Bianca Extra Band 75

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ZURÜCK ZU DIR, ZURÜCK ZUM GLÜCK? von MARIE FERRARELLA
Das Leben von Single-Mom Anne steht Kopf, als ihre Jugendliebe Daniel überraschend nach Rust Creek Falls zurückkehrt! Der sexy Cowboy hat ihr nicht nur das Herz gebrochen, als er vor zehn Jahren ohne Abschied verschwand - noch ahnt niemand, dass er auch der Vater ihrer Tochter ist!

NUR DU BIST MEINE WELT von PATRICIA KAY
Die extravagante Modedesignerin Joanna ist absolut nicht Marcus Barlows Typ. Doch aus rätselhaften Gründen fasziniert ausgerechnet sie den konservativen Geschäftsmann mehr als jede Frau zuvor. Bei ihrer Ausstellung in seiner Galerie kommt er ihr gegen jede Vernunft näher …

EIN MILLIARDÄR ZUM HEIRATEN? von TERI WILSON
"Heiraten Sie mich!" Tänzerin Chloe glaubt an einen Scherz, als ihr ein attraktiver Fremder einen Antrag macht. Aber Milliardär Anders Kent meint es ernst - nicht aus Liebe! Er muss verheiratet sein, um seine Nichte zu adoptieren. Warum prickelt es dann bloß so in seiner Nähe?

ZWEI HERZEN UNTER EINEM DACH von MEG MAXWELL
Als Rancher Jake Morrow erfährt, dass Emma von seinem verstorbenen Mitarbeiter schwanger ist, bietet er ihr spontan ein Dach über dem Kopf. Dass sie heftiges Verlangen ihm weckt, ignoriert er. Auch ohne sie hat er genug Probleme! Doch da braucht Emma dringend einen Scheinverlobten …


  • Erscheinungstag 24.09.2019
  • Bandnummer 75
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736767
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Patricia Kay, Teri Wilson, Meg Maxwell

BIANCA EXTRA BAND 75

MARIE FERRARELLA

Zurück zu dir, zurück zum Glück?

Kaum kommt Daniel in seinen Heimatort zurück, überwältigen ihn wieder Gefühle für Anne – noch heftiger als damals. Aber kann ihm seine große Jugendliebe verzeihen, dass er sie einst verlassen musste?

PATRICIA KAY

Nur du bist meine Welt

Modedesignerin Joanna weiß: Sie und den seriösen Unternehmer Marcus Barlow trennen Welten. Mehr als eine Geschäftsbeziehung mit ihm ist unmöglich! Und wenn es noch so erregend zwischen ihnen knistert …

TERI WILSON

Ein Milliardär zum Heiraten?

Das Sorgerecht für seine Nichte kriegt der überzeugte Single Anders Kent nur, wenn er heiratet. Ist eine Scheinehe ohne Sex mit Tänzerin Chloe die Lösung? Dumm nur, dass er sie trotzdem heiß begehrt …

MEG MAXWELL

Zwei Herzen unter einem Dach

Emma darf sich auf gar keinen Fall in den gut aussehenden Rancher Jake verlieben – egal, wie sympathisch und hilfsbereit er ist! Denn er hat gleich klargemacht, dass er keine Familie will …

PROLOG

Auf der Comanchero Ranch herrschte Hochbetrieb, denn sie zählte zu den beliebtesten Ferienanlagen in ganz Colorado. Abgekämpft betrat Daniel Stockton das Cottage, das er dort bewohnte. Seit zehn Jahren kümmerte er sich als Reiseleiter und Animateur um die Großstädter, die im Urlaub für eine kleine Weile in den Wilden Westen hineinschnuppern und echtes Cowboyfeeling erleben wollten.

Er fühlte sich, als wären all jene Jahre in die letzten anderthalb Wochen gepackt worden. Stöhnend schleppte er sich ins Wohnzimmer und ließ sich auf das alte Sofa fallen. Sein Magen knurrte, doch momentan war ihm nicht danach zumute, mehr als seine rechte Hand zu bewegen, mit der er zur Fernbedienung des Fernsehers griff.

Es war zu still im Cottage. Er brauchte Hintergrundgeräusche, um sich abzulenken. Selbst nach der langen Zeit war er noch immer ungern mit seinen Gedanken allein.

Er drückte die Power-Taste, um sich von einer x-beliebigen Sendung berieseln zu lassen. Er wollte nichts weiter als ein bisschen Gesellschaft, der er nichts zu erklären brauchte. Die Feriengäste verlangten ständig Auskünfte über dieses und jenes. Meistens störte er sich nicht daran. Doch seit einer Woche weilte dort eine Familie mit einem zwölfjährigen Jungen namens Harlan, der ihm förmlich Löcher in den Bauch fragte.

Daniels Kopf pochte und drohte zu explodieren. Die Bezahlung auf der Comanchero Ranch war ganz anständig, und er arbeitete zumeist auf dem Pferderücken, was er liebte. Doch es gab Momente, in denen ihn die Einsamkeit einholte und dermaßen bedrückte, dass er kaum atmen konnte, und dann war es um seine Gelassenheit ziemlich schlecht bestellt.

An diesem Nachmittag hätte er Harlans Eltern beinahe empfohlen, ihrem Sprössling endlich Manieren beizubringen. Um ein Haar wäre ihm der Geduldsfaden gerissen. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, seinen Ärger hinunterzuschlucken und die Städter nach dem Ausritt ohne ein böses Wort zu ihrer Unterkunft zurückzubringen.

„Reiß dich zusammen“, ermahnte er sich nun. „Der Job ist nicht schlecht, und du kannst es dir nicht leisten, ihn zu verlieren.“

Sein Magen knurrte noch immer. Daniel stand auf, um sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. Er war gerade auf dem Weg in die kleine Küche, mit dem Rücken zum Fernseher, als er sie hörte.

Die Stimme aus seiner Vergangenheit.

Er erstarrte, lauschte, redete sich ein, dass er es sich nur einbildete. Das kann nicht sein. Das ist bloß die Einsamkeit, die dir auf den Geist geht.

Er ging weiter und öffnete den Kühlschrank. Statt etwas Essbarem holte er ein Root Beer heraus. Er öffnete die Flasche und hob sie gerade an die Lippen, als er sie erneut hörte.

Die Stimme aus seiner Vergangenheit.

„Hier ist Travis Dalton, und Sie sehen ‚The Great Roundup‘. Wir melden uns live aus Rust Creek Falls in Montana und ich rede gerade mit Jamie Stockton, dem mutigen Vater von einjährigen Drillingen. Bis vor Kurzem musste er diesen niedlichen kleinen Wesen Vater und Mutter zugleich sein. Erzählen Sie uns, wie Sie sich dabei gefühlt haben, Jamie.“

„Ich muss zugeben, dass ich zuerst ziemlich überfordert …“

Die Flasche entglitt Daniels Hand, landete mit einem lauten Knall auf dem Fußboden und versprühte einen Schwall Schaum auf seine Stiefel und Hosenbeine.

Er merkte es gar nicht. Seine Augen waren auf den Bildschirm, auf Jamie Stockton fixiert. Mein kleiner Bruder …

Die Welle der Einsamkeit, die Daniel beschlichen hatte, weitete sich zu einer mitreißenden Flutwelle aus, die ihn in Erinnerungen versinken ließ.

Erinnerungen, die er in den letzten zwölf Jahren mit aller Macht zu ignorieren und zu begraben versucht hatte.

Die Stimme des jungen Mannes zu hören, der von seinem Schicksal berichtete, ließ all die verlorene Zeit plötzlich dahinschmelzen, als wäre sie nie vergangen.

1. KAPITEL

Unschlüssig trat Daniel von einem Fuß auf den anderen, während er vor der geschlossenen Haustür wartete.

Es war die Tür seines Bruders.

Daniel hatte absolut keine Ahnung, was ihn erwartete.

Einen ganzen Monat intensiver Seelenforschung hatte er gebraucht, um endlich den Mut aufzubringen, diesen gigantischen Schritt zu wagen. Um Colorado zu verlassen und den langen Weg nach Rust Creek Falls in Montana zurückzulegen.

Zurück in seine Heimatstadt und zu seinen Wurzeln.

Zurück an den Ort, an dem vor zwölf Jahren alles in die Binsen gegangen war.

Paradoxerweise zogen ihn ein- und dieselben Dinge nach Rust Creek Falls zurück, die ihn überhaupt erst veranlasst hatten, sich so lange fernzuhalten.

Bereits drei Mal hatte er eine Hand gehoben, um an die Tür zu klopfen. Jedes Mal hatte ihn der Mut verlassen und er die Hand wieder sinken lassen.

Komm schon. Du bist nicht den ganzen Weg hergekommen, um im letzten Moment zu kneifen. Das bist nicht du. Oder vielleicht auch doch. Warum sonst hatte er es seit über einer Dekade vermieden, sich mit irgendeinem seiner Geschwister in Verbindung zu setzen?

Die ersten zwei Jahre seines selbstgewählten Exils hatte er mit seinen älteren Brüdern Luke und Bailey verbracht. Dann waren die beiden ihrer eigenen Wege gegangen.

Mittlerweile war Daniel es leid, allein zu sein. Niemanden zu haben, mit dem er seine Erinnerungen aus der Kindheit teilen konnte. Keine Familie zu haben.

Er hatte sich eingeredet, seinen Frieden mit der Situation geschlossen zu haben. Schließlich wusste er nicht einmal, wo seine Brüder und Schwestern überhaupt steckten.

Doch Jamies Stimme in der Fernsehsendung zu hören, hatte alles verändert.

Plötzlich hatte Daniel das Gefühl, wieder dazuzugehören. Nun wusste er, dass zumindest einer seiner Angehörigen noch immer in Rust Creek Falls lebte. Er musste nur auf ihn zugehen und die brüderliche Beziehung auffrischen, um wieder eine Familie zu haben.

Das war ihm ursprünglich recht einfach erschienen, doch nun war er sich nicht mehr so sicher.

Finde wenigstens heraus, ob er mit dir reden will. Er holte tief Luft und hob erneut die Hand. Diesmal klopfte er tatsächlich an.

Sein Herz pochte, während er wartete.

Es war später Nachmittag, schon beinahe Abend. Was, wenn keiner zu Hause ist? Was, wenn Jamie die Tür aufmacht und mich zum Teufel jagt? Was, wenn …?

Für weitere Spekulationen oder Wankelmut blieb keine Gelegenheit. Denn die Tür öffnete sich. Eine ältere, erwachsene Version des Jungen, den Daniel vor zwölf Jahren zurückgelassen hatte, stand im Eingang.

Für einen Moment behielt Jamie Stockton eine ausdruckslose Miene bei, als stünde er einem Fremden gegenüber. Dann huschte eine Vielzahl von Emotionen in rascher Abfolge über sein Gesicht. Schließlich fragte er mit rauer Stimme: „Danny?“

Daniels Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen nervösen Lächeln. „Ja, ich bin’s“, bestätigte er mit verlegener Stimme. Er räusperte sich. „Ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich wusste ja nicht, wie du reagieren würdest. Ich wollte nicht riskieren, dass du mich …“

Unverhofft schloss Jamie ihn in die Arme und drückte ihn herzlich an sich. „O mein Gott! Danny! Bist du’s wirklich?“ Er hielt ihn fest, als fürchtete er, sein großer Bruder könnte sich andernfalls in Luft auflösen.

Nach einer Weile musste Daniel schließlich sagen: „Ich fürchte, du zerquetschst mir die Rippen.“

„Oh! Entschuldige.“ Jamie ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Ungläubigkeit sprach aus seinen Augen, während er Daniel von Kopf bis Fuß musterte. „Es ist nur, dass ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen. Komm rein.“ Er zog ihn ins Haus und schloss die Tür. „Ist alles okay? Bist du zu Besuch hier? Oder bleibst du?“ Er holte tief Luft. „Entschuldige. Ich will dich nicht so mit Fragen überschütten. Aber da sind so viele Dinge, die ich wissen will. Es tut verdammt gut, dich zu sehen.“ Erneut musterte er Daniel. „Du bist dünn geworden.“

„Ich war doch nie dick.“

„Stimmt. Aber ich habe dein Gesicht noch nie so schmal gesehen. Verdammt, es ist großartig, dass du hier bist. Eine Zeit lang dachte ich … Egal, was ich dachte. Du lebst und du bist hier und das ist alles, was zählt.“ Er blinzelte sich Tränen aus den Augen und deutete zu dem Ledersofa in seinem Wohnzimmer. „Setz dich. Mach’s dir bequem.“

Erleichtert nahm Daniel Platz. „Das ist ein überraschender Empfang. Ich hatte befürchtet, dass du sauer auf mich bist.“

„Weil du damals weggegangen bist?“

„Ja.“

„Das war ich auch“, gestand Jamie. „Eine ganze Weile war ich sogar stinksauer. Sauer und verbittert, dass du, Luke und Bailey euch abgesetzt und uns zurückgelassen habt. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dass es nicht eure Schuld war. Nach dem Tod von Mom und Dad haben Grandma und Grandpa es euch dreien nicht gerade leicht gemacht, hierzubleiben.“

Erinnerungen an seine Großeltern bestürmten Daniel. Noch immer, nach all der Zeit, tat es weh, jene schwere Periode im Geist erneut zu durchleben.

„Ich habe erst viel später herausgefunden, dass sie sich geweigert haben, außer Bella und mir noch jemanden von uns aufzunehmen. Dass sie deshalb die anderen Mädchen zur Adoption freigegeben und von euch Jungs verlangt haben, für euch selbst zu sorgen, weil ihr über achtzehn wart. Sie haben euch ja praktisch befohlen, die Stadt zu verlassen. Also hattet ihr keine andere Wahl.“

Daniel erinnerte sich deutlich an jenen Tag, der bereits zwölf Jahre zurücklag.

„Aber damals wusste ich das nicht. Ich wusste nur, dass meine Eltern tot waren und meine großen Brüder mich im Stich gelassen hatten, als ich sie am meisten gebraucht hätte.“ Jamie schüttelte den Kopf, wie um die schmerzlichen Erinnerungen abzuschütteln. „Ich war sehr lange echt sauer auf dich.“

„Aber jetzt bist du es nicht mehr?“

„Nein.“

Erleichterung überwältigte Daniel. „Was hat dich veranlasst, deine Meinung zu ändern?“

Jamie lachte. „Ganz einfach. Mir ist klar geworden, dass das Leben zu kurz ist, um ständig Zorn und Bitterkeit mit sich rumzuschleppen. Außerdem haben die Drillinge mein Leben verändert. Es geht nichts über die Verantwortung für drei winzige hilflose Wesen, um sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. Seit ich aufgehört habe, sauer zu sein, bin ich offen für die guten Dinge im Leben. Wie die Liebe.“ Er grinste. „Und so kam es, dass ich mich in Fallon O’Reilly verliebt habe. Seitdem hat sich meine ganze Welt zum Guten gewendet, und ich könnte nicht glücklicher …“ Verlegen unterbrach er sich. „Ach, verdammt, tut mir leid, dass ich so viel rede.“

„Schon gut. Ich finde es großartig. Ich habe deine Stimme so lange nicht gehört. Sprich ruhig weiter.“

„Nein. Erzähl du mir zuerst, was dich dazu gebracht hat, plötzlich vor meiner Tür aufzutauchen – nach zwölf langen Jahren.“ Neue Sorgen beschlichen Jamie. „Ist etwas passiert? Du stirbst doch nicht, oder?“

„Nein, ich sterbe nicht“, versicherte Daniel, „und passiert ist eigentlich nur, dass ich in meinem Cottage …“

„Du hast ein Cottage?“

„Ja. Aber das ist eine lange Geschichte.“

Jamie hungerte nach Informationen über seine Geschwister – abgesehen von Bella, die noch in Rust Creek Falls lebte, und Dana, die er kürzlich aufgespürt hatte. „Sprich weiter. Ich bin ganz Ohr.“

„Ich erzähle dir davon, nachdem ich deine erste Frage beantwortet habe.“

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht unterbrechen.“

„Also, ich habe mich nach einem ganz besonders harten Arbeitstag in mein Cottage zurückgezogen und mir als Gesellschaft den Fernseher eingeschaltet, und da …“

„Du lebst allein?“

Allein. Von Mal zu Mal, wenn er dieses Wort hörte, vergrößerte sich das Gefühl der Leere in seinem Innern. „Stimmt.“

„Du hast nie geheiratet?“

Wie hätte ich heiraten können? Sein Herz war bereits vergeben – auch wenn die Frau, der es gehörte, keine Verwendung dafür hatte. „Nein.“

„Sorry. Ich wollte nicht indiskret sein. Sprich weiter. Du bist nach Hause gekommen und hast den Fernseher eingeschaltet. Was dann?“

„Dann habe ich diese Stimme gehört, die voller Stolz und Liebe von Drillingen gesprochen hat.“

„Moment mal! Du hast mich im Fernsehen gehört? Du hast die Sendung gesehen, die Travis Dalton aufgenommen hat? ‚The Great Roundup‘?“

Daniel schmunzelte. „Ja.“

„Aber das ist schon über einen Monat her.“

„Ich weiß.“

„Du bist schon so lange in Rust Creek Falls?“

„Nein. Ich bin gerade erst angekommen. Du bist mein erster Stopp.“

„Das verstehe ich nicht. Warum hast du so lange gebraucht, um herzukommen?“

„Es hat einen Monat gedauert, den Mut aufzubringen, dich aufzusuchen. Ich wusste ja nicht, ob du mich überhaupt reinlassen oder ob du mich zum Teufel jagen und mir die Tür vor der Nase zuschlagen würdest.“

Jamie starrte ihn ungläubig an. „Du hattest Angst, dass ich dich abweisen könnte?“

„So ähnlich, ja.“

„Du hattest Angst vor deinem kleinen Bruder?“

„Ja. Weil Luke, Bailey und ich deiner Meinung nach dich und die Mädchen im Stich gelassen haben. Weil ich euch in der Obhut unleidlicher Großeltern, die den Namen nicht verdienen, zurückgelassen, und mich nie wieder gemeldet habe.“

Einen Augenblick war Jamie sprachlos. Dann räumte er ein: „Tja, wenigstens versuchst du nicht, es zu beschönigen. Das muss ich dir lassen.“

„Ich kann es nicht beschönigen. Du musst wissen, dass ich dich und die Mädchen gern kontaktiert hätte.“ Daniel legte ihm eine Hand auf die Schulter. „In all den Jahren ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an euch gedacht habe.“

Jamie glaubte ihm. Aber er hatte weitere Fragen. „Wenn du so empfunden hast, warum hast du dich dann bei keinem von uns gemeldet?“

„Ich wollte euer Leben nicht noch mehr durcheinanderbringen.“

„Du hättest doch nichts durcheinandergebracht, du Idiot! Du hättest es nur besser gemacht.“Daniel seufzte. „Tja, nun …“ Damals war ich überzeugt, das Richtige zu tun. Und dann war da noch die Schuld, die mich gelähmt hat.

„Na ja, das ist alles Schnee von gestern. Was wirklich zählt, ist, dass du jetzt hier bist. Dafür hat sich die ganze Quälerei bei der Aufzeichnung der Fernsehsendung gelohnt.“ Jamie lachte. „Ach verdammt, wo sind meine Manieren? Kann ich dir etwas zu essen oder zu trinken anbieten?“

„Nein, danke. Dich nach so langer Zeit wiederzusehen, ist alles, was ich brauche.“

„Apropos brauchen. Ich brauche Informationen von dir.“

„Worüber?“

„Darüber, was du in den letzten zwölf Jahren getrieben hast.“

Daniel atmete tief durch. Er wusste, dass er Jamie eine Erklärung schuldete. Doch das Thema drohte Erinnerungen heraufzubeschwören, die er lieber unangetastet ließ. „Das, Bruderherz, ist sehr viel verlangt.“

„Betrachte es als den Preis, den du zu zahlen hast, um deine Neffen und deine Nichte kennenzulernen.“

„Okay. Wenn das wirklich dein Ernst ist.“

Jamie gelang es, für ungefähr fünfzehn Sekunden keine Miene zu verziehen. Dann grinste er. „Ich bin bloß neugierig, wie es dir so ergangen ist. Aber wenn du nicht darüber reden willst, ist es okay.“

„Darum geht es nicht. Ich will dich bloß nicht einschläfern.“ Daniel grinste verlegen. „Die letzten zwölf Jahre waren ziemlich langweilig.“Die Trauer in seinem Blick verriet Jamie, dass diese Jahre vielmehr Narben auf der Seele hinterlassen hatten. „Erzähl’s mir irgendwann mal, wenn du bereit dafür bist. Ganz ohne Druck.“Während Daniel überlegte, wo er mit seinem Bericht über seine Vergangenheit beginnen sollte, kam eine gertenschlanke Rothaarige mit lebhaften blauen Augen und ansteckendem Lächeln ins Zimmer. Sie blickte Daniel unverwandt an und sagte zu Jamie: „Dachte ich mir doch, dass ich dich mit jemandem reden gehört habe.“

Die Männer standen simultan auf.

Jamie legte ihr liebevoll einen Arm um die Taille. „Danny, ich möchte dir das Licht meines Lebens vorstellen: Fallon, meine Frau. Fallon, das ist mein großer Bruder Danny.“

Daniel erwartete ein höfliches Kopfnicken oder bestenfalls ein vages Lächeln von der hübschen jungen Frau. Doch anstatt ihn mit Artigkeiten abzuspeisen, lief sie geradewegs zu ihm und schloss ihn in eine feste Umarmung, die ihm ans Herz ging. „Danny! Wie wundervoll, dich endlich kennenzulernen! Jamie hat mir ja so viel von dir erzählt!“

„Wirklich?“

„Ja. Allerdings mehr oder weniger unfreiwillig.“ Fallon löste die Umarmung und kehrte zu Jamie zurück. „Ich muss zugeben, dass es mich ziemlich viel Arbeit gekostet hat. Er hat am Anfang nicht viel über seine Familie gesprochen. Wahrscheinlich hat er sich überfordert gefühlt – was man ihm unter den Umständen nicht verdenken kann.“

Nach einem liebevollen Seitenblick zu Jamie fuhr sie fort: „Aber auf mein Drängen hin hat er mir schließlich einiges über seine Geschwister erzählt. Bella und Dana habe ich ja persönlich kennengelernt. Ihr hattet alle ein schweres Leben, aber es kann nur besser werden.“

Jamie fügte hinzu: „Bella ist in Rust Creek Falls geblieben. Sie ist jetzt verheiratet. Und Dana lebt in Portland bei einer netten Adoptivfamilie. Sie war letztes Jahr zu Besuch hier.“ Er grinste. „Die beiden werden sich riesig freuen zu hören, dass du tatsächlich noch lebst.“

„Ihr habt daran gezweifelt?“, hakte Daniel erschrocken nach.

„Hin und wieder schon. Ich habe schließlich zwölf Jahre nichts von dir gehört. Jedenfalls hat Fallon mich ermutigt, zu suchen – nicht nur nach dir, sondern nach allen verlorenen Schäflein unserer Familie.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Diese Frau hat mein Leben gerettet.“

„Jetzt werd’ bloß nicht melodramatisch!“, wehrte sie ab.

„Es ist die schlichte Wahrheit. Nach Paulas Tod war ich echt übel dran.“

Ich weiß so gut wie nichts darüber, was er durchgemacht hat. Ich hätte hier sein und ihm beistehen müssen. Diese Einsicht weckte Schuldgefühle in Daniel. Irgendwie, obwohl seine Großeltern ihn und seine Brüder praktisch hinausgeworfen hatten, hätte er einen Weg finden müssen, um für seine Geschwister da zu sein, um die Familie zusammenzuhalten. „Paula?“

„Seine erste Frau“, antwortete Fallon.

Sie scheint sich nicht daran zu stören, dass er schon mal verheiratet gewesen war. Er freute sich aufrichtig für seinen Bruder. Zumindest einer von uns hat sein Glück gefunden.

„Die Drillinge sind zu früh gekommen“, erläuterte Jamie. „Paula ist kurz nach der Geburt gestorben. Lange habe ich mir die Schuld daran gegeben. Sie hatte keine Kinder gewollt. Ich schon.“ Ein trauriges Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich schätze, ich habe den Lärm einer großen Familie vermisst.“

Erneut ergriff Fallon das Wort. Ganz offensichtlich hielt sie seine Gewissensbisse für unbegründet und wollte ihn davon ablenken. „Einige Leute aus der Gegend haben sich abwechselnd um die Drillinge gekümmert, damit er wieder Fuß fassen konnte.“

„Du vor allem. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft“, warf er ein.

„Ohne uns“, korrigierte sie. „Die ganze Stadt hat mit angepackt.“ Sie wandte sich an Daniel. „Aber jetzt zu dir. Bist du gekommen, um zu bleiben?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Du wohnst jedenfalls bei uns, während du dich entscheidest.“ Ihr warmherziger freundlicher Ton ließ keinen Raum für Widerworte.

Trotzdem protestierte er: „Ich möchte euch nicht zur Last fallen.“

„Familie ist niemals eine Last“, konterte Jamie. „Ende der Diskussion. Du bleibst. Aber zurück zu meiner ursprünglichen Frage. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

„Seit zehn Jahren lebe ich in Colorado.“

„Colorado? Dort kann ich mir dich überhaupt nicht vorstellen.“

„Weil es in Colorado so viele Großstädte gibt und ich im Herzen ein Landei bin? Das stimmt zwar, aber ich arbeite auf einer Ferienranch mit Großstädtern, die sich für Cowboys halten. Das ist kein schlechter Job. Und ich habe hauptsächlich mit Pferden zu tun.“

„Das kann ich mir allerdings sehr gut vorstellen. Aber wo warst du vorher?“

„In Cheyenne. Auch auf einer Ranch. Zusammen mit Luke und Bailey. Aber den beiden hat es dort nicht besonders gut gefallen. Sie sind rastlos geworden und eines Nachts abgehauen.“ Daniel schluckte schwer und fügte betrübt an: „Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.“

Fallon beugte sich zu ihm vor, legte ihm eine Hand auf den Arm und versprach: „Wir werden sie finden.“

„Ist sie nicht wundervoll?“, schwärmte Jamie voller Stolz. „Sie strahlt immer und überall Optimismus aus, was auch passiert.“

Ein rosiger Schimmer trat auf ihre Wangen. Sie ignorierte das Kompliment und fragte Daniel: „Möchtest du unsere Kinder kennenlernen?“

„Nichts lieber als das.“

„Gut. Gehen wir. Aber mach dich auf was gefasst. Die Jungs sind ziemlich wild für ihr Alter. Man könnte sie glatt für Koffeinwerbung einsetzen.“ Im Scherz fügte sie an: „Jamie, du darfst übrigens auch mitkommen.“

„Oh, welch Ehre! Vielen Dank“, erwiderte er ironisch. Auf dem Weg durch das Haus erklärte er: „Das eigentliche Kinderzimmer ist oben, aber wir haben hier unten ein zweites eingerichtet, damit sie so viel wie möglich in unserer Nähe sind.“ Als sie den Raum betraten, fügte er hinzu: „Kate ist übrigens die mit der Schleife auf dem Kopf.“

Daniel schmunzelte, als er die Drillinge erblickte.

Die Jungen standen nebeneinander im Laufstall, umklammerten mit beiden Händen das Gitter und rüttelten mit aller Kraft daran.

Das Ding dürfte keine besonders hohe Lebenserwartung haben, dachte Daniel unwillkürlich.

Kate saß auf dem Popo und spielte selbstvergessen mit einem schlappohrigen Plüschhasen, völlig unberührt von dem Tumult, den ihre Brüder veranstalteten.

Stolz stellte Jamie seinen Nachwuchs vor. „Danny, das sind Henry und Jared, und die Süße da hinten ist Kate.“ Den Drillingen erklärte er: „Kids, das ist euer Onkel Danny. Könnt ihr ‚Hallo‘ zu ihm sagen?“

Die Drei gaben im Chor Laute von sich, die man mit viel gutem Willen als „Hallo“, interpretieren konnte.

Daniel verstand so gut wie nichts von Kindern und noch weniger von Babys. Verwundert fragte er: „Sie können schon sprechen?“

Sprechen kann man das kaum nennen. Aber sie brabbeln praktisch unaufhörlich vor sich hin, sogar im Schlaf. Für mich klingt es wie Kauderwelsch. Untereinander können sie aber sehr gut kommunizieren.“

„Weil Mehrlinge eine eigene Sprache haben“, warf Fallon ein.

Daniel hockte sich neben den Laufstall, um die kleinen Racker näher zu betrachten, die maßgeblich für seine Rückkehr verantwortlich waren. In ihm regte sich etwas Seltsames, als er sie beobachtete. „Hi, Kids.“

Erneut antworteten sie im Chor. Kate zog sich an den Gitterstäben hoch und tapste zu ihm. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und faszinierte ihn damit auf Anhieb. Er strich ihr über das seidige Haar und prophezeite: „Du wirst mal eine richtige Verführerin.“

„Was soll das heißen?“, entgegnete Jamie mit gespielter Entrüstung. „Das ist sie doch jetzt schon.“

Daniel lachte. „Stimmt. Entschuldige.“

In der nächsten Stunde lernte Daniel die Kinder und die Frau seines Bruders besser kennen. Für ihn war es die schönste Stunde der letzten zwölf Jahre.

Schließlich verkündete Fallon: „Jetzt ist es Zeit für ihr Nickerchen. Du musst leider rausgehen. Solange sie dich sehen, schlafen sie bestimmt nicht ein.“

„Okay.“ An der Tür drehte er sich noch einmal für einen letzten Blick auf die Drillinge um.

„Sie sind faszinierend, oder?“, fragte Jamie stolz.

„Sie sind wundervoll. Aber für dich muss es verdammt schwer gewesen sein, nach Paulas Tod klarzukommen“, erwiderte Daniel mitfühlend und wünschte sich insgeheim, er wäre für seinen kleinen Bruder dagewesen.

„Stimmt, das war es. Aber wie gesagt, die ganze Stadt hat mitgeholfen. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre. Wenn man nur zwei Hände und drei Babys hat, steht man zahlenmäßig eher schlecht da.“

„Wirklich die ganze Stadt?“

„Ja.“ Jamie zögerte flüchtig, bevor er anfügte: „Anne hat auch geholfen.“

Allein der Klang des Namens wirkte wie ein Riss in einem Damm; eine Flut an Erinnerungen stürmte auf Daniel ein.

„Warst du schon bei ihr?“

Kein einziger Tag war während seiner Abwesenheit vergangen, an dem er sich nicht gewünscht hatte, Anne Lattimore wiederzusehen. An dem er nicht mit dem Gedanken gespielt hatte, seine mageren Habseligkeiten zu packen und sich auf die Suche nach ihr zu machen. Doch er war standhaft geblieben – in der Überzeugung, dass sie ohne ihn weitaus besser dran war.

Und auch in diesem Augenblick bekämpfte er den Drang, die Frau aufzusuchen, die er praktisch seit seinem ersten Atemzug liebte. „Nein. Ich bin direkt zu dir gekommen.“

„Das weiß ich zu schätzen, aber wenn du mich fragst, solltest du wirklich zu ihr gehen.“

„Vielleicht später“, wehrte Daniel ab.

„Es ist schon sehr viel später. Zwölf Jahre später. Du musst sie jetzt aufsuchen. Bevor noch mehr Zeit verloren geht. Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Und je länger du trödelst, umso mehr Zeit wirst du verlieren.“

Belustigt fragte Daniel: „Seit wann bist du denn so philosophisch veranlagt?“

„Seit mir klar wurde, dass ich ewig in Fallon verliebt war, ohne es ihr zu erzählen. Aber genug geredet. Es ist noch früh am Tag. Geh!“ Jamie öffnete die Haustür und schob Daniel hinaus. „Wenn du Anne gesehen und dich mit ihr ausgesprochen hast, kannst du gern nach Hause zurückkommen.“

2. KAPITEL

Sie vermisste ihn. Selbst nach all der Zeit. Nicht mehr jeden Tag wie früher. Manchmal verging eine ganze Woche, ohne dass Anne Lattimore diese schmerzhafte Leere im Inneren spürte. Doch dann, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, kehrte das Gefühl mit voller Wucht zurück, deprimierte sie, weckte Erinnerungen.

Dann musste sie sich mühsam aus dem dunklen Loch zurück ans Tageslicht kämpfen. Zurück in ihr Leben als ledige Mutter und Rezeptionistin in der Tierklinik von Dr. Brooks Smith. Der Himmel wusste, dass sie sehr beschäftigt und ihr Leben ausgefüllt war.

Doch an den Abenden, wenn ihre Tochter bei Hank übernachtete und es still im Haus war, tauchten vor Annes geistigem Auge Bilder von Daniel Stockton auf und quälten sie. Weil sie noch immer nicht ihren Frieden mit der Tatsache schließen konnte, dass er sie und die Stadt ohne ein einziges Wort verlassen hatte. Obwohl wir uns so viel bedeutet haben …

Nein, das stimmt nicht, korrigierte sie sich. Das habe ich bloß geglaubt. Offensichtlich hat er das ganz anders gesehen.

Erst nach und nach waren ihr alle Fakten über sein Fortgehen zu Ohren gekommen. Inzwischen wusste sie längst, dass seine Großeltern sich nach dem Tod seiner Eltern geweigert hatten, ihn und seine älteren Brüder in ihre Obhut zu nehmen. Die drei waren förmlich aus der Stadt gejagt worden.

Aber wenn ich ihm etwas bedeutet hätte, wenn er mich so geliebt hätte wie ich ihn, wäre er trotzdem mit mir zusammen geblieben. Ich wäre ihm überall hin gefolgt. Er hätte bloß ein Wort sagen müssen. Für ihn hätte ich die Stadt, meine Familie, meine Träume von einer Collegeausbildung hinter mir gelassen. Er hätte nur fragen müssen …

Daniel hatte nicht gefragt. Er war spurlos verschwunden, wie durch einen Zaubertrick.

Trotz ihres verletzten Stolzes hatte sie versucht, ihn zu finden. Aber niemand hatte gewusst, wohin es ihn und seine Brüder verschlagen hatte. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.

Schließlich hatte sie die Suche aufgegeben und beschlossen, nach vorn zu blicken. Sie hatte die Stadt verlassen, um aufs College zu gehen, und dann war Hank Harlow in ihr Leben getreten. Er hatte sich in sie verliebt und schon bald um ihre Hand angehalten.

So schonend wie möglich hatte sie abgelehnt, doch er hatte sich nicht beirren lassen und ihr weiterhin den Hof gemacht – immer wohl gesittet, aber sehr entschlossen.

Und dann hatte sich herausgestellt, dass sie schwanger war. Alarmiert und entzückt zugleich hatte sie erneut versucht, Daniel zu finden – ebenso erfolglos wie beim ersten Mal.

Verängstigt und in dem Gefühl, trotz ihrer Angehörigen in Rust Creek Falls ganz allein auf der Welt zu sein, hatte sie sich an Hank gewandt und ihm die Schwangerschaft gebeichtet. Er hatte ihr erneut einen Antrag gemacht und kurz darauf waren sie verheiratet gewesen – obwohl Anne deutlich klargestellt hatte, dass sie ihn nicht so lieben könnte, wie er sie liebte.

Nach Janies Geburt hatte er ein Kindermädchen engagiert, um Anne zu ermöglichen, ihre Ausbildung abzuschließen. Anschließend waren sie nach Rust Creek Falls zurückgekehrt. Er hatte eine Ranch gekauft und sie arbeitete seitdem als Rezeptionistin in der Tierklinik.

Fünf Jahre lang war alles glattgelaufen. Hank war gut zu ihr und völlig vernarrt in Janie gewesen. Er war ohne jeden Zweifel ein vorbildlicher Ehemann und ein wundervoller Vater.

Doch schließlich hatte er einsehen müssen, dass er Anne nie ganz für sich gewinnen könnte, dass sie ihn nie so lieben würde, wie er es sich erhoffte. Weil sie Daniel Stockton liebte und es immer tun würde.

Die Scheidung war einvernehmlich verlaufen. Hank hatte ihr das alleinige Sorgerecht für Janie überlassen, behielt sich aber ein uneingeschränktes Besuchsrecht vor. Seine einzige Bedingung war gewesen, dass ihr Geheimnis gewahrt blieb. Soweit es Janie und alle anderen in Rust Creek Falls betraf, war er ihr Vater.

In Bezug auf die Scheidung gingen Freunde und Familie davon aus, dass Anne einfach zu jung geheiratet hatte. Um Janies willen ließ sie alle in dem Glauben. Und es gab keinen Grund, das Geheimnis zu lüften …

Anne seufzte, schob die Erinnerungen beiseite und suchte in der Speisekammer nach Zutaten für das Dinner.

„Was ist mit dir, Mom?“, fragte Janie von der Tür her.

„Wieso fragst du?“ Hastig legte Anne ein Lächeln auf. „Mit mir ist nichts.“

„Doch. Du hast diesen komischen Ausdruck im Gesicht. Wie immer, wenn was nicht stimmt. Also, sag schon!“

Weil Janie kleiner und zarter als der Durchschnitt war, sah sie jünger aus als ihre elf Jahre. Trotzdem wirkte sie vom Verhalten her älter. Manchmal fühlte Anne sich, als wäre ihre Tochter die Erwachsene und sie selbst noch immer das junge Mädchen, das sich Hals über Kopf in Daniel Stockton verliebt hatte. Doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich in alten Erinnerungen zu verlieren, die endgültig in die Vergangenheit gehörten. Daher behauptete sie: „Ich überlege bloß, was ich zum Dinner machen soll. Irgendwelche Vorschläge?“

„Wie wär’s mit Hamburgern?“

„Die gibt’s nur, wenn ich keine Zeit zum Kochen habe. Heute bin ich extra früher nach Hause gekommen, um dir was Besonderes zu machen.“

„Wieso? Musst du mir was Schlimmes beichten?“, fragte Janie argwöhnisch.

„Natürlich nicht.“ Nicht zum ersten Mal dachte Anne, dass ihre Tochter außergewöhnlich intelligent war. Sie spürt immer meine Stimmung und weiß instinktiv, wenn mich etwas belastet – manchmal sogar, bevor ich es selbst weiß. „Kann eine Mutter nicht einfach früher nach Hause kommen, um für ihre beste Tochter etwas Besonderes zu kochen?“

„Ich bin deine einzige Tochter.“

„Das auch.“ Anne lachte und drückte Janie an sich. „Meine beste und einzige Tochter.“

„Und die will Hamburger, Mom.“

„Okay. Aber denk daran, dass es deine Idee war, wenn du nachher auf deinen Teller starrst und dir etwas Raffinierteres wünschst.“

„Okay, ich werd’ dran denken.“

„Gut. Dann geh jetzt und erledige deine Hausaufgaben.“

„Die kann ich doch nach dem Essen machen“, widersprach Janie – plötzlich ganz altersgemäß trotzig.

„Stimmt. Aber es ist besser, wenn du dich gleich darum kümmerst. Dann hast du nachher den Kopf frei. Vergiss nicht, dass dein Vater dich nachher abholt.“

„Na gut. Wenn du nicht willst, dass ich dir mit strahlendem Gesicht voller Bewunderung beim Kochen zugucke …“

„Ich werde mich beim Dinner an deinem strahlenden Gesicht erfreuen – nachdem du deine Hausaufgaben fertig hast.“

„Du hättest Lehrerin und nicht Rezeptionistin werden sollen.“

Anne schüttelte sich bei der Vorstellung. „Um Himmels willen! Mit einer ganzen Klasse voller Schüler wie dir würde ich nie zurechtkommen. Mir reichst du. Jetzt geh und mach mich stolz.“

Mit einem theatralischen Stöhnen verließ Janie die Küche.

Anne lachte. Sie ist genau wie Daniel in dem Alter, dachte sie seufzend. Aufgeweckt. Mit einem stets sonnigen Gemüt. Immer bereit, die Tatsachen zu verdrehen, um den eigenen Kopf durchzusetzen. Und das war ihm stets gelungen, ohne irgendjemanden zu verärgern. Wie so oft sah sie ihn ganz deutlich vor sich. Seine Gesichtszüge, seine Eigenarten. Und wie immer verkrampfte sich ihr Magen.

Hör sofort damit auf! befahl sie sich streng. Es hatte keinen Sinn, an jemanden zu denken, der seit einer kleinen Ewigkeit nicht zu ihrem Leben gehörte.

Sie blickte zur Uhr. Es war noch früh. Bis zum Dinner dauerte es noch anderthalb Stunden. Somit blieb ihr Gelegenheit, sich mit etwas zu beschäftigen, das ihr richtig Spaß machte. Das passierte nicht oft. Sogar so selten, dass ihr aus dem Stegreif nichts einfiel.

Sie ging ins Wohnzimmer und wollte gerade den Fernseher einschalten, als es an der Tür klingelte. Normalerweise war sie zu dieser Zeit noch in der Tierklinik. Ihre Freunde wussten das. Also war es kein Privatbesuch.

Vielleicht hatte einer der Nachbarn ihr Auto in der Auffahrt stehen sehen und brachte sein geliebtes Haustier, um sich kostenlosen medizinischen Rat zu holen.

Mit einem resignierten Seufzer ging Anne zur Tür. Noch bevor sie dem ungebetenen Gast auf der Türschwelle ins Gesicht blickte, wollte sie wissen: „Womit kann ich diesmal dienen?“ Das letzte Wort endete in einem Krächzen. Das Herz pochte ihr plötzlich bis zum Hals.

Sie blinzelte heftig, in der Sorge, dass sie halluzinierte. Doch die Person vor ihr verschwand nicht.

Unzählige Male hatte sie sich diese Situation ausgemalt. Nun, da sich die Szene tatsächlich vor ihr abspielte, fühlte sie sich, als wäre ihr ganzer Körper in Klebstoff getaucht und auf eine unsichtbare Leinwand gedrückt worden. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nicht einmal atmen. Sie konnte ihren Besucher nur fassungslos anstarren.

Ganz allmählich befreite sie sich aus ihrer emotionalen Paralyse und suchte nach Worten.

„Hallo, Anne.“

Seine tiefe sonore Stimme ging ihr unter die Haut, ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen. Ihr Mund war wie ausgedörrt. „Danny?“, brachte sie erstickt hervor.

„Ja, ich bin’s.“

Sie sah ein Lächeln – dieses vage drollige Lächeln, das sie so liebte – über seine Lippen huschen. Im selben Moment spürte sie die Tränen aufsteigen, die sie zwölf Jahre lang tief in ihrem Innern beherbergt hatte, ohne sie auch nur ein einziges Mal hervorbrechen zu lassen. Sie hatte geradezu übermenschliche Kontrolle über sich selbst ausgeübt. Aus Angst, dass sich die Sintflut nicht mehr stoppen ließ, sobald sie auch nur eine einzige dieser Tränen vergoss.

Nun presste sie verzweifelt die Lippen zusammen, um den Kampf nicht doch noch zu verlieren.

Und dann hörte sie ihn zögerlich den Kosenamen sagen, den er ihr damals gegeben hatte, als die Welt voll ungeahnter Möglichkeiten und ihre Liebe brandneu gewesen war. „Annie?“Insgeheim atmete Daniel erleichtert auf, weil Anne ihm persönlich die Tür geöffnet hatte. Ich wäre ganz schön in Erklärungsnot geraten, wenn ihr Mann oder ihre Tochter mir aufgemacht hätten.

Er wusste schon seit Langem, dass Anne eine Familie gegründet hatte. Während eines akuten Anfalls von Heimweh hatte er im Internet recherchiert und war fündig geworden. In einem sozialen Netzwerk war er auf Fotos von ihr, ihrem Ehemann und ihrer kleinen Tochter gestoßen. Deutlich erinnerte er sich, wie er sich bei dem Anblick gefühlt hatte: als ob ihm das Herz aus der Brust gerissen worden wäre.

Er hatte die Seite nie wieder besucht, obwohl er wusste, dass seine Reaktion eigentlich unberechtigt war. Da er die Stadt und Anne verlassen hatte, stand es ihr frei, nach vorn zu blicken und zu heiraten, wen sie wollte. Und er freute sich für sie, dass ihr jemand zur Seite stand, den sie liebte, der sich um sie kümmerte.

Trotzdem fühlte er sich verraten, und selbst nach all den Jahren konnte er nicht leugnen, dass er sie noch immer liebte. Um ihretwillen war er jedoch fest entschlossen, seine Gefühle unter Verschluss zu halten. Schließlich sollte sie sich in seiner Gegenwart nicht unwohl fühlen.

Anne starrte den Mann auf ihrer Schwelle an. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie auszusprechen, hätte jedoch die alten Wunden wieder aufgerissen, deren Heilung so lange gedauert hatte.

Und dann war da das Kind zu bedenken, das sich nur zwei Räume entfernt aufhielt. Dannys Tochter. Ihm die Wahrheit zu sagen, hätte nicht nur seine Welt auf den Kopf gestellt, sondern auch ihr Leben total durcheinandergebracht.

Und dann war da Hank. Von Janies Geburt an galt er als ihr Vater. Er liebte sie und hatte sie fünf Jahre lang mit aufgezogen. Selbst nach der Scheidung übte er die Vaterrolle noch immer mit Bravour aus. Er hatte es nicht verdient, dass ihm ohne Vorwarnung der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.

Doch da stand Daniel Stockton vor der Tür. Wie ein Geist aus der Vergangenheit. Er bräuchte nur einen Blick auf Janie zu werfen, um zu wissen, dass sie von ihm war.

Annes Magen verkrampfte sich. Sie fühlte sich wie gefangen in einem surrealen Traum. „Was willst du hier?“, fragte sie schließlich.

Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie sich kaum verändert. Sie war höchstens noch wundervoller geworden, als in seiner Erinnerung. „Ich war gerade hier in der Gegend und bin ganz spontan auf die Idee gekommen, mal vorbeizuschauen“, erwiderte er schlagfertig. Nach einem Blick in ihr Gesicht murmelte er: „Nicht witzig?“ Er fühlte sich unbehaglich – zum allerersten Mal in ihrer Gegenwart. „Es war einen Versuch wert. Die Wahrheit ist, dass ich vor einem Monat eine Fernsehsendung über Jamie und seine Drillinge gesehen habe. Sie sind mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ich musste zurückkommen und sie sehen.“

Sie. Aber nicht mich. „Aha, ich verstehe“, murmelte sie steif.

Hastig fügte er an: „Und dich. Ich wollte dich sehen.“ Er holte tief Luft. „Darf ich reinkommen?“

Einen Moment lang schien sie Nein sagen zu wollen. Dann trat sie zurück und bedeutete ihm einzutreten.

„Mom, wer ist denn da?“, rief Janie. Sie betrat das Wohnzimmer und blickte unsicher zu dem Fremden.

Er lächelte sie strahlend an. „Hi. Du musst Janie sein.“

Selbstbewusst reckte sie das Kinn vor. „Stimmt. Und wer sind Sie?“„Sei nicht so unhöflich“, ermahnte Anne sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Kann Danny es sehen? Merkt er, dass sie seine Tochter ist? Sie warf einen besorgten Blick in seine Richtung.

„Nein, nein, schon gut“, versicherte er schnell. „Sie ist geradeheraus. Das ist eine sehr positive Eigenschaft.“ Er wandte sich an Janie. „Ich bin Daniel Stockton. Ich habe früher mal hier gelebt.“

„Waren Sie mit meiner Mom befreundet?“

„Ja, das war ich.“

„Mit meinem Dad auch?“

„Nein. Deinem Dad bin ich noch nie begegnet.“

Von Sekunde zu Sekunde wurde Anne beklommener zumute. Sie wollte nicht, dass die beiden sich einander annäherten. Nicht, bevor sie ein paar Grundregeln aufgestellt hatte, um sicherzugehen, dass die Wahrheit nicht vorzeitig durchsickerte. Also musste sie die beiden voneinander fernhalten. „Hast du deine Hausarbeiten erledigt, junge Dame?“

„Noch nicht ganz, aber …“

„Dann geh bitte in dein Zimmer zurück und mach sie fertig. Darauf hatten wir uns doch geeinigt.“

Janie verzog das Gesicht und protestierte: „Ich habe mich nicht geeinigt. Du hast bloß gesagt, dass ich es tun soll.“

„Das läuft auf dasselbe hinaus, Süße. Jetzt geh und komm erst wieder, wenn du fertig bist.“

Janie zog einen Schmollmund und schlurfte stöhnend in ihr Zimmer.

„Sie sieht aus wie du“, bemerkte Daniel.

Verwundert drehte Anne sich zu ihm um. „Wie bitte?“

„Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Zuneigung und Wehmut sprachen aus seiner Stimme. „In ihrem Alter hast du genauso ausgesehen. Wie alt ist sie? Neun?“

Sie zögerte. Neun war eine sichere Zone. Wenn sie bejahte, würde er sie sicher für Hanks Tochter halten und sie bräuchte nicht mehr zu fürchten, dass die Wahrheit ans Licht käme. Aber das wäre gelogen … Sie schluckte schwer und hakte nach: „Findest du wirklich, dass sie mir so ähnlich sieht?“

„Total. Bis hin zu der starrsinnigen Ader.“

Sie schmunzelte. „Wie sieht denn eine starrsinnige Ader aus?“Er unterdrückte den Drang, sie anzufassen. Nicht auf intime Weise wie früher, denn schließlich war sie die Frau eines anderen. Aber er hätte ihr gern eine Hand auf die Schulter gelegt, um für einen flüchtigen Moment eine Verbindung zu schaffen. „Ich sehe sie gerade ganz deutlich vor mir.“ Er wurde ernst. „Vorhin hast du mich gefragt, was ich hier will.“

Anne senkte verlegen den Kopf. „Nicht gerade eine nette Art der Begrüßung nach zwölf Jahren“, gestand sie. „Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass du mich überrascht hast.“

Sie sieht fantastisch aus, dachte er unwillkürlich und verschlang sie förmlich mit den Blicken. „Weißt du, ich habe nicht die ganze Wahrheit gesagt, als ich behauptet habe, dass ich gerade in der Gegend war.“

„Ich habe mich schon gewundert.“ Sie lachte leise. „Eigentlich kommt niemand einfach so per Zufall in diese Gegend. Also, warum bist du hier?“

Daniel räusperte sich. „Ich bin gekommen, um mich für die Art und Weise zu entschuldigen, in der ich dich verlassen habe.“

Verblüfft starrte sie den Mann an, den sie einmal für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Sprache wiederfand. „Weißt du, während deiner langen Abwesenheit habe ich mir diese Begegnung auf Hunderte verschiedene Arten ausgemalt. Das Einzige, was diese Szenarien gemeinsam hatten, war die Erleichterung, die deine Entschuldigung immer in mir ausgelöst hat. Aber in Wirklichkeit fühle ich mich jetzt überhaupt nicht erleichtert. Ich bin nur … traurig, denke ich. Traurig über all die Jahre, die wir verloren haben. Warum bist du damals so sang- und klanglos verschwunden?“

Er schüttelte den Kopf. Darüber wollte er nicht sprechen. Es war ein düsteres Geheimnis, das er niemandem aufbürden wollte. „Ich hatte keine andere Wahl.“

„Man hat immer eine Wahl.“

Ich hatte keine.“

Sie spürte, dass mehr dahintersteckte, dass er ihr etwas verschwieg. „Aber …“

„Außerdem wollte ich dir sagen, dass ich mich für dich freue.“

„Wie bitte?“

„Ich freue mich für dich, dass du jemanden gefunden und geheiratet hast. Dass du eine wundervolle Tochter hast.“

Sie ist deine wundervolle Tochter. Anne starrte ihn finster an und wiederholte verblüfft: „Du freust dich für mich?“

Er nickte und zwang sich zu lächeln.

Hast du denn keine Ahnung, wie weh es mir tut, das zu hören? Warum bist du nicht zurückgekommen, um mir zu sagen, dass du nicht ohne mich leben kannst? Warum hast du dich aus meinem Leben verdrückt und mich die Schwangerschaft ganz allein durchstehen lassen? All diese Fragen schossen ihr durch den Kopf. Stellen konnte sie ihm jedoch keine einzige. Zumindest noch nicht. Und vielleicht niemals.

„Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“, wollte sie stattdessen wissen. Mit großer Mühe gelang es ihr, nicht wie eine verschmähte Geliebte mit gebrochenem Herzen zu klingen, sondern wie eine alte Freundin, die sich nach dem Verbleib eines guten Freundes erkundigte.

Daniel wusste nicht recht, wie er antworten sollte. Eigentlich gab es nicht viel zu erzählen. „Zuerst in Wyoming und dann in Colorado.“

„Wyoming kann ich mir vorstellen, aber Colorado? Was hast du da getrieben?“

„Eigentlich bin ich immer noch dort. Ich habe mich bloß vorübergehend beurlauben lassen. Ich bin Reiseleiter auf einer exklusiven Ferienranch.“

Ein denkbar unpassender Ort für ihn. „Was macht denn ein Reiseleiter auf einer Ferienranch?“

Er lachte trocken. „Hauptsächlich betreue ich feine Pinkel aus der Großstadt, die an Burn-out leiden und glauben, dass sie zu anderen Menschen werden, wenn sie für ein paar Wochen auf einem Pferd rumreiten und Cowboy spielen.“

Sein spöttischer Ton veranlasste Anne zu fragen: „Bist du glücklich damit?“

„Es ist ein Lebensunterhalt.“

„Das habe ich nicht gefragt.“ Ist er unglücklich? Hat er so sehr gelitten wie ich?

„Die Bezahlung ist gut und der Ort erinnert mich an die Sunshine Farm.“

Sie wusste, dass er auf jener Farm eine glückliche Kindheit zusammen mit seinen Geschwistern verbracht hatte – bis zum Tod seiner Eltern. „Willst du zurückgehen? Auf die Ferienranch, meine ich.“

Er war sich noch nicht sicher. Ursprünglich hatte er es beabsichtigt. Sein Job wartete dort auf ihn. Doch das Wiedersehen mit Anne und Jamie wie auch die Bekanntschaft mit dessen Familie weckten starke Zweifel an dem Vorhaben. „Tja, ich …“

Es klingelte an der Haustür.

Anne wollte es ignorieren, wollte unbedingt seine Antwort hören. Plötzlich drängte es sie, ihm die Wahrheit über Janie zu sagen. Das könnte genau der Antrieb sein, den er braucht, um in Rust Creek Falls zu bleiben.

Es klingelte erneut.

Verwundert fragte Daniel: „Willst du gar nicht aufmachen?“

Beim dritten Klingeln nickte sie, legte ein Lächeln auf und ging zur Tür.

3. KAPITEL

Einen Moment lang achtete Hank Harlow weder auf seine Ex-Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte, noch auf das kleine Mädchen, das ihn von Geburt an um den kleinen Finger wickelte. Vielmehr musterte er den großen schlaksigen Cowboy, der im Hintergrund stand und über all die Jahre hinweg sein Konkurrent gewesen war.

Mit einer unausgesprochenen Frage in den Augen wandte Hank sich an Anne.

Beinahe unmerklich schüttelte sie den Kopf, um ihn wissen zu lassen, dass sie weder Daniel noch Janie eingeweiht hatte.

Im nächsten Moment stürmte Janie zu Hank und schlang ihm die Arme um die Taille. „Hi, Dad!“

Er drückte sie liebevoll an sich. „Selber Hi, mein Wichtel.“

Es war ein kostbarer Augenblick, wie er ihn vermutlich nicht mehr oft erleben durfte – ganz unabhängig von der unmittelbaren Bedrohung für seine fragile Welt, mit der er sich gerade konfrontiert sah. So oder so dauerte es nicht mehr lange, bis Janie zu einem Teenager heranreifte und keine öffentlichen Zuneigungsbekundungen von ihrem Vater mehr dulden würde. Ich werde es vermissen …

Sie ließ die Arme sinken, deutete zu ihrem Rucksack, der bei der Tür auf dem Fußboden stand, und verkündete stolz: „Ich habe schon alles eingepackt.“

Er fuhr ihr liebevoll übers Haar. „Braves Mädchen. Ganz meine Tochter.“

Die Worte klangen in Daniels Ohren betont besitzergreifend. Anscheinend denkt er, dass ich hier bin, um seine Familie zu zerstören. Aber so was würde ich nie tun. Ich hatte meine Chance vor zwölf Jahren und habe sie verpasst. Er trat vor und streckte die Hand aus. „Hi, ich bin Daniel Stockton.“

„Ich weiß“, erwiderte Hank frostig. Er zögerte einen Moment, bevor er seinem Konkurrenten sehr flüchtig die Hand gab. „Ich bin Hank Harlow, Annes Ex-Mann und Janies Vater.“

„Komm, Dad, lass uns gehen“, drängte Janie und zog ihn zur Haustür.

„Vergiss deine Schulbücher nicht“, mahnte Anne.

„Die sind im Rucksack, Mom.“

„Deine Hausaufgaben auch?“

Janie seufzte theatralisch, als ob es sie nerve, wie ein Kind behandelt zu werden. „Ja, die auch.“

„Dann ist ja alles gut. Wir machen die Hamburger ein andermal.“ Anne ging zu ihr und küsste sie zum Abschied auf den Kopf. „Benimm dich anständig.“

Hank meldete sich zu Wort. „Sie benimmt sich immer. Der Wichtel ist perfekt.“

Janie strahlte ihn an. „Jetzt komm endlich!“ Sie zog ihn am Arm zum Auto, setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an.

„Viel Spaß!“, rief Anne ihr nach.

Hank warf ihr einen letzten warnenden Blick zu, bevor er auf der Fahrerseite einstieg.

Sie wusste, dass er befürchtete, sein Kind zu verlieren, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Obwohl sie ernsthaft bezweifelte, dass es dazu kommen würde, konnte sie seine Sorge nachvollziehen. Sie presste die Lippen zusammen, total hin- und hergerissen zwischen Wahrheit und Loyalität.

Als er davonfuhr, schloss sie seufzend die Tür und wandte sich an Daniel. Ihr Herz pochte. Sie war sich überdeutlich bewusst, dass sie nun ganz allein miteinander waren. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie ihm sagen, wie sie ein Gespräch anfangen sollte.

In die angespannte Stille erkundigte er sich: „Seit wann bist du denn geschieden?“

„Du wusstest nichts davon?“

„Ich wusste lange nicht mal, dass du geheiratet hast, bis ich im Internet auf Fotos von dir, Janie und ihm gestoßen bin. Seltsamerweise sind keine Fotos gepostet worden, die auf eine Scheidung hindeuten.“

Anne wollte dieses Gespräch nicht führen. Sie befürchtete, aus Versehen etwas durchsickern zu lassen. Sie holte tief Luft, ignorierte bewusst seine Frage und schaltete in den Gastgeberin-Modus. „Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Limonade? Wasser?“

Er verstand, was sie ihm damit sagen wollte, und respektierte es. Er hatte seine Tabuthemen und sie ihre. „Nein, danke.“

„Dann etwas zu essen? Ich habe Brathähnchen im Kühlschrank. Selbst gemacht. Ich kann inzwischen besser kochen.“

„Ich hatte nichts an deinen Kochkünsten auszusetzen.“

Sie lachte; die Spannung zwischen ihnen minderte sich ein wenig. „Das lag nur daran, dass du damals verliebt in mich warst.“

Das bin ich immer noch. Daniel behielt den Gedanken lieber für sich und sagte: „Du hättest Martha Stewart zwar nicht in den Schatten stellen können, aber so schlecht warst du auch wieder nicht.“

„Also möchtest du etwas essen? Ich kann auch Hamburger machen“, bot sie an und ging schon zum Kühlschrank, nur damit sie ihre Hände beschäftigen konnte.

Sein Magen war so verkrampft, dass er keinen Bissen hinuntergebracht hätte. „Nein, danke, es ist alles gut. Ich bin nicht zum Essen hergekommen. Ich wollte mich nur entschuldigen. Und jetzt sollte ich gehen.“ Um sich würdevoll zu verabschieden, nutzte er den ersten Vorwand, der ihm in den Sinn kam. „Ich habe Jamie versprochen, bald wieder zurück zu sein. Ich möchte nicht, dass er denkt, ich wäre wieder für zwölf Jahre verschwunden.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll von dir“, bemerkte sie steif.

Er nahm ihre Hand zum Abschied.

Anne entzog sich seinem Griff so hastig, als hätte sie sich verbrannt.

Er beobachtete, wie ihre Wangen ganz rosig wurden. Der Anblick hätte ihm gefallen, wenn sie sich nicht so verhalten hätte, als könne sie seine Berührung nicht ertragen. „Es tut mir wirklich leid, Annie“, murmelte er leise. Dann ging er zur Haustür und öffnete sie.

„Warte!“

Langsam drehte er sich wieder um.

„Du kannst nicht … Ich meine, wann …“, stammelte sie. „Wann werden wir uns wiedersehen?“

„Falls ich entscheide, nach Colorado zurückzugehen, komme ich vorher vorbei und verabschiede mich“, versprach er. Und damit wandte er sich ab und ging.

Er hörte, wie sie die Tür hinter ihm verschloss. Das Geräusch klang bedrückend prophetisch und endgültig in seinen Ohren.

„Wie ist es gelaufen?“, wollte Jamie gespannt wissen.

Daniel hatte kaum das Haus betreten. Belustigt konterte er: „Hast du die ganze Zeit hier an der Tür gestanden?“

„Gestanden nicht. Ich bin hin und her gelaufen.“

Hatte er solche Angst, dass ich nicht wiederkomme? „Seit ich weggegangen bin?“

„Natürlich nicht. Bloß die letzte Stunde. Also, wie ist es gelaufen?“

Daniel ging ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass Annie geheiratet hat?“

Jamie setzte sich zu ihm. „Weil ich befürchtet hatte, dass du nicht zu ihr gehen würdest, wenn du es weißt.“

„Und warum wolltest du unbedingt, dass ich sie aufsuche?“

„Weil ich denke, dass es wichtig für dich war.“

„Hast du mir deswegen auch ihre Tochter verschwiegen?“

„Ja. Es tut mir leid, aber …“

„Und warum hast du mir nicht von der Scheidung erzählt?“

„Dann hätte ich dir ja zuerst von der Heirat erzählen müssen. Außerdem wollte ich, dass Anne es dir selbst sagt.“ Jamie grinste. „Der Kernpunkt ist doch, dass sie frei ist. Der Rest ist Schnee von gestern.“

„Schnee von gestern, der ein Kind hervorgebracht hat.“

„Janie ist echt niedlich, stimmt’s?“

Daniel schwieg lange. Dann schmunzelte er. „Sie ist Annies Tochter. Wie könnte sie nicht niedlich sein?“

Jamie ging zu dem kleinen Barschrank, schenkte zwei Gläser Whisky ein und stellte sie auf den Couchtisch. „Was hat Anne gesagt, als sie dir die Tür aufgemacht hat?“

„Ihre genauen Worte lauteten: ‚Was willst du denn hier?‘“

Jamie lachte. „Typisch Anne! Direkt wie eh und je.“ Er deutete auf das unberührte Whiskyglas. „Möchtest du lieber was anderes? Meine Bar ist nicht besonders gut bestückt, aber eine kleine Auswahl habe ich schon.“

„Mach dir keine Mühe. Ich trinke nicht.“

Das überraschte Jamie. Er erinnerte sich deutlich, dass Daniel, Luke und Bailey sich eines Nachts kurz vor ihrem Verschwinden aus dem Haus geschlichen hatten, um in eine Bar einzukehren. „Im Ernst?“

„Ja.“

„Nie?“

„Nein.“

„Seit wann?“

Daniel war nicht gerade erpicht darauf, darüber zu reden, aber er wusste, dass er nicht ewig davor davonlaufen konnte. „Seit Mom und Dad gestorben sind.“

„Weil sie von einem betrunkenen Fahrer getötet wurden“, vermutete Jamie.

Das war nicht der wahre Grund, doch Daniel ließ es dabei bewenden. Andernfalls hätte er das furchtbare Geheimnis lüften müssen, das er seit zwölf Jahren mit sich herumschleppte. Es war schlimm genug, dass er selbst darunter litt. Er wollte niemanden sonst damit belasten. „Ja, so ähnlich. Aber du musst dich deswegen nicht auch enthalten.“

„Sie waren auch meine Eltern“, rief Jamie ihm unnötigerweise in Erinnerung.

Ja, und ich bin der Grund, warum sie nicht mehr da sind. Ich bin der Grund, warum du und Bella es ertragen musstet, bei unseren Großeltern aufzuwachsen. Warum die anderen Mädchen zur Adoption freigegeben wurden. Warum Luke, Bailey und ich von zu Hause weggehen mussten und die ganze Familie auseinandergerissen wurde …

„Hey, was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was hast du, Danny?“ Mitfühlend legte Jamie ihm eine Hand auf die Schulter. „Sprich mit mir.“

„Ich fühle mich bloß ein bisschen ausgelaugt. Ich brauche etwas Ruhe. Morgen geht’s mir bestimmt wieder gut.“

„Es ist noch viel zu früh, um ins Bett zu gehen. Willst du nicht zuerst was essen? Fallon macht das sprichwörtliche Festessen zur Rückkehr des verlorenen Bruders. Willst du dir das etwa entgehen lassen?“

Daniel brauchte Zeit für sich, um die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten. Doch er wollte die Gefühle seiner Schwägerin nicht verletzen, die sich extra seinetwegen so viel Mühe machte. „Es passiert nicht jeden Tag, dass mir zu Ehren ein Fest gegeben wird. Das lasse ich mir natürlich um nichts in der Welt entgehen.“

Daniel konnte sich nicht an die letzte gemeinsame Mahlzeit im Kreise einer Familie erinnern und wünschte sich, dass dieses Dinner niemals endete. Doch es war spät geworden und er fühlte sich erschöpft.

Gerade als er ins Bett gehen wollte, eröffnete ihm Jamie: „Weißt du, als Hank sich von Anne hat scheiden lassen, ist sie zu mir und auch zu Bella gekommen und hat gefragt, ob wir von dir gehört hätten und wüssten, wo du steckst. Natürlich konnten wir ihr nicht helfen, weil wir keine Ahnung hatten, wo du …“

„Moment mal!“, unterbrach Daniel aufgeregt. „Hank hat sich von ihr scheiden lassen?“

„Ja. Du hast doch gesagt, dass du davon weißt.“

„Aber ich dachte, sie hätte sich von ihm scheiden lassen.“ Verwundert runzelte er die Stirn. An Hanks Stelle hätte mich nichts in der Welt dazu gebracht, mich von einer Klassefrau wie ihr zu trennen. „Warum hat er das getan?“

„Sorry, ich weiß keine Einzelheiten. Aber ich würde sagen, dass er schließlich eingesehen hat, dass Anne immer noch in dich verliebt war und es immer bleiben wird. Wahrscheinlich wollte er nicht länger die zweite Geige spielen.“

Daniel dachte daran, wie unbehaglich sie sich bei ihrem Wiedersehen gefühlt und wie hastig sie ihm die Hand entzogen hatte. „Du hast wohl von einem deiner geliebten Pferde eins über die Rübe gekriegt.“

Jamie zuckte die Schultern. „Mach ruhig Witze darüber. Ich bin überzeugt, dass ich recht habe.“

Fallon begann, den Tisch abzuräumen, und riet Daniel: „An deiner Stelle würde ich gar nicht erst versuchen, es ihm auszureden. Er mag zwar sanft wie ein Lamm wirken, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er starrsinnig wie ein Esel und lässt sich nicht umstimmen.“

„Na gut, dann lasse ich es bleiben. Obwohl er völlig danebenliegt. Warte, ich helfe dir.“ Er griff nach den Tellern, die sie gerade aufgestapelt hatte.

„Lass das.“ Sie schlug seine Hand fort. „Falls du es vergessen haben solltest: Du bist Gast in diesem Haus.“

„Ich bin unangemeldet aufgetaucht und nutze eure Gastfreundschaft ungern aus. Ich bin euch was schuldig und will mir meinen Unterhalt verdienen.“

Seufzend überließ sie ihm das Geschirr. „Anscheinend ist Jamie nicht der einzige starrsinnige Stockton.“ Sie grinste. „Ich glaube, ich könnte mich an den Service gewöhnen.“

Wie auf ein Zeichen machte einer der Drillinge sich lauthals bemerkbar.

„Die Pflicht ruft. Ich gehe lieber schnell nachsehen, bevor die anderen beiden auch aufwachen.“

„Das Essen war köstlich“, lobte Daniel. „Danke.“

Während Fallon die Treppe hinaufging, rief sie über die Schulter: „Jamie, mach deinem Bruder klar, dass er so lange bleiben kann, wie er will!“

„Du hast echt das große Los gezogen“, bemerkte Daniel ein wenig neidisch.

„Stimmt. Aber das war nicht immer so. Ich dachte, mein Leben wäre vorbei, als Paula gestorben ist und ich mit den Drillingen allein dastand. Ich habe mich gefühlt, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Ich habe weiß Gott nicht nach Liebe gesucht, aber sie hat mich gefunden.“ Jamie lächelte aufmunternd. „Und das wird dir auch passieren. Du musst nur dranbleiben.“

„Ich habe meine Chance endgültig verpasst“, entgegnete Daniel im Brustton der Überzeugung.

„Das sehe ich ganz anders. Du lebst doch noch.“

„Ja, aber …“

„Und Anne auch.“

„So einfach ist das nicht.“

„Es ist auch nicht so kompliziert. Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Jamies Bemerkungen über die Situation mit Anne gingen Daniel den ganzen Abend durch den Kopf, bis er schließlich einschlief. Und sie kamen ihm am nächsten Morgen beim Aufwachen als Allererstes in den Sinn.

Allerdings gerieten seine Gedanken an Anne vorübergehend in den Hintergrund, als beim Frühstück die Haustür aufflog und jemand rief: „Wo steckt er?“

Ehe er es sich versah, wurde er von hinten innig umschlungen.

„Du bist wirklich hier!“, rief eine aufgeregte Frauenstimme.

Er drehte sich auf dem Stuhl um und stellte fest, dass es seine Schwester Bella war.

Jamie, der gegenüber am Tisch saß, bemerkte grinsend: „Ich habe dir ja prophezeit, dass sie sich riesig auf dich freut.“

Bella sank auf den Stuhl neben Daniel und verlangte: „Erzähl mir alles!“

Und so kam es, dass er den ganzen Tag lang mit seiner Schwester redete und zu seiner Freude erfuhr, dass sich ihr Leben weitaus glücklicher entwickelt hatte als seines.

Am nächsten Tag kam Dana zu einer Stippvisite aus Portland vorbei, und dieses Wiedersehen verlief ebenso erfreulich.

Der Stoff, aus dem die Glücksmomente sind, sinnierte Daniel, und schon kehrten Gedanken an Anne zurück und verfolgten ihn bis spät in die Nacht.

Am nächsten Morgen suchte er Zuflucht in Arbeit. Unermüdlich half er Jamie auf den Weiden, um Anne zu vergessen.

Beim Frühstück am vierten Tag verkündete Jamie: „Ich habe heute furchtbar viel auf der Ranch zu tun.“

Das klang wie Musik in Daniels Ohren. Sich zu beschäftigen, war das beste Mittel, um sich nicht in Wunschträumen zu verlieren. „Du brauchst mir nur zu sagen, was zu tun ist, und ich kümmere mich darum.“

Jamie stand auf, ging zu dem Schreibtisch in der kleinen Nische zwischen Küche und Esszimmer und kehrte mit einem Umschlag an den Esstisch zurück. „Ich muss meine Tierarztrechnung bezahlen. Könntest du den Scheck bitte für mich in die Stadt bringen? Das würde mir echt viel Zeit ersparen.“

„Bin ich dir hier auf der Ranch nicht nützlicher?“

„Du nimmst mir damit eine große Last ab. Du weißt doch, wie sehr ich es hasse, jemandem etwas zu schulden.“

Ein Lächeln spielte um Daniels Lippen, als er an die gemeinsame Kindheit zurückdachte. „Ich kann mich ganz vage erinnern“, witzelte er.

„Es ist noch schlimmer geworden.“ Jamie drückte ihm den Umschlag in die Hand. „Würdest du bitte?“

Da es ihm wirklich wichtig zu sein schien, steckte Daniel den Umschlag ein. „Natürlich. Betrachte es als erledigt.“ Er stand auf. „Ich bin zurück, sobald ich kann.“

„Lass dir ruhig Zeit. Die Arbeit läuft nicht weg.“

Daniel nahm seine Jacke und verließ das Haus.

Sobald sich die Tür hinter ihm schloss, rief Fallon vorwurfsvoll: „Du bist furchtbar!“

Jamie sah sie mit großen Augen an. „Warum sagst du so was?“

Sie verdrehte die Augen. „Tu doch nicht so unschuldig! Du hättest den Scheck genauso gut per Post schicken können.“

„Ich war schon immer der Meinung, dass ein persönlicher Touch die bessere Alternative ist.“

„Ha! Du schickst Danny doch bloß in die Tierklinik, damit er dort auf Anne trifft.“

„Nun, das ist doch eindeutig ein persönlicher Touch, oder?“

„Da kann ich nicht widersprechen. Aber ich glaube kaum, dass er es begrüßt, manipuliert zu werden.“

„Das wird er garantiert noch. Sobald er zur Vernunft kommt. Jemand muss den ersten Schritt wagen.“

„Meinst du nicht, dass es eine der betroffenen Personen sein sollte?“

„Doch, eigentlich schon. Aber wenn alles darauf hindeutet, dass es nicht passieren wird, ist ein bisschen göttliches Eingreifen vonnöten.“

„Göttlich?“ Fallon lachte laut auf. „Meinst du damit etwa dich?“

„He, wenn die Beschreibung passt …“ Er verstummte mit einem drolligen Ausdruck auf dem Gesicht.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Ich liebe dich, Jamie Stockton.“

Sanft blickte er ihr in die Augen. „Ich weiß. Und ich liebe dich.“

Eine Sekunde später erhoben sich drei kräftige Stimmen zu einem empörten Chorgesang.

Fallon stand vom Esstisch auf. „Das klingt, als ob unsere Kinder mich rufen.“

Rufen? Ich würde sagen, sie brüllen. Ich komme mit und helfe. Zu mehreren ist man angeblich sicherer.“

Sicherer? In unserem Fall wohl kaum. Falls du es nicht bemerkt haben solltest: Es steht trotzdem zwei zu drei. Die kleinen Kreaturen sind immer in der Überzahl.“

„Aber wir können sie überlisten. Denk daran, Blickkontakt zu vermeiden, wenn wir das Zimmer betreten. Sie können Angst nämlich auf eine Meile spüren. Und sobald ihnen das gelingt, geht’s nur noch bergab.“

Fallon lachte. „Du solltest ein Buch darüber schreiben, wie man Drillinge aufzieht.“

„Vielleicht tue ich das.“ Er gab vor, darüber nachzudenken. „Ich müsste nur tippen lernen.“

„Das wäre ein gewaltiger Wandel deiner Persönlichkeit. Ich will aber nicht, dass du auch nur die geringste Kleinigkeit an dir änderst“, teilte Fallon ihm voller Zärtlichkeit mit. „Ich liebe dich so, wie du bist.“

„Gut zu wissen“, murmelte Jamie und küsste sie. Das war genau die Stärkung, die er brauchte, um mit seinem Nachwuchs fertigzuwerden.

4. KAPITEL

Rust Creek Falls war beträchtlich gewachsen, seit Daniel fortgegangen war. Auf der Fahrt in die Innenstadt entdeckte er mehrere neue Läden neben den alteingesessenen Geschäften, die ihn an die verschlafene Kleinstadt von einst erinnerten.

Die Tierarztpraxis hatte expandiert und nannte sich nun Klinik, was die Vermutung nahelegte, dass dort im Gegensatz zu früher nicht nur ein einziger Doktor praktizierte. Und das war gut so, da die umliegenden Gehöfte ebenfalls in Größe und Anzahl gewachsen waren und es daher mehr Pferde und Vieh zu betreuen gab.

Und so eine umfassende medizinische Versorgung kostet eine Menge. Bei dieser Überlegung wunderte er sich, dass Jamie ihn gebeten hatte, die Rechnung zu begleichen, anstatt es auf anderem Wege wie per Post oder Überweisung zu erledigen. Na ja, er wird schon seine Gründe dafür haben.

Es machte Daniel nichts aus, den Botenjungen zu spielen. Im Gegenteil. Es gefiel ihm, jemandem nützlich zu sein, der ihm wichtig war.

Während er langsam durch die Hauptstraße fuhr, musterte er die Läden auf beiden Seiten. Er bemerkte ein paar neue Restaurants und Bars, die ihn allerdings nicht weiter interessierten. Er war auf der Suche nach der Tierklinik.

Kurz vor dem Ortsende entdeckte er sie schließlich in einem der älteren Gebäude. Die Front war nicht besonders ansprechend gestaltet, aber das war nicht weiter schlimm. Wichtig war nur, dass dort gute Veterinäre arbeiteten.

Er stellte den Wagen auf dem Klinikparkplatz ab, betrat das Gebäude und ging schnurstracks zur Anmeldung in der Eingangshalle. Die Begrüßung, die er äußern wollte, blieb ihm Hals stecken, als sich die Rezeptionistin zu ihm umdrehte.

Annie.

Anne war sprachlos. Ihr Herz pochte. Zum Glück konnte Daniel nicht wissen, dass ihr Puls schneller raste als ein NASCAR-Rennwagen. Und das nur seinetwegen.

Als sie die Sprache schließlich wiederfand, fragte sie schroff: „Woher weißt du, dass ich hier arbeite?“ Zum Glück hielt ihre Stimme stand, ohne zu zittern.

„Das wusste ich nicht.“ Aber Jamie wusste es. Der kriegt was zu hören, wenn ich auf die Ranch zurückkomme!

Sie holte tief Luft. „Warum bist du dann hier?“

„Jamie schickt mich.“ Daniel legte den Umschlag auf den Tresen. „Er hat mich gebeten, seine überfällige Rechnung zu begleichen.“

„Überfällige Rechnung?“, wiederholte sie verwundert.

„Das hat er gesagt.“

Stirnrunzelnd gab Anne etwas in den Computer ein.

„Stimmt was nicht?“

„Ich überprüfe nur etwas.“

„Was denn?“

Ohne aufzublicken, erwiderte sie: „Ob ich einen Fehler gemacht habe.“

Seine Neugier war geweckt. „In der Buchhaltung im Allgemeinen oder …“

Sie warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. Die ganze Situation war ihr unangenehm. Warum konnte er sich nicht zurücknehmen wie ein normaler Mensch? Weil er kein normaler Mensch ist. Er ist Danny mit allem, was dazugehört. Er nimmt die Dinge nicht einfach so hin; er muss immer allem auf den Grund gehen. „Ich fürchte, es handelt sich um ‚oder‘.“

Er lachte trocken, während er beobachtete, wie flink ihre Finger über die Tastatur huschten. „In den letzten zwölf Jahren hat sich wohl einiges verändert. Wann hast du gelernt, so verschlüsselt zu reden?“

Das Klingeln des Telefons ersparte ihr eine Antwort. Sie griff zum Hörer. „Brooks Smith’s Veterinary Clinic. Was kann ich für Sie tun?“

Minutenlang befragte und beriet sie die Person am anderen Ende der Leitung.

Sie klingt so selbstsicher, dachte Daniel. Als er zusammen mit seinen Brüdern aus Rust Creek Falls fortgegangen war, hatte er einen süßen schüchternen Teenager auf dem Weg zur Selbstfindung zurückgelassen. Nun sah er sich einer Frau gegenüber, die Liebe und Kummer erfahren hatte und mit Bravour eine Tochter aufzog.

„Wenn Sie bis vier Uhr warten können“, sagte Anne in den Hörer, „dann schicke ich Brooks zu Ihnen.“ Sie lauschte. „Gut. Ist notiert.“ Sie beendete das Gespräch und wandte sich wieder an Daniel.

„Kannst du mir jetzt erklären, wovon du eben gesprochen hast?“

„Es ist nur, dass …“ Sie unterbrach sich, als sich die Eingangstür öffnete.

Er hörte jemanden eintreten. Er brauchte sich nicht erst umzudrehen, um zu merken, dass die betreffende Person nicht allein kam. Denn plötzlich stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines sehr dynamischen Bluthundes, der ihn eifrig beschnüffelte.

„Bei Fuß, Bowser!“, befahl eine grimmige Stimme an der Tür.

Das Tier ignorierte die Aufforderung und sprang schnüffelnd an Daniel hoch.

„Bei Fuß, verdammt!“, rief der Mann gereizt. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich, als Daniel sich zu ihm umdrehte.

„Hallo, Mr. Mayfield.“ Anne trat hinter dem Pult hervor. „Ich schlage vor, dass wir Bowser schnell wiegen und Sie dann mit ihm in Behandlungsraum zwei auf den Doktor warten.“

Doch Bowser wollte partout nicht von Daniel ablassen und weigerte sich standhaft, sich zu der riesigen Waage in der hinteren Ecke zu bewegen.

„Tut mir leid“, murmelte Mr. Mayfield erneut. „Eigentlich ist er besser erzogen.“

„Wenn ich zur Waage gehe, kommt er vielleicht mit“, überlegte Daniel, und er sollte recht behalten.

Doch Bowser war nicht willens, alle vier Pfoten gleichzeitig auf die Waage zu stellen. Es brauchte die vereinten Kräfte der drei Personen und mehrere Anläufe, um einen korrekten Messwert von einhundertneunundzwanzig Pfund zu erhalten.

„Sie können jetzt in Raum zwei gehen“, sagte Anne zu Mr. Mayfield und kehrte an ihren Platz an der Rezeption zurück.

Daniel fiel auf, dass sie ziemlich abgehetzt aussah und ihr die Haare in die Augen fielen.

Ihr Anblick beschwor Bilder aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit herauf. Bilder, die er im Lauf der Jahre redlich, aber vergeblich zu vergessen versucht hatte. Verdammt, ich komme wohl nie über sie hinweg … „Vielleicht sollten wir lieber später auf einen Kaffee gehen?“, schlug er vor. „Du scheinst jetzt sehr beschäftigt zu sein.“

„Ach, meinst du wirklich?“, entgegnete sie sarkastisch, als das Telefon erneut klingelte.

„Wann hast du Mittagspause?“

„Um halb eins.“ Sie strich sich die Haare aus den Augen und hob den Hörer ab.

Schmunzelnd verließ er die Klinik. Inzwischen war er sich sicher, dass die sogenannte überfällige Rechnung nur als Vorwand gedient hatte, um dieses Treffen mit Anne zu arrangieren.

Daniel musste sich eingestehen, dass er sich über die Gelegenheit freute, sie ein zweites Mal zu Gesicht zu bekommen. Er wusste nicht, wie lange er noch in Rust Creek Falls bleiben würde. Er war für einen Monat von seinem Job beurlaubt, aber er konnte jederzeit früher zurückkehren.

Oder auch später. Das hängt davon ab, wie sich die Dinge so entwickeln. Aber das behalte ich lieber für mich. Zumindest vorerst.

Während Daniel wartete, dass es halb eins wurde, erforschte er Rust Creek Falls, um sich wieder wie ein Einheimischer zu fühlen und nicht wie ein ahnungsloser ortsfremder Tourist.

Ein Diner erregte seine besondere Aufmerksamkeit, denn es prahlte auf einem riesigen Schild mit dem besten Kaffee im Umkreis von dreißig Meilen.

Spontan beschloss er, die Behauptung zu testen. Er wählte eine kleine Nische an einem Fenster. Von dort konnte er das Kommen und Gehen der Stadtbewohner verfolgen, ohne selbst bemerkt zu werden. Noch war er nicht bereit, mit alten Bekannten von früher Kontakt aufzunehmen. Ihm war nicht danach zumute, Fragen über den Grund für sein Fortgehen oder seinen Verbleib zu beantworten. Vorher wollte er noch einige Dinge mit Anne klären.

Der Kaffee schmeckte ihm gut genug, um sich eine zweite Tasse zu bestellen. Während er daran nippte, ertappte er sich dabei, dass er immer wieder zu der altmodischen Pendeluhr hinter dem Tresen guckte.

Die Minuten schlichen quälend langsam dahin – wie eine Schildkröte, die mit den Füßen in klebrigen Zuckersirup getaucht worden war.

Als Daniel nach zweieinhalb Stunden kein Sitzfleisch mehr hatte, bezahlte er und verließ das Diner. Er spielte mit dem Gedanken, durch den Ort zu spazieren. Da er aber nach wie vor keinem Bekannten begegnen wollte, stieg er lieber in sein Auto.

Durch die Stadt zu fahren, dauerte selbst im Schneckentempo nicht gerade lange. Ehe er sich versah, fand er sich auf dem Parkplatz vor der Tierklinik wieder.

Zunächst schlug er weitere Zeit tot, indem er untätig in seinem Jeep sitzen blieb. Doch es war Oktober und daher ziemlich frisch in Montana. Die Heizung einzuschalten, war in seine Augen unnötige Benzinverschwendung und außerdem zu sehr eine Metapher für sein Leben: trotz laufenden Motors nirgendwo anzukommen.

Als ihm zu kalt wurde, stieg er aus und betrat die Klinik. Sofort spürte er einen großen Temperaturunterschied zum frühen Morgen, denn in der Lobby hielten sich nun wesentlich mehr warme Körper auf.

Anne wirkte überfordert. Eine kleine Schlange ungeduldiger Personen hatte sich an der Rezeption gebildet; ständig klingelte das Telefon. Trotz all der Aktivität um sie herum blickte sie sofort zum Eingang.

Hat sie auf mich gewartet? Daniel wagte es zu hoffen. Er nickte ihr zu und setzte sich auf den nächstbesten Stuhl.

Nachdem sie drei Leute abgefertigt und zwei Telefonate geführt hatte, sagte sie schließlich zu ihm: „Du bist früh dran.“

„Ich wollte nicht riskieren, dich zu verpassen.“

„Es könnte später als halb eins werden“, warnte sie.

Gelassen zuckte er die Schultern. „Was macht schon eine halbe Stunde mehr, nachdem ich schon so lange gewartet habe?“

Sie stellte fest, dass einige Leute die Unterhaltung vom Wartebereich aus eifrig verfolgten. Sie presste die Lippen zusammen, um eine Erwiderung auf seine Bemerkung zu unterdrücken und sich nicht unfreiwillig zum Stadtgespräch zu machen.

Rust Creek Falls war ein kleiner Ort, in dem nicht viel passierte, was das Interesse der Bewohner weckte und die Phasen der Langeweile durchbrach, die sich immer mal wieder einstellten.

Debi, eine der Sprechstundenhilfen, hatte das Gespräch ebenfalls mitbekommen. Sie ging zur Rezeption und bot an: „Du kannst ruhig jetzt schon in die Pause gehen. Ich übernehme hier, während du weg bist.“

Anne zögerte. „Musst du denn nicht assistieren?“

„Nein. Ellen ist bei Brooks und Kim bei Dr. Wellington. Also nutze lieber die günstige Gelegenheit, bevor ich es mir anders überlege.“

„Aber was ist mit dir? Wann willst du denn Pause machen?“

„Ich warte auf Nathan. Er will später vorbeikommen und reden. Bis dahin bin ich lieber beschäftigt.“

Daniel trat an den Tresen. „Also können wir gehen?“

Plötzlich hatte Anne Schmetterlinge im Bauch. Sie fühlte sich wie kurz vor einem ersten Date, obwohl sie lediglich eine Tasse Kaffee mit jemandem trinken wollte, der ihr viel bedeutete. Jemand, mit dem du ein Kind hast …

Sie legte ein kleines Lächeln auf, holte ihre Handtasche aus der untersten Schreibtischschublade und starrte auf das Telefon in der Hoffnung, dass es klingelte.

Das geschah leider nicht.

Sie hatte keine plausible Ausrede mehr auf Lager und trat hinter dem Tresen hervor. „Nun dann. Trinken wir einen Kaffee?“

Daniel nahm sie am Arm und führte sie zum Ausgang. „Ich dachte schon, du fragst gar nicht mehr.“

Und die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten wilder denn je.

„Wohin möchtest du denn?“, erkundigte Daniel sich auf dem Weg zu seinem Jeep.

„Zurück in die Klinik“, murmelte Anne unwillkürlich.

Er blieb abrupt stehen und suchte ihren Blick. „Wirklich?“ Es lag nicht in seiner Absicht, ihr seine Gegenwart aufzuzwingen, obwohl er sehr gern mit ihr zusammen war. Zumal er nicht wusste, wann sich ihm die nächste Chance dazu bieten würde – falls überhaupt. Falls er sich entschloss, früher nach Colorado zurückzukehren, ergab sich vielleicht gar keine Gelegenheit mehr zu einem Wiedersehen.

„Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur nervös.“

Er öffnete die Beifahrertür für sie. „Etwa meinetwegen?“ Das ergab überhaupt keinen Sinn für ihn. Er konnte sich vorstellen, dass sie sauer auf ihn war, weil er fortgegangen war und sich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte. Aber Unruhe konnte er sich nicht erklären. Damals, vor einer Ewigkeit, hatten sie sich vom ersten Tag an blendend verstanden. Aus Freundschaft war schließlich Liebe geworden. Nervosität passte einfach nicht ins Bild. „Aber ich bin’s doch – der alte Danny. Kein Grund, nervös zu sein.“

Was weißt du schon? Seine Gegenwart ließ Anne innerlich zittern. Obwohl sie nach all der Zeit über ihn hinweg sein sollte, waren alle Fortschritte in der Vergangenheitsbewältigung durch ein einziges Wiedersehen wie weggeblasen – wie von der Sonne ausgedörrtes Laub im Sommerwind. „Wenn du meinst“, murmelte sie leise, während sie auf den Beifahrersitz sank und sich anschnallte.

Daniel steckte den Zündschlüssel ins Schloss, hielt inne und musterte aufmerksam ihr Gesicht. „Warum solltest du nervös sein?“

„Vielleicht, weil ich dich nicht mehr kenne. Der Daniel Stockton, den ich vor einer Ewigkeit mal kannte, wäre niemals ohne ein Wort verschwunden. Er hätte mich nicht hängen und Tag für Tag vergeblich auf seine Rückkehr warten lassen. Aber du hast es getan. Nach einer Weile habe ich die Hoffnung aufgegeben. Ich habe das Warten aufgegeben. Es ging so weit, dass ich schon dachte, ich hätte mir alles nur eingebildet. Abgesehen von …“ Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass sie sich beinahe verplappert und Janie erwähnt hätte.

„Abgesehen wovon?“

„Schon gut. Das ist nicht weiter wichtig.“

„Wenn du wirklich möchtest, dass ich dich zur Klinik zurückbringe, dann tue ich es“, bot er an, wenn auch widerstrebend.

Anne musterte ihn forschend. „Möchtest du es denn?“

„Himmel, nein! Ich weiß, dass ich mein Verschwinden nicht wiedergutmachen kann. Aber ich versichere dir, dass ich einen guten Grund dafür hatte, und ich hoffe, dass du mir glaubst. Und falls du mir vergeben kannst, würde ich sehr gern ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“

Ein bisschen ist der richtige Ausdruck. Ich habe nur eine Stunde Pause.“

„Das ist immerhin ein Anfang.“ Es war mehr, als er sich erhofft hatte. „Also, wohin möchtest du essen gehen?“

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. „In Rust Creek Falls ist die Auswahl an Restaurants nicht besonders groß, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Im Daisy’s Donut Shop gibt es einen anständigen Kaffee und richtig gutes Gebäck.“

„Mir ist jedes Lokal recht, das dir zusagt“, versicherte Daniel. „Wir könnten uns allerdings auch etwas zum Mitnehmen holen.“

„Du willst nicht mit mir gesehen werden?“

„Wie kommst du denn darauf? Ich dachte, dass du vielleicht nicht mit mir gesehen werden möchtest, um nicht ins Gerede zu kommen.“

Sie zuckte die Achseln. „Ich bin Single, du bist Single … Du bist doch Single, oder?“

„Sehr sogar.“

„Da ist niemand in Colorado, der auf dich wartet?“

„Nicht in Colorado und auch nirgendwo sonst“, versicherteDaniel nachdrücklich.

Er war der bestaussehende Mann, der Anne je unter die Augen gekommen war. Sie wusste, dass unzählige Frauen gern bei ihm gelandet wären. „Du hast also die ganze Zeit wie ein Mönch gelebt?“, fragte sie mit einer Spur von Sarkasmus in der Stimme.

„So ziemlich.“

„Trotz all deiner Muskeln und der strahlend blauen Augen?“

Er sah ihr offen ins Gesicht. „Jawohl.“

Sie hegte noch immer Zweifel, aber vorläufig ließ sie es dabei bewenden und klammerte sich an die Tatsache, dass er sie damals nie belogen hatte. „Okay, dann gibt es keinen Grund für Klatsch und Tratsch. Wir sind nur zwei Singles, die einen Kaffee miteinander trinken.“

Er betrachtete das als Ende der Diskussion und fuhr zu Daisy’s Donut Shop.

Der kleine Laden war total überfüllt. Nur an der Theke waren noch Stehplätze frei.

„Wir müssen uns wohl doch mit Kaffee zum Mitnehmen begnügen“, bemerkte Daniel. Er hatte den Eindruck, dass Anne enttäuscht wirkte. Es ermutigte ihn vorzuschlagen: „Oder wir fahren zu Wings To Go.“

Verwirrt wandte sie ein: „Ich dachte, du wolltest Kaffee.“

„Ich wollte bloß Zeit mit dir verbringen. Der Kaffee war eigentlich nur ein Vorwand.“

„Also gut. Dann holen wir uns Flügel“, willigte sie ein. Denn obwohl seine Nähe ihr gefährlich unter die Haut ging, sah sie keinen Grund zur Sorge, solange sie sich in der Öffentlichkeit aufhielten.

Im Wings To Go herrschte Hochbetrieb. Daher dauerte es eine Weile, bis Daniel mit zwei Portionen Chickenwings, zwei Softdrinks und einem Stapel Servietten zu seinem Jeep zurückkehrte.

Er schob seinen Sitz zurück, breitete mehrere Servietten auf seinem Schoß aus und balancierte seine Pappschachtel auf den Oberschenkeln. „Ich schätze, man kann das als eine Art Picknick ansehen.“

„Denkst du gerade an ein bestimmtes Picknick auf eurer Ranch?“, erkundigte Anne sich.

Er nickte. „Ich weiß noch genau, dass die Sterne aufgegangen sind, bevor wir mit dem Essen fertig waren.“ Darüber hinaus erinnerte er sich an jedes Detail. Es war die schönste Zeit, die er je erlebt hatte.

In jener Nacht haben wir ein Baby gemacht. Sie sah an seinem verklärten Blick, dass auch er sich erinnerte. Nicht an die Sache mit dem Baby, denn davon konnte er nichts wissen. Aber daran, dass sie sich zum ersten – und letzten – Mal geliebt hatten.

Am nächsten Tag hatten seine Eltern den furchtbaren Autounfall erlitten. Und gleich nach der Beerdigung war er verschwunden.

Das Thema Picknick brachte bei Daniel nicht nur eine Flut von Erinnerungen zurück, sondern bewirkte auch, dass er sich magisch zu Anne hingezogen fühlte. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, sie in die Arme zu schließen und zu küssen.

Dass ich mich ihr aufdränge, hätte ihr gerade noch gefehlt! Um sich abzulenken, suchte er nach einem anderen Gesprächsstoff und fragte schließlich: „Warum hast du eigentlich in der Klinik so verwundert reagiert, als ich gesagt habe, dass ich Jamies offene Rechnung begleichen will?“

Sie blinzelte verblüfft. Der Themenwechsel war so krass, dass sie geradezu ins Schleudern geriet. Denn für einen kurzen Moment hatte er sie so innig angesehen wie damals nach dem Picknick und in ihr die Hoffnung geweckt, dass er sie küssen wollte. Idiotin! Du hättest gar nicht darauf eingehen dürfen. Das hätte etwas in Gang gesetzt, das nicht sein darf. Zum Glück ist wenigstens einer von uns vernünftig.

Sie zwang sich, an den Morgen zurückzudenken und auf seine Frage einzugehen. „Weil Jamie keine offenen Rechnungen bei uns hat. Er legt großen Wert darauf, jedes Mal sofort zu bezahlen, wenn ein Tierarzt auf die Ranch kommt.“

„Was war dann in dem Umschlag?“

„Da war tatsächlich ein Scheck drin. Über einen sehr kleinen Betrag – als Vorauszahlung für den nächsten Tierarztbesuch.“

Verlegen murmelte Daniel: „Ich schätze, das war ein Vorwand von ihm, um ein Wiedersehen zwischen uns beiden zu arrangieren.“ Ihm gefiel es nicht, manipuliert zu werden, doch gleichzeitig konnte er den Schachzug nachvollziehen. Jamie hatte das Herz am rechten Fleck, und da er sein großes Glück gefunden hatte, wünschte er sich dasselbe für seinen Bruder. Aber das wird leider nicht passieren …

Anne schmunzelte. „So was habe ich mir schon gedacht.“

„Und ich würde dich wirklich gern wiedersehen.“

Sie war mit dem Essen fertig und wischte sich die Finger an einer Serviette ab. „Du meinst zum Lunch?“

Daniel zuckte die Schultern. „Zum Lunch. Zu einem Spaziergang. Oder vielleicht zum Ausreiten wie früher.“ Er sah einen verunsicherten Ausdruck über ihr Gesicht huschen. In der Befürchtung, dass er zu viel von ihr erwartete, ruderte er zurück. „Oder einfach nur, um zu reden.“

„Worüber denn?“

„Wir müssen doch nicht vorher ein Thema festlegen. Wir können über alles sprechen, was sich so ergibt. Oder wir reden überhaupt nicht und genießen bloß die Gesellschaft des anderen.“ Auch er hatte seine Portion vertilgt und packte die Überreste und benutzten Servietten in den Karton. „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich bin morgen um halb eins im Daisy’s Donut Shop. Wenn du kommst, finde ich es prima. Wenn nicht, ist es auch okay.“ Er begegnete ihrem Blick. „Ganz ohne Druck“, versprach er sanft.

Der Blick seiner faszinierenden blauen Augen war Anne schon immer unter die Haut gegangen. Deutlich erinnerte sie sich daran, wie glückselig sie sich einst in den Tiefen dieses Blicks verloren hatte. „Halb eins“, wiederholte sie. Dann sah sie zur Uhr. „Ach verdammt! Ich komme zu spät. Ich müsste schon wieder in der Klinik sein.“

Für ihn war die Stunde in ihrer Gegenwart wie im Flug vergangen. „Ich sage deinem Boss, dass es meine Schuld ist“, bot er an, während er den Motor startete und losfuhr. „Schließlich habe ich dich dazu gebracht, dich zu verspäten.“

„Nicht nötig. Ich bin erwachsen, Danny. Niemand bringt mich zu irgendwas. Ich sage ihm, dass ich die Zeit übersehen habe, und gleiche es aus, indem ich morgen früher anfange. Brooks ist ein netter Kerl. Er wird es verstehen.“

„Bist du sicher? Es macht mir nichts aus, die Schuld auf mich zu nehmen.“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
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