Bianca Extra Band 59

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TRAUMPRINZ MIT VERGANGENHEIT von PAIGE, LAURIE
"Ich bin kein Mann fürs Heiraten." Seth darf seiner Traumfrau Amelia nichts vormachen! Obwohl er am liebsten jeden Morgen neben der rotgelockten Schönheit aufwachen würde, fürchtet er: Sobald er ihr die Wahrheit über seine Vergangenheit anvertraut, wird sie ihn nicht mehr wollen!

HEIß BEGEHRT, HEIß ERSEHNT von FERRARELLA, MARIE
Als Lily einen Labradorwelpen vor ihrer Tür findet, gerät ihr wohlbehütetes Herz in Gefahr: Ständig kommt der gut aussehende Tierarzt Christopher Whitman vorbei! Angeblich nur, um den Hund zu trainieren. Trotzdem kann sie seiner magischen Anziehungskraft nicht lange widerstehen …

ZWEI WIE ROMEO UND JULIA von CROSBY, SUSAN
Jenny ist zurück! Win hat ihre leidenschaftliche Sommeraffäre nie vergessen, die heimliche Hochzeit, kurz darauf die tragische Trennung … Er begehrt seine Jugendliebe immer noch heiß. Ehe er sich‘s versieht, liegen sie sich erneut in den Armen. Mit unerwartet süßen Folgen …

WEIL DU DER RICHTIGE BIST von SIMS, JOANNA
Mit Job, Kind und Ranch ist Single-Mom Kate mehr als ausgelastet. Da würde doch jeder Mann nur stören! Es sei denn, er kümmert sich so liebevoll um sie und ihre Tochter wie der wunderbare Arzt Liam Brand. Aber kaum gibt Kate der Liebe eine Chance, bedroht ihr Ex das neue Glück …


  • Erscheinungstag 03.07.2018
  • Bandnummer 0059
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733599
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laurie Paige, Marie Ferrarella, Susan Crosby, Joanna Sims

BIANCA EXTRA BAND 59

LAURIE PAIGE

Traumprinz mit Vergangenheit

Der Liebe hat Amelia längst abgeschworen. Bis ihr sexy Jugendschwarm Seth in einer Sturmnacht bei ihr Unterschlupf sucht. Gegen jede Vernunft spürt sie sofort eine heimliche Sehnsucht in seinen Armen …

MARIE FERRARELLA

Heiß begehrt, heiß ersehnt

Seit Christopher sich um den Welpen von Konditorin Lily kümmert, steht das wohlgeordnete Leben des Tierarztes Kopf. Denn noch verführerischer als ihre Köstlichkeiten schmecken ihre süßen Küsse …

SUSAN CROSBY

Zwei wie Romeo und Julia

Kaum zurück in der Heimat, verfällt Jenny wieder ihrer Jugendliebe Win. Doch die gemeinsame Zukunft scheint nach wie vor undenkbar: Wie Romeo und Julia gehören sie bitter verfeindeten Familien an …

JOANNA SIMS

Weil du der Richtige bist

Obwohl Kate ihm halbherzig einen Korb gegeben hat, bleibt Liam hartnäckig. Er will seine schöne Traumfrau für sich gewinnen! Doch als er endlich ihr Herz erobert hat, gefährdet ihr Ex die neue Liebe …

1. KAPITEL

Amelia Miller hob den Kopf, als eine kräftige Windbö die Fensterscheiben in dem alten viktorianischen Haus erzittern ließ. Das Gemäuer hatte während seiner hundertzwanzig Jahre schon wesentlich stärkeren Stürmen standgehalten. Dieser erste Oktoberregen war trotzdem ziemlich heftig.

Sie streckte die Füße näher zu dem künstlichen gasbetriebenen Kamin. Draußen war es um die null Grad. Ihr kleines Hotel – eher eine Frühstückspension – war zum Wochenende hin ausgebucht, und die Gäste, von denen die letzten erst vor wenig mehr als einer Stunde eingetroffen waren, hatten es sich in ihren Zimmern gemütlich gemacht.

In ihrer überschaubaren Welt war alles in bester Ordnung.

Die meisten ihrer Gäste waren Paare und übers Wochenende aus Boise zum Wandern hergekommen. Der Herbst hatte die Hügel bunt angemalt – die Espen und Pappeln leuchteten in diesem Jahr besonders schön. Blieb nur zu hoffen, dass die Naturliebhaber sich vom Regen nicht von ihren Ausflügen abhielten ließen.

Beim Blick auf die Uhr stellte Amelia fest, dass es fast elf war. Sie gähnte, trank den Rest ihres Kräutertees und klappte den Liebesroman zu, in dem sie gerade gelesen hatte. Er erinnerte sie an ihre eigene Jugend: Im Alter von zwanzig Jahren hatte sie sich in einen blendend aussehenden Cowboy verguckt, der wegen des Rodeos in die Stadt gekommen war. Nachdem sie einander gerade einmal zwei Wochen gekannt hatten, hatte sie ihn geheiratet und sich auf das größte Abenteuer ihres Lebens gefreut.

Das Herzklopfen hatte etwa zwei Monate gedauert, die Ehe immerhin zwei Jahre gehalten – vor allem wegen ihrer Hartnäckigkeit, denn so schnell gab Amelia nicht auf. Ihr schöner Cowboy hatte sich leider als cholerischer Typ und noch dazu hinterhältig entpuppt. Als sie ihm den Besuch einer Eheberatung vorgeschlagen hatte, war er gewalttätig geworden. Daraufhin hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegangen. Sie musste sich eingestehen, einen schweren Fehler gemacht zu haben.

Mit dreiunddreißig waren ihr dann nicht mehr so viele Illusionen geblieben. Ihr Glück bestand inzwischen aus einem ausgebuchten Hotel und einem Dach, durch das es nicht regnete – so viel zu junger Liebe und den Träumen, die damit verbunden waren …

Sie musste lächeln, als sie an ihre Naivität von damals dachte. Gleichzeitig empfand sie ein Gefühl von Melancholie. Erneut gähnte sie. Es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Um halb sechs würde die Nacht für sie schließlich vorbei sein.

Das Läuten der Türklingel erschreckte sie. Amelia schlüpfte in die flauschigen Pantoffeln, band ihren Morgenmantel fester zu und betrat den Korridor. Im Licht der Außenlampen zu beiden Seiten der Eingangstür erkannte sie durch die Butzenscheiben einen einsamen Mann. Den Kopf hatte er gesenkt, als wäre er tief in Gedanken versunken, und die Hände hielt er in den Taschen seines Trenchcoats vergraben, der wiederum vor Nässe glänzte.

„Wer ist da?“, fragte sie durch die geschlossene Tür.

„Amelia? Ich bin’s, Seth Dalton.“

Seth Dalton! Der Junge, bei dessen Anblick sie als Sechzehnjährige immer Herzklopfen bekommen hatte. Er war der älteste der Dalton-Brüder, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern von ihrem Onkel Nick und dessen Frau Milly aufgenommen worden waren. Seltsamerweise klopfte Amelias Herz auch jetzt schneller, als sie die Tür öffnete.

„Bei diesem Wetter schickt man ja keinen Hund vor die Tür!“, begrüßte sie ihn. Nachdem er seinen Regenmantel auf der Veranda ausgeschüttelt hatte, kam er ins Haus.

Er schloss die Tür, stellte seinen Rucksack ab und hängte den Mantel an einen Haken. „Ja, schrecklich“, pflichtete er ihr mit einem müden Lächeln bei.

„Ähm … Hatten wir eine Verabredung?“

„Nein. Ich wollte zur Ranch, bin aber später als geplant aus der Stadt zurückgekommen. Es war so viel Verkehr auf der Straße … und dazu dieses Unwetter. Ich habe fast drei Stunden auf der Autobahn gestanden. Deshalb bin ich hierhergekommen.“

Mitfühlend schnalzte sie mit der Zunge.

„Ich hoffe, du hast noch ein Zimmer für mich. Ich bin nämlich vollkommen erledigt“, fuhr er fort.

„Eigentlich sind wir ausgebucht. Die Leute wollen alle den Herbst hier genießen.“

„Oh! Und was ist mit dem Einzelzimmer?“

„Auch besetzt. Vor etwa einer Stunde ist dir ein Wanderer zuvorgekommen.“

Enttäuscht sah er sie aus seinen dunklen Augen an. „Na ja, dann werde ich wohl doch noch weiterfahren müssen“, sagte er seufzend.

Nicholas Dalton, der seine Neffen bei sich aufgenommen hatte, nachdem seine beiden jüngeren Brüder vor rund zwanzig Jahren bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen waren, wohnte auf dem Familienbesitz der Daltons, etwa dreißig Meilen von der Kleinstadt Lost Valley entfernt. Auf den gewundenen Landstraßen würde die Fahrt bei diesem Wetter mindestens eine Stunde dauern. Vielleicht war die Straße sogar unpassierbar, und Seth würde zum zweiten Mal an diesem Abend stranden.

Amelia warf einen Blick ins Wohnzimmer mit seinen Tischen und Stühlen und einem Sofa vor dem Kamin. „Nun ja, du könntest auf der Couch schlafen, wenn dir das reicht“, bot sie an.

„Das reicht mir vollkommen!“, antwortete er sofort.

Lächelnd zeigte er seine Zähne, deren strahlendes Weiß in starkem Kontrast zu seinem schwarzen Haar und der dunklen Haut standen. Seths Mutter war eine Latina gewesen, und er hatte ihr gutes Aussehen geerbt.

Mit einem Meter achtzig war er ein wenig kleiner als seine Cousins, aber er hatte einen ausgesprochen muskulösen Körper. Während seiner Schulzeit war er Quarterback in der Footballmannschaft gewesen und hatte seinem Team so manchen Sieg beschert. Die Mädchen waren ganz verrückt nach Seth gewesen – inklusive Amelia.

Sie schloss die Tür hinter ihm und führte ihn ins Wohnzimmer. „Möchtest du duschen?“, fragte sie. „Oder wenigstens deine Haare trocknen? Im Bad ist ein Föhn …“

„Das Angebot nehme ich gern an.“

Während er sich im Bad aufhielt, bereitete sie ihm das Bett auf dem Sofa vor. Als sie hörte, dass der Föhn im Badezimmer ausgeschaltet wurde, ging sie in die Küche, machte heißen Kakao und wärmte ein paar Muffins in der Mikrowelle auf. Kurz darauf kam sie mit einem Tablett in der Hand ins Wohnzimmer zurück.

„Das duftet ja köstlich!“, sagte er. Nach dem Duschen hatte er nur eine Jogginghose angezogen, und beim Anblick seines nackten Oberkörpers pochte Amelias Herz so heftig, als wäre sie noch der Teenager, der für Seth geschwärmt hatte.

„Ich dachte mir, dass du nach der langen Fahrt vielleicht hungrig bist“, meinte sie.

„Eigentlich nicht, aber jetzt schon.“

Bildete sie es sich nur ein, oder klang seine Stimme tatsächlich tiefer und geheimnisvoller? Sie stellte das Tablett auf den Tisch und ließ sich in ihren Lieblingssessel sinken. Ehe er sich ebenfalls setzte, streifte er ein Sweatshirt über. Unvermittelt wurde Amelia sich bewusst, wie intim die Situation war. Es war schon sehr spät, und der Regen trommelte mit unverminderter Kraft gegen die Fensterscheiben. Doch in ihrem Wohnzimmer war es ausgesprochen gemütlich.

Schweigend tranken sie ihren Kakao, während Amelia ihren späten Gast aus den Augenwinkeln beobachtete. In dieser Gegend von Idaho eilte den Daltons ein gewisser Ruf voraus. Das wusste sie von ihren Großeltern, bei denen sie aufgewachsen war, nachdem ihre Eltern sich getrennt hatten. In Idaho hatte Amelia auch die Highschool besucht, da sie weder zu ihrer Mutter noch zu ihrem Vater ein gutes Verhältnis gehabt hatte. Obwohl ihre Großeltern sich liebevoll um ihre Enkelin gekümmert hatten, war Amelia sich manchmal wie ein Waisenkind vorgekommen – Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Resignation waren häufige Begleiter in ihrer Jugend gewesen.

Amelia riss sich zusammen. Warum gab sie sich denn solch trüben Erinnerungen hin? Vielleicht lag es am Sturm und am Regen. Sie schaute auf und bemerkte, dass Seth sie aufmerksam betrachtete, sodass sie unwillkürlich errötete. Hoffentlich merkte er nichts davon. Sollte er etwas von ihrer Reaktion mitbekommen haben – was bei ihrer hellen Haut durchaus möglich war, die sie wie die rötlichen Haare von ihrer Großmutter geerbt hatte –, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er war eben ein echter Gentleman.

Seth schaute sich im Zimmer um. „War das nicht einmal ein richtiger Kamin?“, fragte er mit Blick auf den Gasofen, dessen Flammen ein offenes Feuer imitierten. „Ich habe die Schornsteine einmal jährlich gereinigt, als deine Großeltern noch lebten.“

„Ich …“ Sie musste sich räuspern, um die Heiserkeit aus ihrer Stimme zu vertreiben. „Ich habe in diesem Sommer einen Gasofen einbauen lassen. Der Kamin hat einfach zu viel Schmutz gemacht, mit der ganzen Asche und so, und dann musste ich immer das Holz besorgen und stapeln … Doch auf das Feuer wollte ich trotzdem nicht verzichten – besonders nicht an kalten Abenden wie diesen.“

Er nickte verständnisvoll. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete er das Feuer, das fast natürlich wirkte. Seth hatte schwere Lider – die Mädchen in der Schule sprachen immer von seinem Schlafzimmerblick –, und die roten und gelben Flammen verliehen seinem Gesicht etwas von einem Freibeuter.

Er hatte ein markantes Kinn und ausgeprägte Wangenknochen. Seine Lippen waren wohlgeformt, und sein Lächeln war unwiderstehlich. Die Naturkrause in seinem Haar versuchte er dadurch zu verbergen, dass er es immer besonders kurz geschnitten trug. Als er noch zur Schule ging, hatte er schulterlange Locken gehabt. Oft hatte sie sich bei dem Wunsch ertappt, mit den Fingern durch seine Mähne zu fahren.

Der Gedanke ließ sie noch stärker erröten. Glücklicherweise betrachtete er noch immer das Feuer. Er nahm einen Schluck von seinem Kakao, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Den Becher hielt er mit beiden Händen umklammert, als wollte er die Finger daran wärmen. Dabei schien er tief in Gedanken versunken.

Ihre Haut kribbelte – als würden seine Finger sie berühren und nicht den Becher. Plötzlich spürte sie einen Hunger und eine Begierde auf diesen Mann, die sie selbst zutiefst schockierten. Unvermittelt sprang sie auf. „Gute Nacht!“, stieß sie hervor.

Überrascht schaute er hoch. Ohne ein weiteres Wort floh Amelia in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie den Schlüssel herumdrehen sollte, fand dies dann aber doch zu albern. Er würde wohl kaum in ihr Schlafzimmer kommen.

„Gute Nacht!“, hörte sie ihn rufen. „Ich wünsche dir süße Träume.“

Träume? Sie dachte es höhnisch, als sie ein paar Minuten später ins Bett stieg. Lange genug hatte sie schon geträumt. Es reichte für ein ganzes Leben. Sie besaß ein kleines Hotel, das sie selbst eingerichtet hatte und das ausgesprochen gut lief. Wer brauchte da noch Träume?

Jeder. Der Wind flüsterte an der Fensterscheibe. Es klang ein wenig traurig und einsam.

Unwillkürlich musste sie an eine andere Zeit denken – als sie sechzehn gewesen war und bis über beide Ohren verliebt …

Seth stellte die Gasflamme im Kamin ab und machte es sich auf der Couch gemütlich. Wider Erwarten war sie sehr bequem. Er stopfte sich das Kissen unter den Kopf und dachte an die Frau im Nebenzimmer.

Während des Duschens war seine Libido erwacht – kein Wunder, das Bad duftete nach allen möglichen weiblichen Nuancen, nach Shampoo, Puder und Parfüm. Die Kerzen, die sie auf den Rand der Badewanne gestellt hatte und die fast heruntergebrannt waren, regten seine Fantasie zusätzlich an. Er stellte sich Amelia in der Wanne vor, die üppigen roten Locken umrahmten ihr schönes Gesicht, die Kerzenflammen brachten ihre helle Haut zum Schimmern und ließen sie aussehen wie Pfirsichblüten.

Allein bei dem Gedanken reagierte sein Körper sofort. Gut, dass Amelia nicht im Zimmer war. Die verräterische Beule unter der Bettdecke wäre ihr bestimmt nicht entgangen – und ihm äußerst peinlich gewesen.

Fast kam er sich wieder vor wie siebzehn, als er seine Gefühle auch nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Amelia war ein Jahr jünger – von ihr war er vom ersten Anblick an fasziniert gewesen.

Und er erinnerte sich an jenes Herbstfest im Gemeindezentrum, als wäre es gestern gewesen. Amelia hatte draußen im Halbschatten gestanden …

„Amelia!? Was tust du denn hier draußen? Du wirst dich erkälten.“ Wie der Held in einem Roman hatte er seine Jacke ausgezogen und ihr über die Schultern gelegt. Die kühle Nachtluft fand er erfrischend.

„Danke“, murmelte sie, „aber mir geht es gut. Wirklich.“ Sie gab ihm die Jacke zurück.

Nach dem schnellen Tanz spielte die Band eine langsame Nummer. Er streckte die Hand aus. „Möchtest du tanzen?“

Sie schüttelte den Kopf und zog sich tiefer in den Schatten zurück. Ihre Ablehnung faszinierte ihn mehr, als dass sie ihn vor den Kopf stieß. „Komm. Wir gehen besser hinein, ehe uns einer der Anstandswauwaus sieht und uns zum Schuldirektor schickt, weil wir uns in den Büschen herumtreiben.“

Doch sein Humor verfing bei ihr nicht. „Nein, danke“, lehnte sie ab. „Ich denke, ich gehe nach Hause.“

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und lief über den Schulparkplatz. Sie hatte nur einen dünnen Schal um die Schultern drapiert. Er versuchte, sich an ihre Adresse zu erinnern. Richtig – sie wohnte auf der anderen Seite der Stadt in einem einstöckigen weißen Haus bei ihren Großeltern.

Er beschloss, ihr hinterherzulaufen. So schnell wollte er sich nicht geschlagen geben.

„Dein Kleid sieht toll aus“, meinte er, als er sie eingeholt hatte. „Ich habe Jennifer Rinquest sagen hören, dass sie dich darum beneidet.“

„Es gehört meiner Großmutter“, antwortete Amelia so ernst, wie sie immer war. „Der Stoff ist so gewebt, dass er mal bronzefarben und mal violett erscheint – je nachdem, wie das Licht darauf scheint.“

„Interessant.“

„Ja.“

Den Parkplatz hatten sie hinter sich gelassen. Um Mitternacht war die Mainstreet menschenleer, auch Autos fuhren keine mehr. Lang erstreckten sich die Schatten zwischen den Straßenlaternen, und sie wurden noch länger, als Seth und Amelia in die Straße einbogen, in der ihre Großeltern wohnten.

Er fragte sich, warum sie so schweigsam war. Die meisten Mädchen redeten doch gern, hatte er festgestellt. Er fühlte sich in Amelias Gesellschaft nicht unwillkommen, obwohl sie es nicht darauf anlegte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Etwas Geheimnisvolles umgab sie – so, als lebe sie an einem Ort und zu einer Zeit, die nur für sie allein bestimmt waren.

Als eine Windbö ihm ihren Duft in die Nase wehte, spürte er unvermittelt ein Verlangen, das ihn erschreckte. Erneut schien sie seine Reaktion nicht zu bemerken. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht hatte sie nur deshalb nicht getanzt, weil sie es nicht konnte.

„Möchtest du, dass ich dir das Tanzen beibringe?“

„Nein, danke. Ich war in der Tanzschule“, erwiderte sie in dem beiläufigen Ton, der nichts über ihre Gefühle verriet.

Aber er ließ nicht locker. „Hast du dir etwa das Bein gebrochen?“

Sie hatten das Haus ihrer Großeltern erreicht. Stirnrunzelnd sah sie ihn an. „Nein.“

Er grinste unbeholfen. „Entschuldige. Ich habe mich nur gefragt, warum ich dich nicht habe tanzen sehen.“

„Niemand hat mich aufgefordert.“

Ihre Ehrlichkeit machte ihn sprachlos. Sie ließ sich auf die altmodische Schaukel fallen, die von der Verandadecke hing, und er setzte sich neben sie. „Du hattest keine Begleitung?“

Sie zögerte. „Meine Großmutter hat einen Jungen, der weiter unter auf der Straße wohnt, gebeten, mit mir hinzugehen. Sobald wir im Gemeindezentrum angekommen waren, ist er verschwunden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es war mir egal. Ich habe eine Weile zugesehen, es war ganz interessant. Und dann habe ich beschlossen, wieder nach Hause zu gehen.“

Sie musste sich fast vier Stunden dort aufgehalten haben – lange genug, damit ihre Großeltern sich nicht über ihre frühe Rückkehr wunderten. Er legte einen Arm um ihre Schultern. Seine Finger berührten ihre nackte Schulter, die nur zum Teil von einer Jacke bedeckt wurde. Die Haut fühlte sich kalt an. Seth zog Amelia näher an sich.

„Du wirst dich erkälten.“

„Ich werde niemals krank.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Er ließ sich von ihrer abweisenden Haltung nicht verunsichern, sondern berührte ihre Wange, fuhr mit dem Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Und dann küsste er sie.

Der Kuss war überwältigend, schockierend, beunruhigend, verwirrend – als ob rings um sie herum die Sterne vom Himmel fielen.

Sie erwiderte seine Berührung nicht, öffnete nicht einmal ihre Arme. Aber ihre Lippen … Himmel, diese Lippen fühlten sich wunderbar weich an. Zuerst zögerte sie, dann bewegte sie die Lippen, erwiderte seinen Kuss, öffnete den Mund, ließ ihn ihre Zunge liebkosen. Einen solchen Kuss hatte er noch nie erlebt – und er hatte schon eine Menge Mädchen geküsst, seitdem er im vergangenen Jahr Co-Kapitän seiner Footballmannschaft geworden war. Nie im Leben hätte er mit einer solchen Reaktion gerechnet, dafür erschien ihm Amelia viel zu distanziert.

Als er sich von ihr löste und ihr Gesicht betrachtete, schlug sein Herz noch schneller. Im Mondlicht schimmerte ihre Haut wie Elfenbein. Er küsste Amelia erneut und zog sie näher zu sich, bis sie halb auf der Schaukel lagen und er die Weichheit ihres Körpers spürte. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass ihm die Küsse nicht reichen würden.

Ihre Brüste drückten hart gegen seinen Oberkörper, und er schob ein Bein zwischen ihre Oberschenkel. Dabei geriet die Schaukel ins Schwanken, und fast wären sie zu Boden gefallen.

Sie klammerten sich aneinander, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Können wir woanders hingehen?“, fragte er.

„Es gibt ein Kutscherhaus“, murmelte sie und drückte einen Kuss auf seine nackte Brust. Jetzt erst merkte er, dass sie sein Hemd aufgeknöpft hatte. Er nahm ihr Gesicht in seine zitternden Hände und schaute ihr in die Augen. In ihrem Blick lag Verletzlichkeit und Vertrauen, und schlagartig wurde ihm klar, dass er dieses Vertrauen nicht missbrauchen durfte. Obwohl er nichts lieber getan hätte, als mit ihr …

„Ich habe einige Pläne“, sagte er heiser. „Ich gehe aufs College. Und hinterher will ich Jura studieren. Das dauert Jahre …“

Ihre Miene und ihre Haltung änderten sich innerhalb von Sekundenbruchteilen. Mit einem Mal war ihre Leidenschaft verschwunden. Ihr gesunder Menschenverstand und eine reservierte Haltung gewannen die Oberhand. Ihren Sinneswandel empfand Seth wie einen Messerstich.

Sie setzte sich kerzengerade hin und richtete das Oberteil ihres altmodischen Kleids, um die bloße Haut zu bedecken, die er eben noch geküsst hatte.

„Ich weiß“, erwiderte sie tonlos. „Macht nichts. Danke fürs Nachhausebringen.“

Und damit verschwand sie. Er hörte, wie das Schloss von innen zuschnappte, und sah ihrer Silhouette durch die Butzenscheiben der Tür nach, bis sie im Korridor verschwand und das Licht erlosch. Er sollte sie erst im nächsten Frühjahr wiedersehen, und bei ihrem Treffen verhielt sie sich ihm gegenüber so kühl und distanziert, als hätte es diesen Abend auf der Veranda niemals gegeben.

Nach der Highschool hatte auch er die Stadt verlassen, um einen Ferienjob anzunehmen, ehe er im Herbst zu studieren begann. Seitdem war er nur noch selten zu Hause gewesen …

Unruhig wälzte Seth sich auf dem Sofa hin und her. Die Erinnerungen an damals hatten sein Begehren noch intensiver werden lassen, und der Gedanke daran, dass Amelia nur wenige Schritte entfernt von ihm in ihrem Bett lag, ließ ihn erst recht kein Auge zutun. Der attraktive Teenager von einst war zu einer wunderschönen Frau geworden. Der Blick ihrer Augen war immer noch kühl, und die roten Locken rahmten ihr Gesicht wie damals an jenem zauberhaften Abend nach dem Herbstfest. Inzwischen bedauerte er es, dass sie nicht weitergegangen waren, als Leidenschaft und Begierde sie überwältigen wollten und sie dennoch so unschuldig gewesen waren, wie er es nie mehr erlebt hatte. Aber vielleicht war es besser so. Beide hatten noch einen weiten Weg zurückzulegen, ehe sie ernsthaft an eine Beziehung denken konnten.

Er war Anwalt geworden, wie er es vorgehabt hatte. Sie hatte geheiratet, sich scheiden lassen, war nach Lost Valley zurückgekehrt und hatte eine gut florierende Frühstückspension eröffnet, nachdem ihre Großeltern vor sieben Jahren kurz nacheinander gestorben waren. Er hatte ihr bei den Erbschaftsangelegenheiten mit anwaltlichem Rat geholfen.

Amelia hatte sich in den vergangenen Jahren ziemlich verändert. Sie war zugänglich und offen geworden, ganz und gar nicht mehr der schüchterne Teenager von einst. Sie hatte sogar in einem Musical mitgewirkt, das im Sommer aufgeführt worden war. Die Verletzlichkeit ihrer Jugend, die ihn so sehr an ihr fasziniert hatte, war verschwunden und einem gesunden Selbstbewusstsein gewichen. Sie war zu einer Frau geworden, die genau wusste, was sie wollte.

Seth überlegte, in welcher Beziehung sie sich sonst noch geändert haben mochte. Über diesen Gedanken schlief er ein.

2. KAPITEL

So leise wie möglich öffnete Amelia die Tür. Es war sechs Uhr. Um diese Zeit begann sie gewöhnlich mit ihrer Arbeit.

Vorsichtig betrat sie das Wohnzimmer und lief auf Zehenspitzen über den Teppich, um Seth nicht aufzuwecken. Einen Arm hatte er übers Gesicht gelegt, der andere hing halb überm Sofa. Die Decke war hinunter auf seine Knie gerutscht, sodass sie seinen nackten Oberkörper sehen konnte. Außerdem bemerkte sie die Beule in seiner grauen Jogginghose.

Sie war … schockiert? Überrascht? Irritiert? Als hätte sie noch nie zuvor einen erregten Mann gesehen. Diesen hier noch nicht! Eine Stimme wisperte in ihrem Ohr, obwohl Amelia und Seth einander schon geküsst und berührt hatten. Aber das war lange her …

Als sie weitergehen wollte, stolperte sie über einen Schuh, den er neben dem Sofa abgestellt hatte. Obwohl sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, landete sie auf dem Körper ihres Gastes.

Noch im Halbschlaf legte er die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Die Beule, die sie zuvor nur gesehen hatte, drückte nun hart und kräftig gegen ihren Unterleib.

Er riss die Augen auf, und sie schaute ihn an, als wäre er ein Raubtier, das sie jeden Moment verschlingen würde. „Entschuldige bitte!“, stammelte sie. „Ich bin gestolpert …“ Die Stimme versagte ihr.

Er schaute sie an und lockerte seinen festen Griff. „Du bist aber früh auf“, sagte er grinsend.

„Ich stehe immer um halb sechs auf.“ Jetzt klang ihre Stimme gepresst und abweisend. „Wenn du mich bitte loslassen …“

Er nahm die Arme von ihrem Rücken und setzte sich aufrecht hin. Sie stand auf und zog ihren Pullover über ihre Hose. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor und schob seinen Schuh beiseite, der die Ursache ihres Falls gewesen war. Dabei knickte sie mit dem anderen Fuß um. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Knöchel.

Heute war wirklich nicht ihr Tag!

„Hast du dich verletzt?“, fragte Seth besorgt.

„Ich glaube, ich bin gerade umgeknickt.“ Dabei hatte sie an diesem Morgen noch so viel zu tun.

„Lass mal sehen.“

Sie erstarrte, als er ihren Fuß in die Hand nahm, ihr den Pantoffel abstreifte und vorsichtig mit dem Finger auf die Stelle drückte, die bereits anzuschwellen begonnen hatte. Die Berührung seiner Finger ließ sie erschauern.

„Alles in Ordnung“, wehrte sie ab. „Autsch!“

„Hier am Knochen wird es schon dick!“, stellte er fest. „Wir müssen den Fuß sofort kühlen.“

„Nein, nein, das geht schon so. Ich habe keine Zeit. Ich muss in die Küche und Marta mit dem Frühstück helfen.“

Er schüttelte den Kopf. „Mit diesem Fuß machst du heute gar nichts – oder in den nächsten Tagen. Vielleicht solltest du ihn sogar röntgen lassen. Möglicherweise ist er gebrochen.“

„Ist er nicht“, widersprach sie. „Das wird sich schon wieder einrenken, wenn ich ihn erst mal belaste und ein Stück damit laufe.“

Amelia schob Seth zurück, ehe sie auf die Idee kam, etwas wirklich Dummes zu tun – etwa ihn aufs Bett zurückzuziehen und … Weiter konnte sie nicht denken.

Er schaute hoch zu ihr. Dabei berührte er mit seinem nackten Oberkörper ihr Knie. Tief holte er Luft, und sie fragte sich, ob er das Begehren in ihrem Blick bemerkt hatte. Sie war sich nicht sicher, was schmerzhafter war – der angeknackste Knöchel oder die Begierde, die ihren Unterleib erwärmte.

Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss.

„Marta ist gekommen!“, sagte Amelia erleichtert. „Ich muss gehen.“

Während er seinen Rucksack ergriff und im Bad verschwand – „Ich brauche nur zehn Minuten!“, versicherte er ihr –, humpelte sie in die Küche. So stark war der Schmerz auch nicht, stellte sie fest.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte ihre Küchenhilfe, die gerade ein Blech mit Muffins in den Ofen schob.

Amelia verzog das Gesicht. „Ich bin gestolpert.“

„Dann solltest du dich heute besser schonen“, meinte Marta. „Ich kann das Essen auf die Anrichte stellen.“

„So schlimm ist es auch wieder nicht.“ Amelia hüpfte auf einem Fuß zum Herd und stellte Wasser für den Tee auf. Ein köstlicher Duft nach Zimt-und-Apfel-Muffins begann durchs Haus zu ziehen. Ihren Gästen würde das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Nachdem Amelia sich an den Tisch gesetzt und eine Tasse Tee getrunken hatte, streifte sie die Backofenhandschuhe über, hockte sich vor den Herd und wollte das heiße Blech herausholen. Beim Aufstehen schoss ein mörderischer Schmerz durch ihren Knöchel. Um ein Haar hätte sie das Backblech fallen lassen. Zwei starke Hände umfassten ihre Taille, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. „Ich habe dir doch gesagt, dass du aufpassen sollst!“, schimpfte Seth mir ihr.

„Seth Dalton!?“ Mit weit aufgerissenen Augen sah Marta ihn an.

„Höchstpersönlich“, entgegnete er. „Setz dich hierhin!“, befahl er Amelia. Kaum saß sie auf dem Stuhl, zog er ihr den Pantoffel aus. „Gibt es hier Eiswürfel?“

„Im Kühlschrank.“ Marta holte den Eisbehälter heraus und ließ Wasser darüber laufen. Seth griff zu einem Geschirrtuch und füllte die Eiswürfel hinein. Anschließend wickelte er das Kissen um Amelias Knöchel und nahm ein zweites Tuch, um den Beutel festzubinden.

Verdutzt starrte Amelia auf ihren Fuß. „So kann ich aber nicht arbeiten.“

„Das sollst du auch gar nicht.“

Mit dieser Bemerkung hob er sie vom Stuhl und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf die Couch legte. Er zog ihr auch den anderen Pantoffel aus und bettete ihre Füße auf ein Sofakissen. Anschließend legte er ihr eine Decke über die Beine.

„Brauchst du sonst noch etwas?“, fragte er, nachdem er den künstlichen Kamin angestellt hatte.

Sie schüttelte den Kopf.

„Frühstück!“, rief Marta aus der Küche.

Er nickte. „Ich kümmere mich darum.“

Amelia kam sich ziemlich überflüssig vor. Womit hatte sie das nur verdient? In ihrem Knöchel pochte ein heftiger Schmerz. Das Eis sorgte für Schmerzen auf der Haut, und auf einmal fühlte sie sich richtig elend.

„Marta sagt, dass du Tee trinkst.“

Er hielt ihr eine Tasse vor die Nase, und sie nahm sie entgegen – nicht ohne ihrem Samariter einen resignierten Blick zuzuwerfen.

Er grinste nur und verschwand in der Küche. Während der nächsten halben Stunde sah Amelia ihm dabei zu, wie er das Essen, das Marta zubereitet hatte, auf der Anrichte platzierte. Um Punkt halb sieben war alles aufgetischt. Die Gäste konnten kommen.

Seth brachte ein Tablett aus der Küche und stellte es auf Amelias Beine. Marta folgte ihm mit einem zweiten Tablett und warf Amelia einen vielsagenden Blick zu, ehe sie wieder in der Küche verschwand. Seth setzte sich auf einen Stuhl und stellte sein eigenes Tablett auf die Knie.

„Köstlich“, sagte er, während er ein Stück Apfelmuffin kaute. „Willst du nichts essen?“, fragte er.

„Normalerweise esse ich morgens nur ein bisschen Obst“, antwortete Amelia und griff zur Gabel.

„Ein oder zwei Pfund mehr würden dir aber nichts schaden“, meinte er.

„Ich bin froh, dass ich die gerade runter habe“, entgegnete sie. Doch das Rührei sah wirklich köstlich aus, ebenso die Muffins. Und kurze Zeit später war ihr Teller leer.

Ehe Seth die Tabletts abräumte, füllte er noch einmal Amelias Teetasse. Dann betastete er den Eisbeutel an ihrem Knöchel und nickte. „Das hält noch eine Weile“, meinte er, bevor er in die Küche ging, um Marta zu helfen.

Während der nächsten drei Stunden sorgte er dafür, dass das Frühstücksbüfett nachgefüllt wurde, und unterhielt sich angeregt mit einigen der Gäste, die nicht müde wurden, ihr Mitgefühl für Amelia zu bekunden. Schließlich war das Frühstück vorbei, und die Gäste machten sich nach und nach zu ihren Wanderungen auf, denn der Regen hatte glücklicherweise aufgehört. Und obwohl Amelia den ganzen Morgen nichts getan hatte, war sie auf einmal so müde, dass ihr die Augen zufielen.

Kurz nach Mittag betrat Beau Dalton mit seinem schwarzen Arztkoffer das kleine Hotel.

„Ah, da ist ja unsere Patientin!“, begrüßte er sie mit einem Lächeln.

Amelia legte den Roman beiseite, in dem sie gelesen hatte. „Ich wusste nicht, dass Ärzte heutzutage noch Hausbesuche machen“, sagte sie. „Oder dass sie noch schwarze Arztkoffer mit sich herumschleppen.“

Er hob die Tasche. „Na, das verleiht uns doch unsere Autorität!“, konterte er. Sein Blick fiel auf die fast leere Anrichte. „Man hat mir ein Frühstück versprochen, wenn ich vorbeikäme. Zugegeben, fürs Frühstück ist es ein bisschen spät – aber vielleicht gibt es noch einen Apfelmuffin?“

Seth kam aus der Küche. „Ich habe dir eines gerettet, aber es war nicht einfach. Ich musste zwei zahlende Gäste niederschlagen.“

„Ich werde dich in meinem Testament berücksichtigen“, versprach Beau. Er trat ans Sofa und schob die Decke beiseite. „Dann wollen wir uns das Problem mit dem Knöchel mal ansehen.“ Er stieß einen Pfiff aus, als er die Schwellung sah.

„Sehr schlimm?“, fragte Seth und hockte sich neben das Sofa.

Besorgt wartete Amelia auf Beaus Diagnose. Er drückte vorsichtig auf die Stelle, zog an den Zehen und kitzelte ihre Fußsohle. Schließlich öffnete er seine Tasche und holte eine Bandage hervor. Nachdem er sie um Amelias Fuß gewickelt hatte, konnte sie ihn kaum noch bewegen. Und in einen Schuh passte er schon gar nicht.

„So schlimm ist es auch wieder nicht“, tröstete Beau sie. „Kühl den Fuß heute und morgen noch, das wird die Schwellung zurückhalten.“ Und an Seth gewandt, fuhr er fort: „Als Krankenschwester würde ich dich sofort einstellen, alter Knabe.“

„So, so“, brummte Seth.

„Und was dich angeht …“ Beau drehte sich wieder zu Amelia. „Den Fuß mindestens eine Woche nicht belasten und danach erst einmal auch nur ganz sachte! Wenn er bis Montag nicht besser ist, komm vorbei, und wir machen eine Röntgenaufnahme. In ein paar Tagen kannst du dann mit Physiotherapie anfangen. In sechs Monaten bist du wieder vollkommen hergestellt.“

„Sechs Monate!?“ Sie war schockiert. „Ich kann doch nicht sechs Monate lang liegen bleiben. Dafür habe ich viel zu viel zu tun. Honey und ich wollten das Kutscherhaus in diesem Winter renovieren.“

Honey war mit einem anderen Dalton-Cousin verheiratet und hatte das Kutscherhaus gemietet und betrieb darin ein Tanzstudio.

„Vergiss es“, antwortete Beau fröhlich. „In den nächsten Wochen wirst du nichts Schwereres heben können als einen Besen. Ein paar Bänder sind gerissen, und die brauchen ihre Zeit zum Heilen. Wenn du deine Übungen machst und dich vernünftig verhältst, ist bald wieder alles in Ordnung. Wenn nicht …“

Amelia rutschte das Herz in die Hose. Sie brauchte das Geld. Nach drei Jahren war sie schuldenfrei gewesen und hatte seitdem schwarze Zahlen geschrieben – wenn auch nicht allzu große. Deshalb konnte sie sich auch nur eine Halbtagskraft leisten. Den Rest musste sie alleine stemmen. Und ihr Hotel musste sie auf jeden Fall offen halten.

„Sie macht genau das, was du ihr sagst“, schaltete Seth sich ein. Sein Tonfall verriet, dass er in dieser Beziehung keinen Spaß verstand. „Ich bin schuld, dass sie gestürzt ist. Ich habe meine Schuhe neben dem Bett stehen lassen, und sie ist darüber gestolpert.“

Erstaunt schaute Beau zwischen seinem Cousin und Amelia hin und her. Jetzt erst wurde auch Amelia klar, was Seth gesagt hatte.

„Nein, nein“, erklärte sie rasch. „Er hat nicht gemeint … So war es nicht.“

„Stimmt“, kam Seth ihr zu Hilfe. „Ich meinte das Sofa, nicht Amelias Bett. Ich habe meine Schuhe neben die Couch gestellt.“

„Verstehe.“ Beau beugte sich zu seiner schwarzen Tasche hinunter, um sein Grinsen zu verbergen.

„Die Zimmer waren alle belegt. Deshalb hat Seth im Wohnzimmer geschlafen“, fügte Amelia hinzu.

„Es war schon spät, als ich gestern zurückkam“, nahm Seth den Faden auf. „Ich habe mir gedacht, es ist besser, hier zu übernachten, als hinaus auf die Ranch zu fahren.“

„Schon klar.“ Beau ließ die Tasche zuschnappen. „Wo bleibt mein Apfelmuffin!?“

„Ich hol ihn dir.“ Seth ging in die Küche und kam kurz darauf mit einem voll beladenen Tablett zurück – mit einem Apfel-und-Zimt-Muffin für Beau, einer Suppe und Thunfischsandwiches sowie einem Glas Milch für Amelia. Als sie um einen Tee bat, sagte er nur: „Trink das erst aus.“

„Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus!“, meinte Beau grinsend. „Wenn Seth dich unter seine Fittiche nimmt, dann gibt es kein Entkommen. Er kehrt den Chef raus und treibt dich in den Wahnsinn. In der Beziehung ist er erbarmungslos. Am besten versuchst du gar nicht erst, Widerstand zu leisten.“

„Ach ja?“, erwiderte Seth. „Genau so, wie ihr Jungs es tut, wenn ich euch rate, eure Ersparnisse zu mehren und eure Steuern zu verringern?“

Beau verdrehte die Augen. „Die paar Kröten, die ich durch deine Ratschläge spare, sind den Aufwand nicht wert.“

Amüsiert hörte Amelia den Frotzeleien der beiden Männer zu, während sie ihr Frühstück beendeten. Sie beneidete die beiden um ihr gutes Verhältnis. Wie gerne hätte sie auch Geschwister oder Cousinen gehabt. Doch sie war das einzige Kind ihrer Eltern geblieben, und die hatten sich auch noch scheiden lassen.

Schließlich warf Beau einen Blick auf seine Uhr. „Höchste Zeit, zurückzufahren“, verkündete er. „Die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein.“

Nachdem er gegangen war, räumte Seth die Küche auf. Als er zurückkam, nahm er ein Kissen zur Hand und stopfte es Amelia unter den Kopf.

„Was hast du vor?“, fragte sie erstaunt.

„Höchste Zeit für deinen Mittagsschlaf!“, erwiderte er. Ehe er die Hand fortzog, strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Obwohl die Berührung nur flüchtig war, sandte sie wohlige Schauer über ihren Rücken.

„Vielen Dank für deine Hilfe“, sagte sie. „Ohne dich hätte ich das heute nicht geschafft.“

„Gern geschehen. Ruf mich, wenn du mich brauchst.“

„Fährst du denn nicht nach Hause?“, fragte sie verwundert.

„Ich bleibe noch ein bisschen“, erwiderte er, ehe er die Wohnzimmertür hinter sich zuzog.

Lächelnd schloss Amelia die Augen. Dass ausnahmsweise ein Mann in ihrem Haus war, der nicht zu den zahlenden Gästen gehörte, gefiel ihr ausgesprochen gut.

„Nein, ich bleibe hier, bis alles geregelt ist“, erklärte Seth.

„Der Unfall war deine Schuld?“, fragte sein Onkel Nick am anderen Ende der Telefonleitung.

„Ja. Amelia ist über meinen Schuh gestolpert. Beau hat eine Verstauchung festgestellt. Die Heilung eines Bänderrisses kann bis zu einem Jahr dauern.“

„Du willst also ein ganzes Jahr dort bleiben und sie versorgen?“

Seth grinste. „Natürlich nicht. Es ist aber sinnvoll, in der Stadt zu bleiben, während ich hier meine Kanzlei einrichte. Die Pension ist der ideale Standpunkt.“

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. „Nun ja, ich freue mich, dass du wieder nach Hause kommst“, meinte Onkel Nick schließlich.

„Deshalb kann ich es auch ganz gemächlich angehen lassen“, fuhr Seth fort. „Donnerstags und freitags arbeite ich in dem Büro über Beaus Arztpraxis und von mittwochs bis donnerstags bin ich in der Stadt.“

„Keine schlechte Idee!“, lobte Onkel Nick. „Sich die Kosten fürs Büro zu teilen, ist gar nicht so dumm.“

Nachdem Seth sich von seinem Onkel verabschiedet hatte, erledigte er einige geschäftliche Telefonate, ehe er wieder nach Amelia sah. Sie schlief immer noch tief und fest. Er ging zurück in die Küche und trat in den Garten hinaus. Aus dem Kutscherhaus drang Musik. Er folgte den Klängen und öffnete die Tür. Honey stand, in ein Sportdress gekleidet, vor einer Gruppe übergewichtiger Männer und Frauen.

Als die Musik endete, kam sie zu ihm und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht. „Ganz schön heiß heute, nicht wahr?“, begrüßte sie ihn.

„Kommt drauf an, was man macht.“ Er ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen. „Interessanter Kurs.“

Sie folgte seinem Blick. Ihre Kursteilnehmer machten sich zum Gehen bereit. „Die hat mir alle Beau geschickt. Er dachte, ein bisschen Gymnastik würde seinen Patienten guttun. Es hält sie beweglich und hilft ihnen beim Abnehmen.“

„Verstehe. Bist du noch eine Weile hier?“

„Ja, warum?“

Er berichtete ihr von Amelias Unfall. „Es wäre schön, wenn jemand bei ihr wäre, solange ich nicht im Haus bin. Im Moment schläft sie.“

„Kein Problem. Ich habe den nächsten Kurs erst um drei. Solange bleibe ich gern bei ihr.“

„Ich bin rechtzeitig zurück, um mich ums Abendessen zu kümmern.“ Er runzelte die Stirn. „Ich werde ihr etwas bestellen müssen.“

„Wie wär’s mit Pizza? Sag das aber bitte nicht Beau“, beschwor sie ihn. „Er predigt seinen Patienten schon seit Langem, dass sie sich gesund ernähren sollen.“

„Ich kann ja zusätzlich etwas Obst und Gemüse mitbringen. Das macht’s dann wieder gesund. Wollt ihr nicht mit uns essen, du und Zack?“

„Warum nicht? Ich hinterlasse in seinem Büro eine Nachricht für ihn. Im Moment streift er durch die Wälder auf der Jagd nach Wilddieben.“

Zack war Sheriff, der sich zurzeit mit einigen mysteriösen Fällen herumschlagen musste – zum Beispiel der Tatsache, dass unbekannte Täter in der Gegend Kühe abschlachteten. Die Farmer in der Umgebung waren in heller Aufregung.

Seth ließ Amelia in Honeys Obhut, während er zu dem Haus fuhr, in dem Beau seine Praxisklinik hatte und in dessen erster Etage Seth demnächst seine Kanzlei eröffnen würde. Die Zimmerleute renovierten gerade das ehemalige Ess- und Wohnzimmer.

Seth unterhielt sich kurz mit den Handwerkern, anschließend lud er auch seinen Cousin und Shelby zum Pizzaessen ein. Kurz vor drei war er wieder in der Pension, sodass Honey pünktlich mit ihrem Sportunterricht beginnen konnte.

Amelia stand in der Küche, als Seth das Haus betrat.

„Was zum Teufel machst du hier!?“, wollte er wissen.

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Nach was sieht’s denn aus? Ich muss für heute Abend etwas zu essen machen.“

„Hat Honey dir nicht gesagt, dass ich mich darum kümmere?“

Sie schüttelte den Kopf. Die roten Locken schwangen hin und her. Auf einem Fuß sprang sie zum Kühlschrank und holte ein großes Tablett heraus, auf dem sie bereits das Gemüse fürs Abendessen angerichtet hatte. Er wurde wütend.

„Verdammt, kaum drehe ich dir den Rücken zu, tust du, was du willst, anstatt auf mich … auf deinen Arzt zu hören. Nachher ruinierst du dir deinen Knöchel noch vollkommen.“ Verärgert nahm er ihr das Tablett aus der Hand und stellte es auf die Küchentheke. Anschließend hob er sie auf seine Arme, trug sie ins Wohnzimmer und setzte sie auf die Couch.

„Du bleibst sitzen!“, befahl er, als sie Anstalten machte, aufzustehen. Wütend sah sie ihm hinterher, als er in die Küche zurückging. Doch ihr Zorn verrauchte schon bald, und um ihre Mundwinkel zuckte es, bis sie sich das Lächeln nicht länger verkneifen konnte.

Eigentlich war es doch schön, dass sich jemand so sehr um sie beziehungsweise um ihre Gesundheit sorgte.

Im Speisesaal des Hotels herrschte Hochbetrieb. Alle Gäste waren von ihren Wanderungen zurückgekehrt und genossen das Essen, das Marta vorbereitet und Seth auf dem Büfett angerichtet hatte.

Es hatte Amelia gefallen, dass Seth einen großen Teil des Tages bei ihr verbracht hatte. Natürlich würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als ihm das zu gestehen. Am folgenden Tag würde er wahrscheinlich auch bei ihr bleiben, aber wie sollte sie den Montag überstehen? Da musste er zurück in seine Kanzlei in Boise.

Das Frühstück schaffte Marta vermutlich alleine, auch wenn es etwas stressig für sie werden würde. Das Problem war die Reinigung der Gästezimmer. Um die kümmerte Amelia sich nämlich normalerweise selbst. Wer sollte das jetzt übernehmen?

Seth tauchte an der Wohnzimmertür auf. „Bereit?“, fragte er.

Sie richtete sich auf dem Sofa auf. „Wofür?“

„Fürs Abendessen.“ Er nahm sie auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer, als sei sie ein Federgewicht. Drei verschiedene Pizzen standen auf dem Tisch, dazu Gemüse und Obst. Sie hörten, wie die Hintertür geöffnet wurde und Honey die Küche betrat. „Hallo, ich habe den Pizzadienst wegfahren sehen!“, rief sie. „Zack ist schon unterwegs.“

„Wir haben Gesellschaft“, erklärte Seth, als er Amelias fragenden Blick bemerkte. Vorsichtig setzte er sie in den Schaukelstuhl und stellte einen Hocker vor sie hin, damit sie ihre Füße hochlegen konnte. Mit einem prüfenden Blick auf ihren Knöchel meinte er: „Sieht so aus, als könntest du eine neue Eispackung vertragen.“ Er verschwand in der Küche und ließ die beiden Frauen allein.

„Wie geht’s deinem Knöchel denn?“, erkundigte sich Honey.

Amelia schnitt eine Grimasse. „Gut … solange ich nicht vergesse, dass ich ihn nicht bewegen soll.“

Im Flur wurden Stimmen laut. Amelia erkannte Seths und Zacks volltönenden Bariton. Sie begrüßten Beau, den Doktor, und Shelby, seine Verlobte und Sprechstundenhilfe.

Die Dalton-Männer scheinen in letzter Zeit in Heiratsstimmung zu sein, dachte Amelia. Die Neuankömmlinge betraten das Wohnzimmer und brachten eine Brise kühler Luft mit ins Haus.

„Kaum zu glauben, dass es so kalt geworden ist“, sagte Shelby. „Dabei waren es heute Nachmittag noch achtzehn Grad.“ Sie lächelte Amelia zu und überreichte ihr eine Tüte. Amelia schaute hinein und bedankte sich hocherfreut für die beiden Romane.

„Wie geht’s dir denn?“, fragte Shelby und deutete mit einer Handbewegung auf ihren verletzten Fuß.

„Es ist gar nicht so schlimm. Seth hat mich heute den ganzen Tag keinen Finger rühren lassen. Ich könnte mich an den Müßiggang gewöhnen.“

„Beau hat erzählt, dass du über Seths Schuhe gestolpert bist, die er neben das Bett gestellt hat.“ Fragend zog Shelby die Augenbrauen hoch.

„Wie bitte!?“ Zack schaute zwischen Seth und Amelia hin und her. „Gibt es da etwas, das ihr uns erzählen wollt?“

„Nein.“ Seth verteilte die Pappteller und reichte die Pizzakartons umher. „Amelia mag zwar keine Pappteller, aber da ich mich heute um das Essen kümmere, habe ich beschlossen, dass wir sie trotzdem verwenden.“

„Kein Problem“, murmelte Beau, dem es sichtlich schwerfiel, sich das Lachen zu verkneifen. Er zwinkerte Zack zu, während die beiden anderen Frauen Amelia interessiert betrachteten.

Sie spürte, dass sie errötete.

„Jetzt lasst es mal gut sein, Jungs“, sagte Seth. Dann erzählte er, wieso er bei Amelia übernachtet hatte. „Ich habe übrigens mit Marta gesprochen“, fuhr er dann an Amelia gewandt fort. „Sie sagt, ihre Cousine könnte sich ab nächster Woche um die Zimmer kümmern. Du müsstest dann nur noch den Telefondienst übernehmen. Das kannst du ja vom Sofa aus tun, nicht wahr?“

Fünf Augenpaare schauten sie an.

Amelia nickte nur – Entscheidungen, die sie unmittelbar betrafen, wurden auf einmal ohne sie getroffen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Es machte ihr Angst, was natürlich verrückt war. Sie sollte schließlich dankbar für jede Hilfe sein.

„Danke“, entgegnete sie schnell. „Damit wäre ja für alles gesorgt, bis ich wieder auf den Beinen bin.“

Angeregt unterhielten sich die sechs während des Essens. „Du hast wirklich ein hübsches kleines Hotel aufgebaut, Amelia“, lobte Honey. „Und die Einrichtung ist wunderschön. Vielleicht könntest du uns bei unserem neuen Haus beraten.“

„Wenn wir’s denn jemals in Angriff nehmen“, fügte Zack trocken hinzu. „Im Moment haben wir so viele andere Dinge am Hals, dass wir wahrscheinlich erst im nächsten Jahr zu planen anfangen können.“

„Na ja, auf der Ranch ist es ja auch sehr schön“, gab Honey zu. „Ich lebe sehr gerne dort. Und ich liebe es, Zack bei der Ponyzucht zu helfen. Es bricht mir nur jedes Mal das Herz, wenn wir die Tiere verkaufen.“

„Du warst noch nie bei so einem Verkaufswochenende dabei, nicht wahr?“, wollte Seth von Amelia wissen. Sie schüttelte den Kopf.

„Dann solltest du das nächste Mal auf die Ranch kommen.“

„Ich darf mich doch nicht bewegen“, schmollte sie.

„Ich werde dich auf Händen tragen“, versprach Seth.

„Hört, hört!“, riefen die anderen wie aus einem Mund, und Amelia wurde schon wieder rot.

Später, nachdem die beiden anderen Paare sich verabschiedet hatten, schaute Amelia verträumt in die Flammen des Kamins. Es war ein wunderschöner Abend gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie davon geträumt hatte, ein solches Leben zu führen …

„Hier“, riss Seth sie aus ihren Gedanken. Er reichte ihr zwei Tabletten und ein Glas Wasser.

„Was ist das?“

„Etwas gegen die Schmerzen. Beau hat dir die Medikamente hiergelassen.“

Dankbar schluckte sie die Pillen. „Haben etwa alle mitbekommen, dass ich Schmerzen habe? Habe ich so laut gestöhnt?“

„Nein, aber du bist immer stiller geworden. Ich glaube, das war Hinweis genug – nicht, dass du sonst eine Plaudertasche wärst“, fügte er schnell hinzu.

Sie war sich nicht sicher, ob das als Kompliment oder als Kritik gemeint war. Deshalb nickte sie nur, nahm noch einen Schluck Wasser und stand vorsichtig auf. Bei einem Blick auf die Uhr stellte sie überrascht fest, dass es bereits nach zehn war.

„Meine Güte, wie schnell die Zeit vergeht“, murmelte sie.

„Wo gehst du hin?“, wollte er wissen.

„Ins Bett.“

Wortlos nahm er sie auf den Arm.

„Du kannst mich doch nicht überallhin tragen“, protestierte sie. „Ich schaffe das schon allein. Ich muss auf die …“

„Toilette?“, vollendete er den Satz für sie.

Sie nickte.

Er stellte sie vor der Badezimmertür auf die Füße, und sie schloss die Tür hinter sich. Sie putzte die Zähne und wusch sich das Gesicht. Sie spürte ihr gesundes Bein, das sie an diesem Tag viel stärker beansprucht hatte.

Seufzend dachte sie an die vor ihr liegende Arbeit. Seth konnte schließlich nicht rund um die Uhr bei ihr sein, während sie nur eingeschränkt bewegungsfähig war. Sie musste es irgendwie schaffen, allein zurechtzukommen.

Ein Klopfen an der Tür erschreckte sie. „Ja?“

„Ich bringe dein Nachthemd und deinen Morgenmantel.“

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und ihre Sachen landeten auf dem Boden. Sie zog sich schnell um und öffnete die Tür so vorsichtig, als befürchtete sie, von wilden Tieren angegriffen zu werden. Doch ehe sie einen Schritt tun konnte, war sie schon wieder auf seinen Armen und wurde in ihr Schlafzimmer getragen. Ihre Kleider, die sie fest umklammert hatte, legte er auf einen Stuhl. Dann drehte er sich wieder zu ihr um.

Sie schluckte schwer, als er sie anschaute. Während er sie zudeckte, wünschte sie sich einen verrückten Moment lang, sie wären ein Liebespaar, und er würde sich jetzt zu ihr legen, sie die ganze Nacht im Arm halten und ihren Körper mit Küssen bedecken.

Hör auf damit! Sie befahl es sich. Ich muss vergessen, dass er mich jemals geküsst hat. Aber eigentlich wollte sie das gar nicht vergessen …

„Gute Nacht“, sagte er und riss sie aus ihren Erinnerungen. Dann ließ er sie allein zurück.

Im Schein der Nachttischlampe lauschte sie dem Wind, der von den Teufelsbergen herüberwehte und die Fensterscheiben erbeben ließ. Der Schmerz in ihrem Fuß pochte immer schlimmer, trotz der Tabletten, die Seth ihr gegeben hatte.

Sie hörte, wie er im Nebenzimmer das Sofa für die Nacht zurechtmachte.

Können wir woanders hingehen? Er hatte sie vor langer Zeit danach gefragt.

Es gibt ein Kutscherhaus. So hatte sie geantwortet.

Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen bis zu jener Nacht, noch einmal das verlockende und gleichzeitig unschuldige Verlangen spüren, das süße Gefühl der ersten Liebe …

Es hat nicht sollen sein, sagte sie sich resigniert. Sie waren keine Teenager mehr. Und die Liebe war nie so einfach gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Mit einer raschen Bewegung knipste sie die Nachttischlampe aus und schloss die Augen.

3. KAPITEL

Auch am Sonntag kümmerte Seth sich um das Frühstücksbüfett, und gegen elf Uhr waren alle Gäste abgereist. „Was ist jetzt noch zu tun?“, fragte er.

„Das wär’s erst mal“, antwortete Amelia mit einem zufriedenen Lächeln. „Die nächsten Gäste kommen erst am Donnerstag. Bis dahin muss nichts getan werden. Also noch mal vielen Dank für deine Hilfe. Das war wirklich sehr nett von dir.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Du klingst, als wolltest du mich loswerden.“

„Na ja, du willst doch bestimmt deinen Onkel besuchen, ehe du in die Stadt zurückfährst?“

„Klar. Onkel Nick hat für heute zum Mittagessen eingeladen. Wir können gleich losfahren.“

„Wir?“

„Komm doch mit.“

„Ich bin nicht eingeladen.“

„Onkel Nick würde sich freuen, dich zu sehen.“

Amelia zögerte. „Vielen Dank, aber ich bleibe lieber hier.“

„Dann bleibe ich auch.“

Damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet. „Wann willst du denn nach Boise zurückfahren?“, fragte sie ein wenig irritiert.

„Mein Partner wird sich morgen mit den Klienten in Verbindung setzen, die ich am Freitag nicht erreichen konnte. Alle anderen Termine habe ich abgesagt, weil ich die Woche hier verbringen will.“

„Oh nein!“, erwiderte sie erschrocken. „Das hättest du nicht tun sollen. Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern. Wirklich nicht.“

„Wer denn sonst?“

Ihr fiel niemand ein, den sie hätte nennen können. Aber der Gedanke, dass er eine weitere Nacht in ihrem Wohnzimmer verbringen würde, gefiel ihr auch nicht. „Ich komme schon klar“, behauptete sie störrisch.

„Wir warten mal ab, wie es dir morgen geht. Dann entscheiden wir, ob du dich allein versorgen kannst, Rotschopf.“

Obwohl sie sich ein wenig überrumpelt fühlte, musste sie lächeln. „So hat mich schon lange keiner mehr genannt.“

„Wo ist deine Handtasche?“, fragte er unvermittelt.

Verwirrt sah sie ihn an. „Im Wohnzimmer. Aber …“

Ohne das Ende ihres Satzes abzuwarten, ging er hinaus, um ihre Tasche und ihre Jacke zu holen. Dann trug er sie hinaus zu seinem Wagen, einem silberfarbenen Pick-up. Als sie gegen diese Entführung protestieren wollte, meinte er nur: „Das Wetter ist viel zu schön, um im Haus zu bleiben.“

Da musste sie ihm allerdings recht geben. „Ich dachte immer, Anwälte fahren BMW und kaufen sich jedes Jahr einen neuen“, meinte sie, während er sie absetzte.

„Du hast zu viele Filme gesehen“, erwiderte er trocken.

Sie machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem und genoss die Fahrt durch den herbstlich bunt gefärbten Wald mit seinen goldenen und ockerfarbenen Farbtönen. Amelia entspannte sich und stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, ließ ihr Herz schneller schlagen. Die Schmerzen im Knöchel sind nichts im Vergleich zu den Schmerzen im Herzen, dachte sie.

Er hatte nie mehr jenen Abend erwähnt, an dem sie sich als Teenager so leidenschaftlich geküsst hatten, und dass es fast zu mehr gekommen wäre – wenn er keinen Rückzieher gemacht hätte. Aber in seinem Blick, mit dem er sie manchmal anschaute, las sie, dass auch er diese kurze Episode nicht vergessen hatte.

Nachdem sie gut zwei Stunden durch die prächtige Herbstlandschaft gefahren waren, tauchte das stattliche Anwesen der Daltons vor ihnen auf. Vor dem Haus standen Seths Onkel Nick, sein Cousin Travis und dessen neue Frau Alison und begrüßten einander.

Seth parkte neben dem Geländewagen und lief um seinen Pritschenwagen herum, um Amelia beim Aussteigen zu helfen. Eigentlich wollte sie laufen, aber er nahm sie einfach auf den Arm und trug sie zur Tür.

„Amelia – schön, dich zu sehen!“, begrüßte sein Onkel sie. „Seth hat mich gestern angerufen und mir von dem Unfall erzählt.“ Er legte seinem Neffen die Hand auf die Schulter. „Nett von dir, dass du dich um sie kümmerst. Wie geht es deinem Fuß?“, wandte er sich wieder an Amelia.

„Schon viel besser“, antwortete sie und schüttelte seine Hand.

Nick war ein gut aussehender Mann – schlank, groß gewachsen und braun gebrannt. Seine mindestens siebzig Jahre sah man ihm überhaupt nicht an. Das Leben hatte tiefe Falten in sein Gesicht gegerbt, deren Ursachen sowohl heitere als auch tragische Momente waren. Seine Frau war vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen – kurz, nachdem sie die Waisen bei sich aufgenommen hatten. Zur gleichen Zeit war seine Tochter entführt worden. Jedenfalls glaubte das jeder. Von der damals Dreijährigen fehlte bis heute jede Spur.

Amelia konnte seinen Kummer verstehen. Auch sie hatte das Gefühl gehabt, das Herz würde ihr aus dem Leib gerissen, als ihre Großeltern gestorben waren.

Nachdem Travis und Alison die Neuankömmlinge begrüßt hatten, begaben sie sich in ihr eigenes Haus, das weiter hinten auf dem weitläufigen Grundstück lag.

„Gehen wir rein“, schlug Seth vor, der Amelia noch immer auf dem Arm hielt. „Sie wird nicht leichter.“

Lachend führte Nick sie ins Wohnzimmer, wo Seth sie auf der Couch absetzte und mit Nick in der Küche verschwand, um ihm bei den letzten Vorbereitungen fürs Essen zur Hand zu gehen. Kurz darauf kamen auch Travis und Alison zurück. Sie hatten Kürbistorte und Schlagsahne mitgebracht. „Der Nachtisch!“, verkündete Alison.

Während des Essens unterhielten sie sich über alle möglichen Themen, sodass die Zeit wie im Fluge verging. Alisons Vater kandidierte für das Amt des Gouverneurs, und Amelia wollte wissen, ob sie ihn noch immer bei seiner Kampagne unterstützte.

„Ich schreibe die Pressemitteilungen für ihn. Außerdem habe ich zwei Vorträge gehalten – einen für pensionierte Staatsbedienstete und einen weiteren für Lehrer.“

„Aber ab sofort schaltet sie einen Gang runter“, schaltete Travis sich ein. „Im Frühjahr erwarten wir nämlich Nachwuchs.“

Einen Moment herrschte Schweigen. Endlich sagte Seth an seinen Onkel gewandt: „Na, siehst du! Da geht dein Herzenswunsch doch endlich in Erfüllung.“ Und dann gratulierte er den beiden. Amelia und Nick schlossen sich seinen Glückwünschen an.

Nach dem Dessert verkündete Seth mit einem Blick zu Amelia, dass es Zeit sei, nach Hause zurückzukehren. Einerseits fand Amelia es schade, die fröhliche Runde verlassen zu müssen. Andererseits war sie ihm dankbar für seinen Vorschlag, denn das Pochen in ihrem Fuß war beinahe unerträglich geworden.

„Ich freue mich so für Travis und Alison“, sagte sie auf der Rückfahrt. „Ich hatte schon befürchtet, dass er sich nie mehr von seinem Verlust erholen würde.“ Travis hatte vor nicht allzu langer Zeit seine erste Frau und seine Tochter verloren.

„Das ging uns genauso“, bestätigte Seth. „Sein Glück im Unglück war, dass er auf der Ranch gearbeitet hat. Das hat ihn wenigstens ein bisschen von seinem Kummer abgelenkt.“

Allmählich hatte sie sich bereits daran gewöhnt, dass sie keinen Schritt mehr selbst machen durfte, wenn Seth in ihrer Nähe war. Also ließ sie es zu, dass er sie ins Wohnzimmer trug, aufs Sofa legte und den künstlichen Kamin einschaltete, weil es ein wenig kühler geworden war. Er selbst sank in einen Sessel, zog die Schuhe aus und streckte die Füße zum Feuer. Schweigend saßen sie eine Weile beisammen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis er unvermittelt fragte: „Hast du dich eigentlich jemals gefragt, was passiert wäre, wenn wir damals Sex gehabt hätten?“

Es war wohl hauptsächlich seine Frage gewesen, die Amelia in dieser Nacht keinen Schlaf finden ließ. Unentwegt musste sie an die Möglichkeiten denken, die sich ergeben hätten, wenn sie miteinander geschlafen hätten. Oder eben auch nicht … Doch je länger Amelia darüber nachdachte, umso stärker wurde ihre Begierde. Und je stärker ihre Begierde wurde, umso wacher wurde sie.

Irgendwann war sie dann doch eingeschlafen, und als sie am Montag aufwachte, war es schon sehr spät. Jedenfalls für ihre Verhältnisse. Bereits sieben Uhr.

Erst als Amelia die Decke zurückgeschlagen hatte und mit einem Satz aus dem Bett gesprungen war, erst als der Schmerz vom Fuß bis hinauf in den Oberschenkel zog und sie mit einem Aufschrei auf die Matratze zurücksank, erinnerte sie sich daran, dass sie derzeit gar keine Gäste hatte, um die sie sich kümmern musste. Nur die Zimmer mussten gereinigt und die Betten abgezogen werden. Doch das konnte sie auch später erledigen.

Sie wartete, bis die stechenden Schmerzen nachließen, ehe sie unter die Dusche ging. Gut, dass Seth ihr nicht über den Weg gelaufen war. Sie musste lächeln, während ihr das heiße Wasser über den Rücken lief. Er hätte wahrscheinlich darauf bestanden, sie eigenhändig unter die Dusche zu stellen. Was für ein Gedanke! Sie erschauerte lustvoll.

Nachdem sie sich angezogen hatte – sie entschied sich für eine blaue Hose und eine Strickjacke –, humpelte sie über den Korridor in die Küche, wobei sie sich an der Wand abstützte, und setzte Teewasser auf. Zum Frühstück aß sie Kürbisbrot, fettarmen Streichkäse und eine Banane. Dabei notierte sie auf einer Liste, was sie an diesem Tag alles zu tun hatte.

Sie fragte sich, wo bloß Martas Cousine blieb. Die Frau sollte doch am Montag zu ihr kommen, um ihr mit den Zimmern zu helfen.

„Guten Morgen“, klang eine männliche Stimme an ihr Ohr.

Amelia schaute auf. Seth stand an der Tür. Er trug eine beigefarbene Hose und ein graugrünes T-Shirt, darüber ein schwarz-grün kariertes Hemd. Die frischen Sachen hatte er am Tag zuvor von der Ranch mitgenommen.

Er sah wie immer gut aus und wirkte total entspannt. Ob er wusste, was er mit seiner Frage am Abend zuvor bei ihr angerichtet hatte? Sie räusperte sich und holte tief Luft. „Nun ja, wie du damals schon gesagt hast: Wir hatten andere Pläne.

Damit stand sie auf und humpelte so würdevoll wie möglich aus der Küche. Nur zu gut konnte sie sich seinen verdutzten Gesichtsausdruck vorstellen.

Sie ging in ihr Büro, um einige Anrufe zu erledigen. Nach etwa einer Stunde kehrte sie zurück. Zu ihrer Überraschung saß er noch immer am Küchentisch – der Kaffee in seiner Tasse musste inzwischen kalt geworden sein.

„Da bist du ja wieder“, stellte er mit beiläufigem Tonfall fest. „Wie geht es dir denn heute Morgen?“ Er hatte also nicht vor, das Thema zu vertiefen. Ihr sollte es recht sein.

„Gut, danke.“

„Schön. Möchtest du noch einen Kaffee?“

„Nein, vielen Dank.“

„Prima. Dann können wir ja gleich los.“

„Wohin?“

„Deinen Fuß röntgen lassen.“

„Das ist nicht nötig. Der Knöchel ist viel besser geworden.“

„Lügnerin!“, konterte er mit sanfter Stimme. „Beau wartet schon auf uns.“ Er schaute über ihre Schulter. „Auf dem Rückweg können wir beim Supermarkt vorbeifahren.“ Dann grinste er spitzbübisch. „Widerstand zwecklos.“

Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu diskutieren. Seufzend ließ sie sich ins Auto tragen und versuchte, sich ihre Irritation über Seths Kommandoton nicht anmerken zu lassen. Trotzdem entging ihm ihre Verstimmung nicht. Hatte er vielleicht doch etwas zu sehr mit seinem gebieterischen Ton übertrieben? Dabei meinte er es doch nur gut mit ihr …

„Sei vorsichtig“, warnte er deshalb halb im Spaß seinen Cousin, als er Amelia ins Behandlungszimmer trug. „Heute ist sie nämlich angriffslustig wie eine Hornisse.“

„Ich werde auf Distanz bleiben“, versprach Beau und schmunzelte ebenfalls. „So gut das eben bei der Untersuchung geht.“

Das Röntgenbild zeigte einen Haarriss an einem Knochen. Beau bandagierte den Knöchel und reichte ihr ein Paar Krücken. „Wie bestellt“, erklärte er.

Bestellt!?“, fragte sie verwundert.

„Seth hat gesagt, du bräuchtest Krücken, weil du einfach nicht still sitzen bleiben willst.“

Da hatte ihr Samariter tatsächlich eine gute Idee gehabt. Und er musste nicht dauernd in ihrer Nähe sein, wenn sie von einem Zimmer ins andere ging.

Schade eigentlich …

Als sie jedoch wieder zu Hause ankam – nach einem Abstecher zum Supermarkt –, war sie ziemlich groggy. Und mit den Krücken zu laufen, war auch nicht gerade einfach.

„Du musst dich ausruhen“, sagte Seth. „Was ist sonst noch zu erledigen? Ich kümmere mich darum.“

„Wo bleibt eigentlich Martas Cousine?“, fragte Amelia, ohne Seth einen Einblick in ihre To-do-Liste zu gewähren.

„Ihr Kind ist heute Morgen mit Fieber aufgewacht. Sie kommt nicht. Entschuldige – ich habe ganz vergessen, es dir zu sagen.“

„Verdammt“, fluchte sie.

Er zog ihr die Liste unter den Fingern weg und überflog sie. „Wo soll ich die Lebensmittel verstauen?“

Sie humpelte in die Küche und setzte sich an den Küchentisch, um ihm Anweisungen zu geben. Nachdem er alles weggepackt hatte, bestand er darauf, dass sie sich wieder ausruhen müsse. Als sie auf der Couch lag, teilte sie ihm mit: „Jetzt kannst du mich allein lassen. Mehr muss heute nicht getan werden.“

Er blieb jedoch stehen und schaute sie fragend an. „Du bist sauer wegen irgendwas, stimmt’s? Hast du das Gefühl, dass ich dich herumkommandiere?“

Und wie! Allerdings musste sie ihm für seine Hilfsbereitschaft auch dankbar sein. Wer hätte sich sonst so fürsorglich um sie gekümmert? „Nein“, antwortete sie deshalb. „Ganz und gar nicht. Du warst mir eine große Hilfe. Aber du hast doch bestimmt selbst eine Menge zu tun. Es ist wirklich nicht nötig, dass du noch länger bleibst.“

„Immerhin bin ich an deinem Unfall schuld.“

Er hatte tatsächlich Gewissenbisse. War er etwa nur deshalb bei ihr geblieben?

„Ich hätte ja auch aufpassen können“, entgegnete sie.

Er zögerte. Schließlich sagte er nur: „Ruh dich einfach aus.“ Damit verließ er leise das Zimmer und schloss die Tür behutsam hinter sich.

Langsam ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen. Ihr war kalt und heiß zugleich – als hätte sie Fieber. Plötzlich wünschte sie sich, dass er nicht vor ein paar Tagen spätabends vor ihrer Tür gestanden hätte. Dass er sie nicht damals nach dem Herbstball nach Hause begleitet und geküsst hätte. Dass sie nicht den Mann geheiratet hätte, der dunkle Haare und dunkle Augen hatte und sie an diesen anderen Mann erinnerte, den sie niemals würde haben können.

Seth ließ sie natürlich nicht allein, sondern zog die Betten ab, wusch die Bettwäsche und die Handtücher und richtete jedes Zimmer für die neuen Gäste ein. Anschließend rief er einige seiner Klienten an, um mit ihnen über ihre Fälle zu reden.

Seth blieb auch am Dienstag und am Mittwoch und fuhr nur für zwei Gerichtstermine in die Stadt, die nicht viel Zeit in Anspruch nahmen. Der eine Fall war eine Scheidung, der andere eine Erbschaftsangelegenheit.

Als sie am Abend beisammensaßen, berichtete er ihr von seiner Arbeit. „In meinen zehn Jahren als Anwalt habe ich die Menschen besser kennengelernt als in den vielen Jahren zuvor“, meinte er. „Geld bringt die schlimmsten Seiten in den Menschen hervor. Sogar Familienmitglieder beharken sich hemmungslos, wenn sie etwa das Gefühl haben, bei einem Erbe zu kurz gekommen zu sein. Hast du eigentlich schon ein Testament gemacht?“

„Wozu? Ich habe doch keine Erben“, entgegnete sie.

„Irgendjemand wird deinen Besitz erben. Dein Mann und deine Kinder, die du irgendwann haben wirst. Bis dahin brauchst du eine Interimsverfügung für den Fall, dass du einen Unfall hast.“

„Ich denke darüber nach“, versprach sie ihm. Dabei stand ein Testament nun wirklich ganz unten auf ihrer To-do-Liste.

„Ha!“, entgegnete er skeptisch.

Daraufhin musste sie grinsen. Und er auch.

Am Donnerstagabend um acht Uhr trafen die beiden Paare ein, die Zimmer fürs Wochenende reserviert hatten. Seth half ihnen beim Einchecken und lud sie zu einem Willkommensdrink vor dem Kamin ein.

Amelia staunte, wie schnell er sich in seine neue Rolle als Hotelier eingefunden hatte. Er redete und scherzte mit den Gästen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, gab den Männern Tipps, wo sie am besten angeln konnten, und versorgte ihre Frauen mit Prospekten von Läden in der Stadt, wobei er nicht vergaß, auf einen Garagenverkauf hinzuweisen, der am Samstag stattfinden würde.

„Ihr Hotel ist sehr nett“, lobte eine der Frauen, während sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ und bei den Uhren an der Wand hängen blieb. „Ich nehme an, dass von diesen Schätzchen keine zu verkaufen ist?“

„Nein, tut mir leid“, antwortete Amelia. „Mein Großvater hat Uhren gesammelt und instand gehalten. Sie sind nicht besonders teuer gewesen, aber für mich haben sie einen großen Erinnerungswert.“

„Verstehe.“ Und mit einem Blick auf die zahlreichen Blumenvasen, die im Zimmer verteilt waren, wollte sie wissen: „Haben Sie und Ihr Mann all diese Blumen selbst gezüchtet?“

„Ja“, antwortete Seth.

„Nein“, entgegnete Amelia.

Die Gäste lachten. „Was denn nun!?“, fragte einer der Männer.

„Er ist nicht mein Mann. Ich habe einen Gärtner.“

Jetzt waren das Gelächter und die Verwirrung noch größer.

„Amelia gehört das Haus, und sie hat einen Gärtner, der sich um das Grundstück kümmert“, erklärte Seth. „Ich helfe ihr nur an diesem Wochenende, weil sie sich den Fuß verrenkt hat.“

„Und was tun Sie normalerweise?“, wollte eine der Frauen wissen.

„Von allem etwas“, antwortete er mit einem geheimnisvollen Lächeln.

„Seth ist Anwalt in Boise“, klärte Amelia ihre Gäste auf. „Seine Familie besitzt eine Ranch hier in der Nähe. Er besucht sie oft übers Wochenende.“

„Im Moment bin ich gerade dabei, ein zweites Büro meiner Kanzlei in Lost Valley zu eröffnen – sozusagen zurück zu den Wurzeln, wenn Sie so wollen.“

Nachdem sie sich noch eine Weile unterhalten hatten, verabschiedeten sich die Ehepaare, und Seth trug Amelia in ihr Schlafzimmer. „Schlaf gut“, murmelte er und stellte die Krücken neben ihr Bett. „Ich schließe die Türen ab, bevor ich mich hinlege.“

Sie hörte ihn noch eine Weile im Haus rumoren und überlegte, wo er wohl wohnen mochte, wenn er demnächst nach Lost Valley zog. Die Vorstellung, dass er bald ständig in ihrer Nähe sein würde, ließ ihr Herz schneller schlagen.

Doch eigentlich ging sie das gar nichts an, denn schließlich zog er ja nicht ihretwegen um.

4. KAPITEL

Nachdem die Gäste am Sonntag wieder abgereist waren, bereitete Seth die Zimmer für die nächsten Besucher vor, die sich für Freitag angekündigt hatten. Dieses Mal hatten Shelbys Verwandte die Räume gebucht, die wegen ihrer Hochzeit mit Beau Dalton anreisten.

Die ganze Stadt redete über die Vermählung des gut aussehenden jungen Arztes mit seiner Sprechstundenhilfe. Das war auch kein Wunder – schließlich handelte es sich um die dritte Hochzeit eines Daltons innerhalb von sechs Monaten.

Seth saß im Wohnzimmer und las die Zeitung. Eine Tasse Kaffee stand vor ihm auf dem Tisch. Amelia kam auf Krücken ins Zimmer gehumpelt. „Du bist schon aufgestanden. Das ist gut, denn ich wollte mit dir sprechen, ehe ich gehe. Setz dich, ich habe das Frühstück schon vorbereitet.“

Er stellte Toast, Eier und selbst gemachte Marmelade sowie Milch und Tee auf den Tisch. Anschließend sagte er ihr, dass er sämtliche Zimmer für die nächsten Gäste vorbereitet habe, dass sie unbedingt über ein Testament nachdenken solle und dass er für den Rest der Woche in der Stadt bleiben werde. Am Freitagmorgen wollte er jedoch zurück sein, um sie zu unterstützen, wenn die Hochzeitsgäste eintrafen.

„Das Einzelzimmer habe ich übrigens für mich selbst gebucht. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“ Er legte seine Hand auf ihre.

Sie nickte und genoss die Wärme seiner Finger. Ein sehnsüchtiger Ausdruck lag in ihren Augen, der Seth nicht entging. „Was denkst du gerade?“, wollte er wissen.

Sie schaute ihn an. „An das, was hätte sein können.“

Zu ihrer Überraschung nahm er ihr Gesicht in die Hände, sah sie lange an und kam dann näher, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Dabei schloss er die Augen, und sie tat es ihm nach.

Der Kuss war so sanft und zärtlich, dass er ihr fast die Tränen in die Augen trieb.

Nachdem er sich von ihr gelöst hatte, sagte er etwas sehr Rätselhaftes. „Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst.“

Damit stand er auf und ließ sie allein.

Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, als könnte sie seinen Kuss auf diese Weise festhalten. „Wer bist du denn dann?“, murmelte sie ratlos und schaute aus dem Fenster auf die Berge am Horizont, die in prächtigen Herbstfarben leuchteten.

Am Freitag war Amelias Fuß wieder so weit hergestellt, dass sie sich zumindest wieder ohne Krücken bewegen konnte. Ihr Hotel war bereit für die Hochzeitsgäste, die bald eintreffen würden. Shelby hatte für ihre Verwandten und die Daltons einen gemeinsamen Abend geplant – eine Art Willkommensparty und Polterabend.

Wie Amelia hatte auch Shelby früh geheiratet und sich bald darauf wieder scheiden lassen. Sie hatte ein Kind bekommen, das aufgrund einer Erbkrankheit kurz nach der Geburt gestorben war. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie wieder nach vorn schauen konnte. Aber jetzt war sie bereit für ein neues Leben mit Beau und dessen Sohn.

„Ist es nicht toll, dass sich das schöne Wetter so lange gehalten hat?“ Shelby trat an eines der Fenster an der Südseite des Zimmers. Ihr glattes rotes Haar fiel wie ein schimmernder Vorhang über ihre Schultern und leuchtete golden im Sonnenschein. „Nur auf den höchsten Gipfeln liegt ein bisschen Schnee. Und das am ersten November!“

„Wenn Engel heiraten, lacht die Sonne“, lächelte Amelia.

„Heißt es nicht Wenn Engel reisen …?“, fragte Shelby.

„Eigentlich schon“, gab Amelia zu, „aber das Sprichwort ist ja nicht in Stein gemeißelt.“

Plötzlich wurde Shelby ernst. „Warum habe ich plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas schiefgehen könnte? Alles sieht doch so perfekt aus …“

„Das ist nur das Lampenfieber“, beruhigte Amelia ihre Freundin. „Wenn morgen erst mal die Trauung vorbei und die Hochzeitsfeier in vollem Gange ist, dann wirst du nicht mehr daran denken.“

„Ich wünschte, es wäre schon vorbei“, seufzte Shelby.

Seth und Beau kamen ins Zimmer. Seth zog eine Augenbraue hoch. „Du solltest besser etwas unternehmen, Doktor. Das hört sich ganz so an, als bekäme die Braut auf einmal kalte Füße – nicht, dass ich es ihr verübeln würde.“ Und an Shelby gewandt, fuhr er fort: „Hast du ihn schon mal schnarchen hören?“

Shelby tat empört. „Wie denn? Wir sind doch noch gar nicht verheiratet.“

Seth zwinkerte ihr zu. „Ach ja, das habe ich ganz vergessen.“

Nach und nach trafen Shelbys Verwandte ein, und der Abend verging wie im Fluge. Als Amelia sah, dass alle ihre Gäste versorgt waren, zog sie sich unauffällig in ihr privates Wohnzimmer zurück. Sie war müde, und ihr Fuß hatte wieder zu schmerzen begonnen. Sie wollte sich gerade ausziehen, als es an ihrer Tür klopfte. Sie zuckte zusammen. „Ja?“

„Ich bin’s, Seth.“

Sie öffnete die Tür, und er stand mit einem Tablett in der Hand vor ihr. „Es kommt mir so vor, als hättest du den ganzen Abend nichts gegessen. Ich habe nicht einmal einen Teller vor dir stehen sehen.“

Hatte er sie etwa die ganze Zeit beobachtet? Amelia konnte es kaum glauben. „Ich war nicht sehr hungrig.“

„Weil du dich viel zu sehr um die anderen gekümmert hast.“ Mit dem Ellbogen stieß er die Tür zu und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch. Aufmerksam betrachtete er sie. Sie sah müde aus.

„Warum ziehst du dich nicht um, und ich mache dir noch eine Eispackung?“, schlug er vor. „Dein Fuß scheint wieder angeschwollen zu sein. Kein Wunder – du warst ja fast den ganzen Tag auf den Beinen.“

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, denn er hatte ja recht. Ihr Fuß schmerzte höllisch.

„Ich komme in fünf Minuten wieder“, versprach er und zog die Tür hinter sich zu. Kaum hatte sie sich ausgezogen und war in ihren rosafarbenen Morgenmantel geschlüpft, da klopfte Seth erneut an die Tür. Dieses Mal hielt er einen Eisbeutel in der Hand.

„Setz dich“, forderte er sie auf. Er schob den Morgenmantel und ihr Nachthemd ein wenig höher und pfiff leise, als er ihren Knöchel sah. „Dich kann man wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen!“, schimpfte er.

Sie entgegnete nichts. Stattdessen lehnte sie sich zurück und genoss es, sich von Seth behandeln zu lassen.

Das laute Krächzen eines Vogels vor Seths Fenster riss ihn aus einem konfusen Traum. Er konnte sich nicht erinnern, wovon er geträumt hatte. Es war allerdings nicht zu übersehen, dass es sich um einen ziemlich erotischen Traum gehandelt haben musste …

Die Sonne stieg gerade über den Horizont und goss ihr goldgelbes Licht ins Zimmer. Seth stand auf, streifte seine Jogginghose über und ging ins Badezimmer.

Im Haus herrschte vollkommene Stille. Amelia schien noch zu schlafen. Allerdings …

Ein Geräusch aus der Küche weckte seine Neugier. Sollte Marta schon so früh gekommen sein? Leise lief er zur Küche und lauschte durch die geschlossene Tür. Tatsächlich, da arbeitete jemand.

Leise öffnete er die Tür. Amelia schob gerade ein Blech mit Apfelkuchen in den Backofen. Als sie sich umdrehte und Seth im Türrahmen stehen sah, zuckte sie zusammen.

„Meine Güte, hast du mich erschreckt!“, schimpfte sie. „Warum schleichst du so leise durchs Haus?“

„Du kannst von Glück sagen, wenn ich dich nicht ins Bett zurückschleife“, entgegnete er. „Soll dein Fuß überhaupt nicht mehr heilen?“

„Ich muss meinen Gästen doch etwas zum Frühstück anbieten“, verteidigte sie sich.

„Bist du denn jetzt fertig?“

Sie nickte. „Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe.“

„Das hast du nicht.“ Oder vielleicht doch? War sie nicht durch seinen Traum gegeistert und hatte für diese lustvollen Gefühle in seinem Körper gesorgt, kurz bevor er aufgewacht war? Jetzt erinnerte er sich auch wieder daran: Sie waren allein gewesen, Hand in Hand über einen Weg gelaufen, hatten sich schließlich geküsst, lange und leidenschaftlich … bis der Schrei des Vogels ihn geweckt hatte.

„Ich gehe jetzt duschen“, verkündete sie und humpelte aus der Küche.

Seth beschloss, ihrem Beispiel zu folgen. Er duschte, zog sich an, kehrte in die Küche zurück und goss sich einen Kaffee aus der Kanne ein, die Amelia bereits zuvor gefüllt hatte. Dann setzte er sich an den Tisch und las die Zeitung.

„Steht was Interessantes drin?“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seiner Lektüre.

Er schaute auf. „Nichts Wichtiges“, antwortete er.

Amelia trug eine graugrüne Hose und ein beigefarbenes, mit grünen und braunen Blättern bedrucktes Top.

„Soll ich dir einen Tee machen?“, bot er an.

„Vielen Dank, nein. Aber könntest du den Apfelkuchen auf die Anrichte stellen?“

„Gern. Soll ich sonst noch etwas mitnehmen?“

„Alles andere steht schon bereit. Ich habe mir gedacht, dass die Gäste nicht zu spät frühstücken wollen, weil sie ja gleich wegmüssen.“

Als er an ihr vorbeiging, um den Apfelkuchen zu holen, fiel ihr eine Locke in die Stirn. Seth blieb stehen und schob sie beiseite. „Du denkst wirklich an alles“, meinte er, bevor er aus der Küche ging.

Amelia war sich Seths Anwesenheit nur zu bewusst, als sie das Frühstückszimmer betrat, um nachzuschauen, ob es ihren Gästen an nichts fehlte. Beau und Shelby waren ebenfalls zum Frühstück gekommen, und Seth bat seinen Bruder, noch einmal nach Amelias Fuß zu schauen, was der sofort tat.

„Du solltest nicht so viel herumlaufen“, ermahnte er sie, nachdem er ihr in ihr Zimmer gefolgt war und ihren Verband wechselte. Seth schaute ihm dabei zu.

„Das tu ich auch nicht“, antwortete Amelia.

„Ha!“ Das war alles, was Seth dazu sagte.

„Sobald die Hochzeit vorbei ist“, ergänzte Amelia.

Beau ließ Amelias Fuß los und schaute sie an. „Shelby ist ziemlich nervös“, sagte er. „Ich finde es ganz lieb von dir, wie du dich in den letzten Tagen um sie gekümmert hast.“

„Das tue ich doch gern“, versicherte Amelia ihm. „Wir verstehen uns prächtig, seitdem wir uns beim Historischen Verein von Lost Valley kennengelernt haben.“

Nachdem Beau gegangen war, rieb Amelia sich die Stirn. Plötzlich spürte sie, wie müde sie war, denn die Schmerzen im Fuß ließen sie nachts kaum noch durchschlafen. Nichtsdestoweniger biss sie die Zähne zusammen und blieb bei ihren Gästen, bis alle zu Ende gefrühstückt hatten.

„Ich räume die Küche auf“, verkündete Seth, nachdem Beau und Shelby sich verabschiedet hatten und ihre Verwandten zu einer Wanderung aufgebrochen waren, um die Gegend zu erkunden. Da die Hochzeit erst am nächsten Tag stattfinden würde, blieb ihnen genug Zeit dafür.

„Ich helfe dir.“ Amelia wollte aufstehen, doch er drückte sie in den Sessel zurück. „Ich kümmere mich darum. Du ruhst dich aus. Und wenn ich wiederkomme, bringe ich dich ins Bett.“

Sie seufzte. Es hatte keinen Zweck, sich gegen seine Anordnungen zu widersetzen, das hatte sie inzwischen gelernt.

Also ließ sie sich widerspruchslos von ihm ins Bett tragen, nachdem er sämtliche Spuren des ausgedehnten Frühstücks beseitigt hatte. Amelia staunte immer wieder, dass er sich so gut auf Hausarbeiten verstand.

Aber wie sehr staunte sie erst, als er mit ihr auf den Armen ihr Schlafzimmer betrat. Ihr Bett war gemacht, die Decke glatt gezogen. Mit einer Hand schlug er sie zurück. „Ich wusste gar nicht, dass Männer Betten machen können“, murmelte sie verdutzt.

„Männer können noch viel mehr, als du glaubst“, schmunzelte er, während er sie sanft hinlegte.

Seine Worte bewirkten etwas Seltsames in ihr. Plötzlich wurde ihr ganz warm, und der Wunsch, er möge bei ihr bleiben, wurde immer stärker. Als er sich wieder aufrichten wollte, legte sie die Arme um seinen Hals. „Bleib bei mir“, murmelte sie und zog ihn zu sich.

„Wir sollten das besser nicht tun“, sagte er leise, aber machte keine Anstalten, sich von ihr zu lösen.

„Ich weiß“, erwiderte sie.

Einen Moment lang blieb die Zeit stehen.

Er streifte seine Schuhe ab und legte sich neben sie. Durch die Kleidung hindurch spürte sie die Wärme seines Körpers und die Kraft seiner Arme, als er sie an sich drückte. Sie hatte das Gefühl, in einem sicheren Hafen gelandet zu sein.

Schweigend lagen sie nebeneinander. Die Welt um sie herum schien versunken zu sein. Mit den Lippen fuhr er über ihren Hals. Zentimeter für Zentimeter bewegte er sich aufwärts, bis er ihren Mund erreicht hatte.

Ihre Lippen zitterten, als er sie berührte.

Er hob den Kopf und schaute ihr in die Augen. „Aber ich kann dir nichts versprechen. Nicht für morgen, nicht für nächste Woche oder überhaupt etwas für die Zukunft.“

Sie nickte unmerklich.

„Ich bin nämlich nicht der Mann, den du willst“, beendete er seinen Satz.

„Oh doch, ich will dich!“, widersprach sie.

Kurz schloss er die Augen, als müsste er über etwas nachdenken. Als er sie wieder öffnete, bemerkte sie in seinem Blick die Flamme der Leidenschaft.

„Ich will dich auch. Ja, ich will dich.“

Die letzten Worte sagte er fast mit einem Seufzen.

„Dann ist doch alles bestens“, meinte sie lächelnd und schmiegte sich an ihn.

Ebenso behutsam wie zärtlich begann er, ihren Körper zu erkunden, und sie schnurrte vor Vergnügen, als er ihren Rücken, ihre Hüften und ihre Schenkel streichelte.

Durch die Kleidung hindurch konnte er ihre harten Nippel spüren, und plötzlich hatte er das Gefühl, es könnte alles nicht schnell genug gehen …

Doch er hielt sich zurück, denn er wollte ihre Lust so lange wie möglich auskosten. Inzwischen hatte Amelia begonnen, sein Polohemd aufzuknöpfen. „Ich will dich ganz spüren“, wisperte sie. Er streckte die Arme über den Kopf, damit sie es ihm ausziehen konnte. „Und jetzt bist du dran!“, sagte er.

Hastig streifte sie ihr Top ab, und auch ihr dunkelbrauner Büstenhalter landete kurz darauf auf dem Fußboden.

„Wie schön“, sagte er bewundernd, als er ihren nackten Oberkörper betrachtete. „Einfach wunderschön.“

Sie beugte sich über ihn und begann, seine behaarte Brust zu küssen und mit der Zungenspitze seine Brustwarzen zu liebkosen.

„Ich will dich von oben bis unten kennenlernen“, sagte sie und schaute zu ihm hoch. „Ich will deine Haut spüren, du sollst auf mir liegen …“

„Warte.“ Hastig stand er auf und zog seine Jeans aus. Dann setzte er sich auf die Bettkante und schaute sie auffordernd an. „Jetzt du.“

Sie hob den Po an, damit er ihr die Hose abstreifen konnte … und unvermittelt hatte er das Gefühl, durch die Zeit zurückkatapultiert zu werden zu jenem Oktoberabend, als er mit Amelia auf der Veranda des Hauses ihrer Großeltern saß. Er und Amelia waren wieder die Teenager von damals, sie küssten sich leidenschaftlich und wagten dennoch nicht, den letzten Schritt zu gehen. Jetzt, nach all den Jahren, war es endlich so weit. Jetzt lag Amelia vor ihm mit vor Erwartung rosigen Wangen, mit blutroten Lippen, die darauf warteten, von ihm geküsst zu werden.

Er betrachtete ihren schlanken Körper. Ihre Brustspitzen waren hart geworden, ihre Form und Farbe erinnerten ihn an die Himbeeren, die er als Kind so gern gegessen hatte. Ihr Haar rahmte ihr Gesicht wie ein Kranz aus feurigen Locken. Es war von der gleichen Farbe wie das Dreieck zwischen ihren Schenkeln. „Du bist ja wirklich rothaarig“, stellte er schmunzelnd fest.

Überraschenderweise errötete sie, und er fand, dass diese Reaktion ihre Schönheit noch betonte.

Heiß schoss das Blut durch seine Adern. Als sie mit einer Hand über ihren Schenkel streichelte und dabei wie zufällig sein hartes Glied berührte, fürchtete er einen Moment lang zu explodieren.

„Langsam!“, keuchte er. „Wir wollen doch nichts überstürzen. Wie haben alle Zeit der Welt.“

„Wir haben so lange gewartet“, antwortete sie. „Ich habe das Gefühl, dass ich keine Sekunde länger warten kann.“

Sie stützte sich auf einen Ellbogen, sodass die Spitzen ihrer Brüste über seinen Arm fuhren. Die Berührung verursachte bei beiden eine wohlige Gänsehaut.

Er hob den Kopf und sog zunächst an der einen und dann an der anderen Spitze.

„Ich will dich“, sagte Amelia atemlos. „Sofort.“

„Noch nicht. Ich habe noch nicht alles von dir erkundet.“

Er rollte sie auf den Rücken und bedeckte sie vom Hals bis zu den Füßen mit Küssen. Besonders lange hielt er sich zwischen ihren Schenkeln auf, und bereitwillig spreizte sie die Beine, damit er ihre intimste Stelle mit seinen Lippen und seiner Zunge berühren konnte.

Sie hatte das Gefühl, sich nicht länger zurückhalten zu können. Sie wollte sich nicht länger zurückhalten. Auf diesen Moment hatte sie viel zu viele Jahre warten müssen. „Komm zu mir! Ich halte es nicht länger aus … Du musst … oh …“ Ihr Stöhnen wurde lauter, je näher sie ihrem Höhepunkt kam. „Ich will dich spüren“, flüsterte sie keuchend. „In mir …“

Er rutschte höher und stützte sich auf die Arme. Während sie einander in die Augen schauten, griff sie zwischen seine Beine und schob ihn in sich hinein. Beide seufzten lustvoll, während sie sich ihm entgegendrängte, um ihn so tief wie möglich in sich zu spüren.

Als sie zu einem Körper verschmolzen waren, hielt er sie fest an sich gedrückt. „Wie lange haben wir darauf gewartet!“, flüsterte er heiser. „Viel zu lange …“

„Ich weiß“, erwiderte sie. „Ich habe mich immer gefragt …“

Er verstand sofort, was sie sagen wollte. „Das haben wir wohl beide getan. Ich habe nie vergessen, wie du dich in dieser Nacht angefühlt hast, wie süß deine Küsse waren. Und wie süß sie immer noch sind …“

Unvermittelt traten ihr Tränen in die Augen, als sie an all die verlorenen Träume und vergeblichen Hoffnungen dachte, die dieser Abend vor langer Zeit in ihr ausgelöst und wachgehalten hatte.

„Sag das nicht“, flüsterte sie. „Reden wir nicht von der Vergangenheit. Jetzt zählt nur noch die Gegenwart.“

Sie legte die Arme um seinen Rücken und hielt ihn so fest an sich, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Langsam begann er, sich in ihr zu bewegen, und sie kam ihm entgegen, fand einen gemeinsamen Rhythmus mit ihm, und seine Stöße entfachten eine ungeahnte Lust in ihr, die von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

Und nun gab es kein Halten mehr. Wie in einem Rausch klammerten sie sich aneinander, rieben Haut an Haut, fühlten die Hitze und die Feuchtigkeit ihrer Körper, und als er spürte, dass sie jeden Moment kommen würde, suchte er ihren Mund. Während sie in höchster Lust unter ihm erbebte, küsste er sie auf die Lippen, küsste sie so lange, bis er ebenfalls von seinem Höhepunkt überwältigt wurde und sich am ganzen Körper bebend in sie ergoss.

Lange blieben sie danach atemlos und schweigend nebeneinanderliegen, erschöpft, aber überglücklich. Ihre Hand streichelte seine Schulter, sein Haar, und sie stieß leise, zärtliche Laute aus, als wollte sie ihn trösten … doch weswegen? Er brauchte keinen Trost. Er war der glücklichste Mensch auf der Welt. Und er hoffte, dass sie genauso glücklich war.

Und doch war da ganz tief in seinem Inneren eine leise Stimme, die er nicht überhören konnte, sosehr er sich auch bemühte.

Gefährlich! Die Stimme flüsterte es. Es ist sehr gefährlich, was du tust.

Und tief im Inneren wusste er auch, dass er zu weit gegangen war, dass sie jetzt ein Teil seiner selbst geworden war.

Aber ich kann dir nichts versprechen. Nicht für morgen, nicht für nächste Woche oder überhaupt etwas für die Zukunft.

Unvermittelt schossen ihm die Worte, die er ihr gesagt hatte, durch den Sinn. Würde er noch zu ihnen stehen?

Rasch vertrieb er diesen Gedanken. Das war nur Sex gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Er hatte ihr von Anfang an reinen Wein eingeschenkt, und sie war einverstanden gewesen. Sie hatte mit ihm schlafen wollen, er hatte mit ihr schlafen wollen. Beide waren auf ihre Kosten gekommen.

Und trotzdem verspürte er einen Stich im Herzen. Eine Art von Sehnsucht, die nichts mit seinen körperlichen Bedürfnissen zu tun hatte. Er hatte keine Ahnung, woher dieses Gefühl kam. Eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Ihm auf den Grund zu gehen, würde nur zu Problemen führen …

Sie kuschelte sich näher an ihn heran und küsste sein Kinn.

In diesem Moment hatte er das Gefühl, als würden Sonnenstrahlen nach einem Sturm die graue Wolkendecke aufbrechen. Sie war die Sonne, die durch das Grau seiner Vergangenheit schien.

Morgen würde er sich Gedanken um seine Zukunft machen, nicht hier und jetzt, wo sie in seinen Armen lag, die Wärme ihres Körpers wie ein lang ersehnter Trost an seiner Haut …

Er schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlummer. Als er wieder aufwachte, lag Amelia immer noch in seinen Armen, hielt ihn fest umschlungen, und er stellte fest, dass sein Körper wieder für sie bereit war.

Sie liebten sich ein zweites Mal. Jetzt ließen sie sich sehr viel mehr Zeit, was ihr Vergnügen umso größer machte.

„Hast du es dir die ganzen Jahre über so vorgestellt?“, wollte er wissen, als sie wieder zum Atmen gekommen waren und nebeneinanderlagen.

„Es war schöner“, gestand sie. „Viel schöner. So habe ich es mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.“ Sie schaute ihm tief in die Augen. „Und einige dieser Träume waren ziemlich kühn, das kann ich dir versichern.“

Er musste grinsen. „So kühn wie meine? Ich hatte nämlich auch welche …“

„Noch kühner!“, entgegnete sie. „Meine Fantasie kennt nämlich keine Grenzen.“

„Das hört sich gut an“, meinte er. „Und damit du’s weißt … Ich überschreite gerne Grenzen.“ Er wurde wieder ernst. „Wir waren einfach zu jung“, meinte er mit einem bedauernden Unterton.

Autor

Susan Crosby
Susan Crosby fing mit dem Schreiben zeitgenössischer Liebesromane an, um sich selbst und ihre damals noch kleinen Kinder zu unterhalten. Als die Kinder alt genug für die Schule waren ging sie zurück ans College um ihren Bachelor in Englisch zu machen. Anschließend feilte sie an ihrer Karriere als Autorin, ein...
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<p>Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...
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Laurie Paige lebte mit ihrer Familie auf einer Farm in Kentucky. Kurz bevor sie ihren Schulabschluss machte, zogen sie in die Stadt. Es brach ihr das Herz ihre vierbeinigen Freunde auf der Farm zurück lassen zu müssen. Sie tröstete sich in der örtlichen Bibliothek und verbrachte von nun an ihre...
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Joanna Sims
<p>Joanna Sims brennt für moderne Romances und entwirft gerne Charaktere, die hart arbeiten, heimatverbunden und absolut treu sind. Die Autorin führt diese auf manchmal verschlungenen Pfaden verlässlich zum wohlverdienten Happy End. Besuchen Sie Joanna Sims auf ihrer Webseite www.joannasimsromance.com.</p>
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