Bianca Extra Band 64

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WIR DREI SIND EINE FAMILIE von SUSAN CROSBY
Karyn kann noch so sehr sein Verlangen wecken, Vaughn Ryder muss ihr widerstehen! Denn er befürchtet, dass ihm die Schöne aus Hollywood seine geliebte Pflegetochter wegnehmen will. Oder warum sonst überrascht sie ihn an Weihnachten auf seiner abgelegenen Ranch?

HEIRATS-DEAL MIT DEM BOSS von GINE WILKINS
Allein am Fest der Liebe? Keine schöne Aussicht für Tess. Aber deshalb den Heiratsantrag ihres attraktiven Chefs Scott annehmen? Zwar fühlt sie sich heimlich zu ihm hingezogen, und es knistert heiß, als er sie küsst. Aber er stellt auch klar: Die Ehe ist für ihn ein Business-Deal!

EIN ENGEL MIT GEHEIMNIS von TRACY MADISON
Ein Engel? Witwer Parker Lennox traut seinen Augen nicht, als ihm im dichten Schneegestöber eine Frau mit Flügeln auf dem Rücken begegnet. Die junge Nicole ist so betörend, dass bald längst vergessene Gefühle in ihm erwachen. Allerdings scheint sie etwas vor ihm zu verbergen …

IM LICHT DER HOFFNUNG von MEG MAXWELL
Erst verführt Logan sie zu einem Kuss, danach verbannt er sie ohne Erklärung für immer aus seinem Leben … Clementine ist am Boden zerstört. Bis sie kurz vor Weihnachten den traurigen Grund für sein Verhalten erfährt. Gibt es etwa doch noch Hoffnung für ihre Liebe? IV. Indexseite:


  • Erscheinungstag 20.11.2018
  • Bandnummer 0064
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733643
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Crosby, Gina Wilkins, Tracy Madison, Meg Maxwell

BIANCA EXTRA BAND 64

SUSAN CROSBY

Wir drei sind eine Familie

Das verlockende Prickeln in Vaughn Ryders Nähe sollte Karyn besser ignorieren! Denn falls sie tatsächlich die Tante seiner Pflegetochter ist, hat sie sicher bald ein Problem mit dem sexy Rancher …

GINA WILKINS

Heirats-Deal mit dem Boss

Familiengründung ist für Unternehmer Scott Prince ein Projekt wie jedes andere. Bis er beginnt, eine Zweckehe mit seiner hübschen Assistentin Tess zu planen – und eine erregende Überraschung erlebt …

TRACY MADISON

Ein Engel mit Geheimnis

Mit seinem verführerischen Charme weckt Witwer Parker Lennox spontan Nicoles Sehnsucht nach Liebe. Doch Vorsicht: Sobald sie ihm ihr Geheimnis anvertraut, wird er sie womöglich nicht mehr wollen …

MEG MAXWELL

Im Licht der Hoffnung

Für eine Romanze ist kein Platz in Logans Leben; er muss sich um seine verwaisten Neffen kümmern. Trotzdem kann er nicht widerstehen, Clementine zu küssen. Da erhält er eine schockierende Nachricht …

1. KAPITEL

Zum wiederholten Male blickte Karyn Lambert nervös in den Rückspiegel. Kein Zweifel – sie wurde verfolgt. Auch, nachdem sie mit ihrem Beetle im dichten Berufsverkehr auf dem Santa Monica Boulevard mehrmals die Spur gewechselt hatte, klebte der schwarze SUV an ihrem Wagen. Er folgte ihr, seit sie vor über einer Stunde Disneyland verlassen hatte. Als sie sich anschickte, vor Sprinkles Cupcakes zu parken, um sich eine wohlverdiente süße Belohnung zu holen, musste sie sich wohl oder übel entscheiden: Sollte sie es wirklich wagen, sich einen der leckeren Cupcakes aus dem Automaten zu holen und schauen, ob ihr der Kerl im SUV auch hierbei folgte – oder sollte sie lieber weiterfahren und versuchen, ihn abzuhängen?

Karyn fuhr im Schritttempo an der Bäckerei vorbei. Alle Parkplätze waren besetzt. In die nahegelegene Tiefgarage zu fahren, wagte sie sich nach einem weiteren Blick in den Rückspiegel allerdings nicht. Durch die Weihnachtsbeleuchtung der Geschäftsstraße konnte sie ihren Verfolger deutlich erkennen.

„Mann mit Cowboyhut, du verfolgst die falsche Frau.“

Dieses Stadtviertel war nämlich ihr Zuhause. Sie kannte jede Seitenstraße in Beverly Hills und nutzte ihr Wissen oft, um Staus auf den Hauptverkehrsstraßen zu umfahren. Jetzt half ihr ihre Ortskenntnis, um den SUV abzuhängen und ungesehen zu dem Zweifamilienhaus in Hollywood zu gelangen, wo sie den Wagen in der Garage im Hinterhof abstellte. Ein Hoch auf die Privatsphäre!

Sie sammelte ihre Tüten und Pakete ein und eilte dann die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, wo sie hinter sich abschloss und ihre Tüten auf dem Küchentisch abstellte. Das Licht ließ sie vorsichtshalber aus, bis sie sich mit einem Blick durch alle Fenster davon überzeugt hatte, dass der schwarze SUV nirgendwo zu sehen war. Erst nach einer Viertelstunde schaltete sie das Licht im Wohnzimmer ein und setzte sich auf die Couch. Warum sollte ihr jemand folgen? Hier in Hollywood, wo man auf Schritt und Tritt über Stars und Sternchen stolperte, war sie doch wohl niemand, der Paparazzi interessieren würde.

Aber vielleicht hatte sie sich das alles ja auch nur eingebildet. Sechs Tage vor Weihnachten war sie wie jedes Jahr hoffnungslos überarbeitet und dementsprechend unfassbar erschöpft. Vielleicht hatte sie ja gar nicht die ganze Zeit dasselbe Auto gesehen. Schwarze SUVs gab es hier schließlich wie Sand am Meer. Cowboyhüte allerdings weniger …

Wie auch immer. Halbwegs beruhigt ging Karyn in die Küche, zuckte aber erschrocken zusammen, als es plötzlich klingelte.

Als sich das Klingeln wiederholte, schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür und schaute vorsichtig durch den Spion. Im Licht der Straßenlaternen erkannte sie einen dunklen Umriss … einen Mann mit Cowboyhut.

„Ms. Lambert?“, rief eine Männerstimme nun. „Ich weiß, dass Sie da sind. Ich möchte nur kurz mit Ihnen sprechen.“

Hielt der Mann sie etwa für naiv?

„Bitte. Ich bin Rechtsanwalt. Ich suche nach Ihrem Bruder, Kyle.“

Überrascht trat sie einen Schritt zurück.

„Bitte machen Sie das Licht draußen an und schauen Sie durch den Spion. Ich zeige Ihnen dann meinen Ausweis.“

„Was wollen Sie von Kyle?“

Nach einem kurzen Schweigen antwortete der Mann: „Er ist nicht in Schwierigkeiten, Ms. Lambert, aber ich möchte auch keine persönlichen Informationen durch die Tür hindurch besprechen. Es dauert wirklich nicht lange.“

Karyn schaltete die Außenbeleuchtung ein. „Dann weisen Sie sich bitte aus.“

Sein Führerschein gab ihr einen groben Überblick. Name: Vaughn Ryder, Größe 1,92 m. Dass er schlank und drahtig war, konnte sie selbst sehen. Braune Haare, blaue Augen. Achtunddreißig Jahre alt. Organspender.

„Haben Sie noch etwas anderes bei sich?“

Er hielt eine Visitenkarte hoch. Unter seinem Namen stand: Ranch- und Farmverträge, Nutzungsverträge, Wasser- und Energierechte. Die Adresse lautete: Ryder Ranch, Red Valley, Kalifornien, mit einem Postfach, Telefonnummern und einer E-Mail-Adresse. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ein Rechtsanwalt für Cowboys von Kyle wollte, aber jetzt war sie neugierig geworden und ließ ihn deshalb ein.

Als sie die Tür geöffnet hatte und ihn zum ersten Mal in voller Lebensgröße sah, starrte sie ihn ein paar Sekunden lang verblüfft an. Er war tatsächlich ein waschechter Cowboy, vom schwarzen Hut bis hinunter zu den bestickten Stiefeln. Statt einer Krawatte trug er zu dem makellos weißen Hemd ein Bolotie, ein Lederband mit einer wunderschönen silbernen und schwarzen Spange. Seine schwarze Jeans saß eng – ja, er war definitiv ein waschechter Mann.

„Möchten Sie mich abtasten?“, fragte er amüsiert.

Sie bemühte sich, ihren Blick wieder auf sein Gesicht zu richten. „Wie bitte?“

„Nach Waffen? Wenn Sie nachschauen wollen, ob ich eine Waffe trage, bevor Sie mich hereinlassen, ist das vollkommen in Ordnung für mich.“

Er streckte die Arme aus; in einer seiner Hände hielt er eine Aktentasche.

Sie trat ein paar Schritte zurück und bedeutete ihm, einzutreten, damit er nicht merkte, wie flammend rot sie geworden war. „Sie haben mich seit Disneyland verfolgt“, meinte sie anklagend.

Als er den Hut abnahm, bemerkte sie, wie gut seine grauen Schläfen zu den meerblauen Augen passten.

„Erwischt. Tatsächlich bin ich Ihnen aber schon gefolgt, seit Sie heute Morgen Ihre Wohnung verlassen haben.“

„Aber warum?“

„Ich wollte gern wissen, was Sie so machen. Offenbar kaufen Sie viel ein.“

Die Verwunderung in seiner Stimme ließ sie laut auflachen, was die Anspannung etwas vertrieb. „Das ist mein Job. Ich bin Personal Shopperin.“

„Und davon kann man tatsächlich leben?“

„Wollen Sie etwa andeuten, dass ich mir noch auf andere Art etwas dazuverdiene?“, fragte sie kühl.

„Nein, auf keinen Fall. Entschuldigen Sie bitte. Ich habe nur keine Ahnung von Ihrem Beruf, das ist alles. Wollen wir uns vielleicht setzen?“

Wortlos deutete sie zum Esstisch hinüber und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Zu ihrem Beruf gehörte noch viel mehr als bloßes Einkaufen, aber das konnte er wohl wirklich nicht wissen.

„Wieso interessiert es Sie, was ich tue?“, nahm sie den Faden wieder auf. „Sie sagten, Sie wären wegen meines Zwillingsbruders hier.“

„Das ist richtig; was ich zu sagen habe, betrifft auch Sie. Hauptsächlich allerdings ihn, deshalb würde ich eigentlich gern mit ihm persönlich sprechen. Ich habe nach ihm gesucht, aber ich konnte keine Adresse finden.“

„Das geht auch nicht.“ Karyns Augen begannen zu brennen, als die ungebetenen Erinnerungen in ihr aufstiegen, und sie konnte kaum weitersprechen.

„Sie können ihn nicht finden“, presste sie mühsam hervor, „weil er vor drei Jahren in Afghanistan gefallen ist.“

In der nachfolgenden Stille versuchte sie, ihre Gefühle, die sie bei jedem Gedanken an Kyle noch immer aufwühlten, vor allem jetzt in der Weihnachtszeit, wieder unter Kontrolle zu bringen. Als es ihr nicht gelang, die Tränen zurückzuhalten, sprang sie auf und lief hastig ins Schlafzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und warf sich auf das Bett. Der Fremde in ihrem Wohnzimmer war ihr im Moment vollkommen egal.

Vaughn stand automatisch auf, ließ sich dann aber wieder langsam auf den Stuhl zurücksinken, als ihm klar wurde, dass sie nicht sofort zurückkommen würde. Kyle Lambert war also tot, und seine erste Reaktion war Erleichterung. Mit dieser Nachricht war sein Leben gerade bedeutend einfacher geworden. Doch dann dachte er an die Trauer in Karyns Augen. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es sein musste, einen Bruder oder eine Schwester zu verlieren. Der Schmerz musste einfach unfassbar sein.

Natürlich spielte all das überhaupt keine Rolle, falls dieser Kyle gar nicht der Mann war, den Vaughn suchte. Doch Karyns lockiges, hellbraunes Haar war schon einmal ein deutlicher Hinweis darauf, dass er vermutlich den richtigen Kyle Lambert gefunden hatte.

Als er nicht mehr länger stillsitzen konnte, ging Vaughn im Wohnzimmer auf und ab. Auf dem Tisch lagen hübsch eingepackte Weihnachtsgeschenke, alle ordentlich mit einem farbig codierten Anhänger versehen. Ansonsten deutete in Karyns Wohnung nichts auf Weihnachten hin. An den Wänden hingen zahlreiche Gemälde, die meisten davon zeigten Landschaften und Blumen. Als er näher heranging, entdeckte er Karyn Lamberts Signatur in der rechten unteren Ecke. Fotos gab es keine, weder von Menschen noch von Urlaubsorten oder besonderen Ereignissen. Das war wirklich seltsam. Die meisten Menschen stellten doch Fotos von Dingen auf, die ihnen etwas bedeuteten.

Nach einer Weile öffnete sich die Schlafzimmertür wieder, und Karyn kam zurück ins Wohnzimmer. Ihre Augen waren noch feucht und leicht gerötet. Sie war eine gut aussehende Frau mit attraktiven Kurven – wie groß sie war, konnte er allerdings nicht einschätzen, da sie sehr hohe Absätze trug. Wie sexy sie sich bewegte, hatte er den ganzen Tag schon beobachten können.

„Es tut mir leid“, sagte sie nun.

„Ich wusste, dass er Marineinfanterist war, aber nicht, dass er gefallen ist. Ich hätte warten sollen, bis mein Detektiv mehr herausgefunden hat, aber er ist gerade mit einer anderen Sache beschäftigt und ich habe es ein wenig eilig. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen solchen Kummer bereitet habe.“

„Was sollte Ihr Detektiv denn herausfinden, Mr. Ryder?“, fragte sie misstrauisch.

„Bitte, sagen Sie doch Vaughn zu mir. Ms. Lambert, es ist möglich, dass Ihr Bruder vor sechs Jahren mit einer gewissen Ginger Donohue ein Kind gezeugt hat.“

Mit großen Augen ließ sich Karyn auf die Couch sinken. „Kyle hat ein Kind? Ein Teil von ihm ist also immer noch hier?“

„Das ist zumindest möglich. Ich habe nach ihm gesucht, damit er einen Vaterschaftstest machen kann. Nun können wir stattdessen testen lassen, ob Sie mit dem Kind verwandt sind.“

„Ich bin also Tante?“ Sie wirkte positiv überrascht. „Bitte, erzählen Sie mir alles! Wie heißt das Kind?“

„Cassidy.“ Er griff zu seinem Handy und zeigte ihr ein Foto.

„Oh.“ Karyn berührte das Display mit den Fingerspitzen, wobei ihr wieder Tränen in die Augen traten. „Sie ist unglaublich süß.“

„Ja, das ist sie.“

„Und sie sieht Kyle sehr ähnlich.“

Ihnen auch, dachte er. „Haben Sie den Namen Ginger Donohue schon einmal gehört, Ms. Lambert?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das alles nicht. Cassidy ist also sechs? Warum sollte diese Frau denn so lange warten, um den Vater zu kontaktieren?“

„Sind Sie sich denn sicher, dass Ihr Bruder nichts davon wusste?“

„Absolut, denn ansonsten wäre er für seine Tochter da gewesen.“

„Ich weiß nicht, warum Ginger Kyle nichts gesagt hat, da er ja offenbar noch gelebt hat, bis Cassidy drei war“, meinte Vaughn.

„Offenbar hat sich etwas an ihren Lebensumständen geändert. Geht es vielleicht um Geld? Ich habe Kyles Sterbegeld bekommen, und ich habe bis jetzt nicht viel davon ausgegeben. Das sollte auf jeden Fall seiner Tochter zukommen und …“

Vaughn unterbrach sie direkt. „Ginger hat Cassidy vor zwei Jahren verlassen.“

Karyn blickte ihn sprachlos an, dann weiteten sich ihre Augen und so etwas wie Aufregung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Wann kann ich sie abholen? Ich bräuchte eine größere Wohnung … irgendetwas in der Nähe eines Parks, und im Einzugsbereich einer guten Schule.“ Sie begann zu strahlen und fragte aufgeregt: „Wo ist sie jetzt? Wann kommt sie zu mir?“

Vaughn versuchte, ihren unerwarteten Freudentaumel zu ignorieren. „Wenn der Test ergibt, dass sie tatsächlich Kyles Tochter ist, werden Sie sie natürlich kennenlernen und an Ihrem Leben teilhaben dürfen, aber sie wird nicht bei Ihnen leben, Ms. Lambert. Denn ich bin seit ihrer Geburt ihr Vater, und ich gebe sie bestimmt nicht wieder her.“

„Sie sind Ihr Vater?“, fragte Karyn verwirrt. „Aber wieso … Weiß sie denn, dass Sie nicht Ihre richtige Tochter ist?“

Vaughn nickte. „Ginger war schwanger, als wir uns kennenlernten, aber wir haben erst geheiratet, als Cassidy einen Monat alt war. Auf ihrer Geburtsurkunde steht also ‚Vater unbekannt‘.“

Vaughn ging nun zum Fenster und blickte hinaus. „Ich habe jahrelang darum gekämpft, Cass adoptieren zu dürfen, aber Ginger hat es immer abgelehnt, und dann hat sie uns eines Tages einfach verlassen. Deshalb suche ich nun nach ihrem biologischen Vater. Ich möchte Cass immer noch adoptieren, doch dazu brauche ich nicht nur die Zustimmung von Ginger, sondern auch seine.“

Karyn hatte Schwierigkeiten, diese ganzen Informationen zu verarbeiten, zumal ihr ständig nutzlose Gedanken durch den Kopf schossen. Wie zum Beispiel der, dass diese Ginger offenbar der Inbegriff der Femme fatale sein musste, wenn sowohl Kyle, ein Durchschnittsmann, als auch dieser Vaughn, der einen Tick darüber lag, sich von ihren Reizen hatten blenden lassen, ohne ihre wahre Natur zu erkennen.

„Mein Detektiv und ich sind in all der Zeit in vielen Sackgassen gelandet“, erklärte Vaughn, der noch immer am Fenster stand. „Ich bin zugleich auch auf der Suche nach Ginger und habe Anzeigen in allen großen Zeitungen geschaltet, damit sie sich meldet. Leider hat sie das noch nicht getan. Eine frühere Mitbewohnerin von Ginger brachte schließlich den Namen Kyle Lambert als möglichen Vater ins Spiel. Seitdem statte ich im ganzen Land allen Kyle Lamberts im richtigen Alter einen Besuch ab. Hat Ihr Bruder denn vor sieben Jahren in San Francisco gewohnt?“

„Nein, aber das heißt ja nicht, dass er niemals dort war.“

Vaughn setzte sich wieder und blickte Karyn intensiv an. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie mit all dem konfrontieren und an den Tod Ihres Bruders erinnern muss.“

„Ich kann Kyle nie ganz vergessen, aber jetzt gibt es endlich auch etwas Schönes, an das ich denken kann … falls Cassidy wirklich seine Tochter ist.“ Sie berührte seinen Arm. „Für Sie ist es aber offenbar auch nicht leicht.“

„Für Cassidy ist es noch schlimmer. Denn sie war bereits alt genug, um zu begreifen, dass ihre Mutter sie verlassen hat, aber verstehen konnte sie es natürlich nicht. Früher hat sie ständig nach ihrer Mutter gefragt, aber in letzter Zeit nicht mehr. Ich kann ihr nicht erklären, warum sie uns verlassen hat. Wir machen einfach weiter. Zum Glück habe ich eine große Familie, die Cassidy über alles liebt.“

Karyn glaubte ihm sofort. Aber nachdem sich der erste Schock verflüchtigt hatte, konnte sie es kaum abwarten, mehr über Kyles Tochter zu erfahren.

„Ich habe noch gar nicht zu Abend gegessen“, sagte sie nun. „Möchten Sie vielleicht zum Essen bleiben?“

Sie musste jetzt unbedingt etwas Normales tun … eine Dose Suppe heiß machen oder einen Rest Pizza aufwärmen. Mehr hatte sie nämlich leider nicht im Haus. Aber auf jeden Fall könnte sie während des Essens weiter mit Vaughn über Cassidy reden.

„Ich muss leider meinen Flug erwischen, und es ist sowieso schon sehr spät.“ Er öffnete seine Aktentasche und reichte ihr ein Tütchen mit einem Wattestäbchen. „Wischen Sie einfach die Innenseite ihrer Wange damit aus.“

„Und was ist mit der Überwachungskette?“, fragte sie.

Er hob irritiert die Augenbrauen. „Wie bitte?“

„Eine meiner Kundinnen spielt bei Law & Order mit, also schaue ich es mir jede Woche an.“

„Dann sind Sie also eine Expertin.“ Immerhin hatte sie ihn zum Lächeln gebracht.

„Genau, und deshalb weiß ich auch, wie das Ganze hier ablaufen sollte. Die Probe sollte von einer neutralen dritten Partei genommen werden … von einem Labor oder einer ähnlichen Einrichtung.“

„Das kann ich gern arrangieren, allerdings ist dies hier ein ziviler Fall und kein Kriminalfall, also gelten andere Regeln. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie nicht mit Cass verwandt sind, dann wiederholen wir den Test und treffen bei jedem Schritt die nötigen rechtlichen Vorkehrungen.“

Karyn nickte langsam. „Ich habe das Gefühl, dass Sie einfach nur eine Antwort wollen und nicht vorhaben, irgendwelche Spielchen zu spielen.“

„Danke. Wenn Sie mich besser kennen würden, würden Sie gar nicht daran zweifeln, aber zu Ihrer Beruhigung: Ich bin ein vereidigter Anwalt, wie man so schön sagt, und als Expertin der Fernsehrechtsprechung wissen Sie ja, was das bedeutet.“

Sie lächelte. „Ja, das ist okay.“

Den Test vor seinen Augen zu machen, war ein wenig peinlich, und sie mied seinen Blick, während sie sich das Wattestäbchen in den Mund schob. Als sie fertig war, schob sie es in das Röhrchen, das sie sorgfältig verschloss, und reichte es ihm. Er steckte es in einen Polsterumschlag und anschließend in seine Aktentasche.

Wie aufs Stichwort standen sie beide danach auf. „Ganz gleich, wie das Ganze ausgeht, es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen“, sagte er und ging zur Tür. „Darf ich fragen, was Sie vorhatten, bevor Sie mich so geschickt abgehängt haben? Das war übrigens gute Arbeit.“

„Ich wollte mir aus dem Automaten bei Sprinkles einen Cupcake holen“, erwiderte sie lächelnd.

„Es gibt Automaten für Cupcakes?“

„Nun ja, so nennen sie es jedenfalls. Die sind für Leute, die es eilig haben, und ich hatte einen wirklich langen Tag.“

Seine Hand lag nun auf dem Türknauf. „Aber Sie waren doch am glücklichsten Ort der Welt.“

„Ich war dort einkaufen! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Disneyland, aber wenn man nur dort ist, um Geschenke für Kunden zu kaufen, und nicht einmal dazu kommt, mit dem Space Mountain zu fahren, dann ist man nicht so glücklich.“

„Ich war noch niemals in Disneyland.“

„Ehrlich nicht? Auch nicht mit Cassidy? Das müssen wir unbedingt ändern.“

Auf einmal herrschte eine unausgesprochene Spannung zwischen ihnen.

„Vielleicht machen wir das ja einmal“, sagte er schließlich. „Gute Nacht, Karyn. Versuchen Sie, sich zu entspannen und nicht zu sehr auf das Ergebnis zu warten.“

„Haha.“

„Ich weiß, das ist schwer.“ Mit diesen Worten verließ er sie.

Karyn kehrte ins Wohnzimmer zurück und trat dort ans Fenster. Offenbar hatte er in einiger Entfernung geparkt, denn er ging zu Fuß und verschwand dann in der Dunkelheit. Nach einer Minute fuhr sein Auto am Haus vorbei und er winkte.

„Du bist ein ganz schön netter Kerl, Vaughn Ryder, Cowboy-Rechtsanwalt“, sagte sie laut. „Aber wenn du denkst, dass du alle Entscheidungen ganz allein treffen kannst und ich einfach zu allem Ja und Amen sage, hast du dich getäuscht.“

Sie hatte schon jetzt sechs Jahre im Leben ihrer Nichte verpasst.

Natürlich wusste sie, dass sie schon viel zu sehr davon ausging, die Tante dieses kleinen Mädchens zu sein, als gesund für sie war, aber Karyn brauchte dringend etwas, was ihr, während der Weihnachtstage, Halt gab, denn dies war immer die schlimmste Zeit des Jahres für sie.

Als ihr Magen laut knurrte, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Auf Suppe oder Pizza vom Vortag hatte sie jetzt allerdings keine Lust, und ihr fiel auch sonst nichts ein, worauf sie Appetit gehabt hätte, also machte sie sich stattdessen daran, die Geschenke einzupacken, die sie heute für ihre Kunden gekauft hatte. Sie würde sie am nächsten Tag, zusammen mit den anderen, die sie bereits verpackt hatte, ausliefern, und sie freute sich schon darauf, endlich alle aus dem Haus zu haben.

Die farbenfrohen Päckchen erinnerten sie nämlich nur daran, wie traurig ihre Heimreise zu ihren Eltern nach Vermont auch dieses Jahr wieder werden würde. Sie feierten Weihnachten nicht mehr, seit Kyle gestorben war. Wochenlang war sie damit beschäftigt gewesen, Geschenke für andere Leute zu besorgen, aber sie hatte nichts gekauft, was sie verschenken würde. Manchmal war das Leben einfach nur furchtbar.

Sie war gerade mit dem siebten Päckchen fertig geworden, als es klingelte. Nervös schaute sie durch den Spion. War Vaughn etwa zurückgekommen? Es gab zwar keinen Grund dafür, aber irgendwie hoffte sie es trotzdem.

Doch vor ihrer Tür stand ein Fremder.

„Ja?“, fragte sie.

„Eine Lieferung von Mr. Ryder für Ms. Lambert.“

Überrascht und neugierig öffnete sie die Tür.

„Bitte schön.“ Ein Teenager überreichte ihre eine Schachtel und sauste dann wieder die Treppe hinunter.

Karyn wusste sofort, was in der Schachtel war, noch bevor sie das Logo entdeckte. Der verlockende Duft von Schokolade und Vanille mit einem Hauch Zitrone stieg ihr in die Nase, als sie die Schachtel in die Küche trug. Diese enthielt ein Dutzend Cupcakes, und Karyn lächelte selig, als sie einen aus dem Papierförmchen schälte und einen großen Happen abbiss. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Köstlichkeit bis zum letzten Krümel, dann griff sie nach Vaughns Visitenkarte und wählte seine Handynummer.

„Vaughn Ryder.“

„Ich habe den Ersten bereits verschlungen, und ich bin mir ganz sicher, dass es nicht der letzte sein wird.“

„Das war ich Ihnen schuldig.“ Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Vielen, vielen Dank. Das war wirklich sehr lieb von Ihnen. Ich hoffe, Sie haben sich auch einen mitgenommen.“

„Zwei sogar. Red Velvet und Schokolade.“

Sie wartete kurz, dann sagte sie: „Würden Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?“

„Wenn ich kann.“

Das klang sehr vorsichtig, aber schließlich war er auch Rechtsanwalt.

„Würden Sie Cassidy bitte für mich umarmen? Für Kyle. Sie muss den Grund ja nicht erfahren, aber …“

„Ja, das mache ich.“

Karyn hörte Flugzeuglärm im Hintergrund und schloss daraus, dass er bereits auf dem Flughafen angekommen war. „Eine Sache noch“, fügte sie hastig hinzu. „Wenn Cassidy wirklich Kyles Tochter ist, dann möchte ich mehr, als nur ein kleiner Teil ihres Lebens zu sein.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich bin mir nicht sicher, welche Rechte ich überhaupt habe. Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich, aber ich werde mich schlaumachen, und das auf jeden Fall überprüfen. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.“

Sie legte das Telefon zur Seite. Ja, er war wirklich ein netter Kerl, aber trotzdem würde sie keine Zugeständnisse machen, wenn es um Kyles Tochter ging.

Es war bereits nach Mitternacht, als Vaughn nach Hause kam. Cassidy übernachtete bei seinen Eltern, und sein zweistöckiges Haus wirkte leer und viel zu still. All seine Geschwister und er hatten zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ein Stück Land auf dem Gelände der Ryder Ranch geschenkt bekommen, und Vaughn hatte seines ausgewählt, ohne damit zu rechnen, dass er je darauf bauen würde, denn nach seinem Jurastudium hatte er eigentlich in San Francisco leben und arbeiten wollen, seiner Lieblingsstadt.

Seltsam, wie sich die Dinge änderten, wenn man ein Kind hatte.

Vaughn ging in Cassidys Zimmer im ersten Stock und schaltete das Licht ein. Die Wände waren jeansblau gestrichen, derzeit ihre Lieblingsfarbe, und über ihrem Bett waren galoppierende Pferde gemalt. Sie hatte sogar jedem von ihnen einen Namen gegeben. Die einzige Puppe weit und breit war ein Cowgirl mit Lasso und Stiefeln.

Auf einem Regal standen Fotos, eines davon zeigte ihn, wie er Cassidy ein paar Tage nach ihrer Geburt im Arm hielt, ein anderes seine Tochter, als sie mit zwei Jahren zum ersten Mal allein auf einem Pferd gegessen hatte. Ganz hinten, verdeckt von den anderen, gab es auch ein Familienfoto, das Einzige, auf dem auch Cassidys Mutter zu sehen war.

Vaughn zog es hervor. Cassidy hatte alle Fotos ihrer Mutter versteckt, nachdem Ginger sie verlassen hatte. Er hatte sie später in Schubladen und hinter Büchern gefunden und sie gelassen, wo sie waren. Doch irgendwann hatte Cassidy sie alle in eine Schachtel gepackt und ihm überreicht.

„Bitte packe sie weg“, hatte sie zu ihm gesagt und dabei viel älter ausgesehen, als sie war.

Nur dieses eine hatte sie behalten – offenbar hatte sie ihre Mutter also noch nicht ganz aufgegeben.

Vaughn hatte auch noch Gingers Abschiedsbrief – hauptsächlich deshalb, weil dieser bewies, dass sie ihm Cassidy überlassen hatte.

Ich habe genug, hatte sie geschrieben. Cassidy gehört jetzt dir. Sie ist doch sowieso das Einzige, was dich interessiert.

Damit hatte sie recht gehabt.

Vaughn war viel zu aufgedreht, um schlafen können, deshalb ging er in sein Büro, wo er auf seinem Laptop die Facebook-Seite der Personal Shopperin Karyn Lambert aufrief. Es gab Fotos und Kommentare von zufriedenen Kunden, darunter auch Josh Renard und Gloriana Macbeth, zwei Hollywood-Stars.

Karyns eigenes Foto zeigte eine kompetente, zugleich aber auch sexy aussehende Frau. Unter anderen Umständen hätte er ihre Einladung zum Essen gern angenommen. Bestimmt hatte sie ein paar interessante Geschichten zu erzählen.

Nachdem er noch ein paar E-Mails beantwortet hatte, griff er nach dem wattierten Umschlag mit dem Teströhrchen in seiner Aktentasche. Er verpackte es sorgfältig für den Postversand und adressierte es an ein privates Labor in San Francisco. Morgen würde er es sofort zur Post bringen, und dann würde das große Warten beginnen.

2. KAPITEL

„Ich bezahle auch das Doppelte“, sagte Gloriana Macbeth mit der charmanten Stimme, die ihr bereits so viele Hauptrollen eingebracht hatte.

Karyn verdrehte die Augen. Sie hatte gerade die letzten beiden Geschenke für Kunden eingewickelt, die immer alles in letzter Minute in Auftrag gaben, und war momentan dabei, ihren Koffer zu packen. Anschließend würde sie noch schnell die letzten Aufträge ausliefern, bevor sie den Nachtflug nach Vermont nahm, um Weihnachten mit ihren Eltern zu verbringen. Oder das, was nach Kyles Tod noch davon übrig war.

Sie atmete tief durch und versuchte, sich auf ihr Telefonat mit einem der berühmteren Hollywoodstars zu konzentrieren. „Morgen ist bereits Heiligabend, Glori.“

„Ehrlich? Du willst mir jetzt ernsthaft mit den Feiertagen kommen? Wie lange kennen wir uns schon? Ich weiß genau, dass du Weihnachten nicht feierst.“

„Aber ich verbringe diese Tage trotzdem immer mit meinen Eltern.“

„Ja, ja, ich weiß. Ihr sitzt herum, schaut fernsehen und haltet euch dabei von allem fern, was auch nur im Entferntesten an Weihnachten erinnert.“

Volltreffer.

„Trotzdem, du hast doch eine Stylistin.“

„Die ist aber gerade im Krankenhaus und bekommt ihr Kind, und meine persönliche Assistentin hat gekündigt, wie du weißt. Ich wünschte, du würdest den Job übernehmen.“

Gloriana, die alle Eigenschaften einer klassischen Diva aufwies, hatte einen verblüffenden Verschleiß an persönlichen Assistentinnen. Ihr Spitzname in der Branche war „Lady Macbeth“, weil sie so unglaublich ehrgeizig war. Karyn war es deshalb lieber, nicht jeden Tag mit ihr zu tun haben zu müssen.

„Komm schon, Karyn. Das Dreifache? Wie lange kann das schon dauern, vielleicht eine Stunde? Du kommst einfach mit, hilfst mir, ein Kleid und ein paar Accessoires auszusuchen, und das war’s auch schon. Du weißt, dass ich nicht jedem vertraue, und das hier ist immerhin für das Cover vom People-Magazin.“

Wenn die Frau nur einmal „Bitte“ gesagt hätte, hätte sich Karyn vielleicht sogar breitschlagen lassen. „Glori …“

„Das Vierfache, aber mehr nicht. Das würde für einen weiteren Urlaub reichen, in dem du dich von diesem hier erholen kannst. Haare und Make-up sind sogar schon fertig.“

„Na schön“, sagte Karyn schließlich seufzend. Eigentlich hatte sie ja gar nichts gegen die Ablenkung. Die Warterei auf die DNA-Ergebnisse zerrte nämlich momentan unfassbar an ihren Nerven.

„In einer Stunde“, erklärte Gloriana und legte dann ohne ein Danke oder ein Abschiedswort auf.

„Gern geschehen“, sagte Karyn ins Leere. Die meisten ihrer Kunden waren vernünftig und höflich, auch wenn sie manchmal ein Anspruchsdenken an den Tag legten, das offenbar mit dem Promi-Status einherging.

Hauptsächlich behielt sie Gloriana nur deshalb als Kundin, weil es gut für das Geschäft war, einen Mega-Star in den Referenzen aufführen zu können. Allerdings hatte sie in den fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit einen Weg gefunden, mit der Diva umzugehen, ohne von ihr in den Wahnsinn getrieben zu werden.

Karyn gab sich nicht als Stylistin aus, auch wenn sie das Zeug dazu hatte. Was ihr an ihrer Arbeit am besten gefiel, war die Abwechslung. Allerdings fragte sie sich seit Kyles Tod ständig, wozu sie das Ganze überhaupt machte. An manchen Tagen hatte sie sogar Mühe, aus dem Bett zu kommen.

Sie griff nach ihrer Handtasche und den Päckchen und machte sich dann auf den Weg. Sie wollte schon vor Gloriana im Fotostudio sein, um sich die Kleiderauswahl ihres Lieblingsdesigners schon einmal anschauen und sich gut vorbereiten zu können.

Der Verkehr machte ihr allerdings einen Strich durch die Rechnung. Sie brauchte über eine Stunde für die kurze Strecke und war schon genervt, bevor sie überhaupt dort ankam. Die Hektik, die bevorstehenden Feiertage, der Nachtflug und das Warten auf die Testergebnisse – das alles wurde einfach zu viel für sie.

Doch weil sie ein echter Profi war, setzte sie ihr verbindlichstes Lächeln auf, als sie an die Studiotür klopfte.

„Ist sie schon da?“, fragte sie die Studioassistentin.

„Noch nicht.“ Fleur lächelte mitfühlend. „Oh, falsch, da kommt sie gerade.“

Karyn ging direkt zum Ankleideraum, wo acht Abendroben an einem Ständer hingen. Ein Regal war mit Schuhen und Accessoires gefüllt.

Gloriana folgte ihr auf dem Fuß, bekleidet mit einem Jogginganzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Karyn in einem Monat verdiente, dafür aber auch Glorianas perfekten Körper mehr als vorteilhaft betonte. Die Frau arbeitete hart für ihr bestes Kapital und sah daher wesentlich jünger aus als dreiunddreißig.

„Da bist du ja“, sagte sie zu Karyn.

„Ja, hier bin ich. Guten Morgen“, erwiderte Karyn freundlich lächelnd, auch wenn ihr gerade überhaupt nicht danach zumute war.

„Mimosa, Ms. Macbeth?“ Fleur reichte ihr ein Glas, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich habe auch eine kleine Gebäckauswahl für Sie.“

„Das ist aber ganz schlecht für die Figur“, meinte Gloriana mit einem Seitenblick auf Karyns wohlproportionierte Kurven. „Also, was hast du mir ausgesucht?“

Karyn nahm ein mit glänzenden Perlen besticktes Kleid vom Ständer. „Dieser Lachston würde wunderbar zu deiner Haut passen.“ Da sie wusste, dass Gloriana zum ersten Vorschlag niemals Ja sagte, sparte sie sich ihren eigentlichen Favoriten noch ein wenig auf.

„Das wirkt billig mit den Perlen“, schmetterte Gloriana das Lachsfarbene tatsächlich wie erwartet ab.

„Wie wäre es dann mit diesem?“ Karyn hielt ihr das schönste Stück hin, ein elegantes Etuikleid aus petrolfarbener Seide.

Doch Gloriana verzog den Mund und ging dann die restlichen Kleider durch. „Da ist nichts dabei“, entschied sie schließlich.

„Gar nichts?“, fragte Karyn entsetzt.

„Du hast mich schon verstanden.“

„Vielleicht solltest du das Petrolfarbene wenigstens mal anprobieren …“

„Ruf Lorenzo an, er soll eine größere Auswahl schicken.“

„Du weißt, dass er schon alle Modelle rausgesucht hat, die dir stehen würden“, gab Karyn zu bedenken. „Außerdem …“

„Weigerst du dich gerade etwa, ihn anzurufen?“

„Du hast mir gesagt, dass es nur eine Stunde dauern würde. Ich muss heute noch andere Kunden beliefern und anschließend einen Flug erwischen.“ Karyn hielt die beiden Kleider hoch, die sie herausgesucht hatte. „Beide sind perfekt für das Titelbild, vertraue mir. Such dir eines aus.“

Gloriana blickte zweifelnd in den Schminkspiegel. „Ich kann doch jetzt kein Foto-Shooting machen! Schau dir mal mein Make-up an. Es ist ganz fleckig!“

Heißer Ärger stieg in Karyn auf. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Und das alles wegen jemandem, der aus einer albernen Laune heraus an absolut traumhaften Kleidern herummäkelte. Es gab so viel Wichtigeres auf der Welt.

Doch sie war bisher niemals unhöflich zu irgendeinem Kunden gewesen, auch wenn deren Verhalten eine solche Reaktion oft geradezu herausgefordert hatte. Auch jetzt verließ sie sich ganz auf ihre perfekte Beherrschung. Sie würde weiterhin höflich bleiben.

„Es tut mir sehr leid, aber ich werde Lorenzo nicht anrufen, stattdessen werde ich jetzt gehen.“

„Ich will es dir noch einmal nachsehen“, sagte Glori und trat näher an sie heran, „weil ich weiß, dass dies eine sehr schwierige Zeit für dich ist. Du warst offen zu mir, also werde ich es auch zu dir sein. Ich empfehle dir dringend, dass du die Feiertage dazu nutzt, herauszufinden, ob dir deine Arbeit wirklich noch Spaß macht, denn in letzter Zeit ist mir immer öfter aufgefallen, dass du deinen Enthusiasmus komplett verloren hast. Vielleicht solltest du dich mehr mit dem Malen beschäftigen, das willst du doch schon seit Jahren.“

Sprachlos brachte Karyn nur ein Nicken zustande. Sie bekam mittlerweile kaum noch Luft.

Gloriana legte nun eine Hand auf ihren Arm, was Karyn endgültig den Rest gab, denn es war so lange her, dass jemand sie berührt hatte!

„Du sprichst überhaupt nicht mehr davon, dass du etwas mit Freunden unternimmst“, fuhr Glori fort, „oder, dass du ausgehst und Spaß hast. Früher hast du mir immer begeistert von deinen Wochenenden erzählt. Ich sehe bei dir, was mir auch passiert ist: Es ist dir alles egal geworden. Vielleicht hast du die Hoffnung aufgegeben, weil du dich von deinem Bruder verlassen fühlst, auch wenn er es nicht absichtlich getan hat. Ich weiß genau, wie sich das anfühlt, und nein, ich werde nicht mehr dazu sagen. Glaube mir einfach, dass ich dir die Wahrheit sage.“

Mitfühlend blickte Gloriana sie an. „Jetzt kannst du es entweder so machen wie ich und dein Leben lang eine Rolle spielen, oder du kannst herausfinden, wer du wirklich bist und sein willst, und das Leben führen, das dein Bruder sich für dich gewünscht hätte. Aber du musst dich entscheiden, Karyn. Es bringt nichts, sich von der Trauer einfach vereinnahmen zu lassen.“

Wieder nickte Karyn schweigend. Sie hätte Glori gern umarmt, aber sie würde es nicht als Erste tun, und dann war der Moment auch schon wieder vorüber.

Auf jeden Fall hatte die Schauspielerin recht: Karyn sehnte sich danach, wieder Freude empfinden zu können und ein Leben zu leben, das sie ausfüllte. So, wie Kyle es sich für sie gewünscht hätte, und wie sie es sich für sich selbst wünschte, aber sie wusste einfach nicht, was sie ändern sollte.

Wie gern hätte sie jemandem erzählt, dass Kyle möglicherweise eine Tochter hatte, und dass sie diese bald kennenlernen würde, wenn es tatsächlich so war, und dass sie vorhatte, eine große Rolle in Cassidys Leben zu spielen. Doch sie wusste nicht wem, denn ihre Eltern weigerten sich sogar, Kyles Namen auch nur auszusprechen, ganz gleich, wie behutsam Karyn sie dazu zu bringen versuchte, die schönen Erinnerungen mit ihr zu teilen.

Mit den Gedanken ganz woanders, lieferte Karyn später die letzten Geschenke aus und fuhr dann nach Hause, um ihren Koffer fertig zu packen. Als sie es geschafft hatte, ließ sie sich auf die Bettkante sinken und schlug die Hände vor das Gesicht.

„Ich kann das einfach nicht“, flüsterte sie weinend.

Lieber verbrachte sie die Feiertage ganz allein, als noch einmal drei Tage lang mit ihren beharrlich schweigenden Eltern eingesperrt sein zu müssen.

Als ihre Tränen schließlich versiegt waren, atmete sie einmal tief durch, stornierte ihren Flug und rief dann ihre Mutter an.

„Ich habe eine Nebenhöhlenentzündung, Mom. Der Arzt sagt leider, dass ich damit nicht fliegen darf. Vielleicht kann ich ja in ein paar Wochen zu Besuch kommen.“

„Deine Nase klingt wirklich sehr verstopft.“

Das lag wohl am Weinen.

„Karyn …“

„Ja, Mom?“

Nach einer langen Pause sagte ihre Mutter leise und fast entschuldigend: „Wir haben dieses Jahr wieder einen Baum.“

Einen kurzen Moment lang überlegte Karyn, ob ihr Platz im Flugzeug wohl schon wieder vergeben war, doch dann sagte sie sich, dass es besser war, alles so zu belassen. Sie würde die Neuigkeiten über Cassidy garantiert nicht für sich behalten können, aber sie durfte ihren Eltern keine solche Hoffnung machen, so lange nicht hundertprozentig feststand, dass sie wirklich Kyles Kind war. Schon gar nicht, wenn sie ihre Trauer offenbar endlich zu überwinden schienen.

Sie wechselte noch ein paar Worte mit ihrer Mutter und verabschiedete sich dann. Zum ersten Mal seit drei Jahren wünschten sie sich gegenseitig frohe Weihnachten.

Vollkommen erschöpft und innerlich leer, wählte Karyn danach Vaughn Ryders Nummer. Es klingelte endlos, und sie war schon kurz davor, wieder aufzulegen, als er sich endlich meldete.

„Hier ist Karyn Lambert“, sagte sie, bemüht, ihre Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen.

„Karyn.“

Na, wunderbar, das war aber keine freudige Begrüßung. Er klang absolut kühl und geschäftsmäßig.

„Ich wollte nur wissen, ob das Testergebnis schon da ist.“

Es klang, als ob er ein Seufzen unterdrückte. „Wie ich Ihnen gestern schon gemailt habe, habe ich die Probe am Freitag weggeschickt, da ich ja erst am Donnerstag bei Ihnen war. Am Wochenende hatte das Labor geschlossen, aber sie ist heute dort angekommen, davon habe ich mich telefonisch überzeugt. Allerdings dauert es sieben bis zehn Tage, bis das Ergebnis da ist.“

„Oh.“

„Ich verstehe ja, dass sie nervös sind, aber schneller geht es nun mal nicht.“

„Ich bin einfach so weit weg …“

„Ja, fünfhundertfünfzig Meilen sind nicht gerade nah, wir befinden uns hier fast an der Grenze zu Oregon.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Die Huntsman’s Lodge ist ganz in der Nähe unserer Ranch. Wenn Sie gerne hier sein möchten, wenn das Ergebnis kommt, könnten Sie so lange dort unterkommen. Aber wenn Ihr Bruder nicht der Vater ist, hätten Sie diese weite Reise ganz umsonst gemacht.“

„Ich werde darüber nachdenken. Vielen Dank.“

„Frohe Weihnachten, Karyn.“

„Das wünsche ich Ihnen und Cassidy auch.“

Nimm dir Zeit für dich. Glorianas Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie hatte die Feiertage über frei. Warum sollte sie also nicht in Richtung Norden fahren und in Cassidys Nähe auf das Testergebnis warten?

Sie suchte die Huntsman’s Lodge im Internet, reservierte sich ein Zimmer und gab die Route dann ins Navi ihres Handys ein. Vorsichtshalber druckte sie den Kartenausschnitt mit Vaughns Ranch ebenfalls aus, den sie die letzten Abende über immer wieder auf Google Earth studiert hatte, während sie sich vorgestellt hatte, dass Kyles kleine Tochter dort herumtobte.

Wenn sie morgen früh um vier Uhr aufbrach, könnte sie bereits am Nachmittag dort sein.

Damit sie am nächsten Tag nur noch loszufahren brauchte, brachte sie den Koffer schon ins Auto und fuhr auch noch zur Tankstelle, um vollzutanken. Im nahegelegenen Supermarkt holte sie sich außerdem Reiseproviant und kaufte in der Schreibwarenabteilung impulsiv ein Skizzenbuch. Für Cassidy hatte sie schon am Tag nach Vaughns Besuch Geschenke besorgt – vorsichtshalber.

Eigentlich rechnete sie nicht damit, in der Nacht auch nur ein Auge zuzutun, doch als sie erst einmal im Bett lag, schlief sie sofort ein. Dann war es wohl eine gute Entscheidung gewesen, dachte sie, als sie am nächsten Morgen um Viertel vor vier erholt und ein wenig aufgeregt von ihrem Handy geweckt wurde.

Die erste Stunde war, wegen des auch um diese Uhrzeit schon dichten Stadtverkehrs, recht mühsam, doch dann wurde es langsam besser. Alle paar Stunden hielt sie an, machte ein paar Dehnungsübungen und aß etwas. In Sacramento wurde der Highway noch einmal voll, danach kam sie aber gut durch und genoss die Landschaft. Als sie nach dreizehn Stunden auf dem Motel-Parkplatz ankam, hatte sie das Gefühl, einen Marathon hinter sich zu haben.

Jetzt brauchte sie nur noch eine warme Mahlzeit, dann würde sie garantiert ins Bett fallen und sofort schlafen.

Doch auf dem Weg zur Rezeption hielt sie inne. Nur dreißig Kilometer entfernt wohnte vielleicht die Tochter ihres Bruders. Sie konnte einfach nicht mehr warten, sie wollte die Kleine unbedingt sehen.

Karyn stieg wieder ins Auto, änderte die Adresse im Navigationsgerät und fuhr los. Sie hatte keine Ahnung, was sie Vaughn sagen sollte, wenn sie dort ankam – sie war sich ja nicht einmal sicher, ob sie auf dem weitläufigen Ranchgelände sein Haus überhaupt finden würde. Bisher hatte sie das, was sie dafür hielt, nur auf Google Earth gesehen, und sie hoffte, dass die kleinen Privatwege, die auf der Ranch verliefen, Namen hatten. Wenn sie allerdings erst nach Einbruch der Dunkelheit dort ankam, würde sie wohl oder übel umkehren müssen.

Doch sie hatte Glück, an der Zufahrt zur Ranch stand ein großes Schild. Anschließend folgte sie einfach nur ihrem Ausdruck von Google Earth von einer Seitenstraße zur nächsten. Als sie gerade dachte, sie hätte sich verfahren, kam plötzlich ein Haus in Sicht. Ein sehr hübsches, zweistöckiges Gebäude, umgeben von Bäumen, mit einer Scheune und einem Paddock im Hintergrund. Vor der Veranda stand ein Balken zum Anbinden von Pferden.

„Offenbar bist du hier nicht mehr in Hollywood“, murmelte sie lächelnd.

Während sie im Auto saß und das Haus und die Landschaft kurz auf sich wirken ließ, wurde ihr klar, wie vollkommen irrational ihr Verhalten in den letzten vierundzwanzig Stunden gewesen war. Nicht nur bei der Sache mit Gloriana – auch hierbei hatte sie überhaupt nicht an die möglichen Konsequenzen gedacht. Cassidy war zweifellos schon traumatisiert genug, weil ihre Mutter sie verlassen hatte. Auf keinen Fall wollte sie die Kleine noch weiteren Unsicherheiten aussetzen.

Hastig ließ sie den Motor wieder an. Sie würde, wie geplant, im Hotel warten, bis das Testergebnis eintraf. Dann war sie eben Weihnachten allein, na und?

Sie wollte gerade den Rückwärtsgang einlegen, als sich die Haustür öffnete und der Cowboy-Rechtsanwalt herauskam, und er wirkte nicht gerade glücklich.

3. KAPITEL

Mit jedem Schritt, mit dem er dem metallicblauen VW Käfer näherkam, wuchs Vaughns Ärger. Als Karyn ausstieg, musste er jedoch trotz allem zugeben, dass er sie beeindruckend fand – genauso beeindruckend wie bei ihrer ersten Begegnung.

Ihre Stiefel mit den extrahohen Absätzen verliehen ihr Größe, und ihre modische Kleidung betonte die Vorzüge ihres Körpers, an die er sich sowieso noch viel zu gut erinnerte. Allerdings wirkte sie in dieser Umgebung vollkommen fehl am Platz und zugleich auch sehr zerbrechlich.

Das hielt ihn aber dennoch nicht davon ab, seinem Ärger erst einmal Luft zu machen. „Was zum Teufel wollen Sie denn hier?“

„Ich fahre ja schon wieder“, erwiderte sie ein wenig panisch. „Es tut mir sehr leid. Ehrlich, ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Ich bin schon wieder weg.“ Sie blickte zum Haus hinüber. „Hat Cassidy mich gesehen?“

„Sie ist gerade bei meinen Eltern. Sie backen zusammen Kekse.“

Karyns Anspannung schien etwas nachzulassen. „So ein Glück.“

„Warum sind Sie überhaupt hier?“

Gequält schloss sie die Augen. „Sie haben mich doch eingeladen.“

„Ich denke, dass ich gesagt habe, dass es in der Nähe ein Hotel gibt, wo Sie auf das Testergebnis warten können. Das Testergebnis, das frühestens in einer Woche kommt.“

„Ich musste einfach raus aus der Stadt.“

„Stehen Sie etwa auf der Fahndungsliste des FBI?“

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

„Und warum mussten Sie dann raus aus der Stadt?“ Sie hatte auf ihn gar nicht unbeständig gewirkt, aber der erste Eindruck konnte ja auch täuschen. Das hatte er leider auf die harte Tour lernen müssen.

„Weihnachten ist keine gute Zeit für mich. Normalerweise fliege ich immer nach Vermont zu meinen Eltern, aber dieses Mal habe ich abgesagt.“

Da war sie wieder, diese Zerbrechlichkeit, vor allem in ihrem Blick.

„Warum ist es denn keine gute Zeit für Sie?“

Dann fiel es ihm wieder ein … Heiligabend war der Todestag ihres Bruders. Das dämpfte seinen Ärger ein wenig, und stattdessen stieg Mitgefühl in ihm auf.

„Sie stellen ganz schön schwere Fragen“, sagte sie mit einem halben Lächeln. „Es kam einfach alles zusammen … ich habe Gloriana Macbeth einfach stehen lassen. Normalerweise bin ich ausgesprochen professionell, aber dieses Mal …“ Sie zögerte. „… dieses Mal war ich es nicht.“

Vaughn rief sich das Foto der mehrmals zur „Schönsten Frau des Jahres“ gekrönten Schauspielerin ins Gedächtnis. „Ich habe gelesen, dass Sie eine Kundin von Ihnen ist.“

„War.“

„Autsch. So schlimm?“

Karyn zuckte mit den Achseln. „Sie war es, die mir vorgeschlagen hat, eine Auszeit zu nehmen.“

Er wollte gar nicht mehr davon hören, und auch nichts damit zu tun haben, wie verletzt und verloren sie war, denn irgendwie hatte er sich immer zu Frauen hingezogen gefühlt, um die man sich kümmern musste – das war wohl sein größter Fehler.

„Ich wollte einfach nur meine Nichte kennenlernen“, sagte sie nun leise.

„Aber das steht doch noch …“

„… gar nicht fest, ich weiß, aber irgendwie fühle ich es einfach. Sie ist Kyles Tochter!“

„Dafür hätte ich gern zuerst einen Beweis, verstehen Sie?“

„Ja, natürlich.“ Sie seufzte. „Es wird schon dunkel. Ich muss fahren, so lange ich die Straßen noch erkennen kann. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.“

Zu spät! Er hörte nämlich gerade den Wagen seiner Mutter den Weg heraufkommen. Sobald das Fahrzeug angehalten hatte, sprang Cassidy auch schon heraus und rannte auf Vaughn zu. Sie war von oben bis unten mit rotem und grünem Zuckerguss bekleckert und hatte sogar etwas davon in den Locken. Dieselben Kringellocken, die auch Karyn besaß, nur dass Cassidys blond waren und nicht hellbraun.

Vaughn stotterte sich daraufhin durch die Vorstellungsrunde, vor allem, als er die Tränen in Karyns Augen sah. Er nannte ihren Namen, erklärte aber sonst nichts.

„Karyn, das ist meine Mutter, Dori Ryder, und das ist meine Tochter Cassidy.“

Seine Mutter warf ihm einen neugierigen Blick zu, doch Cassidy streckte Karyn einfach nur die Hand entgegen.

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Es klang so unglaublich erwachsen.

„Ebenso.“ Karyn sah aus, als wolle sie Cassidy am liebsten in den Arm nehmen und nie wieder loslassen.

Cassidy spähte in Karyns Auto hinein. „Wohnen Sie da drin?“

„Nein, aber es sieht fast so aus, was?“, erwiderte Karyn lachend. „Ich bin auf Reisen.“

„Oh. Übernachten Sie bei uns?“

Offenbar konnte sich Karyn an Cassidy nicht sattsehen.

„Nein, ich habe in einem Hotel in der Nähe ein Zimmer reserviert.“

„Und was machen Sie dann hier?“

„Sie will hier malen, Cass. Sie ist eine Künstlerin.“ Vaughn ignorierte Karyns empörten Blick, als er versuchte, eine Antwort zu geben, die Cass akzeptieren würde.

„Malen? Was denn?“, fragte Cass prompt.

„Was immer mich interessiert“, erklärte Karyn.

„Oh!“ Cassidy riss die Augen auf, dann begann sie aufgeregt auf und ab zu hüpfen. „Ich bin dran! Ich bin dran, nicht wahr? Na endlich! Oder nicht, Daddy? Mein offizielles Familienporträt!“

„Äh …“ Karyn trat ein paar Schritte zurück. Jetzt wirkte sie erneut ein wenig panisch. „Ich …“

Cassidy umarmte ihren Vater ausgelassen. „Oh wie toll! Kommen Sie, Karyn, ich zeige Ihnen, wo es hängen wird!“

„Schätzchen“, sagte Vaughn behutsam und legte Cass die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen. „Karyn muss jetzt wieder ins Hotel zurück.“

„Aber es ist doch schon dunkel.“

„Sie hat Licht am Auto.“

„So ganz unrecht hat Cass nicht“, meinte seine Mutter mit funkelnden Augen.

Ihr entging niemals etwas, und zweifellos hatte sie bemerkt, dass hier so einiges nicht stimmte.

„Sie sollte bei uns übernachten“, rief Cass nun triumphierend.

„Was?“, riefen Vaughn und Karyn gleichzeitig.

„Platz habt ihr ja genug“, warf seine Mutter ein. „Das wäre bestimmt einfacher, als wenn sie jeden Tag hin und her fahren muss.“

„Oh nein, das geht doch nicht“, sagte Karyn, aber alle Blicke waren nun auf Vaughn gerichtet.

„Natürlich geht das“, sagte Cassidy. „Wir Ryders sind gute Gastgeber, nicht wahr, Grammie? Richtig, Daddy? Wir sind bekannt dafür“, fügte sie stolz hinzu.

Kein Wunder, dass sie dies sagte, denn das war es, was sie ihr ganzes Leben lang gehört hatte.

Einen Augenblick lang fühlte sich Vaughn in die Enge getrieben, doch dann wurde ihm klar, dass die ganze Sache auch eine Chance barg. Wenn Karyn Gelegenheit hatte, ihn und Cassidy ein paar Tage lang zu beobachten und zu sehen, was für ein tolles Team sie waren, wie sehr sie sich liebten, und was für ein guter Vater er war … Das könnte sich durchaus als der Vorteil erweisen, den er brauchte, um Karyn davon zu überzeugen, im Falle des Falles nicht um das Sorgerecht zu streiten, oder was auch immer sie sonst vorhatte.

Nein, kein Richter auf der Welt würde ihr das Sorgerecht zusprechen. Möglicherweise ein gemeinsames, aber er durfte einfach kein Risiko eingehen.

„Natürlich können Sie hier wohnen“, sagte er. „Tut mir leid, dass ich Ihnen das nicht schon selbst angeboten habe.“

„Heute Abend essen Sie außerdem mit uns im Haupthaus“, fügte seine Mutter hinzu.

„Oh, nein. Das ist sehr lieb von Ihnen, aber das geht doch nicht. Ich möchte mich Ihrer Familie nicht aufdrängen.“

Ach, nicht?, dachte Vaughn trocken. Deshalb bist du doch hier.

„Unsinn, Liebes. Es ist mehr als genug für alle da. Aber ich muss Sie vorwarnen – es ist eine ganz schön große Runde. Nicht nur die Familie, sondern auch die Mitarbeiter der Ranch. Es ist zwar ein bisschen chaotisch, aber wir haben immer viel Spaß.“ Sie gab Cassidy einen Kuss. „Dann bis gleich, Süße.“

„Hüpf unter die Dusche“, sagte Vaughn zu seiner Tochter, „und wasch dir auch die Haare.“

„Okay, Daddy.“ Cassidy rannte ins Haus, und blieb nur an der Tür kurz stehen, um sich die Stiefel auszuziehen.

„Was meint sie denn mit diesem Porträt?“, fragte Karyn Vaughn, als Cassidy außer Hörweite war.

„Wir lassen auf der Ranch immer von allen Kindern in diesem Alter ein Porträt malen. Sie kann gar nicht mehr abwarten, bis sie dran ist.“

„Aber ich male gar keine Porträts.“ Wieder einmal wirkte Karyns Blick etwas panisch, eine Steigerung der Angst oder Verunsicherung, die sie allgemein offenbar zu empfinden schien.

„Ich habe die Bilder in Ihrer Wohnung gesehen …“

Sie lachte schrill. „Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich sie mitnehme, als ich das letzte Mal zu Hause war. Die habe ich bereits auf der Highschool gemalt, oder besser gesagt, von Fotos abgemalt. Das, was Sie Cassidy versprochen haben, kriege ich aber auf keinen Fall hin. Vielleicht eine Zeichnung, wenn ich viel übe, aber ein Porträt? Keine Chance!“

„Sie müssen aber.“

Sie seufzte. „Ich habe nicht einmal Malsachen dabei. Nur einen Block und einen Bleistift.“

„Das kriegen wir schon hin. Versuchen Sie es denn wenigstens?“

„Natürlich versuche ich es, aber erwarten Sie bitte nicht zu viel, okay?“ Karyn blickte zum Haus hinüber. „Sie ist ganz wunderbar. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie in diese Situation gebracht habe, aber ich bin dennoch froh, dass ich sie dadurch kennenlernen und Zeit mit ihr verbringen kann.“

„Schon gut. Bringen wir Ihre Sachen ins Haus.“

Karyn wusste einfach nicht, was sie von Vaughn halten sollte. Er musste unglaublich sauer auf sie sein, aber er wirkte trotzdem zurückhaltend und verschlossen.

Er hob den größten Koffer aus dem Auto und wartete, während sie die anderen auslud, wobei er sie grinsend dabei beobachtete.

Im Moment wirkte er viel jünger als achtunddreißig, auch wenn sein wettergegerbtes Gesicht und die grauen Schläfen zeigten, dass er viel in der Sonne gewesen war, und vielleicht auch ein schweres Leben gehabt hatte. Sie folgte ihm ins Haus hinein.

„Ihre Mutter hat etwas von einer großen Familie gesagt. Haben Sie Geschwister?“

„Drei Brüder und zwei Schwestern. Ich bin der Älteste. Die Jüngste ist gerade im letzten Studienjahr. Sie ist nur über die Feiertage hier.“ Er öffnete die Haustür und ließ sie eintreten.

Karyn blieb kurz im Wohnzimmer stehen und ließ das wunderschöne Haus auf sich wirken. Es sah gemütlich aus und war dekoriert mit lauter persönlichen Dingen wie Fotografien und originalen Kunstwerken. Vieles davon war aus Holz gefertigt, aber es wirkte dennoch nicht erdrückend. Offenbar mochte Vaughn Skulpturen, abstrakte genauso wie figürliche von Pferden.

„Kommen Sie?“, fragte er nun von der Treppe aus.

Mit einem Koffer in jeder Hand, eilte sie ihm hinterher, bis sie ihn im oberen Flur eingeholt hatte.

„Hatten Sie vor, einen ganzen Monat zu bleiben?“, fragte er amüsiert, mit einer Kopfbewegung zu ihren drei Koffern.

„Ich wusste ja nicht, wie das Wetter wird.“ Sie deutete auf den in ihrer linken Hand. „Das sind nur Schuhe.“

Als er die Augenbrauen hob, forderte sie ihn mit einem Blick heraus, eine schnippische Bemerkung zu wagen, doch er schwieg klugerweise.

„Dort rechts ist Cassidys Zimmer“, erklärte er ihr stattdessen. „Ihres ist hier links.“

„Und wo ist Ihres?“

„Das hintere auf derselben Seite wie ihrs, aber kommen Sie ja nicht auf dumme Gedanken, ich schließe die Tür nachts immer ab.“

„Ich wollte nicht … ich meine …“

Er lachte laut. „Das war doch nur ein Witz.“

Es gelang ihr, in sein Lachen einzustimmen, wenn auch ein wenig zittrig.

„Natürlich schließe ich die Tür nicht ab.“ Noch immer lachend trug er den großen Koffer in ihr Zimmer.

Dass er schon Scherze machte, beruhigte sie etwas, auch wenn es sie überraschte. Wenn sie sich beide entspannen konnten, würden die nächsten Tage bestimmt viel einfacher werden.

„Oh, wie wunderschön“, rief sie, als sie in das Zimmer kam. „Genau wie der Rest des Hauses.“

„Danke. Befindet sich noch etwas im Auto?“

„Nichts, was ich im Moment brauchen würde.“ Die Geschenke für Cassidy ließ sie lieber noch unten. „Wie ist denn die Kleiderordnung heute Abend?“

„Am Weihnachtstag lieben wir es bequem, aber heute machen wir uns ein bisschen schick. Kein Abendkleid, aber Ihre beste Jeans und ein schöner Pullover.“

Karyn lächelte erleichtert. Ihre beste Jeans? Das war einfach. „Und um wie viel Uhr?“

„Wir fahren rüber, sobald Cass fertig ist. Reicht Ihnen diese Zeitangabe?“

„Natürlich.“

„Dann lasse ich Sie jetzt mal in Ruhe.“ Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Karyn öffnete ihre Kleidertasche und hängte erst einmal ihre Sachen auf, dann griff sie nach dem Outfit, das sie anziehen wollte, und ließ die anderen Koffer zunächst unausgepackt. Das konnte sie schließlich auch später noch machen.

Ohne Vaughn wirkte das Gästezimmer auf einmal riesig. Genau wie im Rest des Hauses gab es keine überflüssigen Kinkerlitzchen, aber es wirkte auch nicht steril. Ein besonderes Plus war das eigene Bad.

Ihr Spiegelbild bestätigte ihr, dass sie tatsächlich so müde aussah, wie sie sich fühlte, aber das ließ sich mit einer ordentlichen Portion Schlaf schnell wieder in Ordnung bringen. Heute Abend würde ihr Vaughns Familie hoffentlich die nötige Ablenkung bieten, die sie an den Feiertagen so dringend brauchte.

Karyn schlüpfte nun in schwarze Jeans, einen dunkelgrünen Pullover mit V-Ausschnitt und Glitzerfäden, und in schwarze High Heels mit Strass-Steinen. Dazu wählte sie glitzernde Ohrringe mit Schneeflocken-Anhängern und die passende Kette, trug Lipgloss auf und tupfte sich etwas Vanilleduft hinter die Ohren.

Heute Abend musste sie vor allem darauf achten, Cassidy nicht die ganze Zeit über anzustarren. Vaughn würde das zwar verstehen, aber der Rest der Familie nicht.

Als sie auf den Flur trat, hörte Karyn in Cassidys Zimmer Stimmen, also ging sie direkt nach unten. Sie hatte sich gerade im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt, als Vaughn und Cassidy herunterkamen. Cassidys Haare waren noch feucht und ihre Locken ringelten sich deshalb besonders stark. Sie trug Jeans und schicke Cowboystiefel, und dazu einen hellblauen Pullover mit einem Schneeflockenmotiv.

„Du siehst aber sehr festlich aus“, sagte Karyn. „Weihnachtlich“, fügte sie hinzu, als die Kleine fragend die Augenbrauen hochzog.

„Sie aber auch. Der Pullover gefällt mir.“ Sie rannte zur Haustür. Offenbar war Rennen ihre Normalgeschwindigkeit.

Karyn bemerkte Vaughns Blick, der auf ihrem Ausschnitt ruhte. „Ich mag Ihren Pulli ebenfalls, und auch Ihre Schuhe, Hollywood.“

Über diesen Spitznamen musste Karyn unwillkürlich lachen. Auf dem Weg nach draußen schlüpfte sie in ihre Jacke. Draußen war es nämlich ganz schön kühl. „Schneit es hier auch?“

„Oh ja. Allerdings mehr in den Gold Ridge Bergen als hier unten. Aber wir haben immer noch genügend Schneetage, um die Schulkinder glücklich zu machen.“

„Dann kommt Bigfoot nämlich nicht zu uns durch“, meinte Cassidy vom Rücksitz aus.

„Oh, Bigfoot lebt hier?“

„Aber ja, und wir haben auch viele UFOs. Das sind unbekannte Flugobjekte.“

„Ach herrje. Hast du denn schon welche gesehen?“

„Bis jetzt noch nicht. Aber wenn ich älter bin, werde ich auf dem Berg zelten und mich selbst davon überzeugen. Ich glaube nämlich nicht alles, was man mir erzählt.“

Karyn lachte und bemerkte auch Vaughns Lächeln. „Du hast bestimmt gerade Schulferien, oder?“

„Ja, ganze zwei Wochen lang. Ich bin in der ersten Klasse und wir bekommen immer ganz viele Hausaufgaben. Ich fahre sogar mit dem Schulbus.“

„Ich bin früher auch mit dem Schulbus gefahren, vom Kindergarten bis zur elften Klasse.“

„Und warum danach nicht mehr?“

„Irgendwann hat sich mein Bruder ein Auto gekauft und mich gefahren.“ Karyn freute sich über diese glückliche Erinnerung. Daran hatte sie schon lange nicht mehr gedacht.

„Ich wünschte, ich hätte auch einen Bruder, der mich fährt. Ich mag den Schulbus nämlich nicht, die Fahrt dauert immer ewig. Stunden.“

„Zwanzig Minuten“, warf Vaughn trocken ein.

Cassidy kicherte. Offenbar war das ein vertrautes Geplänkel zwischen den beiden.

„Hier ist das Haupthaus“, erklärte ihr Vaughn und parkte zwischen zwei anderen Pick-up Trucks. Auf dem ganzen Vorplatz standen bereits Autos.

„Sind wir zu spät?“

„Ach was. Wir sind flexibel. Jeder hat zuerst seine Arbeit zu erledigen, Feiertage hin oder her, und muss sich danach ja auch noch umziehen. Wir sind da nicht so.“

„Das Haus ist ja riesig“, sagte Karyn beeindruckt, als sie ausstiegen.

„Acht Zimmer. Sie haben vor Kurzem umgebaut und Küche, Esszimmer und Wohnzimmer zu einem großen Saal zusammengelegt, und jetzt warten sie ungeduldig auf Enkel, die in den ganzen Schlafzimmern übernachten werden.“

Cassidy hüpfte auf seinen Arm, damit Vaughn sie über den Hof trug, während Karyn vorsichtig über den unebenen Boden stöckelte. In einem Fenster stand ein beleuchteter Weihnachtsbaum, und überall hingen Lichterketten und Weihnachtsdekorationen. Etwas wehmütig erinnerte sie sich an die Weihnachten ihrer Kindheit, als es bei ihnen zu Hause auch so ausgesehen hatte. Aber wie sollte sie ihren Eltern vorwerfen, die Lust an den Feiertagen verloren zu haben, wenn sie selbst ihre Wohnung auch nicht mehr festlich dekorierte?

Drinnen sah es aus wie im Weihnachtswunderland. In dem riesigen offenen Kamin brannte ein Feuer, und am Kaminsims hingen elf Strümpfe. Im Hintergrund spielte Weihnachtsmusik, doch hauptsächlich erfüllte Lachen den Raum.

„Da seid ihr ja“, begrüßte sie Vaughns Mutter.

„Hi Grammie!“

„Hallo, meine Süße. Deine Haare sind ja gar nicht mehr grün und rot.“

„Habe ich alles aufgegessen“, erwiderte Cassidy grinsend mit einem Seitenblick zu ihrem Vater. „War wirklich lecker!“

Vaughn zerzauste liebevoll ihre Locken.

„Kommen Sie, Karyn, ich zeige Ihnen die Porträts“, rief sie dann.

Karyn folgte ihr in einen langen Flur mit vielen Türen hinein. Neben jeder Tür hing ein Gemälde.

„Hier, schauen Sie mal!“

Karyn blieb fast die Luft weg. Jedes Bild zeigte ein Kind, das auf einem Pferd saß. Auf einem Pferd! Schlimm genug, dass sie einen Menschen malen sollte, aber ein Pferd?

„Das war das Zimmer von meinem Daddy“, erklärte Cassidy und deutete auf das Bild eines Jungen, der komplett wie ein Cowboy gekleidet war. Er war in Cassidys Alter, genauso wie auch die anderen gemalten Kinder. „Ich möchte aber Glitzerschuhe anziehen, so wie Ihre.“

Cassidy hüpfte davon, um sich einigen anderen Kindern anzuschließen, die durch den Flur rannten. Karyn folgte ihnen langsam. Vaughn holte sie am Eingang zum Wohnzimmer ein.

„Das hätten Sie mir sagen müssen“, klagte sie. „Das kann ich nicht. Pferde? Ganze Kinder? Ein normales Gesichtsporträt hätte ich vielleicht noch irgendwie hinbekommen, aber so etwas doch nicht. Niemals.“

„Wir finden schon einen Weg.“

Seine Mutter trat auf einmal zu ihnen. „Ist alles in Ordnung?“

„Oh, ja, danke. Ich habe schon viele wirklich schöne Häuser gesehen, aber nichts, was diesem hier gleichkommt. Sie müssen hier ja Platz für hundert Gäste haben.“

„So viele nicht, jedenfalls nicht hier drin, aber es kommen schon viele unter. Heute Abend sind wir dreißig, und das ist für unsere Verhältnisse wenig. Kommen Sie, ich stelle Sie allen vor. Vaughn, hole Karyn doch bitte etwas zu trinken. Wir haben Eggnog, Sekt, Kaffee, Tee, heiße Schokolade und alle möglichen Softdrinks.“

„Sekt, vielen Dank.“ Sie hätte im Moment nichts gegen eine ganze Flasche gehabt.

Dori ergriff ihren Arm und stellte sie den anderen Gästen vor. Es gab Brüder und Schwestern und Cowboys und Hirten und viele andere Namen, die sie hörte und direkt wieder vergaß.

„Ich lasse Sie mal hier bei Annie, der Frau meines Sohnes Mitch“, meinte Dori schließlich. „Ich muss mich so langsam um das Essen kümmern.“

„Kann ich Ihnen dabei helfen?“

„Ich habe jede Menge Hilfe, und wir sind fast fertig, aber vielen Dank.“

Karyn trank einen Schluck von dem Sekt, den Vaughn ihr gebracht hatte.

„Eine ganz schöne Menge Leute, was?“, fragte Annie, eine kurvige Blondine in ihrem Alter.

„Große Menschenmengen bin ich durchaus gewöhnt, aber so eine fröhliche, entspannte Atmosphäre kenne ich gar nicht“, erwiderte sie. „Gibt es eigentlich auch einen Hausherrn?“

„Der kümmert sich gerade draußen um das Fleisch, aber wenn er reinkommt, können Sie ihn gar nicht übersehen. Die Ryder-Männer sind alle aus einem Holz geschnitzt, und er ist einfach nur die ältere Version.“ Annie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Sie sind also hier, um Cass’ Porträt zu malen? Sind Sie Künstlerin von Beruf?“

Karyn versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen. „Hauptberuflich bin ich eigentlich Personal Shopperin. Ich wohne in Hollywood.“

„Ehrlich? Das hat Dori gar nicht erwähnt.“

„Ich glaube, sie weiß es gar nicht.“ Karyn wollte auf keinen Fall lügen. „Wir haben noch nicht viel Zeit miteinander verbracht.“

„Wie hat Vaughn Sie denn gefunden?“

„Er hat recherchiert, und so kam er irgendwann auf mich, und was machen Sie beruflich?“

„Ich betreibe eine Bio-Farm.“

„Und wie lange kennen Sie Mitch schon?“

„Wir haben uns erst letzten Sommer kennengelernt und im Oktober direkt geheiratet.“

„Oh, das ging aber schnell.“

Annie lächelte. „Wenn es passt, dann passt es eben.“

„Essen ist fertig!“ Dori läutete eine kleine Kuhglocke.

Im großen Saal stand ein Esstisch, der für sechzehn Personen gedeckt war. Darum herum waren noch mehrere kleinere Vierertische gruppiert.

Der überdimensional lange Frühstückstresen, der die Küche vom Essbereich trennte, diente als Büffet. Es gab mehrere Rinderbraten, Berge von Bratkartoffeln, Tortellini mit Pesto, die größte Schüssel grüne Bohnen, die Karyn jemals im Leben gesehen hatte, und verschiedene Salate.

Die Nachtisch-Bar war auf der Arbeitsplatte über zwei Spülmaschinen aufgebaut. Hier standen vier verführerische Kuchen und vier riesige Keksteller. Unter Gelächter, Scherzen und freundlichen Sticheleien luden sich alle die Teller voll und suchten sich dann einen Platz. Karyn fand sich nun neben Jenny wieder, Vaughns jüngster Schwester.

„Kein Braten?“, fragte sie mit einem Blick auf Jennys Teller.

„Ich bin Vegetarierin, seit ich vierzehn bin.“

Ein wenig peinlich berührt starrte Karyn auf ihren eigenen Teller, auf den sie sich gleich zwei Stücke Braten gepackt hatte. Die junge Frau lachte hell auf.

„Keine Sorge, ohne die ganzen Fleischesser auf der Welt hätte ich nicht so ein schönes Leben. Ich bin schließlich die Tochter eines Rinderzüchters. Bitte, genießen Sie Ihren Braten. Es ist nur eine rein persönliche Entscheidung.“

Mittlerweile war sie so hungrig, dass sich Karyn dies nicht zwei Mal sagen ließ. Das Fleisch war einfach nur köstlich, genau wie alles andere.

„Lassen Sie aber auf jeden Fall noch Platz für den Nachtisch“, riet ihr Jenny. „Moms Kuchen sind legendär.“

Als Jim Ryder den Raum betrat, wusste Karyn sofort, was Annie gemeint hatte. Genau so würde Vaughn in zwanzig Jahren aussehen. Automatisch blickte sie zu ihm hinüber. Er saß zwischen seiner Mutter und seiner Schwägerin Annie, und alle wirkten fröhlich und entspannt.

Auch, wenn sie hier sehr herzlich empfangen worden war, vermisste Karyn plötzlich ihre immer etwas steifen Eltern und natürlich ihren Bruder. Ihre eigenen Weihnachtsessen waren niemals so lebhaft gewesen wie dieses hier, aber es war nun einmal ihre Familie, und jetzt sehnte sie sich plötzlich nach ihnen. Vor allem, wenn es ihren Eltern dieses Jahr wieder etwas besser ging. Sie hatten immerhin einen Baum gekauft …

Als ihr die Tränen in die Augen schossen, flüsterte sie schnell ein „Entschuldigung“ in Jennys Richtung und versuchte, so unauffällig wie nur möglich den Raum zu verlassen. All die gute Laune und Kameradschaftlichkeit wurde ihr plötzlich viel zu viel, nachdem sie so etwas schon so lange entbehrt hatte.

Sie fand irgendwann ein Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und ließ sich auf den Toilettensitz sinken, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Ihr Bruder war alles für sie gewesen … ihr Beschützer, ihr Freund und ihr größter Fan. Er hatte sie niemals im Stich gelassen.

Über Cassidys Mutter, Ginger, hatte Kyle allerdings nie mit ihr gesprochen. Offenbar hatte sie für ihn also wirklich keine große Bedeutung gehabt, denn normalerweise hatten sie sich immer über ihre Beziehungen ausgetauscht und einander Ratschläge gegeben.

Als es leise an der Tür klopfte, wischte sich Karyn hastig mit ein paar Taschentüchern das Gesicht ab. „Ja?“

„Ich bin’s, Vaughn. Geht es Ihnen gut?“

„Ja, natürlich. Ich komme gleich wieder zurück.“

„In Ordnung.“

Sie nahm ein frisches Gästehandtuch aus einem Regal, hielt es unter kaltes Wasser und presste es auf ihre Augen, aber es half nicht viel, und sie konnte wohl kaum so lange hier drin bleiben, bis ihre Augen wieder komplett abgeschwollen waren.

Resigniert öffnete sie die Tür, und sah, dass Vaughn draußen an der Wand lehnte. Als er sie erblickte, starrte er sie ein paar Sekunden lang an, dann zog er sie wortlos in seine Arme. Sie hatte gedacht, sie wäre mit dem Weinen durch, aber nun ging es wieder von vorne los.

„Mein Bruder ist an Heiligabend gestorben“, murmelte sie an seiner starken, tröstenden Schulter.

„Es tut mir so leid.“

„Euch alle hier zusammen zu sehen, so fröhlich und ausgelassen … Ich wusste nicht, dass man jemanden so sehr vermissen kann. Es ist jedes Jahr dasselbe. Ich war in diesem speziellen Jahr bei meinen Eltern und wir hatten uns gerade zum Essen hingesetzt, als die Männer klingelten. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ich bin einfach zusammengebrochen. Ich …“

Er verstärkte seine Umarmung, und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. „Ich kann nicht wieder zu den anderen.“

„Dann bringe ich Sie nach Hause.“

„Nein. Cassidy will bestimmt mit Ihnen und Ihrer Familie zusammen feiern. Kann ich mich einfach nur in einem der Zimmer hinlegen? Dann können Sie mich später holen, wenn Sie wirklich aufbrechen wollen.“

„Okay.“ Am liebsten hätte Vaughn sie hochgehoben und dorthin getragen – diesem instinktiven Drang, sie zu beschützen, war wirklich nur schwer beizukommen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemanden jemals so sehr weinen gesehen zu haben … aus tiefstem Herzen und so schmerzerfüllt. Fürsorglich führte er sie durch den Flur zu seinem alten Zimmer, das sich über die Jahre nicht allzu sehr verändert hatte.

„Das hier war mein Zimmer“, sagte er zu Karyn und ging in das angrenzende Bad, das er sich mit seinem Bruder Mitch geteilt hatte, um einen Waschlappen nass zu machen.

Als er wieder zurückkam, hatte sie bereits die Schuhe abgestreift und sich hingelegt. Er breitete eine Wolldecke über sie aus. „Möchten Sie vielleicht hier übernachten?“

„Nein, danke.“

„Ich habe Ihnen einen kalten Waschlappen und ein Handtuch hierhin gelegt.“

„Danke. Es tut mir so leid.“

Fast hätte er sich über sie gebeugt und sie auf die Stirn geküsst, doch er konnte sich gerade noch beherrschen und ging leise hinaus.

Als er in die große Halle zurückkam, waren die Tische bereits abgeräumt. Nach all diesen Jahren waren die Aufgaben fest verteilt, und die Männer spülten traditionell immer das Geschirr. Vaughn griff nach einem Geschirrtuch.

„Geht es ihr gut?“, fragte seine Mutter.

„Ich denke, sie ist vollkommen fertig. Sie ist heute direkt von L. A. hier raufgekommen, und dann so viele Leute auf einmal …“ Er zuckte die Achseln.

„Es schien mir aber noch etwas anderes zu sein. Sie wirkte auf einmal so traurig.“

„Ihr einziger Bruder ist genau heute vor drei Jahren in Afghanistan gefallen.“

„Oh, das arme Kind“, sagte seine Mutter. „Soll ich nach ihr sehen?“

„Nein, lass sie sich erst einmal ausruhen.“

Dori legte Vaughn die Hand auf den Arm. „Ich habe da noch ein paar Fragen …“

„Das dachte ich mir schon. Aber bitte nicht jetzt, Mom. Ich erzähle dir alles, sobald ich selbst mehr weiß.“

Als der Abwasch erledigt war, versammelten sich alle vor dem Kamin, wo sein Vater traditionell eine Weihnachtsgeschichte vorlas. Das Ende war immer das Signal zum Aufbruch, und alle umarmten sich noch einmal zum Abschied.

Cassidy fielen schon die Augen zu. Vaughn trug sie zum Truck und bat seinen Bruder, kurz ein Auge auf sie zu haben, während er Karyn holte. Doch als er an die Tür seines ehemaligen Zimmers klopfte, antwortete sie nicht. Leise ging er hinein und sah, dass sie tief und fest schlief. Am liebsten hätte er sie einfach weiterschlafen lassen, aber er wusste, dass ihr das am nächsten Morgen bestimmt peinlich sein würde. Also legte er eine Hand auf ihre Schulter und sagte leise ihren Namen.

Sie war sofort wach, aber desorientiert. „Wie spät ist es?“, fragte sie.

„Zeit, nach Hause zu fahren. Cass ist schon im Auto.“

Karyn schlüpfte in ihre Schuhe, dann richtete sie schnell das Bett wieder her.

„Wie viele Leute sind denn noch hier?“

„Wahrscheinlich nur noch meine Eltern und Jenny. Die anderen sind schon aufgebrochen.“

„Ich muss noch schnell meine Handtasche holen und Ihren Eltern danken.“

„Okay.“

An der Tür blieb sie noch einmal stehen. „Ich sehe furchtbar aus, oder?“

Ehrlich gesagt sah sie aus, als wäre sie durch die Mangel gedreht worden, doch er antwortete freundlich: „Sie sehen einfach nur müde aus.“

„Danke, das war nett von Ihnen“, erklärte sie mit einem Lachen.

Seine Eltern verabschiedeten sich gerade auf der Veranda von seiner anderen Schwester Haley.

„Vielen Dank für die Einladung“, sagte Karyn nun. „Es tut mir so leid, dass ich schlappgemacht habe.“

Dori umarmte sie herzlich, und Vaughn befürchtete einen Moment lang, das würde Karyn erneut zum Weinen bringen, doch sie kam offenbar damit klar.

„Wir sehen Sie dann morgen“, sagte Dori.

„Morgen bin ich hoffentlich auch fitter.“ Karyn schüttelte seinem Vater die Hand, dann gingen sie gemeinsam zum Auto, wo Adam die tief schlafende Cass bewachte.

„Schlafen Sie sich erst einmal richtig aus“, sagte Vaughn, als er Karyn schließlich vor dem Gästezimmer Gute Nacht sagte. „Wir müssen morgen erst um elf Uhr wieder los.“

Sie nickte und zog leise die Tür hinter sich zu.

Während Vaughn Cassidy ins Bett brachte, musste er immer wieder an Karyn denken. Er durfte nicht anfangen, sie zu sehr zu mögen, so viel stand fest. Wenn sie wirklich Cass’ Tante war, würde sie bald sowieso eine Rolle in ihrer beider Leben spielen, aber wenn nicht, dann würde er sie niemals wiedersehen. Sie hatte ihr Leben schließlich in L. A. und er war hier verwurzelt. Die Entfernung war einfach viel zu groß, ganz gleich, wie sehr er sich auch zu ihr hingezogen fühlte.

Er mochte es überhaupt nicht, wenn Dinge unordentlich waren – und schon gar nicht seine Beziehungen. Nach seiner Erfahrung mit Ginger war er doppelt vorsichtig geworden. Wenn er sich jemals wieder verliebte, dann nur in eine Frau, die all seine Bedürfnisse erfüllte, was hieß, dass er vielleicht nie eine finden würde.

Cass wünschte sich einen Bruder, das sagte sie ihm immer wieder, und auch er fand es schrecklich, dass sie als Einzelkind aufwachsen musste. Natürlich träumte er davon, mit der richtigen Frau eine größere Familie zu gründen, aber dazu musste diese Frau bei ihm auf der Ranch leben und hier glücklich werden können. Er bezweifelte, dass eine Personal Shopperin aus Hollywood das konnte.

4. KAPITEL

„Wie können Sie in diesen Schuhen bloß laufen?“, fragte Cassidy Karyn am nächsten Morgen, als sie sich auf den Weg zum Haupthaus machten.

„Ganz einfach“, erklärte Karyn und lief dramatisch im Wohnzimmer auf und ab.

Cass kicherte, und auch Karyn lachte. Sie fühlte sich heute Morgen viel besser, nachdem sie bis zehn Uhr geschlafen, anschließend lang und heiß geduscht, sich in aller Ruhe zurechtgemacht hatte und dann in Bluejeans, einem weißen Pullover und hochhackigen Stiefeln ins Wohnzimmer gekommen war. Als Ohrringe trug sie heute silberne Glöckchen, die aber nicht klingelten.

„Haben Sie viele Schuhe?“

„Ich habe sie nie gezählt, aber ich denke, es sind sehr viele, ja“, erwiderte Karyn. Sie wusste, dass es über hundert Paar waren, aber das erwähnte sie lieber nicht. „Allerdings habe ich die nicht alle selbst gekauft. Ich bekomme sie oft geschenkt.“

„Warum denn das?“

„Weil ich für Filmstars arbeite, die sich nicht zu oft mit demselben Paar Schuhe in der Öffentlichkeit blicken lassen dürfen.“

„Warum nicht?“

„So ist das eben in Hollywood. Die meisten meiner Kleidungsstücke habe ich ebenfalls auf diese Weise bekommen.“

„Und wessen Pullover war das mal?“, fragte Vaughn, der gerade wieder hereinkam, um die zweite Ladung Geschenke ins Auto zu laden.

„Der von Gloriana Macbeth.“

Überrascht hob er die Augenbrauen.

Karyn lächelte nur. Vielleicht füllte sie den Pullover obenrum nicht ganz so üppig aus, aber er saß dennoch gut genug, um auch ihre Reize perfekt zu betonen. Vaughn hatte sich heute ganz wie ein Rancher gekleidet, mit einer Wrangler-Jeans, Westernhemd, Stiefeln und Hut. Dazu trug er eine Wildlederjacke mit Lammfellfutter. Jedes Männermagazin hätte ihn sofort als Model für Western-Style-Mode gebucht.

„Du hast genau solche Locken wie ich“, meinte Cassidy beiläufig.

Karyn stockte kurz der Atem. „Ja, das stimmt.“

„Ich hasse meine Haare. Ich kann mir nie einen richtigen Pferdeschwanz machen, aber wenn ich sie ganz kurz schneide, sehe ich aus wie ein Pudel.“

„Glaub mir, ich weiß, was du meinst, aber ich kann dir ein paar Tricks zeigen, wie es einfacher geht, vielleicht muss dir dein Dad aber dabei helfen, bis du es selbst gut kannst.“

Karyn blickte zu Vaughn hinüber, um stumm seine Erlaubnis einzuholen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte nichts.

„Au ja! Ist das okay, Daddy?“

„Vielleicht. Du weißt doch, ich komme mit deinem Haar auch nicht gut klar.“

„Bitte! Bittebittebittebitte.“

„Wir sprechen später darüber. Wollen wir jetzt zu Grammie und Granddad fahren?“

„Jaaa!“ Cassidy sprang hoch und rannte zur Tür.

„Alles gut bei Ihnen heute Morgen?“, fragte Vaughn, während sie gemäßigteren Schrittes zum Auto gingen.

„Ja. Danke.“ Sie hatte beschlossen, dass ihr der gestrige Auftritt nicht peinlich sein würde.

„Wie ich sehe, haben Sie einen Skizzenblock dabei.“

„Ja, ich dachte, ich mache heute ein paar Versuche, zum Üben. Das ist doch okay, oder?“

„Wenn es stimmt, was Sie über Ihr Talent gesagt haben, ist das eine fantastische Idee.“

Sie lächelte. „Als hätte ich es geahnt, habe ich den Block kurz vor meiner Abreise noch schnell gekauft. Ich wollte ja eigentlich gar nicht hierher zur Ranch kommen, bevor die Testergebnisse da sind, deshalb hatte ich vor, herumzufahren, ein paar Landschaftsskizzen zu machen und diese dann anschließend zu malen.“

„Sie wussten aber schon, dass es hier recht kalt ist, oder?“

„Ehrlich gesagt, habe ich nicht daran gedacht, aber ich kann ja auch im Auto sitzen und zeichnen.“

Die ganze Fahrt über plapperte Cassidy aufgeregt vor sich hin. Sie war ungewöhnlich wortgewandt für eine Sechsjährige und sprühte nur so vor Ideen. Beim Haupthaus angekommen, sprang sie aus dem Auto und warf sich in die Arme ihrer Großmutter, die sie bereits auf der Veranda erwartete.

Dori begrüßte auch Karyn mit einer Umarmung. „Frohe Weihnachten, Liebes.“

„Vielen Dank, Ihnen auch, und ja, mir geht es heute schon viel besser, danke“, fügte sie hinzu, bevor jemand ihr diese Frage stellen konnte. „Vaughn hat mir sehr geholfen.“

Als Letzte kamen Vaughns Bruder Mitch, seine Frau Annie und deren zehnjähriger Sohn Austin an. Annie trug eine Auflaufform bei sich.

„Ist im Ofen noch Platz? Dann bleibt er warm.“

„Immer rein damit“, sagte Dori.

Haley und Jenny hatten eine riesige Obstplatte angerichtet, Jim und Adam kamen vom Grill draußen mit zwei Tabletts voller Würstchen und Speck herein. Die ganze Küche wirkte wie ein Bienenstock … ein gemütliches und unfassbar warmes Zuhause.

Ob sich die Ryders wohl jemals stritten? Natürlich tun sie das, beantwortete Karyn sich ihre eigene Frage. Aber bestimmt verrauchte ihr Ärger immer so schnell, wie er aufkam.

Ihre Eltern hatten niemals gestritten, jedenfalls nicht vor den Kindern. Aber dennoch war ihr Elternhaus kein so fröhlicher Ort gewesen wie dieser hier. Karyn versuchte ja, keine Vergleiche anzustellen, aber es fiel ihr schwer.

Schließlich setzten sich alle zum Brunch an den großen Tisch. Die Kinder konnten es kaum abwarten, ihre Geschenke auszupacken, doch die Männer, die schon ein paar Stunden auf der Ranch gearbeitet hatten, mussten erst einmal ihren Hunger stillen. Es war unglaublich, dass zwölf Menschen so viel Essen verdrücken konnten, aber am Ende war tatsächlich kaum noch etwas übrig.

Dieses Mal saß Karyn neben Vaughn, und obwohl genug Platz am Tisch war, hätte sie schwören können, dass sich ihre Arme immer wieder berührten. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, und es fühlte sich irgendwie tröstlich, gleichzeitig aber auch aufregend an. Sie liebte es, seiner tiefen und ruhigen Stimme zuzuhören, und sie mochte seinen trockenen Humor unglaublich.

Endlich wurde zur Freude der Kinder der Tisch abgeräumt und die Geschenke wurden ausgepackt. Die meisten waren praktischer Natur … Kleidung oder Pferdezubehör. Es gab aber auch Gutscheine für nahegelegene Restaurants oder zum Download für Bücher und Musik. Als fast alle etwas bekommen hatten, stand Jim auf und bat Dori, es ihm gleichzutun. Ihre Wangen färbten sich sofort rosa bei all der Aufmerksamkeit.

Jim nahm ihre Hand und überreichte ihr mit der anderen einen Umschlag. „Frohe Weihnachten, Liebste.“

Sie öffnete ihn und zog zwei Flugtickets heraus. „Was? Hawaii? Wir fliegen nach Hawaii?“

„Jawoll.“ Jim strahlte zufrieden angesichts seiner gelungenen Überraschung. „Am Neujahrstag geht es los.“

„Aber wir haben die Ranch doch seit zwanzig Jahren nicht länger als ein Wochenende verlassen!“

„Dann wird es ja wohl endlich mal Zeit, meinst du nicht? Die Jungs haben hier doch alles im Griff.“

„Ach Schatz, wo soll ich denn jetzt so schnell etwas zum Anziehen für die Tropen herbekommen?“ Lachend fiel Dori ihrem Mann in die Arme.

Seit zwanzig Jahren?, dachte Karyn, die sich bemühte, all die Emotionen, die strahlenden Gesichter, die Liebe und Freude in ihren Skizzen festzuhalten. Lag es daran, dass immer zu viel auf der Ranch zu tun war, oder am Geld? Jeder brauchte doch einmal Urlaub vom Alltag.

Aber sie selbst war ja schließlich auch schon seit Ewigkeiten nirgendwo anders mehr gewesen.

Für die nächste große Freude sorgten Annie und Mitch, als Dori ihr Geschenk auspackte. Sie bekam ein T-Shirt mit der Aufschrift: Beste Großmutter der Welt.

„Ehrlich?“, rief sie aufgeregt. „Wann ist es denn soweit?“

„Im August.“

Nach einem großen Hallo zu den guten Neuigkeiten, wartete eine im wahrsten Sinne des Wortes große Überraschung auf Austin, denn er bekam sein eigenes Pferd.

Karyn bewunderte das bildschöne Tier, auch wenn sie keine Ahnung hatte, zu welcher Rasse es gehörte. Es war bereits gesattelt und neben einem zweiten Pferd an der Veranda angebunden. Mitch und Austin stiegen in die Sättel, winken ihnen allen zu und ritten dann auf und davon.

„Reitet er zum ersten Mal?“, fragte Karyn Annie.

„Nein, Mitch bringt es ihm schon seit ein paar Monaten bei, und er liebt es unglaublich. Ich dagegen bin nicht so wirklich der Pferdeflüsterer.“

„Oh, lassen sie dir das auf der Ranch hier wirklich durchgehen?“

„Ich habe ja meine Bio-Farm, damit bin ich voll und ganz ausgelastet. Als wir geheiratet haben, sind wir in Mitchs Haus hier auf der Ranch gezogen, aber ich fahre die zwanzig Meilen zur Farm fast jeden Tag.“

„Ich würde sie gern mal sehen“, sagte Karyn, als sie wieder in das Haus gingen.

„Aber sehr gern, jederzeit!“ Annie winkte ihrer Schwägerin zu. „Jenny, du kommst doch morgen zur Farm, dann bring doch Karyn und Cass bitte mit, dann können sie und Austin …“

Sie wurde von einem lauten und schrillen Schrei unterbrochen, den Cassidy ausstieß, als Vaughn ihr einen braunbeige und weiß gefleckten Welpen mit hellblauen Augen überreichte.

„Oh danke, Daddy! Dankedankedankedanke!“ Sie kicherte, als der Welpe ihr das Gesicht ableckte. „Er sieht ja genauso aus wie Bo.“

„Nur, dass sie hier ein Mädchen ist.“

Karyn wünschte sich, sie wäre beim Skizzieren schnell genug oder so talentiert, dass sie die überwältigende Freude der Kleinen festhalten könnte. So aber drückte sie ihren Block nur an die Brust und genoss die Szene.

„Wer ist Bo?“, fragte sie Annie kurz darauf.

„Der Hund meines Sohnes. Er ist auch ein Australian Shepherd.“

„Darf ich ihren Namen aussuchen?“, fragte Cassidy.

„Natürlich.“

Cassidy hielt den Welpen in die Höhe und drückte ihre Nase an die des felligen Bündels. „Belle. Ich taufe dich Belle.“

Vaughn reichte Cassidy nun eine Leine und half ihr, sie an dem Geschirr zu befestigen, das der Welpe bereits trug. „Lass uns doch sofort mit ihr spazieren gehen.“

Die Männer folgten ihnen nach draußen, während sich die Frauen um das Aufräumen kümmerten. Dori verstaute die wenigen Reste im Kühlschrank, ihre Töchter füllten die Spülmaschinen, Annie und Karyn spülten die Töpfe und Pfannen. Im Hintergrund lief Weihnachtsmusik, und sie sprachen über Annies Schwangerschaft, über Hawaii und über Austins Reitkünste.

„Er ist wirklich der geborene Rancher“, meinte Annie seufzend. „Mitch ist natürlich überglücklich, aber ich hatte irgendwie insgeheim gehofft, er würde eines Tages die Farm übernehmen.“

„Jeder muss seinen eigenen Weg finden“, warf Dori ein. „Auch wenn er nicht so verläuft, wie die Eltern sich das wünschen. Denk doch zum Beispiel mal an Vaughn.“

Mehr fügte sie leider nicht hinzu, also fragte Karyn: „Was war denn mit Vaughn?“

„Oh“, sagte Dori lächelnd. „Ich habe ja ganz vergessen, dass Sie nichts über ihn wissen. Es wirkt irgendwie so, als ob Sie beide sich schon ewig kennen würden.“

Ihre Worte berührten Karyn aus irgendeinem Grund tief im Herzen.

„Wir haben schon früh gemerkt, dass Vaughn anders ist“, fuhr Dori fort. „Er mochte das Landleben zwar, war aber immer sehr strebsam. Ständig hatte er die Nase in einem Buch, und er liebte Wörter. Er hat als Kind sogar das ganze Wörterbuch gelesen, weil er wissen wollte, woher die Worte kommen und was sie bedeuten … ob sie lateinische oder griechische Wurzeln haben, und das hat er uns anschließend dann jeden Tag beim Abendessen beigebracht.“

„Er hat eben von mehr geträumt als nur dem Ranch-Leben“, erklärte Jenny.

„Ja, er wollte immer schon in die Großstadt“, bestätigte Dori. „Nach dem Jurastudium ist er in San Francisco geblieben und kam erst vor drei Jahren wieder zurück. Er hat sich dort als Prozessanwalt einen guten Namen gemacht. Schon als Junge konnte er jeden zu allem überreden, nicht wahr, Mädchen?“

„Und warum lebt er jetzt wieder hier?“, fragte Karyn neugierig. Dass Vaughn jeden zu allem überreden konnte, musste sie unbedingt im Hinterkopf behalten. Er durfte sie nämlich auf keinen Fall von etwas überzeugen, mit dem sie später nicht glücklich sein würde.

„Nachdem Cassidy auf die Welt gekommen ist, wurde ihm klar, dass es ihm lieber ist, wenn sie auf dem Land aufwächst.“ Die drei Ryder-Frauen wechselten einen vielsagenden Blick. „Na ja, jedenfalls ist das ein Beispiel dafür, wie Menschen ihren eigenen Weg gehen. Genau wie Haley es getan hat und wie auch Jenny es nach dem College tun wird.“

„Nur noch fünf Monate bis dahin. Hurra!“

Also wollten sie ihr gar nichts über Vaughns Leben mit Ginger erzählen. Wirklich lobenswert, dachte Karyn. Denn sie hasste Tratsch.

„Fangen wir jetzt mit den Vorbereitungen für das Mittagessen an?“, fragte Dori. Als alle lachten, fügte sie hinzu: „Das war kein Witz, Mädels.“

Sie machten Lasagne und Salat und stellten beides für später in den Kühlschrank. Als die Männer zurückkamen, waren sie gerade mit allem fertig. Den schlafenden Welpen trug Vaughn auf dem Arm.

Der Anblick berührte Karyn tief, denn er sah fast aus wie ein Vater, der sein Baby hielt, und es stand ihm wirklich gut. Auch sonst war er ein richtiger Bilderbuchvater. Er und Cassidy bildeten ein enges Team, aber er war dennoch immer der Vater. Sie hatte in Hollywood viele Alleinerziehende gesehen, die ihren Kindern immer alles durchgehen ließen, weil sie Konflikte scheuten. Vaughn hingegen war anders, und genau deshalb würde er auch immer das Beste für Cassidy wollen – was in ihrem Fall hoffentlich bedeutete, dass Cassidys Tante an ihrem Leben teilhaben durfte.

Du weißt doch noch gar nicht, ob sie wirklich Kyles Tochter ist, warnte eine kleine Stimme in Karyns Kopf, doch daran wollte sie jetzt gar nicht denken.

Nach einem späten Mittagessen und Stunden angeregter Gespräche machten sich alle wieder auf den Heimweg. Karyn verteilte ihre Skizzen als Dank dafür, dass sie hatte dabei sein dürfen. Sie tat es lachend und mit dem Hinweis, dass es nur bessere Strichmännchen waren, doch die Beschenkten schienen sich wirklich aufrichtig darüber zu freuen. Sie hatte Jim gezeichnet, der mit Austin auf dem Fußboden vor dem Kamin einen ferngesteuerten Hubschrauber zusammenbaute, und Dori, die freudestrahlend Hula tanzte. Karyn hatte von jedem einen ganz besonderen Moment eingefangen, einschließlich dem, als Mitch Annie die Hand auf den Bauch gelegt hatte und die Liebe der beiden geradezu spürbar geworden war. Sie hatte Austin auf seinem Pferd, Cassidy mit ihrem Welpen auf dem Schoß, eine nachdenkliche Jenny und eine zufriedene Haley auf der Couch skizziert.

Dann war da natürlich noch Vaughn. Er interessierte Karyn am meisten – nun ja, am zweitmeisten – also hatte sie mehrere Skizzen verworfen, bis sie den perfekten Moment erwischt hatte, an dem Cassidy und er zu einem Weihnachtslied miteinander tanzten.

Autor

Gina Wilkins
Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden! Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt seitdem...
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