreiben?“

„Ja, bitte. Ich denke, ich bleibe eine Weile.“

Lindsays Glas war noch fast voll, aber auf keinen Fall wollte sie neben ihm sitzen bleiben. Sie fischte ein paar Geldscheine aus der Tasche und legte sie auf den Tresen. „Danke, Lani. Man sieht sich.“

Als sie sich zum Gehen wandte, fasste Walker sie am Arm. Eine flüchtige Berührung, nichts weiter, doch seine Hand schien ihre Haut zu versengen. „Gehen Sie nicht, nur weil ich hier bin. Sicherlich können wir uns beide in einem Lokal voller Leute aufhalten.“ Er blickte sich um. „Oder besser gesagt: in einem Lokal mit elf Personen.“

„Nehmen Sie es immer so genau?“

„Machen Sie es einem immer so schwer, sich mit Ihnen anzufreunden?“

Sie blickte ihn finster an. „Wir brauchen nicht befreundet zu sein. Wir stehen auf gegnerischen Seiten.“

„Im Gerichtssaal, ja. Außerhalb können wir uns wenigstens zivilisiert verhalten, oder?“

„Natürlich.“

„Mehr erwarte ich gar nicht. Also bleiben Sie, und tun Sie so, als würde ich gar nicht existieren.“

„Das ist mir ein Vergnügen.“

Das brachte ihn zum Lachen. Es klang angenehm in ihren Ohren, dunkel und kräftig und erfrischend wie eine köstliche Tasse Kaffee am Morgen.

„Sie sind ganz anders, als ich erwartet hatte, Ms. Dalton.“

„Sie auch.“ Sie drehte den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. „Offen gesagt hatte ich Ihren Vater erwartet.“

„Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe.“ Er grinste. „Ich werde mich bemühen, es nicht wieder zu tun.“

Oh, ich bin alles andere als enttäuscht. Beinahe hätte sie den absurden Gedanken laut ausgesprochen. Was hatte dieser Mann nur an sich? Waren es seine Augen, die ihren Blick gefangen hielten und ihr das Gefühl gaben, die wichtigste Person im Raum zu sein? War es die Berührung seiner kräftigen Hand, die einen unauslöschlichen Eindruck auf ihrer Haut zu hinterlassen schien? Oder war es seine tiefe Stimme, die sie davon träumen ließ, dass er ihr des Nachts Zärtlichkeiten zuflüsterte?

Er war der Feind. Ein böser Mensch, der nur auf seinen Profit bedacht war. Andererseits passte sein Auftreten so gar nicht zu dieser Beschreibung. Er wirkte nett. Sogar freundlich. Wie konnte er derselbe Mann sein, der eine schlampige Kindergartenkette betrieb?

Walker griff zu seinem Bier und nickte ihr zu. „Damit lasse ich Sie allein mit Ihrem Wein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Ms. Dalton.“ Er durchquerte den Gastraum, setzte sich an einen leeren Tisch und hängte seinen Mantel über eine Stuhllehne.

Eine Gruppe junger Frauen kam mit einem Schwall kühler Abendluft und einer Lachsalve herein und versperrte Lindsay den Blick auf Walker. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, über eine seiner Bemerkungen zu grübeln.

Ich werde mich bemühen, es nicht wieder zu tun. Was wollte er damit sagen? Sie war überzeugt, dass es doppeldeutig gemeint war und dass er eine Frau nur selten enttäuschte – in jeder erdenklichen Hinsicht.

2. KAPITEL

Walker wusste nicht, warum er in dem Lokal blieb. Oder warum er sich so viel Zeit mit seinem Bier ließ. Oder warum sein Blick immer wieder zu Lindsay Dalton glitt.

Er redete sich ein, dass es an seiner Überraschung über ihre Freizeitkleidung lag – Jeans, Cowboystiefel und eine blaue Hemdbluse mit hochgerollten Ärmeln. Die enge Hose umschmiegte ihre Schenkel, betonte die Rundung ihres Pos und ließ Walker das Atmen vergessen. Im Geist sah er sie in nichts als den Cowboystiefeln vor sich.

Das war kontraproduktiv. Sie vertrat die Gegenseite in einem Verfahren, dessen Ausgang sich entscheidend auf die Zukunft seiner Tagesstätten auswirken würde. Diese Sparte mochte nur ein winziges Stück von dem großen Kuchen Jones Holdings, Inc. ausmachen, aber Walker war ein Mensch, der nicht gern verlor.

Das Lokal begann sich zu füllen. Ihm fiel auf, dass die Gäste ihm feindselige Blicke zuwarfen – entweder weil er ein Außenseiter war oder weil sich die Sache mit dem Prozess herumgesprochen hatte. Lindsay wurde von allen Seiten wärmstens begrüßt, während ihm Eiseskälte entgegenschlug. Die Leute von Rust Creek Falls stellen eine Wagenburg um eine aus ihren Reihen auf.

Eigentlich hatte Walker direkt nach der Anhörung nach Tulsa zurückfliegen wollen. Da die Hauptverhandlung jedoch schon in wenigen Tagen beginnen sollte, wollte er bleiben. Denn es konnte sich von Vorteil erweisen, die Einheimischen kennenzulernen und vielleicht sogar einige von ihnen auf seine Seite zu ziehen, um der Lynchjustiz entgegenzuwirken, die Lindsay Dalton womöglich anzuzetteln versuchte.

Das Wohlwollen der Ortsansässigen zu erringen gehörte zu seinem Gesamtkonzept, um den Prozess zu gewinnen und das Städtchen als Held und nicht als Inkarnation des Bösen zu verlassen, zu der Lindsay ihn machte.

Er kehrte an den Tresen zurück und sagte zu der Barkeeperin: „Ich möchte eine Runde bestellen.“

Die schlanke Brünette sah Lindsay so ähnlich, dass er auf Verwandtschaft zwischen den beiden tippte. Vor allem in einem so kleinen Ort.

„Gern. Für wen?“

„Für alle. Ich bin neu hier und denke, es ist ein netter Weg, mich vorzustellen.“

„Ach, Sie wollen den Leuten weismachen, dass Sie ein netter Mensch sind?“, warf Lindsay ein.

„Ich bin wirklich ein netter Mensch. Meine Großmutter und meine Klassenlehrerin in der Dritten haben mir das bestätigt.“ Er grinste sie an. „Sie haben mir nur noch keine Chance gegeben, es Ihnen zu zeigen.“

„Und Sie glauben, dass ein Freibier mich umstimmen kann?“

Er beugte sich so nahe zu ihr, dass er einen Hauch ihres Parfums auffing, das zu seiner Überraschung verführerisch sinnlich roch. Ich wünschte, es wäre so einfach, sie umzustimmen! Hätten sie sich unter anderen Umständen kennengelernt, hätte er sein Glück bei ihr versucht. Sie war umwerfend feurig, und er war fasziniert. „Wenn dem so wäre, würde ich Sie zu einem ganzen Kasten einladen.“

„Ich lasse mich nicht so leicht kaufen, Mr. Jones.“

„Dann nennen Sie mir Ihren Preis, Ms. Dalton.“

Sie fixierte ihn mit einem harten Blick. „Ein Schuldeingeständnis und deutliche Verbesserungen in der Führung Ihres Unternehmens.“

Sieh mal einer an! Die Anwältin kämpft genauso gern wie ich. Es gab nichts, was Walker mehr liebte als eine Herausforderung. Er wandte sich an die Barkeeperin. „Eine Lokalrunde bitte, Miss …?“

„Lani. Lani Dalton.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Schwester von Lindsay.“

Das erklärte die Ähnlichkeit und die abwehrende Körperhaltung. Er hatte also bereits zwei erklärte Feinde in Rust Creek Falls. Doch das kümmerte ihn nicht sonderlich. Schließlich beabsichtigte er nicht, länger als nötig zu bleiben.

Wenn er erst einmal fort war, interessierte es ihn nicht mehr, was die Leute von ihm dachten – solange der Prozess gewonnen und der gute Ruf von Just Us Kids wiederhergestellt war. Also musste er die öffentliche Meinung über seine Person nur für die Dauer seines Aufenthalts beeinflussen.

Er legte ein freundliches Lächeln auf und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Lani. Ich bin Walker Jones, der Besitzer von Just Us Kids.“

„Der Ruf Ihrer Tagesstätte ist sehr angeschlagen, nachdem diese Kinder so schwer erkrankt sind.“

Er behielt seine freundliche Miene bei. „Ein unglücklicher Vorfall, allerdings. Ich hoffe, man wird bald einsehen, dass ich als verantwortungsvoller Betreiber gekommen bin, um die Sache in Ordnung zu bringen.“

Neben ihm stieß Lindsay ein verächtliches Schnauben aus; er ignorierte es.

Die Umstehenden machten keinen Hehl daraus, dass sie den Schlagabtausch zwischen ihm und den Dalton-Schwestern mit großem Interesse verfolgten. Er sah an den aufgebrachten Blicken und der Körpersprache der Dorfbewohner, dass sie am liebsten mit Mistgabeln auf das böse Ungeheuer aus dem Kindergarten losgegangen wären.

Wenn sie glauben, mich einschüchtern zu können, sind sie auf dem Holzweg. Er hatte in seinem Berufsleben weit größere Herausforderungen gemeistert. Sich in diesem winzigen Nest zu behaupten war für ihn ein Kinderspiel. Er wollte auf die Einheimischen zugehen, sich bei ihnen beliebt machen und letztendlich das tun, was er immer tat: gewinnen.

Er verstand es, mit Leuten umzugehen. Er musste nur vorgeben, einer von ihnen zu sein. Sich charmant, sanft und freundlich geben. Seine letzte Freundin hatte ihm vorgeworfen, herzlos zu sein. Womöglich hatte sie recht. Doch er konnte durchaus vortäuschen, ein großes Herz zu haben.

Er drehte sich zum Gastraum um und rief: „Hey, Leute! Ich bin Walker Jones, Hudsons älterer Bruder und ja, der Besitzer von Just Us Kids. Ich bin gekommen, um die Dinge zu klären und Sie davon zu überzeugen, dass wir eine hochwertige Einrichtung führen. Doch zunächst einmal möchte ich Ihnen allen dafür danken, dass Sie mich so warmherzig in Ihrem schönen Städtchen empfangen.“

Kalte Blicke begegneten ihm. Ein Mann verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte verächtlich. Eine Frau schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

Er vertiefte sein Lächeln und gab sich so ungezwungen wie ein neuer Nachbar. „Und ich weiß keinen besseren Weg, um Ihnen allen für Ihre Gastfreundschaft zu danken, als mit einer Runde auf mich.“

Verhaltene Zustimmung ertönte in einer Ecke.

Er hielt eine Hand hoch. „Ich weiß natürlich, dass ein paar Drinks nicht viel ändern. Ich möchte einfach nur Danke sagen. Und wenn jemand Fragen hat, soll er zu mir kommen. Ich möchte die Einwohner von Rust Creek Falls gern kennenlernen.“

Wie erwartet begann das Eis zwischen ihm und den anderen Gästen zu schmelzen. Einige traten sofort zu ihm, bedankten sich und bestellten sich ein Getränk.

„Es ist immer gut, sich mit dem Mann zu verbünden, der das Bier zahlt“, bemerkte ein breitbrüstiger Mann mit dichtem Vollbart. „Elvin Houseman.“

Walker schüttelte ihm die Hand. „Freut mich.“

Elvin beugte sich zu ihm. „Es wird den Leuten hier aus der Gegend schwerfallen, Ihnen zu vertrauen. Dass die Kinder so krank wurden, hat vielen einen großen Schrecken eingejagt.“

„Ich gebe mein Bestes, um die Sache zu bereinigen, Mr. Houseman.“

„Niemand nennt mich so. Ich bin Elvin.“

Lani schob ihm ein Bier hin.

Er prostete Walker zu. „Vielen Dank. Und viel Glück“, wünschte er und ging davon.

Walker wandte sich an Lindsay. Wie erwartet bestellte sie sich kein Getränk auf seine Kosten, doch auf ihrem Gesicht lag ein Anflug von Überraschung über seinen Schachzug, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden.

Er kehrte an seinen Tisch zurück. Eine der jungen Frauen, die kichernd hereingekommen waren, versperrte ihm den Weg. Sie wiegte die Hüften im Takt der Musik. „Haben Sie Lust zu tanzen? Kommen Sie, wir brauchen einen Mann.“

Sie war blond und hübsch, nicht älter als Anfang zwanzig. An einem anderen Tag hätte er das Angebot angenommen. Er kannte genügend Frauen ihres Typs, um genau zu wissen, worauf es hinauslaufen würde: auf einen schönen Abend ohne Verpflichtungen, ohne Erwartungen. Ein paar Drinks, viel Spaß im Bett und danach zurück ins wahre Leben.

Er wollte schon Nein sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Ein Tanz mit einer Einheimischen passte hervorragend in seinen Plan, sich im Ort zu integrieren. Außerdem zeigte er sich Lindsay dadurch von einer neuen Seite. Er wollte sie verwirren. Wenn sie nicht wusste, was sie von ihm erwarten sollte, war er ihr gegenüber im Vorteil.

Also zog er sich das Jackett aus und lockerte die Krawatte, öffnete die beiden obersten Hemdknöpfe und krempelte die Ärmel hoch. „Sehr gern.“

Sie kicherte und nahm seine Hand. „Es ist Line Dance. Wissen Sie, wie das geht?“

„Ich halte mich einfach an Ihrer Seite?“

Sie lachte. „Genau.“

In einer Reihe mit der Blonden und ihren drei Freundinnen bewegte er sich von einer Seite des Parketts zur anderen. Obwohl er diesen Tanz noch nie praktiziert hatte, fiel es ihm leicht, sich die Schrittfolge einzuprägen.

Allerdings konzentrierte er sich nicht auf die Blondine. Vielmehr glitt sein Blick immer wieder zu Lindsay Dalton. Er redete sich ein, dass er sie nur beobachtete, um sich zu überzeugen, ob sein Plan aufging.

Nach der Anhörung hatte Walker ein wenig über sie recherchiert. Sie war das jüngste von sechs Kindern, hatte erst kürzlich das Studium beendet und arbeitete nun in der Kanzlei ihres Vaters. Bisher hatte sie lediglich unbedeutende Fälle wie Grenzstreitigkeiten zwischen Nachbarn erfolgreich verhandelt. Dennoch war sie vor Gericht gar nicht zaghaft aufgetreten. Im Gegenteil, sie hatte ihn mit ihrer Haltung beeindruckt – wie ein Kätzchen, das einem Tiger Paroli bietet. Obwohl das Kätzchen keine Chance hatte, dem Tiger seine Krallen zu zeigen, verdiente die Bemühung seinen Respekt und weckte sein Interesse.

Er hörte sie lachen. Ihm gefiel der helle melodische Klang, und ihm gefiel, wie ihr Gesicht aufleuchtete und ihre Augen funkelten. Wider besseres Wissen wollte er sie näher kennenlernen. Nur um der Recherche willen. Herausfinden, wie die Gegenseite tickt, verbessert meine Chancen vor Gericht.

Die Blondine und ihre Freundinnen wechselten die Richtung, gerade als Lindsay sich vom Tresen entfernte und dem Ausgang zuwandte. Er löste sich aus der Reihe, stellte sich ihr in den Weg und nahm ihre Hand. „Tanzen Sie mit mir.“

Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Tanzen? Ausgerechnet mit Ihnen?“

Er wiegte die Hüften und schwang ihren Arm hin und her. Sie blieb steif stehen. Er konnte es ihr nicht verdenken. Schließlich hatten sie sich noch vor wenigen Stunden vor Gericht gegenübergestanden. „Es ist Wochenende. Lassen Sie uns doch Anklagen und Plädoyers vergessen und uns einfach …“

„Amüsieren?“, warf sie ein.

„Ich habe gehört, dass man das tut – sogar in einem so kleinen Nest wie Rust Creek Falls.“

Das brachte sie zum Lachen. Sie wiegte die Hüften im Takt zu seinen – offensichtlich ganz unwillkürlich. „Wollen Sie damit sagen, dass mein Städtchen langweilig ist?“

Das ist gelinde ausgedrückt, dachte Walker. Doch er sprach es lieber nicht aus, sondern schenkte ihr sein patentiertes Gewinnerlächeln. „Ich will damit sagen, dass es eine kleine Stadt mit großartiger Musik aus der Jukebox und einem Parkett ist, das nur auf Sie wartet. Kommen Sie, Ms. Dalton, tanzen Sie mit mir. Mit mir, dem Mann, nicht mit mir, dem Unternehmer, gegen den Sie prozessieren.“

Sie entzog ihm die Hand. „Ich sollte nicht …“

„Nicht was? Spaß haben? Nicht mit dem Feind tanzen?“

„Ich sollte gar nichts mit dem Feind tun.“

„Ich bitte Sie nicht um gar nichts, sondern um einen Tanz.“ Einen Moment lang glaubte er, gewonnen zu haben.

Dann erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Mr. Jones, aber ich verkehre nicht privat mit jemandem, der keine Verantwortung für seine Fehler übernimmt.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Lokal.

Walker bemühte sich redlich, sich für die Gesellschaft der anderen Frauen zu begeistern. Allerdings wollte es ihm nicht gelingen. Er entschuldigte sich, beglich seine Rechnung und ging.

Der Triumph, den er durch seine Lokalrunde errungen hatte, erschien ihm in der kühlen Nachtluft plötzlich klein und nichtig.

Lindsay öffnete das Seitenfenster ihres Autos und versuchte, die frische kühle Oktoberluft und die funkelnden Sterne ungetrübt zu genießen. Doch ihre Gedanken wanderten zurück zu Walker Jones und dem Moment, als sie beinahe mit ihm getanzt hätte.

Was war nur in sie gefahren? Er war ihr personifiziertes Feindbild. Er persönlich war vielleicht nicht für die schwere Krankheit der kleinen Georgina verantwortlich, aber die mangelnde Hygiene in seiner Tagesstätte war es sicherlich. Ganz zu schweigen davon, dass ihre unzähligen Briefe und Anrufe bei der Firmenzentrale unbeantwortet geblieben waren. Walker hatte von Anfang an von dem Problem gewusst und dennoch nichts unternommen. Er war weder gekommen, um die Zustände in seinem Unternehmen zu überprüfen, noch hatte er sich in irgendeiner Form um die besorgten Eltern gekümmert.

Er bildete sich ein, die Ortschaft mit Alkohol und ein paar Tänzen für sich gewinnen zu können. Aber da liegt er falsch. Rust Creek Falls und ich lassen uns nicht so leicht von ihm blenden.

Sie betrat das Ranchhaus, in dem sie aufgewachsen war. Nach dem Studium war sie dorthin zurückgekehrt, weil sie sparen musste und weil sie ihre Familie vermisst hatte. Nun wohnte sie dort nur noch mit ihrem Bruder Travis und ihren Eltern. Es herrschte nicht mehr so viel Trubel wie in ihrer Kindheit, trotzdem fühlte sie sich noch immer zu Hause.

Der Duft nach frisch gebackenem Brot, gemischt mit dem Parfum ihrer Mutter, lag in der Luft. Es war schon spät, und ihre Eltern schliefen vermutlich, aber in der Küche brannte noch Licht.

Lindsay trat ein und fragte verwundert: „Hey, Trav, wieso bist du schon so früh hier?“

Er war bekannt dafür, ausgiebig zu feiern, jede Woche mit einem anderen Mädchen auszugehen und ein ausschweifenderes Leben zu führen als jeder andere Dalton. Er war ein herzensguter Kerl, aber sie hoffte, dass er bald zur Ruhe kommen würde.

„Mein Date hat abgesagt. Sie ist erkältet.“ Er öffnete den Kühlschrank. „Außerdem habe ich gehört, dass Mom Hackbraten gemacht hat.“

Sie lachte. „Ich wusste doch, dass es einen triftigeren Grund als ein geplatztes Date gibt.“

„Ich kriege mein Lieblingsessen eben nicht oft genug.“ Er schenkte ihr sein charmantes Grinsen, mit dem er im Laufe der Jahre Dutzende von Frauen bezirzt hatte. „Willst du ein Sandwich?“

„Nein danke. Ich wollte mir nur ein Glas Wein holen und mich auf die Terrasse setzen. Es ist ein wunderschöner Abend.“ Unzählige wirre Gedanken und Sorgen drängelten sich in ihrem Kopf. Sie brauchte frische Luft und weites Land, den Wind in den Haaren und das Schnauben der Pferde in den Ohren.

Travis reichte ihr eine angebrochene Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank. „Wein an einem Wochentag? Du musst ja einen scheußlichen Tag hinter dir haben.“

„Es ist Freitag und somit schon Wochenende.“

„Ja, richtig. Sonst hätte ich mich auch gewundert, kleine Schwester. Du bist in etwa so wild wie eine Stubenkatze, die sich in der Sonne aalt.“ Er belegte eine Scheibe Weißbrot mit einer dicken Scheibe Hackbraten, tat Ketchup darauf und dann noch eine Scheibe Brot. „Außer damals im College, als du mit Jeremy zusammen warst und mit ihm in die große gefährliche Stadt durchbrennen wolltest.“

Gemeinsam gingen sie hinaus auf die Terrasse und setzten sich in die Liegestühle, die auf die weitläufige Ranch hinausblicken. Im Dunkeln schien sich das Land der Daltons bis zum Horizont zu erstrecken. Der Anblick wirkte tröstlich, aufbauend. „Ich wollte nie in die Großstadt. Das war seine Idee.“

Ihr Exverlobter war klug, geistreich und ehrgeizig. Sie hatte ihn an der juristischen Fakultät kennengelernt und sich auf Anhieb in ihn verguckt. Erst kurz vor dem Examen hatte er ihr mitgeteilt, dass er nicht beabsichtigte, in Montana zu bleiben, sondern in New York praktizieren wollte. Sie dagegen wollte nirgendwo anders leben als auf dem fruchtbaren Land, bei den traumhaft schönen Bergen, in der sauberen Luft.

„Ich bin übrigens immer noch in Kontakt mit Jeremy“, verkündete Travis. „Er ist tatsächlich nach New York gezogen und hat sich auf Firmenrecht spezialisiert. Es geht ihm recht gut.“

Lindsay lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte zu den Sternen hinauf. „Das freut mich für ihn.“

„Bist du über ihn hinweg?“

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Ja, sicher. Warum fragst du das in diesem Ton?“

Er legte eine Unschuldsmiene auf. „In welchem Ton denn?“

„In dem komischen Ton, der mir sagt, dass du mich zu etwas Verrücktem überreden willst.“ In jungen Jahren war sie auf seine Ideen eingegangen – über Nacht an einem Bach campieren, auf Bäume klettern, Frösche fangen. Aber im Laufe der Zeit hatten sich ihre Interessen verschoben und ihre Wege weitgehend getrennt.

„Wie ich gehört habe, hättest du fast was Verrücktes getan“, eröffnete er. „Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du heute Abend im Ace mit einem Fremden getanzt hast. Sie war ein bisschen eifersüchtig, weil sie den Mann zuerst entdeckt hatte.“

Lindsay blies sich die Ponyfransen aus der Stirn. „Das sind die Momente, in denen ich mir wünsche, in einer riesengroßen Stadt zu leben. Muss denn jeder in Rust Creek Falls wissen, wie ich meine Freizeit verbringe? Und zu deiner Information: Ich habe nicht mit ihm getanzt. Er hat mich aufgefordert, und ich habe abgelehnt.“

„Das hättest du nicht tun sollen.“ Er schickte sich an, ins Haus zu gehen. „Du bist eine großartige Anwältin, Schwesterherz. Smarter als die meisten Leute, die ich kenne. Aber du bist zu wenig risikobereit und machst dir die Hände nicht oft genug schmutzig. Im Leben geht es darum, ins kalte Wasser zu springen, nicht am Rand zu stehen und bloß hin und wieder einen Zeh einzutunken.“

Aber Lindsay schreckte normalerweise eben davor zurück, sich ins Ungewisse zu stürzen. Allerdings war sie an diesem Abend für einen Moment in Versuchung geraten.

Sie nippte an ihrem Wein und betrachtete die Sterne, die strahlend hell und beständig am Himmel standen. Sie redete sich ein, dass nichts daran auszusetzen war, als stille Stubenkatze in der Sonne zu liegen. Denn diese Stubenkatze traf keine dummen Entscheidungen, die sie der feindlichen Linie zu nahe brachten.

3. KAPITEL

Wie gewöhnlich verzehrte Walker zum Frühstück zwei Scheiben Toast und Kaffee. Er hatte morgens keinen großen Appetit – im Gegensatz zu seinem Bruder, der gerade zwei Portionen Rührei verschlungen hatte und sich nun über einen Stapel Pancakes hermachte.

Unterkunft und Verpflegung im Hotel Maverick Manor, in dem Walker abgestiegen war, erwiesen sich als herausragend. Eigentlich hatte er in einem kleinen Nest wie Rust Creek Falls ein schlichtes Ambiente erwartet, doch das zweistöckige Haus im Blockhausstil konnte es mit jedem Fünfsternehotel aufnehmen, in dem er je abgestiegen war. Überall war das Herzblut zu spüren, das der ortsansässige Betreiber Nate Crawford hineingesteckt hatte.

Rundumbalkone und Panoramafenster boten faszinierende Ausblicke auf die wunderschöne Landschaft. Als Walker an diesem Morgen aufgewacht war, hatte er sich beinahe wie in einem geräumigen Baumhaus gefühlt. Die Zimmer waren mit bequemen Möbeln ausgestattet und – passend zu den Holzwänden – in warmen Erdtönen gehalten.

Vor der Zimmertür hatte eine Ausgabe der Lokalzeitung Rust Creek Falls Gazette gelegen, die sich mit den typischen Belangen einer Kleinstadt befasste – Geburtsanzeigen, Rinderbörse, Fundsachen. Die Titelstory war einer preisgekrönten Stute gewidmet, die Zwillingsfohlen geworfen hatte. In Walkers Augen handelte es sich um unerhebliche Themen, was die Frage aufwarf, ob die Einheimischen hoffnungslos optimistisch oder einfältig wirklichkeitsfremd waren.

So oder so, er wollte Rust Creek Falls so schnell wie möglich wieder verlassen. Der ganze Ort ging ihm auf die Nerven. Je eher er in Tulsa zu seinem Tagesgeschäft zurückkehren konnte, desto besser.

„Reden wir über Just Us Kids“, eröffnete er.

Hudson schob seinen leeren Teller beiseite. „Die Dinge laufen großartig.“

„Soll heißen, dass du jeden Tag dort bist und dich mit eigenen Augen davon überzeugst?“

„Na ja, mehr oder weniger.“

Walker straffte die Schultern. Er hatte das Grundstück von Hudson gepachtet und ihn als Geschäftsführer eingesetzt – auf Drängen seines Vaters, der sich zwar offiziell aus der Geschäftsleitung zurückgezogen hatte, aber als Vorstandsvorsitzender in vielen Belangen noch immer das Sagen haben wollte.

Hudson war ein anständiger Kerl, aber nicht sonderlich an dem Familienunternehmen interessiert. Die Hoffnung seines Vaters, dass er sich durch die Einbindung in der Tagesstätte mehr dafür engagierte, erfüllte sich anscheinend nicht.

„Was heißt mehr oder weniger?“, wollte Walker wissen.

„Der Laden läuft eigentlich von allein, und Bella gehört zu den Leuten, die gern die Zügel in der Hand halten. Also lasse ich sie machen.“

Walker hatte Bella Stockton nur zur Absicherung der Geschäftsleitung zur Seite gestellt und war davon ausgegangen, dass Hudson sich tagtäglich um die Einrichtung kümmerte. „Du hast doch das Grundstück gekauft …“

„Nur als Investition. Um mein Taschengeld etwas aufzubessern.“

„Wann wirst du bloß erwachsen? Willst du nicht endlich Verantwortung übernehmen und Fuß fassen, anstatt ständig von Job zu Job oder von Ort zu Ort zu wechseln?“

„Ach, so wie du? Rund um die Uhr schuften und für nichts anderes Zeit finden? Nein danke! Ich habe lieber ein Privatleben.“

„Das habe ich auch.“

Hudson lachte höhnisch auf.

„Dass ich viel arbeite, heißt noch lange nicht, dass ich nicht ausgehe, verreise, mich mit Freunden treffe …“

„Wann hast du denn das letzte Mal so was gemacht?“

„Gestern Abend zum Beispiel. Da war ich im Ace in the Hole und habe getanzt.“

Erstaunt zog Hudson die Augenbrauen hoch. „Wirklich?“

„Ja, wirklich.“ Nur im Stillen gestand Walker ein, dass es sich dabei um eine große Ausnahme handelte und er sich nicht einmal mehr erinnerte, wann er sich zum letzten Mal richtig amüsiert hatte. Zu Hause in Tulsa drehte sich sein gesamter Tagesablauf um den Familienbetrieb. Jones Holdings, Inc. war ein so breit gefächertes Unternehmen, dass in seinem Leben kein Raum für andere Dinge blieb.

Zumindest redete er sich das ein. Dabei stand ihm ein großartiges Team zur Seite. Eigentlich hätte er sich die Zeit nehmen können, um Urlaub zu machen, einem Hobby nachzugehen, Frauen zu treffen …

Seit über zwei Jahren war er keine richtige Beziehung mehr eingegangen. Nicht mehr, seit Theresa ihre fünfjährige Verbindung gelöst hatte – weil sie einen Mann wollte, der sein Herz investierte und nicht nur sein Bankkonto. Angeblich hatte sie inzwischen geheiratet und erwartete ihr erstes Kind.

Manchmal fragte Walker sich, ob ihm etwas Großartiges entging. Doch diese Momente waren flüchtig. Denn er wusste, dass seine Karriere ihn am glücklichsten machte.

Wieder einmal kam ihm Lindsay Dalton in den Sinn. Er war überzeugt, dass sie zu den romantischen Frauen zählte, die sich insgeheim ein inniges Familienleben in einem Häuschen im Grünen wünschten. Im Gerichtssaal mochte sie sich spröde und nüchtern geben, doch er hatte Sanftmut und Empfindsamkeit bei ihr gespürt. In ihrem Lächeln. Bei ihrem Gespräch mit ihrer Schwester. Beim Tanzen.

„Zurück zum eigentlichen Thema“, entschied er. Ihm war nicht mehr danach zumute, sich mit seinem Privatleben zu befassen. Zum Glück stand die Rückkehr in sein Alltagsleben kurz bevor. In Tulsa war er rundum zufrieden. Weniger abgelenkt von Dingen wie Lindsay Daltons Lächeln, das ihm nicht aus dem Kopf ging.

„Wegen dieses Gerichtsverfahrens herrscht viel Feindseligkeit gegen Just Us Kids. Um expandieren zu können, muss sich das Blatt hier in Rust Creek Falls zu unseren Gunsten wenden“, erklärte er. „Selbst wenn wir den Prozess gewinnen, wird es immer noch Leute geben, die uns für die Krankheit verantwortlich machen. Ich muss die negative Publicity von Anfang an unterbinden.“

„Anscheinend tust du das ja bereits. Wie ich hörte, hast du gestern Abend eine Lokalrunde gegeben.“

„Woher weißt du das?“

„Es ist ein kleines Nest. Hier weiß jeder alles. Wenn du auf Wohlwollen hoffst, solltest du etwas tun, was dich hier einbindet. Rust Creek Falls ist wie eine große Familie. Sie werden dich als ihresgleichen akzeptieren …“

„Du lässt es klingen wie eine Ameisenkolonie.“

Hudson lachte. „Das trifft es ziemlich gut. Ich hätte nie gedacht, dass es mir hier gefallen könnte, aber das Örtchen wächst mir immer mehr ans Herz. Dir könnte dasselbe passieren.“

„Unmöglich! Ich verschwinde hier, sobald der Prozess abgeschlossen ist. Bis dahin konzentriere ich mich ganz darauf, zu gewinnen.“

„Den Prozess und die Herzen und das Wohlwollen?“

„Das ist alles Teil meiner Strategie.“

„Wieso habe ich auch nur für fünf Minuten geglaubt, dass dein Tanzabend bedeutet, du wärst menschlich geworden?“

Walker würdigte die Bemerkung keiner Antwort.

Hudson stöhnte. „Weißt du, ich bin nicht der verantwortungslose Versager, den du immer aus mir machst.“

„Ach nein? Was treibst du denn den lieben langen Tag, anstatt dich um deine Arbeit zu kümmern?“

„Ich helfe einem Freund in Wyoming, ein Gestüt einzurichten. Ich heuere Arbeiter an, richte ihm ein Buchhaltungssystem ein, kaufe Pferde ein … Kurzum: Ich helfe ihm, sein Unternehmen aufzubauen.“

Walker war beeindruckt, ließ es sich jedoch nicht anmerken. „Mir wäre es lieber, du würdest hier die Tagesstätte führen.“

Hudson verdrehte die Augen. „Dir kann man es nie recht machen. Kannst du nicht ausnahmsweise mal an etwas anderes als den Familienbetrieb denken?“

„Dieser Familienbetrieb sorgt für das Geld auf deinem Konto, mit dem du die Pferdezucht unterstützt. Wenn du schlau wärst, würdest du mir helfen, ihn zu schützen, anstatt an mir herumzumäkeln, weil ich mich nicht genügend amüsiere.“

Einen Moment lang trommelte Hudson mit den Fingern auf die Tischplatte. Dann seufzte er. „Okay, wenn du erreichen möchtest, dass die Leute hier dich mögen, dann tu dem Dorf etwas Gutes. Etwas, wobei du anpackst. Indem du mit Geld um dich wirfst, erreichst du hier nichts.“

Walker zog ein finsteres Gesicht. „Das hatte ich auch nicht vor“, behauptete er. In Wirklichkeit hatte er geglaubt, durch eine beträchtliche Stiftung an das Gemeindezentrum Eindruck schinden zu können. Nun sah er ein, dass eine derartige Aktion lediglich vorübergehend für Wohlwollen gesorgt hätte. Er brauchte etwas Größeres. Mehr Engagement. Etwas …

Ein Flyer im Kartenhalter auf dem Tisch stach ihm ins Auge.

Erntedank in Rust Creek Falls! Mach mit und hilf,

es zum schönsten Fest aller Zeiten zu gestalten!

Der Aufforderung folgte eine Einladung zu einem Treffen in der Highschool an diesem Samstagnachmittag.

Walker drehte das Schild zu Hudson um. „Hier ist etwas, was ich tun kann.“

Hudson lachte. „Du? Beim Erntedankfest helfen? Warst du überhaupt jemals bei so einem Fest?“

„Das ist unwichtig. Ich muss mich nur an den Vorbereitungen beteiligen. Um zu zeigen, dass mir an diesem Ort gelegen ist. Problem gelöst.“

„Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist? Hier geht es um ein Stück ländlicher Lebensart, nicht um irgendeinen Geschäftsbericht oder einen Wirtschaftsprüfer, der dir im Nacken sitzt.“

„Ein Genie muss man dazu auch nicht gerade sein.“ Walker legte ein paar Geldscheine auf den Tisch. „Bleib bitte für eine Weile vor Ort. Kümmere dich um die Tagesstätte, und sorge dafür, dass es dort so blitzsauber ist, dass kein Kind krank wird, selbst wenn es den Fußboden ableckt. Damit du vor Gericht guten Gewissens aussagen kannst, dass alles in bester Ordnung ist. Das könnte ein bedeutender Schritt in meiner Kampagne werden, nicht nur Lindsay Dalton zu besiegen, sondern den guten Ruf von Just Us Kids wiederherzustellen.“

Und somit konnte er endlich dieses Kuhdorf verlassen und der Frau den Rücken zukehren, die ihm aus gänzlich falschen Gründen im Kopf herumspukte.

Mit den Händen zu arbeiten ist eine nette Abwechslung, dachte Lindsay, während sie in der Sporthalle Bretter aufstapelte.

Sie hatte so viel Zeit mit der Vorbereitung für das Gerichtsverfahren im Büro verbracht, dass es sich gut anfühlte, etwas Konstruktives zu leisten. Etwas, was nicht mit Walker Jones zusammenhing und nicht ihren Blutdruck in die Höhe schnellen ließ.

Lani und Russ schauten vorbei. Die beiden sahen so glücklich aus, dass Lindsay eine Spur von Neid verspürte. Wie mag es sein, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich so verliebt anguckt? Der ohne besonderen Anlass meine Hand nimmt und mich anlächelt, als wäre ich das Kostbarste auf der Welt?

„Hey, Schwesterherz, wie läuft’s? Wir sind auf dem Weg in den Park zur Landschaftsgestaltung. Da muss ein Baum gefällt und das Gebüsch gestutzt werden.“ Lani deutete zu dem Holz: „Willst du das ganz allein verarbeiten?“

„Ich denke doch, dass ich ein paar einfache Bretterbuden zusammenzimmern kann.“ Lindsay spannte ihren Bizeps. „Ich bin stark.“

Russ lachte. „Bist du sicher? Soll dir nicht lieber einer von uns zur Hand gehen?“

„Nein, nein, ich schaffe das schon. Die Arbeiten im Park sind auch wichtig! Wenn die nicht erledigt werden, haben wir keinen Platz, um die Buden aufzustellen.“

„Okay. Wir dürften in etwa zwei Stunden zurück sein. Wenn du etwas brauchst, dann gib Bescheid“, sagte Lani und eilte mit Russ hinaus.

Lindsay studierte die simple Bauskizze. Der Verkaufsstand sollte aus einer rechteckigen Basis, einem Gerüst für die Beschilderung und einer langen Sperrholzplatte als Verkaufstisch bestehen.

Sie hatte einen Akkuschrauber, Holzschrauben und fertig zugeschnittene Bretter zur Hand. Was sie nicht hatte, war ein Anhaltspunkt, wie sie beginnen sollte.

Sie legte ein langes Kantholz auf den Boden, platzierte ein kürzeres im rechten Winkel dazu und vereinte beide miteinander. Leider bohrte sich die Schraube ganz schief in das Holz, sodass eine sehr wacklige Verbindung entstand. Also schaltete sie den Akkubohrer um und versuchte, die Schraube zu entfernen.

„Das klappt viel besser mit etwas mehr Druck“, verkündete eine tiefe Stimme hinter ihr.

Lindsay seufzte und setzte sich auf die Fersen zurück. „Danke. Würden Sie vielleicht …?“ Sie verstummte abrupt, als sie erkannte, wem die Stimme gehörte. Walker Jones III. Großartig! Er war der letzte Mensch, den sie sehen wollte. Er war ihr so lästig wie ein räudiger Hund, der an den unmöglichsten Plätzen zu den ungelegensten Zeiten auftauchte. „Was wollen Sie denn hier?“

„Dasselbe wie Sie. Bei den Vorbereitungen zum Erntedankfest helfen.“

„Aha.“ Sie lachte spöttisch auf. „Warum in aller Welt sollten Sie das tun?“

„Um Wohlwollen zu gewinnen. Ich will die Einwohner dazu bringen, mich zu mögen – also unlautere Motive. Sie können mich ja verklagen. Ach, nein, das haben Sie ja bereits getan.“

Zumindest war er ehrlich. Trotzdem gefiel es ihr nicht, dass er hier war. Er sollte verschwinden – aus Rust Creek Falls, aus ihrem Blickfeld. Auch wenn er verdammt gut aussah in Jeans und weißem Hemd mit hochgerollten Ärmeln. „Sie wollen ja bloß den Prozess gewinnen. Aber durch eine Lokalrunde und ein bisschen Hilfe beim Erntedankfest werden Sie das nicht schaffen.“

„Walker Jones?“ Rosey Traven, eine Mitbesitzerin des Ace in the Hole, trat zu ihm und schüttelte ihm herzlich die Hand. „Ich habe gehört, dass Sie gestern Abend eine Lokalrunde in meinem Laden geschmissen haben. Das war sehr nett von Ihnen.“

„Danke, Ma’am. Da ich neu hier bin, dachte ich mir, dass ich mich für den herzlichen Empfang bedanken sollte.“

Lindsay verdrehte die Augen. Für welchen herzlichen Empfang?

„Tja, es gibt keinen besseren Weg, sich zu bedanken, als mit ein paar Drinks.“ Rosey lächelte ihn an und wandte sich an Lindsay. „Schön, dich hier zu sehen. Wir wissen deine Unterstützung sehr zu schätzen.“

„Ich packe gern mit an. Sofern ich herausfinde, wie das geht.“

„Du hast ja bereits Hilfe. Ich bin sicher, dass er den Dreh sehr schnell rauskriegt. Ich muss jetzt gehen. Sam und ich bringen den freiwilligen Helfern im Park Sandwiches. Viel Spaß euch beiden!“

Und dann war Lindsay wieder mit Walker allein. Erneut versuchte sie, die Schraube herauszudrehen. Vergeblich. „Verflixt!“

Er legte eine Hand auf ihre. „Lassen Sie mich mal.“

Sie wollte seine Berührung nicht mögen. Wollte nicht reagieren. Doch ihr Körper hörte nicht auf ihren Kopf. Ein Prickeln durchlief sie. In diesem Moment wurde ihr überdeutlich bewusst, wie nah er ihr war. Wie gut er roch. Wie die Adern an seinen starken Händen und muskulösen Unterarmen hervortraten. Und wie sehr es sie danach verlangte, ihn zu küssen.

Sie redete sich ein, dass dieser Schauer nur Zufall war, und wich trotzdem so heftig zurück, dass sie rückwärts taumelte.

Seine Hand schoss vor, stützte Lindsay und löste erneut ein Prickeln aus.

„Ich komme auch ohne Ihre Hilfe klar“, behauptete sie, weil sie sich geschworen hatte, diesen verdammt attraktiven Mann zu hassen.

„Was haben Sie denn schon für Sachen zusammengebaut?“

„Bisher keine. Aber ich kann Anweisungen lesen.“

„Das ist großartig, aber gewisse Dinge lernt man durch Erfahrung, nicht durch Anweisungen. Sie sind eine kluge und wundervolle Frau, aber Sie sind auf dem besten Weg, der Schraube den Kopf abzureißen, was es erheblich erschweren würde, die Bretter voneinander zu trennen. Sie wollen meine Hilfe zwar nicht, aber Sie brauchen mich, zumindest momentan.“

Hatte sie richtig gehört? Hatte er sie wirklich wundervoll genannt? Und warum freute sie sich so riesig über das Kompliment? Sie senkte den Kopf und versuchte sich noch einmal an der Schraube. Schließlich gab sie sich geschlagen. „Gut. Dann machen Sie es.“

Sie beobachtete, wie Walker die Schraube mit dosierter Kraft bei niedriger Drehzahl herausholte. Der Schlüssel zum Erfolg war offensichtlich Geduld gepaart mit Druck. Genau wie vor Gericht. Viel Geduld und etwas Druck führen meistens zum gewünschten Resultat. „Danke. Ich muss zugeben, dass ich beeindruckt bin.“

Er schmunzelte. „Ich verfüge über ein gewisses handwerkliches Geschick. Ich habe als Kind die meisten Wochenenden bei meinem Großvater verbracht, der gern Dinge aus Holz erschaffen und mir seine Kenntnisse vermittelt hat.“ Ein entrückter Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Ich vermisse ihn schrecklich. Jedes Mal, wenn ich ein Vogelhäuschen sehe, muss ich an ihn denken. Er war ein prima Kerl.“

Ihr gefiel gar nicht, dass eine kleine Geschichte über seinen Vorfahren ihn in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ. Sie wollte Walker Jones III. und sein böses Imperium hassen. Das war allerdings verdammt schwer, wenn er so anrührend über Vogelhäuser sprach. „Das ist ja … goldig.“

„Sie klingen überrascht.“

„Vielleicht bin ich das ein wenig.“ Im Stillen gestand sie sich ein, dass sie äußerst überrascht war. Zwei Monate lang hatte sie Briefe geschickt und Sprachnachrichten verfasst – an einen gesichtslosen bösen Mann in einer Konzernzentrale. Aber nun, da er in Fleisch und Blut vor ihr stand, gelang es ihr nicht, ihre extreme Feindseligkeit aufrechtzuerhalten.

„Ich bin kein profitorientiertes Monster. Das möchte ich Ihnen gern beweisen.“

„Wie denn?“

Er griff zu einem Brett und einer Handvoll Schrauben. „Lassen Sie mich helfen, diese Buden zu bauen.“

Den ganzen Tag Seite an Seite mit Walker Jones arbeiten? Sich von ihm ablenken lassen und vergessen, dass er der Feind ist? Lindsay schüttelte den Kopf. „Das halte ich nicht für eine gute Idee. Ich führe einen Prozess gegen Sie, und wir sollten nicht miteinander reden.“

„Erstens führen Sie den Prozess gegen meinen Betrieb, nicht gegen mich persönlich. Zweitens sehe ich da kein Problem, sofern wir übereinkommen, nicht über Just Us Kids oder das laufende Verfahren zu reden.“ Er reichte ihr die Hand. „Abgemacht?“

Sie zögerte. Trotz seiner schlüssigen Argumentation sollte sie sich eigentlich nicht mit ihm zusammentun. Doch nur wenige Helfer waren verfügbar, und angesichts ihrer bisherigen Leistung standen die Chancen für sie sehr schlecht, die vielen Buden ganz allein aufzubauen. Und wenn sie mehr Zeit mit Walker verbrachte, fand sie vielleicht heraus, wie er tickte, und konnte es vor Gericht zu ihrem Vorteil nutzen.

„Abgemacht.“ Sie schüttelte ihm die Hand und verspürte erneut dieses Prickeln. Anscheinend war es doch kein Zufall. Was bedeutet, dass ich womöglich gerade einen riesigen Fehler begehe …

Walker ließ sie los und erläuterte seinen Plan zum Aufbau der Buden. Offensichtlich hatte er keinen Ruck gespürt. Er wirkte distanziert und nüchtern und tat genau das, was er versprochen hatte: Er half. Also gab es für sie keinen Grund zur Sorge, solange sie sich selbst unter Kontrolle hielt und vergaß, wie sehr seine Berührung ihr unter die Haut gegangen war.

Sie griff zu einem kurzen Brett. „Gehört das hierher?“

„Genau. Ich halte es fest. Sie müssen zuerst vorbohren. Das verhindert, dass man die Schraube schief ansetzt oder das Holz zersplittert.“

„Aber wir haben doch keinen Bohrer?“

„Der Akkuschrauber hat einen passenden Aufsatz dafür“, erklärte er und setzte den Bohrer ein.

Lindsay bohrte das Loch und tauschte den Bohrer wieder gegen den Bit. „Also dann, auf ein Neues. Halten Sie auch gut fest?“

„Keine Sorge. Es klappt bestimmt. Sie dürfen nur nicht vergessen, bei niedriger Drehzahl gleichmäßigen Druck auszuüben.“

Sie befolgte den Rat und versenkte die Schraube. Die Bretter waren im rechten Winkel fest miteinander verbunden. „Geschafft!“

Er schmunzelte. „Stimmt. Gut gemacht!“

Zuversicht und Stolz stiegen in Lindsay auf. Sie fühlte sich wie eine Superheldin. Zwar hatte sie nur einen winzigen Teil einer einzigen Bude zusammengeschraubt und noch dazu mit fremder Hilfe, aber es war überaus befriedigend, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen.

„Sie geben eine verdammt gute Imitation von Heimwerkerkönig Tim Taylor ab. Nur dass Sie weit hübscher sind als er.“

Sie redete sich ein, dass auch sein zweites Kompliment zu ihrem Aussehen nichts weiter zu bedeuten hatte und nicht ernst zu nehmen war. Sie wandte den Kopf ab und hoffte, dass er nicht merkte, wie sehr ihr seine Schmeichelei gefiel und wie gern sie ihm in die strahlend blauen Augen blickte.

Minutenlang arbeiteten sie schweigend Seite an Seite. Walker war ein geduldiger Lehrer, der präzise Anweisungen gab. Stillschweigend verfielen sie in einen lockeren Rhythmus. Gelegentlich stießen sie aneinander. Jedes Mal machte Lindsays Herz einen kleinen Hüpfer, und dann schalt ihr Verstand sie wegen der Reaktion.

Diese leidige Zuneigung kann zu nichts Gutem führen. Lindsay nahm sich fest vor, Distanz zwischen ihnen zu schaffen, sobald die Buden aufgebaut waren.

Obwohl sie seine Anweisungen akribisch befolgte, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Überdeutlich war sie sich bewusst, wie verführerisch er roch, wie muskulös seine Arme und wie breit seine Schultern waren, wie gut er von Kopf bis Fuß aussah.

„Ich glaube, das war’s.“

Beide traten zurück und bewunderten ihr Werk. Die erste Bude stand kerzengerade da, bereit für den Einsatz als Verkaufsstand.

Stolz erfüllte Lindsay. „Wir haben’s geschafft!“

„Stimmt.“ Er drehte sich zu ihr um und schmunzelte. „Zum Wohle der Gemeinschaft können wir wider Erwarten recht gut zusammenarbeiten.“

Sie lachte. „Gewöhnen Sie sich lieber nicht daran.“

„Ganz bestimmt nicht.“ Er wurde ernst und deutete zu dem Bauholz. „Wie viele fehlen denn noch?“

„Neun.“ Sie seufzte. Der Stapel war furchtbar hoch und die verbleibende Zeit furchtbar gering. So gern sie Walker auch loswerden wollte, wusste sie, dass die Aufgabe allein nicht zu bewältigen war. „Glauben Sie, dass wir heute damit fertig werden?“

„Ist das eine Aufforderung zur weiteren Mithilfe?“

Mit ihm zusammenzuarbeiten war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Mit etwas Nachsicht konnte sie es sogar als unterhaltsam bezeichnen. „Na ja, Sie haben sich als ganz nützlich erwiesen, Walker Jones. Aber erwarten Sie bloß nicht, dass es sich in irgendeiner Form darauf auswirkt, wie ich Ihnen nächste Woche vor Gericht entgegentrete.“

„Immer eine Kämpfernatur, wie?“

„Natürlich.“

„Ich würde es nicht anders wollen, Ms. Dalton.“

„Ich auch nicht“, versicherte sie und wandte sich der Arbeit zu. Denn sie durfte sich nicht erlauben, ihre Abwehr zu vernachlässigen und sich in den Mann zu vergucken, der in wenigen Tagen im Gerichtssaal auf der Gegenseite sitzen würde.

4. KAPITEL

Walker hatte es nicht geplant. Es war dennoch passiert. Er fand Gefallen an Lindsay Dalton. Sie war humorvoll und smart und vor allem entschlossen. Das gefiel ihm am allerbesten. Dass sie nicht vor einer Herausforderung zurückschreckte, dass keine Aufgabe sie verängstigte. Das waren Eigenschaften, die ihr vor Gericht gute Dienste leisteten.

Was eindeutig ein Nachteil für mich ist. Wenn er klug wäre, hielte er sich von ihr fern. Jede Zelle seines Gehirns riet ihm, sich abzuwenden. Sofort. Doch irgendetwas hielt ihn an ihrer Seite, und er stellte weiterhin Bretterbuden mit ihr auf, eine nach der anderen.

Jedes Mal, wenn sie auf Tuchfühlung kam, geriet sein Körper in höchste Alarmbereitschaft. Ja, er fühlte sich zu ihr hingezogen. Sehr sogar. Er redete sich ein, dass seine Mithilfe allein dem Zweck diente, die Gegenseite auszuforschen und das Wohlwollen der Gemeinde zu erringen. Doch in Wirklichkeit kümmerte ihn das Erntedankfest schon lange nicht mehr. Er wollte lediglich mehr Zeit mit Lindsay verbringen.

„Sie sind in dieser Gegend aufgewachsen?“, erkundigte er sich.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Wollen Sie Small Talk betreiben oder Ermittlungen über die Gegenpartei anstellen?“

„Keins von beidem.“ Er hockte sich auf die Fersen. „Ich bin an Ihnen interessiert. Aufrichtig interessiert.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Wir können nicht … Ich meine, wir sollten nicht …“

„Ich frage Sie nicht, ob Sie mich heiraten wollen, Lindsay. Ich möchte nur wissen, ob Sie in dieser Gegend aufgewachsen sind.“ Obwohl er sie zum ersten Mal mit Vornamen ansprach, ging es ihm sehr leicht über die Lippen.

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, doch sie äußerte sich nicht zu der informellen Anrede. „Dass ich Ihre Fragen beantworte, bedeutet genauso wenig, dass ich Sie heiraten will.“

Er lachte. „Artet bei Ihnen alles in eine Debatte aus?“

Es zuckte um ihre Mundwinkel. „Meine Mutter würde sagen, dass ich zum Debattieren geboren wurde.“

„Meine Mutter sagt dasselbe über mich. Sie behauptet, dass ich sogar über die Farbe des Himmels an einem wolkenverhangenen Tag diskutiere. Ihr zufolge bin ich sehr schwierig.“

„Hm …“ Lindsay tippte sich mit einem Finger an die Lippen. „Dem muss ich eventuell zustimmen.“

„Sie kennen mich doch kaum.“ Unwillkürlich beugte er sich näher zu ihr und inhalierte ihren lieblichen Duft. „Ich bin eigentlich gar nicht so schlimm, wie ich wirke.“

„Vielleicht aber auch viel schlimmer.“

Walker ahnte, dass es wesentlich mehr als Bier und Bretterbuden brauchte, um die Anwältin zu beeindrucken. „Geben Sie mir eine Chance. Das ist alles, worum ich bitte.“

„Es wird nichts ändern, Mr. Jones. Ich mache Ihnen trotzdem den Prozess.“

„Etwas anderes hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet.“ Er fügte die nächsten Bretter zusammen. „Also, sind Sie in dieser Gegend aufgewachsen?“

Diesmal lachte sie. „Sie geben nie auf, oder?“

„Sie wohl auch nicht.“

„Stimmt.“ Sie ließ ein paar Schrauben auf der Handfläche hüpfen. „Ja, die Familie Dalton ist ein fester Bestandteil von Rust Creek Falls. Ich habe zwar auswärts studiert und mit dem Gedanken gespielt, nach dem Examen in die Stadt zu ziehen, aber hier ist mein Zuhause.“ Ein sanftes Lächeln trat auf ihr Gesicht, ein verträumter Glanz in ihre Augen. „Ich liebe diesen Ort und gehöre hierher.“

Walker verspürte einen Anflug von Neid. Wie mag es sein, sich so zugehörig zu fühlen?

In dem kalten Museum, das seine Eltern Zuhause nannten, hatte er sich nie wohlgefühlt. Als Kind hatte er es gehasst bei seinem strengen Vater, der ständig alles bekrittelte, und bei seiner lieblosen Mutter, die sich für alles Mögliche engagierte, nur nicht für ihre eigenen Kinder. Allein bei seinem Großvater in der Holzwerkstatt, wo das Leben schlicht und einfach gewesen war, war er glücklich gewesen.

Lindsays Schwärmerei von Rust Creek Falls weckte Erinnerungen an seinen Großvater. An den waldigen Duft seines Rasierwassers, gemischt mit dem Geruch von Hobelspänen. An seine raue Stimme, die weise vom Leben erzählte, während Sandpapier über Holzbohlen scheuerte …

Verdammt, jetzt wirst du auch noch sentimental! Wenn Walker eines verinnerlicht hatte, dann die Unvereinbarkeit von Gefühlsduselei mit Geschäften. Oder Gerichtsverfahren.

„Und was ist mit Ihnen?“, fragte Lindsay. „Sind Sie in Tulsa aufgewachsen?“

„Nein. In einer Stadt namens Jenks. Meine Familie hält nichts vom Landleben – und ich auch nicht. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie man in einem so winzigen Dorf leben kann. Es ist so … einengend.“

„Wieso haben Sie dann hier ein Unternehmen gegründet?“

„Weil es in unmittelbarer Umgebung kaum alternative Kinderbetreuung gibt, es zentral im Einzugsbereich anderer Städte liegt und es nur minimaler Veränderungen bedurfte, um das Gebäude in einen Kindergarten zu verwandeln.“

„Ihre Entscheidung basiert also allein auf Zahlen, nicht auf Gefühlen?“

„Das ist die einzig wahre Art, geschäftliche Entscheidungen zu treffen“, wandte Walker ein. „Ich baue mein Unternehmen nicht darauf auf, wie hübsch die Main Street aussieht.“

„Ich rede nicht von Äußerlichkeiten“, konterte Lindsay mit feurig funkelnden Augen. „Wenn Sie in einem Ort wie diesem einen Betrieb eröffnen, muss Ihnen klar sein, dass es nicht nur um eine weitere Fassade in einer Ladenzeile geht. Jedes Geschäft, das in Rust Creek Falls betrieben wird, wird Teil des sozialen Gefüges.“

Des sozialen Gefüges? Hier geht es um ein Unternehmen, nicht um ein Häkelkränzchen.“ Sobald er ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass derartige Bemerkungen sein Ziel unterminierten, von den Einwohnern anerkannt zu werden. Wenn er seine Verachtung für das Landleben zur Schau stellte, machte er alles bisher Erreichte zunichte. „Aber in diesem Städtchen lebt es sich anscheinend großartig.“

„Stimmt. Das werden Sie merken, wenn Sie länger bleiben.“

Das bezweifle ich. „Mag sein.“ Er lächelte sie an, um ihr zu zeigen, dass er nicht das böse Ungeheuer war, für das sie ihn hielt. „Aber ich für meinen Teil kann mir nicht vorstellen, hier zu leben. Ich wohne mitten in Tulsa, ein paar Meilen von der Konzernzentrale entfernt.“

Er hätte tausend Dollar darauf verwettet, dass Lindsay ein behagliches Häuschen mit Veranda bewohnte – in krassem Gegensatz zu seinem Apartment aus Glas und Chrom in der fünfzehnten Etage. Alles an diesem Städtchen wirkte wie aus einer Episode der Fernsehserie Unsere kleine Farm – abgesehen von einigen modernen Errungenschaften wie Elektrogeräten und Schnurlostelefonen.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend weiter.

Als die nächste Bude aufgestellt war, bemerkte Lindsay: „Soweit ich weiß, haben Sie vier Brüder?“

Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht, dachte Walker. „Stimmt. Trotzdem waren meine Eltern nicht besonders … elterlich. Mein Vater hat viel gearbeitet, und meine Mutter war mit Charity-Events ausgelastet. Wir haben weniger Zeit mit ihnen verbracht als mit diversen Nannys.“

„Das ist ja furchtbar!“

Er zuckte die Achseln, als ob es ihn nicht weiter kümmerte. „Es gibt eben verschiedene Arten, seine Kindheit zu verbringen.“

„Ich bin auf einer Ranch aufgewachsen. Pferde, Weiden, Familienzusammenkünfte – das volle Programm. Ich wohne immer noch dort.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, mit jemandem aus meiner Familie zusammenzuwohnen. Gemeinsam mit meinem Vater zu arbeiten ist für mich mehr als genug Nähe. Er kann ein bisschen … eigensinnig sein.“

Das war noch gelinde ausgedrückt. Walker Jones II. stellte hohe Anforderungen an jeden seiner Söhne, die allerhöchsten jedoch an seinen Namensvetter.

Walker hatte sich bemüht, die Erwartungen zu erfüllen; mit zunehmendem Alter gerieten die zwei jedoch immer mehr aneinander. Sie stritten über alles Mögliche, von der Kaffeesorte im Konferenzraum bis zu der Richtung, die das Unternehmen künftig einschlagen sollte.

Lindsay lachte. „Hm … Das liegt wohl in der Familie.“

Ihr Lachen klang lieblich und melodisch. Für einen Moment vergaß er, dass sie die gegnerische Anwältin war. Das war ihm schon am Freitag vor Gericht passiert, als sie mit dem Baby Kuckuck gespielt und sich flüchtig von einer emotionalen Seite präsentiert hatte. Außerdem herrschte eine gewisse Spannung zwischen ihnen, seit sie Seite an Seite arbeiteten. Einerseits drängte es ihn, sie zu küssen. Andererseits wusste er, dass er sich zurückziehen sollte, bevor er sich dieser Frau, die ihn ruinieren wollte, noch mehr verbunden fühlte.

Er wandte sich ab und stellte fest, dass ihnen die Sperrholzplatten ausgegangen waren. Die perfekte Gelegenheit, sich zu verabschieden. Trotzdem eröffnete er: „Wir brauchen mehr Holz. Wissen Sie, wo die Materialien lagern?“

„Ja. Dahinten in einem Nebenraum. Ich zeige es Ihnen.“

Er hielt es nicht für eine gute Idee, sich mit ihr allein in irgendeinem Hinterzimmer herumzudrücken, folgte ihr jedoch ohne Einwände durch die Sporthalle.

In Jeans und T-Shirt, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sah Lindsay aus wie der Typ Frau, der es sich am Ende des Tages mit einem Film oder einem Buch auf dem Sofa bequem machte.

Dieses Freizeitkonzept war Walker völlig fremd. Er verbrachte seine Abende über Tagesberichten und Bilanzen und konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal länger als zehn Minuten ferngesehen hatte.

In mancher Hinsicht war sie wie Theresa, die sich über sein Arbeitspensum beklagt und ein Häuschen im Grünen mit Kindern und Haustieren ersehnt hatte.

Doch das war nicht das Leben, das er sich wünschte. So gesehen war seine Zuneigung zu Lindsay völlig widersinnig.

Sie öffnete eine Tür, die in einen dunklen Korridor führte, und tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab. Vergeblich.

Sie wirbelte zur anderen Seite herum und stieß prompt mit Walker zusammen. Ihr Kopf landete unter seinem Kinn, ihre Brüste pressten sich an seine Brust. Atemlos verkündete sie: „Ich … Ich kann den Lichtschalter nicht finden.“

Spürte sie diegleiche verrückte Anziehungskraft wie er? Vergeblich bemühte er sich, die Zuneigung zu ignorieren, die ihn davon ablenkte, dass Lindsay die Anwältin war, die ihm den Prozess machte. Im Dunkeln nahm er sie nur als begehrenswerte Frau wahr.

„Irgendwo muss er doch sein.“ Sie griff an ihm vorbei, um die Wand abzutasten, und kam ihm dadurch noch näher.

Er wollte ihr ausweichen, doch sie rückte gleichzeitig zur Seite, und seine Hände landeten auf ihrer Taille.

Ihr Atem streifte seinen Hals. Heiß, verführerisch, verlockend. Ein Anflug von Verärgerung oder Verlangen oder vielleicht auch von beidem stieg in ihm auf.

„Vielleicht …“

„Ja, vielleicht“, unterbrach er und senkte den Kopf.

Und dann küsste er sie.

Lindsay erstarrte. Ihr Herz raste, ihr Atem beschleunigte sich. Ihr Körper wurde sehr, sehr still. Die leichte Berührung seines Mundes auf ihren Lippen wirkte zärtlich, süß, geduldig. Verblüffend.

Der Kuss begann so sanft und anregend wie ein Sommerregen in der weiten Prärie. Für einen Moment vergaß Lindsay, wer er war, vergaß alles um sich her. Sie reckte sich ihm entgegen, und er schlang ihr einen Arm um die Taille und zog sie an sich. Er schmeckte nach Kaffee und Mann, und sie ließ sich mehr und mehr hinreißen.

Dann fiel ihr wieder ein, dass er ihren geliebten Heimatort als beengend bezeichnete und die Gemeinschaft mit einem Häkelkränzchen verglich. Walker Jones hegte keinerlei Sympathie für Rust Creek Falls; sein wahres Interesse galt einzig und allein seinem Profit.

Ein heißer Kuss im Dunkeln hinter der Sporthalle änderte gar nichts daran.

Sie wich zurück, stieß an die Wand und spürte den Lichtschalter im Rücken. Hastig betätigte sie ihn. „Wir müssen mit den Buden weitermachen.“ Ja, das ist clever – einfach so tun, als ob nichts passiert wäre. Je eher sie wieder an die Arbeit gingen, desto eher konnte sie Distanz zwischen ihnen schaffen.

Walker warf ihr einen forschenden Blick zu. „Das stimmt allerdings.“

Er nahm gleich mehrere Sperrholzplatten auf einmal, während sie sich mit einer einzigen begnügte. Die Bretter waren schwer und unhandlich, sodass es Konzentration erforderte, sie durch den schmalen Korridor zu bugsieren.

Als sie schließlich mit dem Aufbau der nächsten Bude begannen, war der Kuss vergessen. Zumindest redete Lindsay sich das ein. Das hielt sie trotzdem nicht davon ab, verstohlene Blicke auf Walkers breiten Rücken, seine muskulösen Arme, den konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht zu werfen.

Er küsste verdammt gut, und es war verdammt lange her, dass sie derart in Versuchung geraten war. Doch er war durch und durch ein Bonze. Seiner Vita hatte sie entnommen, dass er single und kinderlos war und lediglich eine einzige Langzeitbeziehung geführt hatte, die vor zwei Jahren in die Brüche gegangen war. Er hatte sich nie sozial engagiert, sich nie mit etwas anderem beschäftigt als dem Aufbau seines Imperiums.

Eine Parallele zu Jeremy, in den sie sich im College Hals über Kopf verliebt hatte, der ihr jedoch letztendlich seine Karriere vorgezogen hatte. Seine Profitgier hatte über das schlichte beschauliche Kleinstadtleben triumphiert, das sie bevorzugte.

Seitdem scheute Lindsay die Suche nach einem Partner. Zum einen kannte sie jeden Single in Rust Creek Falls, zum anderen blieb ihr durch ihr Arbeitspensum kaum Zeit für mehr als einen gelegentlichen Drink bei Lani.

Und nun war sie sich überdeutlich der Ähnlichkeit von Walker Jones mit ihrem Ex bewusst. Rein äußerlich mochte er ihrem Typ Mann entsprechen, in moralischer Hinsicht verkörperte er das genaue Gegenteil. Er wurde von Geld getrieben, nicht von den Werten, die ihre Welt in Rust Creek Falls ausmachten.

Ohne viele Worte vollendeten sie die letzte Bude.

„Das war eine Menge Arbeit“, bemerkte Lindsay. „Ich bin begeistert, dass wir es an einem Tag geschafft haben.“

„Ich verstehe nicht, warum nicht einfach fertige Marktstände gekauft wurden. So teuer können die nicht sein.“

„Die meisten Geschäfte hier haben kein Marketingbudget“, konterte sie gereizt.

„Warum wird dann überhaupt ein Dorffest veranstaltet?“ Er blickte zu den anderen freiwilligen Helfern, die Dekorationen anfertigten. „Das scheint reine Zeitverschwendung zu sein.“

„Ein Dorffest ist überhaupt keine Verschwendung. Es geht dabei nicht um Verkaufszahlen, sondern um den Zusammenhalt in der Gemeinde.“

„Ich sage es nur ungern, aber so etwas gibt es nur in Romanen. Die Leute setzen sich nicht friedlich um ein Lagerfeuer und halten Händchen, nur weil man ein Erntedankfest veranstaltet.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn verärgert an. „Sind Sie wirklich so abgestumpft?“

„Ich ziehe es vor, mich als realistisch zu bezeichnen.“

„Diese Ortschaft verbindet mehr als ein Erntedankfest, Mr. Jones. Als Jamie Stocktons Frau starb, haben sich die Einwohner zusammengetan, um ihm rund um die Uhr zu helfen, seine frühgeborenen Drillinge zu versorgen. Aus reiner Gefälligkeit. Und als Ihre Tagesstätte die Kinder krank gemacht hat …“

„Moment mal!“ Abwehrend hielt Walker die Hände hoch. „Hören Sie auf mit solchen Unterstellungen.“

Sie hörte nicht auf. Zornig auf ihn, sich selbst und den Kuss fuhr sie fort: „Und als Ihre Tagesstätte die Kinder krank gemacht hat, haben sich die Einwohner wieder zusammengetan, um die betroffenen Familien zu unterstützen. Dieser Ort ist keine mondäne Großstadt. Aber gerade deshalb lieben es so viele Menschen, hier zu leben. Und deshalb werden Sie …“, Lindsay tippte ihm mit einem Finger auf die Brust, „… niemals hierher passen – ganz egal, wie viele Runden Sie spendieren oder wie viele Buden Sie bauen.“

Und damit machte sie auf dem Absatz kehrt und lief aus der Sporthalle. Der Tag, an dem Walker Jones nach Tulsa zurückkehrte, konnte für sie nicht früh genug kommen.

Bei Just Us Kids brannten die Lichter am Samstagnachmittag selbst nach Ladenschluss. Nach der Eröffnung im Juli war das Geschäft gut angelaufen, doch die negative Publicity hatte für erhebliche Einbußen gesorgt. Erst seit wenigen Wochen schrieb der Betrieb wieder schwarze Zahlen. Wenn Walker verhindern konnte, dass der Gerichtsprozess als Titelstory in der Rust Creek Falls Gazette ausgeschlachtet wurde, war vielleicht bald wieder Profit zu verzeichnen.

Bella Stockton, die Managerin der Tagesstätte, stand hinter dem Empfangspult auf, als er eintrat. Sie war groß und dünn – wie eine Bohnenstange, hätte seine Großmutter gesagt. Sie hatte kurze blonde Haare und braune Augen und stets ein Lächeln parat. Beim Einstellungsgespräch hatte sie flexibel und nervenstark gewirkt – also bestens geeignet für die Arbeit in einem Kindergarten.

„Mr. Jones. Schön, Sie wiederzusehen“, sagte sie.

Er blieb mitten in der Eingangshalle stehen und sah sich um. Farbenfrohe Fliesen bedeckten den Fußboden. Die Wände waren sonnenscheingelb gestrichen und bunte Kindermöbel strategisch platziert. Ein Ventilator in Form eines Helikopters drehte sich gemächlich an der Decke.

Ihm fielen mehrere neue Errungenschaften auf. Die Wände waren mit kindlichen Kunstwerken wie Fingerfarben-Blumen und Buntstift-Tieren verziert. In einer Ecke standen Körbe voller Spielzeug, in einer anderen Bücherregale und Sitzmöbel. Alles in allem sah es heimelig und einladend aus.

„Mir gefallen die Details.“ Er blickte zu Bella. „Wie ich meinen Bruder kenne, gehe ich davon aus, dass Sie dafür verantwortlich sind.“

Sie nickte. „Ich dachte mir, dass auch der Eingangsbereich ansprechend auf Kinder wirken sollte.“

„Gute Arbeit. Sehr gut.“

„Danke.“

Die Tür ging auf; Hudson eilte in einem Schwall kühler Oktoberluft herein. „Hey, tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Ich hatte ein Date zum Lunch, das sich etwas ausgedehnt hat“, verkündete er grinsend.

Walker verdrehte die Augen. „Da du jetzt endlich hier bist, machen wir gleich mal einen Rundgang. Ich will mir selbst einen Überblick verschaffen, damit ich der Anwältin Paroli bieten kann.“

Hudson wandte sich an Bella. „Du weißt ja, wie der Laden so läuft. Führ du meinen Bruder herum.“

Sie verzog das Gesicht. Offensichtlich gefiel ihr sein mangelndes Engagement ebenso wenig wie Walker. „Ich bin bloß die Managerin, nicht die Besitzerin.“

Hudson schenkte ihr sein verführerisches Grinsen, mit dem er schon Dutzende von Frauen bezirzt hatte. „Aber du machst deine Sache ganz ausgezeichnet.“

Sie wirkte nicht sonderlich beeindruckt von dem Kompliment.

„Am besten begleitet ihr mich beide auf die Tour“, entschied Walker. „Weil ich offensichtlich nicht der Einzige bin, der sich überzeugen muss, wie der Betrieb geführt wird.“

Bella hielt eine Sicherheitsplakette an das Lesegerät neben dem Eingang zu den inneren Räumlichkeiten und erklärte: „Um durch diese Tür zu gelangen, braucht man so eine Plakette, sodass kein Unbefugter hereinkommen und kein Kind unbeaufsichtigt hinausrennen kann.“

„Hervorragend! Es hätte mir gerade noch gefehlt, dass ein Kind verloren geht.“

Sie ging voraus in den Korridor und zeigte nacheinander die Gruppenräume, die jeweils mit altersgemäßen Spielen und Büchern ausgestattet waren. „Wir bieten eine Vielzahl von Aktivitäten für die verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen an, damit jedes Kind individuell gefördert wird.“

„Großartig“, lobte Walker. „Das gefällt mir.“

„Wir arbeiten außerdem mit der lokalen Grundschule zusammen. Wenn ein Kind in einem der Vorschulfächer Schwierigkeiten hat, kann eine Nachhilfe organisiert werden.“

Er nickte anerkennend.

Hudson stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Sie ist smart, stimmt’s? Ich bin verdammt froh, sie hier zu haben. Sie hat immer so gute Ideen.“

Bella ignorierte das Lob und ging weiter. „Nach dem Auftreten der Krankheitsfälle haben wir die ohnehin umfangreichen Präventivmaßnahmen noch verschärft und insbesondere die Anzahl der Handdesinfektionsstationen erhöht.“

„Das höre ich gern“, sagte Walker. „Glauben Sie, dass sich das Marshall-Baby bei uns angesteckt hat? Bitte sagen Sie mir die Wahrheit, damit ich nächste Woche vor Gericht nicht unliebsam überrascht werde.“

„Nun, nach einem langen Wochenende kamen mehrere Kinder mit Husten und Schnupfen hierher, was allerdings nicht weiter verwunderlich war, da gerade eine Sommergrippe im ganzen Ort grassierte. Wir haben unser Personal angewiesen, besonders gründlich zu reinigen und sich noch häufiger die Hände zu waschen. Es war nicht auszumachen, ob es sich nur um eine harmlose Erkältungswelle oder etwas Ernsteres handelte.“

Walker hatte sich über die Krankheit informiert und wusste daher, dass sie wie eine normale Erkältung begann und sich bei Kindern mit geschwächtem Immunsystem zu einer ernsten Atemwegserkrankung entwickeln konnte.

Bella seufzte. „Erst drei Tage später wurde uns mitgeteilt, dass ein Kind an RSV erkrankt war. Daraufhin wurden sofort alle Eltern benachrichtigt und die verschnupften Kinder von den anderen separiert.“

„Ich hab ja gesagt, dass Bella super ist“, warf Hudson ein. „Alle, die hier arbeiten, finden sie fantastisch. Ich muss mir überhaupt keine Gedanken machen, wenn ich ihr die Leitung überlasse.“

Erneut zeigte sie sich wenig beeindruckt von dem Lob und ignorierte Hudson weitgehend.

Dass sie immun gegen seinen Charme war, gefiel Walker ganz besonders. „Es freut mich, dass Sie alles im Griff hatten. Sie leisten großartige Arbeit, Bella.“

„Ich mache nur meinen Job. Mir liegt sehr an den Kindern.“

„Das merkt man“, bestätigte er mit einem Seitenblick zu seinem Bruder.

Hudson verfolgte das Gespräch nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit galt vor allem Bellas Person. Offensichtlich hatte er sich in sie verguckt und interessierte sich mehr für seine Wirkung auf sie statt die Vorgänge im Kindergarten.

„Bella, ich möchte Sie offiziell als Filialleiterin einsetzen“, eröffnete Walker. „Natürlich bei entsprechend höherem Gehalt.“

„Ich … Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Vielen Dank.“

„Sehr gern.“

„Sie beide haben sicherlich noch einiges zu besprechen“, vermutete sie, als der Rundgang in der Lobby endete. „Ich gehe dann jetzt nach Hause. Nochmals vielen Dank, Mr. Jones.“

Sobald sie außer Hörweite war, wollte Hudson wissen: „Was zum Teufel soll das?“

Autor

Teresa Southwick
Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
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