Bianca Extra Band 79

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

SCHENK MIR TAUSEND TRÄUME von MARIE FERRARELLA
Der Traum von der großen Liebe ist nach dem Tod ihres Verlobten vorbei, davon ist die hübsche Melanie überzeugt. Bis Dr. Mitchell Stewart ehrenamtlicher Mitarbeiter in ihrem Waisenhaus wird. Nach tausend Tränen erwacht in Melanie ein Gefühl, das sie für immer verloren glaubte …

NUR EINE HEISSE SOMMERROMANZE? von TERESA SOUTHWICK
Hat Grace wirklich gedacht, dass sie bald nicht mehr für Logan schwärmt, nur weil sie auf seine Ranch zieht? Irrtum! Je länger sie Nanny für die Tochter des attraktiven Ranchers ist, desto heißer brennt ihre Sehnsucht nach ihm - dem überzeugtesten Junggesellen von ganz Montana …

SÜSSER PAKT MIT DEM MILLIONÄR von CHRISTY JEFFRIES
Molly ist in einer Notlage - ein attraktiver Fremder hilft ihr! Da ist es nur fair, dass sie mit diesem Kaleb Chatterson einen süßen Pakt schließt: Vor seiner Familie spielt sie seine sehr verliebte Freundin. Merkwürdig nur, wie leicht ihr diese Rolle bei ihrem Lebensretter fällt …

NEUN MONATE UND EINE NACHT von CINDY KIRK
Ungläubig erkennt July, wer sie bei der Geburt unterstützt: Dr. David Wahl - der Mann, mit dem sie vor genau neun Monaten eine einzige Liebesnacht verbracht hat. Niemals darf er erfahren, dass er der Vater des kleinen Jungen ist, den er ihr gerade zärtlich in die Arme legt!


  • Erscheinungstag 14.01.2020
  • Bandnummer 79
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748050
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Teresa Southwick, Christy Jeffries, Cindy Kirk

BIANCA EXTRA BAND 79

MARIE FERRARELLA

Schenk mir tausend Träume

Als Arzt ist Mitchell ein Mann logischer Wissenschaft. Aber das Verlangen, das die schöne Melanie in ihm auslöst, kann er sich einfach nicht erklären. An Liebe hat er noch nie geglaubt! Bis jetzt?

TERESA SOUTHWICK

Nur eine heiße Sommerromanze?

Logan braucht für seine Tochter vorübergehend eine Nanny! Er dachte an eine Ersatzoma, aber dann zieht die aufregende Grace auf seine Ranch. Plötzlich wird der Sommer viel heißer als gedacht …

CHRISTY JEFFRIES

Süßer Pakt mit dem Millionär

Ein perfekter Plan? Kaleb hat bei der hübschen Molly was gut: Sie soll vor seiner liebenswert nervigen Familie seine Freundin spielen! Doch aus dem falschen Spiel wird schnell ein Spiel mit dem Feuer …

CINDY KIRK

Neun Monate und eine Nacht

Keine Nacht, in der David nicht von der schönen July träumt … Nun ist ausgerechnet er der Arzt, der ihr bei der Geburt hilft. Doch wie lange ist ihre unvergessliche Nacht eigentlich her – neun Monate?

PROLOG

Maizie Connors hatte gleich geahnt, dass ihre langjährige Freundin Charlotte Stewart etwas auf dem Herzen hatte. Charlotte hatte die Maklerin morgens angerufen und sie gebeten, sich mit ihr zum Lunch zu treffen: Sie bräuchte einen professionellen Rat, waren ihre Worte gewesen. Erst abschließend schob sie ein, dass sie ihre Hilfe beim Verkauf ihres Hauses brauchen würde – aber das konnte Maizie sich nicht vorstellen. Schließlich wusste sie, wie sehr Charlotte an dem Gebäude hing, das eine Vielzahl von unermesslich wertvollen Erinnerungen an ihren inzwischen verstorbenen Mann beherbergen musste.

Jetzt saßen sich die beiden Frauen im neuen, angesagten Restaurant Jake’s Hideway in der kalifornischen Kleinstadt Bedford gegenüber.

Nachdem sie die Vorspeise bestellt hatten, beugte sich Maizie verschwörerisch zu ihrer Freundin und legte eine Hand auf ihre. „Charlotte“, begann sie, „wir sind inzwischen fast vierzig Jahre befreundet. Sag mir doch bitte, was du auf dem Herzen hast. Egal, was es ist – in meinem Alter kann mich so leicht nichts mehr erschüttern.“

Charlotte wirkte immer noch so, als wäre ihr die Angelegenheit äußerst unangenehm. „Ach, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …“

Maizie lächelte sie ermutigend an. „Am besten mittendrin, ich melde mich schon, wenn ich etwas nicht verstehe.“

„Es geht um Mitchell“, brachte Charlotte schließlich hervor. Mitchell war ihr einziger Sohn.

Obwohl Maizie schon eine Ahnung hatte, worum Charlotte sie bitten wollte, beschloss sie, vorsichtig vorzugehen, um ihre Freundin nicht gleich zu verschrecken. „Ach so. Wie geht es Dr. Mitch denn so?“, erkundigte sie sich.

„Er ist sehr einsam“, erwiderte Charlotte sofort.

„Wirklich?“, hakte Maizie interessiert nach. Sie liebte ihren eigentlichen Beruf als Maklerin und suchte mit viel Herzblut die jeweils perfekten Traumhäuser für ihre Klienten. Noch viel lieber jedoch fand sie für einsame Menschen die jeweils perfekten Traumpartner, gemeinsam mit ihren beiden besten Freundinnen Theresa Manetti und Cecilia Parnell. Und obwohl sie diesen besonderen Service nie in Rechnung stellte, fand sie ihn doch unendlich bereichernd.

„Mein Sohn weiß allerdings noch gar nicht, wie einsam er ist“, ergänzte Charlotte schnell.

„Das musst du mir etwas genauer erklären“, forderte Maizie sie auf.

„Wenn er wüsste, dass ich mit dir darüber spreche, wäre er richtig sauer.“

„Dann sagen wir ihm eben nichts davon“, versicherte Maizie ihr. Bisher hatte sowieso keines der Paare, die sie und ihre Freundinnen schon miteinander verbandelt hatten, gewusst, dass sie sich nicht rein zufällig kennengelernt hatten. „Aber wenn alles gut laufen soll, brauche ich schon etwas mehr Hintergrundwissen.“

Charlotte atmete tief durch. „Mitchell ist ein fantastischer Chirurg.“

Maizie nickte. „Ja, genau wie sein Vater.“

Das quittierte ihre Freundin mit einem dankbaren Lächeln. „Im Gegensatz zu Matthew hat er aber keinerlei Talent für das Zwischenmenschliche.“ Einen Moment lang zögerte Charlotte, dann fuhr sie fort: „Er schafft es einfach nicht, sich in andere hineinzuversetzen oder auch nur Kontakte zu knüpfen.“

„Du meinst, er hat Probleme mit seinen Patienten?“, erkundigte sich Maizie. Sie hatte den Sohn ihrer Freundin als sehr ruhig und ernst in Erinnerung, kannte ihn aber kaum.

„Nein.“ Charlotte seufzte und beugte sich zu Maizie hinüber. „Er ist ein erstklassiger Arzt, sieht blendend aus, und er ist der wunderbarste Sohn, den ich mir wünschen könnte.“

„Aber …?“, hakte Maizie nach.

„Aber wenn das so weitergeht, bekomme ich keine Enkelkinder“, platzte Charlotte heraus und blickte sofort nach unten, als würde sie sich für ihre Worte schämen. „Mir ist ja klar, wie lächerlich sich das anhört …“

„Nein, ich verstehe dich sehr gut“, unterbrach Maizie ihre Freundin. „Genauso habe ich mich selbst mal gefühlt. Und einige meiner Freundinnen auch. Manchmal kann man einfach nicht tatenlos zusehen und hoffen, dass die Dinge schon ihren Lauf nehmen. Manchmal muss man ihnen einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben.“

Maizie zwinkerte Charlotte zu, dann kam sie zum Punkt. „Weißt du denn, ob Mitchell schon mal eine ernsthafte Beziehung hatte?“

„Das weiß ich allerdings – und die Antwort lautet Nein. Ich habe sogar mal live miterlebt, wie sich ihm eine junge Frau praktisch an den Hals geworfen hat. Das war auf einer Benefizveranstaltung für das Krankenhaus, in dem er arbeitet. Und Mitchell hat es entweder nicht gemerkt oder sie mit Absicht ignoriert.“ Charlotte presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Allmählich glaube ich, dass er ein hoffnungsloser Fall ist.“

Bei vermeintlich hoffnungslosen Fällen fuhr Maizie zu Höchstformen auf. „Das glaube ich nicht“, sagte sie. „Ich höre mich mal um und schaue, was ich machen kann.“

1. KAPITEL

Melanie McAdams genoss nichts mehr, als sich mit den Problemen anderer Menschen beschäftigen zu können. Denn nur das erlaubte ihr, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Gutes zu tun und gleichzeitig kurzzeitig vergessen zu können, dass ihr Leben jeden Sinn verloren hatte, ohne Hoffnung auf Besserung. Die Bedford Rescue Mission, für die sie tätig war, nahm als Notunterkunft ausschließlich alleinstehende Mütter mit ihren Kindern auf und gab ihnen ein Dach über dem Kopf – so lange, wie es eben nötig war.

Inzwischen half Melanie hier schon seit fast drei Jahren aus. Zunächst nur, wenn es ihr eigentlicher Beruf als Grundschullehrerin zuließ. Doch als vor einiger Zeit ihre ganze Welt zusammengebrochen war, hatte sie sich von ihrer Schuldirektorin beurlauben lassen, um ihre ehrenamtliche Tätigkeit in Vollzeit auszuüben.

Heute war allerdings einer dieser Tage, an denen sie machen konnte, was sie wollte – sie kam nicht gegen die düsteren Erinnerungen an, die ihr immer wieder durch den Kopf spukten.

Genau heute war es neun Monate her, dass der schwarze Wagen direkt vor ihrem Haus gehalten hatte … dem Haus, in dem sie mit Jeremy hatte leben wollen. Sie hatte die Eingangstür geöffnet, und draußen stand Oberleutnant John Walters, zusammen mit einem Militärgeistlichen. Die beiden waren gekommen, um ihr mit ernster Miene die schrecklichste Nachricht zu überbringen, die sie je erhalten hatte: Jeremy Williams, ihre Jugendliebe und ihr Verlobter, der ihr alles bedeutet hatte, würde nie mehr zu ihr zurückkommen. Nur sein lebloser Körper sollte noch in seine Heimatstadt Bedford überführt werden.

Die Erinnerung an diesen Tag ließ Melanie nicht mehr los. Sie zitterte, und immer wieder rutschten die Kinderbücher, die sie in einem der Aufenthaltsräume auf einem Beistelltisch stapeln wollte, auf den Boden.

Vier Tage, dachte sie. Jeremy hätte nur noch vier Tage durchhalten müssen, dann wäre er für immer in Sicherheit gewesen. Dann hätte er nämlich seinen Militärdienst beendet und wäre zu ihr zurückgekehrt – um sie zu heiraten.

Aber dazu war es nicht gekommen, und würde es auch nicht mehr kommen. Denn jetzt lag Jeremy in einem kühlen Grab, und nicht in ihrem warmen Bett.

„Alles okay, Miss Melody?“, erkundigte sich eine hohe Kinderstimme.

Melanie versuchte, sich so gut es ging zusammenzureißen, als sie sich zu dem kleinen grünäugigen Mädchen umdrehte, das ihr die Frage gestellt hatte: April O’Neill war eine hübsche, aufgeweckte Fünfjährige, die mit ihrem siebenjährigen Bruder Jimmy und ihrer Mutter Brenda inzwischen seit über einem Monat in der Unterkunft wohnte. Davor hatten sie in einer nahe gelegenen Stadt auf der Straße gelebt – wie lange genau, das hatte die Mutter nicht verraten wollen.

Als das Mädchen sie anfangs fälschlicherweise Melody genannt hatte, hatte Melanie noch versucht, sie aufzuklären. Mit der Zeit hatte sie sich aber daran gewöhnt. Die kleine Familie, die schon so viel hatte durchmachen müssen, war ihr schnell ans Herz gewachsen. Brenda war verwitwet und hatte dazu noch ihren Job verloren. Nachdem sie zwei Monate mit der Miete im Rückstand gewesen war, hatte der Vermieter sie und die Kinder einfach vor die Tür gesetzt.

Die kleine Familie hatte lange auf der Straße gelebt … bis sich irgendwann ein Polizist erbarmt und sie im Streifenwagen zur Notunterkunft für alleinerziehende Mütter gebracht hatte.

Jetzt zwang Melanie sich zu einem Lächeln und blickte das Mädchen an. „Ja, mit mir ist alles okay, meine Süße.“

Die Antwort schien April nicht zu überzeugen. Sie runzelte die Stirn. „Aber da läuft Wasser aus deinen Augen. Genau wie bei Mama, wenn sie gerade wieder an etwas Trauriges denkt. Zum Beispiel an Dad.“

„Ach, das liegt nur am Staub“, erwiderte Melanie schnell. „Ich habe eine Hausstauballergie, und wenn zu viel Staub in der Luft ist, dann läuft mir schon mal … Wasser aus den Augen“, schloss sie mit Aprils Worten und in der Hoffnung, die Erklärung würde das Mädchen befriedigen.

„Ach so. Aber dagegen gibt es doch Medizin“, sagte das Mädchen. „Das weiß ich schon.“

Melanie lächelte und legte der Kleinen einen Arm um die schmalen Schultern, um sie kurz an sich zu drücken. „Gute Idee, das muss ich mal ausprobieren“, versprach sie. „Aber verrate mir doch mal, was du eigentlich von mir wolltest.“

Jetzt wirkte April sogar noch ernster. „Mama meint, dass Jimmy wieder krank ist.“

Melanie überschlug ein paar Daten in ihrem Kopf. Dann war der Junge in den letzten sechs Wochen ja schon dreimal krank gewesen! Das Leben auf der Straße hatte ihn wahrscheinlich ganz schön geschwächt. „Hat er wieder das Gleiche wie vorher?“, erkundigte sie sich.

April nickte, dass die blonden Haare nur so wippten. „Er niest und hustet die ganze Zeit. Mama sagt, dass er lieber nicht mit den anderen Kindern spielen soll, sonst stecken sie sich noch an.“

„Das ist richtig“, stimmte Melanie zu.

Gemeinsam gingen die beiden den Flur hinunter zu den Schlafräumen, in denen sowohl die Frauen als auch ihre Kinder untergebracht waren. April schob ihre kleine Hand in Melanies und drückte sie fest. „Ich glaube, Jimmy muss mal zum Arzt“, urteilte sie und schaute Melanie tief in die Augen.

„Das ist eine noch bessere Idee“, erwiderte diese leise.

„Wir haben aber kein Geld, und Jimmy fühlt sich zu schwach, um zum Krankenhaus rüberzugehen. Außerdem mag Mama nicht gern fragen, ob sie etwas ohne Geld bekommen kann“, schloss April mit ernster Stimme.

Melanie nickte. „Deine Mama ist eine stolze Frau“, sagte sie. „Aber manchmal muss man seinen Stolz auch vergessen. Nämlich dann, wenn man einem geliebten Menschen helfen will.“

April betrachtete sie wissend. „Jimmy zum Beispiel?“

„Ganz genau.“

Das Mädchen bog um die Ecke und drückte eine große Tür auf. Dahinter lag einer der drei Schlafsäle, in dem sie so viele Familien untergebracht hatten, wie sie konnten, ohne dabei gegen die Brandschutzauflagen zu verstoßen. Im Moment hielt sich kaum ein Bewohner im Raum auf – mit Ausnahme einer kleinen dunkelhaarigen Frau, die in der hintersten Ecke auf einer Bettkante saß. Gegen sie gelehnt saß ein zerbrechlich wirkender rothaariger Junge im Bett, der ununterbrochen hustete. Der Husten wurde immer schlimmer und klang so, als wäre er ohne fremde Hilfe nicht mehr zu stoppen.

Weil erfahrungsgemäß manchmal schon ein Glas Wasser half, wollte Melanie es erst mal damit versuchen. „April, läufst du schnell in die Küche und fragst Theresa, ob sie dir ein Glas Wasser für deinen Bruder gibt?“

Sofort rannte die Kleine los.

Kaum hatte sie den Raum verlassen, wandte Melanie sich Jimmys Mutter zu. „Wir sollten ihn wirklich von einem Arzt untersuchen lassen“, schlug sie vorsichtig vor.

Brenda O’Neill hob den Kopf. Sie wirkte viel älter, als sie eigentlich war, dazu unendlich müde und erschöpft. „Danke, aber wir kommen schon zurecht. Er hat diesen Husten ja nicht zum ersten Mal“, erwiderte sie. „Er kommt und geht, das ist bei manchen Kindern eben so.“

„Das kann sein“, begann Melanie. „Trotzdem wäre es besser, wenn Jimmy sich mal richtig auskurieren könnte.“ Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie fort: „Mir ist schon klar, dass ihr euch das im Moment nicht leisten könnt, aber ich bezahle das gern.“

Sofort verschloss sich Brendas Miene. „Ach was, das wird schon wieder“, sagte sie. „Kinder in dem Alter haben doch ständig irgendwas.“

Melanie seufzte. Ohne das Einverständnis seiner Mutter konnte sie den Jungen schlecht in das hochmoderne Krankenhaus bringen, das nur wenige Kilometer von der Unterkunft entfernt lag.

In diesem Moment kam April wieder ins Zimmer. „Hier, ich habe Wasser geholt“, rief das Mädchen. „Und Theresa ist gleich mitgekommen.“

Theresa Manetti, die freiwillig in der Küche aushalf, reichte Jimmy das Glas. „Hier, trink einen Schluck. Vielleicht wird es dann besser.“ Sie lächelte dem Jungen zu. „Wenn nicht, habe ich noch etwas in der Hinterhand.“

Brenda blickte die ältere Frau skeptisch an. „Die Diskussion habe ich eben schon mit der Dame hier geführt.“ Sie wies auf Melanie. „Einen Arzt können wir uns nicht leisten, und in ein paar Tagen geht es Jimmy bestimmt wieder besser.“

„Das ist gut möglich“, gab Theresa zurück und berührte kurz Brendas Schulter. „Aber Dr. Mitch kann ihn sich ja trotzdem mal ansehen, wenn Sie einverstanden sind.“

Melanie runzelte die Stirn. „Dr. Mitch?“ Den Namen hatte sie noch nie gehört. Wollte Theresa jetzt etwa ihren Hausarzt rufen?

„Ja, sorry, meine Freundin Maizie nennt ihn immer so“, erwiderte Theresa. „Eigentlich heißt er Dr. Mitchell Stewart, und arbeitet als Chirurg am Bedford Memorial Hospital … also gar nicht weit von hier“, fügte sie als Erklärung für Brenda hinzu. „In den letzten Jahren hat er sich eine gute Position erarbeitet, und jetzt will er etwas für die Allgemeinheit tun, habe ich gehört. Und als ich Polly davon erzählt habe, hat sie ihn sofort angerufen und darum gebeten, doch für ein paar Stunden hier vorbeizuschauen.“

Polly French war die Leiterin der Notunterkunft.

Brenda wirkte immer noch misstrauisch. „Danke, aber wir brauchen keine Gefälligkeiten.“

„Eigentlich würden Sie dem Arzt damit ja einen Gefallen tun“, meinte Theresa. „Wenn er sich unbedingt nützlich machen will, dann lassen Sie ihn doch.“ Jetzt wandte sich die ehrenamtliche Köchin dem Jungen zu, der inzwischen aufgehört hatte zu husten – zumindest vorübergehend. „Was sagst du denn dazu, Jimmy?“

Er betrachtete sie skeptisch, vom vielen Husten standen ihm noch die Tränen in den Augen. „Er gibt mir aber keine Spritze, oder?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, entgegnete sie. „Er will dir nur helfen.“

„Okay“, antwortete der Junge. „Aber nur, wenn er mich auch wirklich nicht pikst.“

Theresa lächelte Brenda zu. „Ihr Sohn ist ja ein knallharter Verhandlungspartner. Er erinnert mich ein bisschen an meinen Sohn in dem Alter. Der ist inzwischen übrigens Anwalt“, fügte sie mit Stolz in der Stimme hinzu. „Vielleicht wird Jimmy ja auch mal einer.“

Brenda sah nicht so aus, als könnte sie sich das vorstellen, schwieg aber.

Erneut legte Theresa ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. „Es wird auch wieder besser, glauben Sie mir“, sagte sie ruhig. „Selbst wenn es sich jetzt so anfühlt, als würden Sie da nie wieder rauskommen.“ Sie ging zur Tür. „So, und jetzt kümmere ich mich um das Abendessen.“

Melanie folgte ihr. „Stimmt das, was du da gerade gesagt hast?“, hakte sie nach. „Hast du uns wirklich einen Arzt organisiert?“ Das konnte sie sich kaum vorstellen, weil es zu schön wäre, um wahr zu sein. Viel zu schön.

„Na ja, nicht ich persönlich“, klärte Theresa sie auf. „Aber die Freundin einer Freundin von mir … na ja, kurz gesagt: Morgen schaut hier wirklich ein Arzt vorbei. Ein ganz ausgezeichneter sogar. Meine Freundin Maizie ist sehr gut mit seiner Mutter befreundet. Dr. Mitch ist bloß ein bisschen … steif, wie ich gehört habe“, räumte sie ein. „Darum wäre es vielleicht ganz gut, wenn du an seinem ersten Tag hier an seiner Seite bleiben könntest, um zwischen ihm und den Bewohnern, na ja, zu vermitteln? Ihn ein bisschen einzuweisen? Ich hoffe, es ist nicht zu viel, um das ich dich da bitte.“

Aus Melanies Sicht würde sich Polly, die Leiterin der Unterkunft, viel besser für diese Aufgabe eignen. „Ich habe doch gar keine medizinischen Kenntnisse.“

„Dafür kennst du dich umso besser mit Menschen aus“, gab Theresa sofort zurück. „Und unsere Bewohnerinnen vertrauen dir. Jetzt muss ich aber schnell zurück in die Küche – sonst wird das Abendessen nicht rechtzeitig fertig.“

Theresa wollte gerade durch die Tür gehen, da drehte sie sich doch noch einmal um und kam wieder auf Melanie zu. Sie beugte sich zu ihr herüber und sprach mit leiser Stimme, sodass nur Melanie sie hören konnte: „Falls du gern mal mit jemandem im Vertrauen sprechen würdest … oder einfach jemanden brauchst, der dir zuhört – dann kannst du immer auf mich zukommen. Du weißt ja, dass ich jede zweite Woche hier in der Unterkunft aushelfe. Und wenn ich gerade nicht da bin …“

Theresa suchte in ihrer Schürzentasche herum und zog schließlich ihre Visitenkarte und einen Kugelschreiber hervor. Schnell notierte sie etwas auf der Kartenrückseite. „Hier, bitte.“

Stirnrunzelnd betrachtete Melanie die Kartenvorderseite. Darauf waren die Kontaktdaten von Theresas Cateringunternehmen abgedruckt. „Vielen Dank – ich glaube aber nicht, dass ich demnächst etwas feiern und dafür einen Partyservice engagieren will.“

„So habe ich das auch nicht gemeint. Auf die Rückseite habe ich dir meine Privatnummer geschrieben. Unter der kannst du mich jederzeit anrufen.“

Melanie hielt nicht viel davon, einfach irgendwelchen Fremden ihr Herz auszuschütten. „Wir kennen uns doch kaum“, bemerkte sie und drehte die Karte um.

„Darum habe ich dir ja meine Nummer gegeben“, erklärte Theresa. „Damit sich das ändern kann.“ Dann schwieg sie einige Sekunden lang, als schien sie darüber nachzudenken, ob sie noch etwas hinzufügen sollte. „Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man sehr geliebt hat“, ergänzte sie schließlich.

Verblüfft betrachtete Melanie die ältere Frau. Bisher hatten sie nur wenige Worte miteinander gewechselt, und dabei war ihr Theresa Manetti immer sehr sympathisch gewesen. Allerdings hatten sie nie ein persönliches Gespräch geführt, und Melanie hatte ihr ganz bestimmt nichts von Jeremys Tod gesagt.

Als hätte Theresa ihre Gedanken gelesen, fügte sie hinzu: „Polly hat mir erzählt, was mit deinem Verlobten passiert ist. Es tut mir so schrecklich leid.“

Melanie versteifte sich. „Ja, mir auch“, gab sie knapp zurück.

Theresa ließ nicht locker. „Ich finde es gut, dass du hier arbeitest“, sagte sie. „Das ist das Beste, was du tun kannst: dich sinnvoll zu beschäftigen. Damit hältst den Schmerz auf Abstand … bis du ihm irgendwann gewachsen bist.“

„Diesem Schmerz werde ich wohl nie gewachsen sein“, versetzte Melanie mit fester Stimme.

„Ich glaube, da unterschätzt du dich“, erwiderte Theresa und ging durch die Tür.

2. KAPITEL

Wenn sich Dr. Mitchell Stewart alles noch mal durch den Kopf gehen ließ, war er sich nicht sicher, ob er die Sache wirklich durchziehen sollte.

Alle, die ihn auch nur oberflächlich kannten, wussten, wie gewissenhaft und überlegt er immer handelte. Seine Entscheidungen waren nie überstürzt, sondern immer klug durchdacht – insofern kam es eigentlich gar nicht infrage, dass er sich etwas im Nachhinein anders überlegte.

Und trotzdem: In diesem besonderen Fall fragte Mitch sich, ob er sich in dieser Angelegenheit nicht hatte hinreißen lassen.

Nicht, dass er dabei an seinen medizinischen Fähigkeiten zweifelte. Schließlich war er ein ausgezeichneter, allgemein anerkannter Chirurg. Im Operationssaal war ihm keine Herausforderung zu groß. Doch gleichzeitig war er sich seiner Schwächen bewusst: Er konnte zwar perfekt mit dem Skalpell umgehen, im Gespräch mit seinen Patienten fehlten ihm jedoch meist die passenden Worte. Überhaupt überforderte ihn alles Zwischenmenschliche, und ihm fehlte die Zeit, es sich anzueignen. Da aber gerade das Zwischenmenschliche heute in der Notunterkunft eine große Rolle spielen würde, überlegte er ernsthaft, doch noch einen Rückzieher zu machen.

Er hatte sich überhaupt nur darauf eingelassen, weil seine Mutter ihn in einem schwachen Moment überrumpelt hatte. Dabei war sie äußerst geschickt vorgegangen und hatte ihn bei seiner Berufsehre gepackt. Zunächst hatte sie ganz allgemein darüber gesprochen, wie schwer es aufgrund der neuen Regelungen war, Ärzte für gemeinnützige Projekte zu gewinnen. Und weil er davon ausgegangen war, dass sie eine rein theoretische Diskussion mit ihm führte, hatte er ihr zugestimmt.

Doch dann war sie plötzlich sehr konkret geworden und hatte ihm von dieser Unterkunft erzählt, die alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern aufnahm. Und dann hatte sie ihm noch erzählt, dass sein Vater auch ehrenamtlich bedürftige Menschen untersucht hatte. Damals, als er noch am Leben gewesen war.

Bevor Mitch etwas dazu sagen oder das Thema wechseln konnte, hatte ihn seine Mutter auch schon mit dem Vorschlag überfallen, in besagter Notunterkunft freiwillig einzuspringen. Nur vorübergehend, wie sie betonte. Bis die Verantwortlichen einen anderen Arzt für diese Aufgabe gefunden hatten.

Mitch kannte seine Mutter und ihre cleveren Tricks. Aber diesmal wollte er sie beim Wort nehmen und wirklich nur kurz einspringen. Ein einziges Mal, das musste reichen.

Schließlich würde er es in der Unterkunft mit Menschen zu tun haben, die er nicht etwa bei Vollnarkose operierte, sondern mit denen er sprechen musste. Und der Umgang mit Menschen war für ihn schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Kranke Menschen wünschten sich von ihrem Arzt, dass er sie tröstete, beruhigte und ihnen erzählte, dass schon alles wieder gut werden würde.

Genau dafür hatte er allerdings keinerlei Talent. Er sah es auch nicht als seine Aufgabe, mit seinen Patienten zu reden. Sein Job war es, ihre Krankheiten zu heilen, und davon hatten sie langfristig gesehen auch mehr.

Ich springe nur heute kurz ein. Nur ein einziges Mal, sagte sich Mitch, als er seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz der Unterkunft abstellte. Nach einer Stunde bin ich wieder draußen. Spätestens nach neunzig Minuten.

Er stieg aus seinem zweckdienlichen Mittelklassewagen aus, den er irgendwann mal gebraucht gekauft hatte – Statussymbole bedeuteten ihm nicht viel. Dann betrachtete er das zweistöckige kastenförmige Gebäude vor ihm.

Es sah ganz anders aus, als er sich ein Obdachlosenheim vorgestellt hatte: Die Fassade war frisch gestrichen, und am Eingang befand sich ein ebenso makelloses Schild, auf dem Bedford Rescue Mission stand. Links und rechts davon wuchsen gelbe und weiße Stiefmütterchen.

Auf dem Weg zum Eingang nahm Mitch wahr, dass er von den Fenstern aus beobachtet wurde. Die Jalousien waren zwar heruntergelassen, aber ganz unten waren an mehreren Stellen die Lamellen auseinandergeschoben. Entsprechend klein mussten die Menschen sein, die auf der anderen Seite standen – wahrscheinlich im Kindergartenalter.

Da konnte er nur hoffen, dass ihre Mütter gut auf sie aufpassten, damit sie ihm nicht in die Quere kamen.

Er hob die Hand zur Klingel … und hätte sie am liebsten gleich wieder sinken lassen. Dann beschloss er, die Sache doch durchzuziehen. Vielleicht war es ja halb so wild.

Die Tür ging auf, und vor ihm stand eine junge Frau mit weizenblondem Haar, die ihn unverhohlen musterte. „Ah, Dr. Stewart“, begrüßte sie ihn.

„Ich weiß selbst, wer ich bin“, gab er zurück. „Aber wer sind Sie?“

Der Mann sieht ja umwerfend aus, dachte Melanie, während sie den Arzt betrachtete. Aber Dr. Mitch schien sich nicht gerade zu freuen, hier zu sein. Mit seinen dunkelblauen Augen musterte er sie skeptisch und sein ganzer – zugegebenermaßen sehr gut gebauter – Körper strahlte förmlich aus, wie ungern er hier war.

Schade auch – denn ihr waren ein freundlicher Umgangston und ein Sinn für Humor viel wichtiger als gutes Aussehen.

„Ich heiße Melanie McAdams“, stellte sie sich vor und ging gleichzeitig ein Stück zurück, um ihn ins Gebäude zu lassen. Dabei musste sie aufpassen, dass sie nicht über April stolperte, die sich unten an ihrer Bluse festhielt.

„Sind sie hier die Leiterin? Oder wohnen Sie hier?“, erkundigte der Arzt sich geradeheraus.

„Weder noch.“ So knapp fielen Melanies Antworten sonst selten aus, aber dieser Mann war ihr irgendwie nicht ganz geheuer.

Auf jeden Fall hatte Theresa recht gehabt: So, wie er auftrat, brauchte er dringend jemanden an seiner Seite, der zwischen ihm und den Bewohnern hier vermittelte. Besonders den jüngeren.

Ihr erster Eindruck stimmte genau mit dem überein, was sie gestern schon über ihn herausgefunden hatte. Sie hatte seinen Namen gleich in die Internetsuchmaschine eingegeben und von seinen zahlreichen Auszeichnungen gelesen. Die wenigen Fotos, die sie dabei gefunden hatte, zeigten allerdings immer einen Mann, der sich in seiner Umgebung nicht wohlzufühlen schien. Auf jedem Bild sah er aus, als wäre er lieber ganz woanders.

Zugegebenermaßen waren alle Bilder bei Benefizveranstaltungen für das Krankenhaus aufgenommen worden, und sie konnte sich vorstellen, dass so etwas ganz schön anstrengend und langweilig war. Gleichzeitig wurde sie das Gefühl nicht los, dass der gute Herr meistens so ein Gesicht zog, jedenfalls in Anwesenheit anderer Menschen. Wahrscheinlich fühlte er sich ihnen überlegen, weil er als Arzt seiner Meinung nach wohl über den Dingen stand.

Mitch hob eine Augenbraue, als wartete er auf weitere Informationen.

„Ich begleite Sie heute und zeige Ihnen alles“, erklärte sie. Melanie war stolz auf ihre taktvolle Art und Weise, zu sagen, dass sie ihm auf Schritt und Tritt folgen würde, damit die Bewohnerinnen und ihre Kinder sich auch wohlfühlen würden mit dem fremden Arzt. „Ich hoffe, Sie haben etwas Geduld mitgebracht“, fuhr sie betont fröhlich fort. „Als sich herumgesprochen hat, dass Sie heute vorbeischauen, wollten nämlich plötzlich alle Bewohner ihren Namen auf die Patientenliste setzen.“

Verwirrt schaute er sie an. „Wissen die Leute denn, wer ich bin?“

„Sie wissen, dass Sie Arzt sind“, erklärte Melanie. „Und die meisten waren schon ewig nicht mehr beim Arzt.“

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und schob ihn sanft nach links. „Da geht’s lang“, sagte sie, als er ihr einen warnenden Blick zuwarf. Besonders umgänglich war er wirklich nicht. Aber es ging hier ja um seine Fähigkeiten als Mediziner, schließlich konnte man mit einem freundlichen Lächeln keine Krankheiten heilen. Allerdings hätte er sich damit auch keinen Zacken aus der Krone gebrochen.

„Wir haben Ihnen den Speisesaal freigeräumt“, verkündete sie und bemühte sich weiterhin um einen unbeschwerten Tonfall. Nicht etwa seinetwegen, sondern wegen April. Das Mädchen folgte ihr gerade auf Schritt und Tritt und ließ dabei den Arzt keine Sekunde lang aus den Augen. Als wäre er ein Mensch gewordener Gott, der auf die Erde hinabgestiegen war, um ihren älteren Bruder wieder gesund zu machen.

„Den Speisesaal?“, wiederholte er und seine Stimme troff nur so vor Empörung.

Melanie nickte. Was war denn jetzt schon wieder los? „Das ist der einzige Raum, in den alle hineinpassen, die sich für die Arztvisite angemeldet haben“, erklärte sie.

An den langen Esstischen saßen Frauen und Kinder, kein einziger Platz war frei geblieben. Und alle drehten sich zu ihnen um, als sie den Raum betraten.

Mitch betrachtete die vielen Menschen, dann sah er Melanie tatsächlich leicht betreten an. „Eigentlich wollte ich in ungefähr einer Stunde wieder los.“

„Vielleicht können Sie es einrichten, ein bisschen länger zu bleiben?“, schlug Melanie vorsichtig vor. „Manche Bewohnerinnen warten hier schon seit gestern Abend mit ihren Kindern. Seit sie gehört haben, dass heute ein Arzt vorbeikommt. Weil sie auf jeden Fall an die Reihe kommen wollten.“

Der Mann machte nicht den Eindruck, als würde ihn diese Tatsache irgendwie berühren oder Mitgefühl in ihm wecken. Da hatte sie sein Gesicht wohl gerade falsch gelesen.

Bleib freundlich, sonst verjagst du ihn noch, ermahnte sich Melanie und setzte ihr charmantestes Lächeln auf. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass Sie uns noch ein kleines bisschen mehr von Ihrer kostbaren Zeit schenken?“

Insgesamt vier Stunden vielleicht. Damit wäre uns schon sehr geholfen.

Wie hatte er sich seinen Besuch hier eigentlich vorgestellt? Dass es in einer Notunterkunft großen Bedarf an ärztlicher Hilfe gab, hätte er sich doch denken können.

„Wir wären Ihnen alle so unendlich dankbar“, fuhr Melanie fort und bemühte sich, dabei möglichst ehrlich zu klingen.

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, meldete sich eine weitere Stimme zu Wort, eine hohe Kinderstimme: „Bitte!“ Es war die kleine April, die sich die ganze Zeit an Melanies Bluse festgehalten hatte. Aus Melanies Sicht hätte Dr. Mitchell Stewart nur so dahinschmelzen müssen. Zu ihrer Enttäuschung wirkte er allerdings nicht besonders beeindruckt, schien aber immerhin zu zögern. Also hatte er doch ein Herz.

Der Arzt räusperte sich, schwieg dann, während er sich im Raum umblickte … und schließlich meinte: „Ich schaue mal, was sich machen lässt.“

Gott sei Dank! dachte Melanie. Also war die Sache nicht völlig aussichtslos.

Im Moment ließ Dr. Stewart allerdings noch immer kritisch den Blick durch den Speisesaal schweifen. „Haben Sie hier keinen Raum, in dem ich mit den Menschen unter vier Augen sprechen kann?“, wollte er wissen. „Die Frauen finden es bestimmt nicht angenehm, wenn andere ihnen dabei zuschauen, während ich sie untersuche. Das ist hier ja kein Kriegslazarett mit Massenabfertigung.“

„Das haben Sie zwar nicht besonders diplomatisch ausgedrückt, aber ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Melanie.

Als er sie daraufhin grimmig ansah, wurde ihr klar, dass sie den ersten Teil des Satzes nicht bloß gedacht, sondern tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Statt sich dafür zu entschuldigen, lächelte sie ihn wieder freundlich an. „Warten Sie kurz, ich schaue mal nach, ob Polly uns ihr Büro überlässt.“

„Polly …“ Er sprach den Namen langsam nach. „Das ist dann wohl die Leiterin dieser Institution?“

Melanie nickte. „Richtig.“

„Und warum hat sie mich nicht in Empfang genommen?“, hakte er nach.

Sie fand die Frage ganz schön unverblümt, allerdings überraschte es sie auch nicht sonderlich, selbst nach dieser kurzen Zeit, die sie ihn nun kannte. Und weil er sie so direkt gefragt hatte, wollte sie ihm auch die Wahrheit sagen – zumal ihr bewusst war, dass sie schon immer eine sehr schlechte Lügnerin gewesen war. „Ehrlich gesagt“, begann sie also, „war Polly ziemlich eingeschüchtert, nach allem, was sie über Sie gehört hat.“

„Weil ich so ein hervorragender Chirurg bin, meinen Sie?“

Besonders bescheiden ist er nicht.

„Das hört man natürlich auch über sie, aber ich meinte eigentlich etwas anderes.“ Mehr verriet Melanie ihm nicht. Stattdessen verließ sie den Speisesaal und machte sich auf die Suche nach Polly French. Die Leiterin der Unterkunft war einer der nettesten Menschen, die Melanie je kennengelernt hatte.

Die Tür zu ihrem Büro stand offen, trotzdem klopfte Melanie kurz an, bevor sie in den Raum ging.

Polly blickte hoch. Das graue Haar hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Besorgt blickte sie Melanie an. „Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sie sich. „Ist der Arzt doch nicht gekommen?“ Sie stand auf.

„Doch, er ist da, und so weit ist auch alles in Ordnung“, versicherte Melanie ihr schnell. „Ich wollte dich bloß fragen, ob wir die Untersuchungen hier im Büro durchführen können.“

„Natürlich.“ Sofort begann Polly ihren Schreibtisch freizuräumen. „Ist im Speisesaal denn nicht genug Platz?“

„Na ja, der Arzt meinte, dass es angenehmer für die jeweiligen Patienten ist, wenn nicht alle anderen bei der Untersuchung zugucken“, erklärte Melanie. Mit diesem Hinweis hatte Dr. Stewart überraschend viel Feingefühl bewiesen, wie sie fand.

„Ach so.“ Nachdenklich sah Polly sie an. „Das ist ja ein gutes Zeichen – wenn er Wert darauf legt, dass seine Patienten sich wohlfühlen.“

„Das finde ich auch.“

Polly betrachtete den leer geräumten Schreibtisch. „Ich hole noch schnell saubere Laken, die können wir auf die Tischplatte legen. Dann sieht das Ganze schon viel mehr nach einem Sprechzimmer aus.“

Gerade wollte Melanie das Büro verlassen, da rief Polly ihr nach: „Ach so, hat der Doktor eigentlich eine Krankenschwester dabei?“

„Wenn, dann ist sie so klein, dass sie in seine Jackentasche passt“, gab Melanie zurück.

„In dem Fall muss ich dich bitten, immer hier bei ihm im Zimmer zu bleiben, wenn er gerade eine Patientin hat“, sagte Polly.

„Wie bitte?“

„Er ist zwar Arzt, aber er darf hier trotzdem keine Bewohnerin genauer untersuchen, ohne dass eine andere Frau mit im Zimmer ist“, erklärte Polly und wirkte dabei alles andere als entspannt. „Eigentlich war ich ja davon ausgegangen, dass auch eine Krankenschwester mit dabei wäre. Aber …“

„Schon in Ordnung. Einverstanden“, warf Melanie ein. „Mach dir keine Sorgen, ich weiche ihm nicht von der Seite.“ Dann ging sie zurück in den Speisesaal, um Dr. Stewart mitzuteilen, dass sein privates Sprechzimmer für ihn bereit war.

Kaum hatte sie den Saal betreten, lief April strahlend auf sie zu. Melanie hatte kaum Zeit, dem Mädchen durchs Haar zu fahren, da fing sie bereits den vorwurfsvollen Blick aus den tiefblauen Augen des Arztes auf.

„Ich dachte schon, Sie hätten Feierabend gemacht“, bemerkte er mit einer Spur von Sarkasmus in der Stimme.

Melanie kniff die Augen zusammen. Sein Benehmen ließ wirklich zu wünschen übrig. „Hier geht eben nicht alles Schlag auf Schlag“, erklärte sie. „Wir mussten das Büro der Leiterin erst mal vorbereiten. Aber jetzt ist alles fertig, und ich führe Sie gern hin, wenn Sie so weit sind.“

„Dann gehen Sie mal vor“, wies er sie im Kommandoton an.

Sie überlegte kurz, ob sie ihn in seine Schranken verweisen sollte – immerhin war sie nicht seine Bedienstete. Weil sie aber befürchtete, dass der Mann sich dann gleich wieder verabschieden würde, hielt sie sich zurück. Schließlich lagen ihr die Frauen und Kinder in der Unterkunft sehr am Herzen, und viele von ihnen brauchten dringend ärztliche Versorgung.

Das galt auch für Jane Caldwell, seine erste Patientin. Die Frau hatte einen ähnlich hartnäckigen Husten wie Jimmy, wahrscheinlich hatte er sich sogar bei ihr angesteckt.

Melanie führte Jane und den Arzt zum Büro und öffnete die Tür. „Hier, bitte“, sagte sie und folgte den beiden ins Zimmer.

„Hier gibt es ja gar keine Liege, auf der ich die Patienten untersuchen kann“, beschwerte Mitch sich sofort.

„Stimmt.“ Melanie wies auf den Schreibtisch. „Dafür hat Polly saubere Laken auf die Tischplatte gelegt. Mir ist schon klar, dass Sie sonst anders arbeiten, aber immerhin haben Sie hier auch eine große, glatte Fläche.“

„Die habe ich draußen auf dem Parkplatz auch, trotzdem habe ich nicht vor, diese Frau dort zu untersuchen.“

„Ich kann gern schauen, ob wir Ihnen beim nächsten Besuch etwas Besseres anbieten können, aber im Moment geht es nicht anders“, informierte Melanie ihn.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte der gute Arzt einen weiteren Besuch gar nicht geplant.

„Polly hat extra ein frisches Laken über den Tisch gelegt“, wiederholte sie. „Geht das nicht erst mal so?“

„Wenn es denn sein muss“, murmelte er vor sich hin und sprach laut aus: „In Ordnung, danke.“ Er wandte sich seiner ersten Patientin zu. „Setzen Sie sich bitte auf den Schreibtisch, dann kann ich anfangen.“

Das Stethoskop hatte er schon ausgepackt. Doch bevor er die Frau damit abhörte, drehte er sich zu Melanie um, die immer noch hinter ihm im Raum stand. „Danke“, wiederholte er sich ungeduldig. „Sie können jetzt gehen.“

Melanie lächelte geduldig. „Nein, das kann ich eben nicht.“

Er ließ das Stethoskop wieder sinken. „Was soll das jetzt heißen?“

„Das Wort Nein erklärt sich doch von selbst, oder? Und mit das kann ich eben nicht wollte ich diese Aussage noch mal bekräftigen“, informierte sie ihn. „Welchen Teil davon haben Sie nicht verstanden?“

„Den Teil, der Sie betrifft“, gab er zurück. „Warum sind Sie immer noch hier im Sprechzimmer?“

„Weil Sie keine Krankenschwester in ihrer Jackentasche versteckt haben“, erwiderte Melanie lächelnd.

Was stimmt eigentlich nicht mit dieser Melanie McAdams? fragte sich Mitch. Warum ist sie immer noch hier? Hat sie nicht irgendetwas anderes zu tun?

„Wie bitte?“, schoss er zurück.

„Wenn Sie hier eine Frau untersuchen, muss immer eine andere Frau dabei sein“, erklärte Melanie. „Bei Ihnen im Krankenhaus ist ja auch immer eine Krankenschwester dabei, oder?“

Mitch runzelte die Stirn. Dem konnte er schlecht widersprechen, weil ihm klar wurde, dass sie recht hatte. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gesammelt hatte. „Dann machen Sie sich gefälligst nützlich!“, wies er sie an.

Eigentlich hatte er mit Widerspruch gerechnet. Doch zu seiner Überraschung sagte sie nur: „Was schwebt Ihnen da vor?“

Das Erste, was ihm dazu einfiel, war definitiv nicht jugendfrei. Was ihn so erstaunte, dass es ihm die Sprache verschlug. Unglaublich. Unter diesen Umständen schossen ihm ausgerechnet solche Ideen durch den Kopf? Und dann auch noch bei dieser Frau!

„Schreiben Sie mit“, forderte er sie schließlich auf.

Melanie zog die mittlere Schreibtischschublade auf und holte Block und Stift heraus. „In Ordnung, ich bin bereit, Herr Doktor.“

Mitch warf ihr einen finsteren Blick zu, dann begann er die Patientin zu untersuchen.

Wie auf Autopilot fertigte Mitch eine Patientin nach der nächsten ab und hielt sich mit keiner Untersuchung unnötig lange auf. Bei den meisten handelte es sich um Routinefälle, nur bei einigen wenigen waren genauere Laboranalysen nötig.

Drei Stunden später kam Mitch sich vor, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Gleichzeitig musste er feststellen, dass er kaum die Hälfte aller Wartenden untersucht hatte.

Allmählich kam er sich wirklich vor, wie in einem Kriegslazarett.

„Müssen Sie jetzt los?“, erkundigte sich Melanie, als er sich von einer weiteren Patientin verabschiedet hatte.

Mitch wollte tatsächlich gerade einpacken – hatte ihr aber noch nichts davon gesagt. Verwundert betrachtete er die Frau, die ihm inzwischen vorkam wie eine halbe Hexe. Vielleicht sogar eine ganze. „Woher wissen Sie das?“, hakte er nach.

„Na ja, sie meinten vorhin, Sie würden nur eine Stunde hierbleiben wollen, und jetzt haben Sie schon zwei Stunden überzogen. Da liegt die Vermutung doch nah“, gab sie ruhig zurück.

Mitch runzelte die Stirn. Inzwischen waren sie ganz allein im sogenannten „Sprechzimmer“. Die Frau machte ihn so wahnsinnig, dass er sie am liebsten genommen und geschüttelt hätte. Einerseits. Andererseits schossen ihm auch einige andere Ideen durch den Kopf, was er noch so mit ihr anstellen könnte. Und die hatten mit der angespannten Situation zwischen ihnen nicht besonders viel zu tun – jedenfalls nicht auf den ersten Blick.

„Hat Ihnen eigentlich schon mal jemand gesagt, dass Sie ganz schön vorwitzig sind?“, fragte er sie.

So hatte schon lange niemand mehr mit Melanie gesprochen. Seit Jeremys Tod hatte man sie nur mit Samthandschuhen angefasst. Vielleicht war das aber genau der falsche Ansatz gewesen. Denn so lebendig, wie seit der Ankunft des Arztes, hatte sie sich schon seit Monaten nicht mehr gefühlt. Sie konnte sich das nur damit erklären, dass er sie mit jedem Satz herausforderte. Und mit seiner mürrischen Art immer wieder überraschte.

„Besser vorwitzig als völlig humorlos“, konterte Melanie. „Wann können Sie eigentlich wieder vorbeikommen?“

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“ Bisher hatte er sich ganz darauf konzentriert, seinen heutigen Einsatz zu überstehen. Und aus seiner Sicht hatte er damit seine Verpflichtung erfüllt. Aber Moment, hatte sie ihn gerade als humorlos bezeichnet?

„Dann sollten Sie das vielleicht mal tun“, schlug Melanie vor. „Wann immer es Ihnen passt, passt es uns auch“, fügte sie mit einem vermeintlich fröhlichen Lächeln hinzu – ihm konnte sie damit allerdings nichts vormachen.

Mitch seufzte. „Ich schaue nachher mal in meinen Kalender.“

„Warum nicht sofort?“, hakte sie nach. „Dann kann ich unserer Leiterin und ihren Fans da draußen gleich sagen, wann sie wieder mit Ihnen rechnen können.“ Sie nickte in Richtung Tür.

„Absolut vorwitzig“, murmelte er vor sich hin, holte sein Smartphone heraus und rief den Kalender auf. „Freitagmorgen kann ich eventuell ein paar Stunden abzweigen“, schlug er missmutig vor.

„Freitag passt uns sehr gut“, versicherte Melanie ihm. „Ich gebe das gleich mal weiter.“

„Warten wir lieber erst mal ab, wie sich die Dinge entwickeln. Es kann gut sein, dass mir noch etwas dazwischenkommt.“

Herausfordernd und ein bisschen trotzig blickte sie ihn an. Diese Frau ging ihm unheimlich auf die Nerven … aber gleichzeitig faszinierte sie ihn seltsamerweise.

„Tragen Sie uns einfach schon mal in ihren Terminkalender ein“, sagte sie. „Dann halten Sie sich vielleicht eher daran.“

„Machen Sie mir etwa gerade Vorschriften?“

„Ich sehe das eher als höflich formulierten Vorschlag“, erwiderte sie.

3. KAPITEL

Melanie schaute auf ihre Armbanduhr: ein altmodisches analoges Modell mit Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger. Letzterer bewegte sich unaufhörlich. Wusst’-ich’s-doch, wusst’-ich’s-doch, wusst’-ich’s-doch, schien ihr jedes Ticken zu sagen.

Sie seufzte schwer.

Heute war Freitag … und Dr. Stewart hätte längst in der Unterkunft sein sollen.

Rein theoretisch könnte er natürlich noch im Stau stecken, aber das musste wirklich ein historischer Stau sein, wenn er deswegen immer noch nicht angekommen war. Immerhin waren sie hier nicht in Los Angeles, sondern in Bedford, einem entfernten Vorort der kalifornischen Metropole. Die Kleinstadt lag im Süden des sogenannten Orange County, und hier ging es verkehrstechnisch meistens sehr entspannt zu.

„Kommt der Doktor heute nicht, Melody?“, wollte April von ihr wissen. Das kleine Mädchen klang ähnlich besorgt, wie Melanie sich selbst gerade fühlte.

Sie wandte sich wieder vom Fenster ab. „Ich weiß es nicht, meine Süße.“

„Er hat es doch versprochen!“, meinte April traurig. Offenbar hatte das Mädchen seine halbherzige Zusage für bare Münze genommen. Aber sie glaubte ja auch noch an den Weihnachtsmann.

„Das stimmt“, sagte Melanie und überlegte angestrengt, wie sie der Kleinen vorsichtig die Wahrheit beibringen sollte. „Vielleicht hat er Polly angerufen und ihr gesagt, dass er sich verspätet? Du kannst ja weiter hier nach ihm Ausschau halten. Ich geh sie mal kurz fragen.“

„Okay!“

Melanie lief den Flur hinunter und bog um die Ecke, als die Leiterin der Unterkunft aus ihrem Büro kam. „Ich wollte dich gerade suchen gehen“, rief Polly ihr zu.

„Hier bin ich.“ Melanie wusste, was jetzt kommen würde. „Er hat eben angerufen, stimmt’s?“, erkundigte sie sich. „Dr. Stewart“, fügte sie der Klarheit halber hinzu.

Traurig lächelte Polly sie an. „Ja, gerade eben. Ihm ist etwas dazwischengekommen, darum schafft er es heute nicht.“

Eigentlich hätte er schon vor einer Stunde eintreffen sollen. „Besser spät als nie“, murmelte Melanie. „Wann kommt er denn wieder?“ Sie wollte April und den anderen Patienten wenigstens einen Ersatztermin nennen können.

„Dazu hat er nichts gesagt.“

„Hast du nicht nachgefragt?“

„Dazu gab es keine Gelegenheit“, gestand Polly. „Er hat nämlich sofort wieder aufgelegt – gleich nachdem er gesagt hat, dass es ihm leidtut.“

„Na, das glaube ich ihm sofort“, wandte Melanie ein und verdrehte die Augen.

Polly leitete die Obdachlosenunterkunft seit zwölf Jahren und war Enttäuschungen inzwischen gewohnt. Ihre Strategie bestand offenbar darin, allem trotzdem noch etwas Positives abzugewinnen. „Wir können uns glücklich schätzen, dass er immerhin einmal da war“, sagte sie.

Melanie war allerdings stinksauer auf den Arzt. Weil er sein Versprechen gebrochen hatte – aber noch viel mehr, weil er Aprils Vertrauen missbraucht hatte. Denn das kleine Mädchen hatte ihm wirklich geglaubt.

„Noch glücklicher könnten wir uns schätzen, wenn er zu seinem Wort stünde“, erwiderte sie bissig.

„Wer uns hier freiwillig und unentgeltlich unterstützt, ist gesetzlich zu nichts verpflichtet“, gab Polly zu bedenken.

„Das nicht. Aber wenn er auch nur einen Funken Anstand in sich gehabt hätte, dann wäre er zurückgekommen. Vor allem, weil er es schon angekündigt hat.“ Sie fuhr herum und ging den Flur hinunter.

„Melanie!“, rief Polly ihr hinterher. „Wo willst du hin?“

„Nach draußen“, rief sie, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen. „Ich muss erst mal wieder runterkommen.“ Sie wusste auch, wie das am besten funktionieren würde.

Sie nahm nur einen kleinen Umweg auf ihrem Weg zum Parkplatz – um April zu sagen, dass sie sich gleich genauer mit Dr. Stewart unterhalten würde.

„Warum wartest du nicht, bis er hier ist, und sprichst dann mit ihm?“, fragte das Mädchen und lief ihr zum Ausgang hinterher.

Manchmal wollte sie alles viel zu genau wissen. „Weil er noch nicht da ist, und wenn ich erst noch auf ihn warte, habe ich vielleicht schon vergessen, was ich ihm sagen will.“

„Dann schreib es doch auf“, schlug April vor.

An der Tür blieb Melanie stehen und küsste ihre inoffizielle kleine Beraterin auf die Stirn. So eine Tochter wie April würde sie selbst niemals haben … Jeremy und sie hatten sich damals so sehr ein Kind gewünscht. Sie blinzelte die Tränen schnell weg. „Ich muss ihm aber dringend etwas sagen.“ Und dann war sie auch schon draußen und auf dem Weg zu ihrem Auto.

Der einsame junge Mann am Empfangstresen blickte hoch, als Melanie ins Krankenhaus stürmte. Er trug blaue Krankenpflegerkleidung und sah ziemlich übernächtigt aus. „Weswegen sind sie hier?“, erkundigte er sich und hielt die Finger über der Tastatur zum Tippen bereit.

„Weil ich Dr. Stewart den Kopf abreißen will“, rief sie ihm über die Schulter zu und lief gleich weiter in Richtung Notaufnahme. Die Tür war normalerweise verschlossen, aber jetzt öffnete sie sich gerade, und ein Patient kam heraus – offenbar war er gerade entlassen worden. Schnell schob Melanie sich an ihm vorbei, bevor die Tür wieder zuging.

Dann sprach sie den nächstbesten Krankenpfleger an. „Entschuldigen Sie bitte, ich suche Dr. Stewart.“ Bevor sie losgefahren war, hatte sie bereits in der Klinik angerufen und in Erfahrung gebracht, dass er sich noch in der Notaufnahme aufhielt. „Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“

Der Pfleger wies zur anderen Seite des Saals. „Er wollte eben noch bei Bett sechs vorbeischauen“, sagte er.

„Vielen Dank.“

Der Vorhang um Bett sechs war zugezogen, um die Privatsphäre des Patienten dahinter zu wahren. Und weil Melanie wütend auf Dr. Stewart war und nicht auf den Patienten, nahm sie sich zusammen und wartete, bis der Arzt wieder auftauchte.

Nach dem zu urteilen, was sie von dem Gespräch hinter dem Vorhang mitbekam, war Dr. Stewart seinen Krankenhauspatienten gegenüber nicht gesprächiger als gegenüber den Frauen und Kindern in der Obdachlosenunterkunft. Wenn er sich immer so verhielt, musste er ganz schön einsam und unglücklich sein.

Den ganzen Morgen schon war Mitch hier in der Notaufnahme beschäftigt. Rod Wilson, der eigentlich die Schicht nach ihm gehabt hätte, hatte sich krankgemeldet – wahrscheinlich hatte er wieder die Nacht durchgefeiert und war jetzt verkatert. Also hatte Mitch sich bereit erklärt, länger zu bleiben, obwohl er längst Dienstschluss hatte.

Für ihn war das gleichzeitig ein willkommenes Zeichen, dass er die Sache mit der Obdachlosenunterkunft lieber lassen und absagen sollte. Dort hatte er sich sowieso fehl am Platz gefühlt, mehr noch als hier in der Notaufnahme. Im Krankenhaus war ihm wenigstens die Umgebung vertraut, außerdem arbeiteten hier ausgebildete Fachkräfte, die ihn bei der Arbeit mit den Patienten entsprechend unterstützen konnten.

Gerade hatte er eine Schnittwunde am Arm seines Patienten genäht, die von einem zerbrochenen Weinglas stammte. Er wies den Mann kurz darauf hin, dass ihm ein Pfleger oder eine Pflegerin alles Weitere erklären würde, zog den Vorhang zurück … und stieß draußen fast mit der anstrengenden Frau aus der Obdachlosenunterkunft zusammen. „Sie!“

„Ja, ich“, gab sie zurück.

Er ging schnell weiter, aber sie lief einfach neben ihm her. Offenbar wollte sie ihn nicht so leicht davonkommen lassen.

Mitch zog sich die Einmalhandschuhe aus und warf der Frau einen grimmigen Blick zu. „Das ist ja schon fast Stalking, was Sie hier betreiben.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Sie sind heute nicht zu uns gekommen.“

„Gut beobachtet“, erwiderte er sarkastisch und blieb kurz stehen, um die Handschuhe zu entsorgen.

„Der ganze Speisesaal ist voll mit Menschen, die nur auf Sie warten.“

Mitch runzelte die Stirn. „Hat Ihre Leiterin Ihnen nicht ausgerichtet, dass ich verhindert bin? Ich habe doch vorhin angerufen.“

„Ja, aber erst eine Stunde, nachdem sie da sein wollten.“

„Besser als gar nicht“, konterte er. Warum ließ er sich überhaupt auf diese Diskussion ein? Schließlich schuldete er der Frau keine Erklärungen.

„Am allerbesten ist es, wenn Sie sofort mitkommen.“ Sie stellte sich direkt vor ihn.

Unglaublich, wie dreist sie sich ihm gegenüber verhielt! „Was denken Sie, mit wem Sie hier reden?“

„Mit jemandem, der anscheinend kein Gewissen hat“, erwiderte sie.

„Und woher erlauben Sie sich dieses Urteil?“, gab er zurück und starrte Melanie an. Während er über ihre Worte nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er Melanie McAdams unglaublich anziehend fand – obwohl er nicht sagen konnte, warum. Das machte die Sache nur noch schlimmer. Sie war unglaublich vorlaut!

Wenn er überhaupt so etwas wie einen bestimmten „Typ Frau“ hatte – und das Thema war für ihn schon lange nicht mehr aktuell –, dann bestimmt nicht so eine freche kleine Blondine, die nicht wusste, wann sie besser den Mund hielt. Eigentlich stand er auf große, schlanke, sonnengebräunte Brünette mit dunklen Augen und endlos langen Beinen. Frauen, die die Dinge mit sich selbst ausmachten, statt unentwegt auf ihn einzureden. Am liebsten hätte er diese Melanie geknebelt, damit sie endlich Ruhe gab.

Und trotzdem …

Wahrscheinlich war er einfach nur müde, wegen seiner Doppelschicht.

„Die Leute brauchen Sie!“, beharrte Melanie und lief weiter neben ihm den Korridor entlang.

„Nicht mich persönlich, sondern einen Arzt“, verbesserte er sie und ging einfach weiter.

„Soweit ich weiß, ist das Ihr Beruf.“

Kurz vor seinem Ziel – der Herrenumkleide – blieb er abrupt stehen, und Melanie wäre fast in ihn hineingelaufen. „Wie wär’s, wenn ich mich hier mal umhöre, ob nicht einer meiner Kollegen vorbeikommen kann?“, schlug er vor.

„Ich halte mich ja immer gern an den Spatzen in der Hand“, informierte sie ihn.

„Und ich bin weder ein Spatz, noch haben Sie mich in der Hand“, gab er kühl zurück.

„Das nicht, aber Sie sind jetzt gerade hier, Sie sind Arzt, und Sie waren schon mal in der Unterkunft.“ Schließlich fügte sie hinzu: „Außerdem haben die Kinder sie schon mal gesehen.“

„Na und? Spongebob haben die Kinder bestimmt auch alle schon mal gesehen. Trotzdem würden Sie den bestimmt nicht als Arzt engagieren, oder?“

Melanie atmete tief durch. Dann sprach sie mit ruhiger, freundlicher Stimme weiter: „Und wenn ich Sie ganz herzlich darum bitte? Und mich für das, was ich gerade über sie gesagt habe, entschuldige? Drüben in der Unterkunft warten so viele Menschen auf Sie.“ Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie fort: „Als Sie damals angefangen haben, Medizin zu studieren … haben Sie sich da nicht gewünscht, dass die Menschen eines Tages auf Sie warten? Weil genau Sie ihnen am besten helfen können?“

Er lachte kurz auf. „Wie ein Superheld, meinen Sie?“

„Nein, wie ein Superarzt.“

In diesem Augenblick kam ein Mann in der Uniform des Sicherheitspersonals auf sie beide zu. Dabei steuerte er in erster Linie Melanie an. „Gibt es hier ein Problem?“, erkundigte er sich und blickte von Mitch zu ihr und wieder zurück.

Wenn ich diese anstrengende Frau für immer loswerden will, brauche ich jetzt bloß Ja zu sagen, dachte Mitch. Allerdings musste er zugeben, dass an dem, was sie eben gesagt hatte, durchaus etwas Wahres dran gewesen war. Früher, als er noch sehr jung und idealistisch gewesen war, hatte er große Hoffnungen in seine zukünftige Tätigkeit als Arzt gesetzt. Er hatte sich ausgemalt, was er alles für die Menschen tun könnte …

Doch dann waren einige seiner Patienten gestorben, und er hatte feststellen müssen, dass seine Idealvorstellungen nichts mit der Wirklichkeit gemein hatten. Die war viel härter und grauer.

„Nein“, antwortete Mitch schließlich auf die Frage des Wachmanns. „Hier ist alles in bester Ordnung. Die Dame hat mich nur gerade an einen Termin erinnert, den ich offenbar vergessen habe.“

Der Mann wirkte skeptisch. „Wenn Sie das sagen …“

„Ja, genau das sage ich.“

„Also gut“, murmelte der Wachmann. „Einen schönen Tag noch.“ Dann zog er sich wieder zurück.

Melanie betrachtete Mitch verwundert. „Danke“, sagte sie.

„Tja“, murmelte er. „Wahrscheinlich werde ich das noch bereuen.“ Er drehte sich um, stieß die Tür hinter sich auf … da machte diese anstrengende Frau doch glatt Anstalten, mit ihm in den Raum dahinter zu kommen. Er räusperte sich. „Entschuldigen Sie, aber Sie dürfen hier nicht rein.“

„Ach? Warum denn nicht?“

„Weil das die Herrenumkleide ist.“

„Oh. Entschuldigen Sie bitte.“ War sie etwa gerade rot geworden? Das konnte Mitch sich bei ihr nicht vorstellen. Wahrscheinlich kam es ihm bloß so vor, weil die Beleuchtung in dem Raum so schummerig war.

Er wies mit dem Daumen in die Umkleide. „Ich dusche nur schnell und ziehe mir noch etwas anderes an. Und auf Ihre Entschuldigung kann ich verzichten, übrigens.“

„Gut“, gab sie zurück. Dann fügte sie hinzu: „Ich warte hier draußen auf sie.“

Statt einer Antwort gab er nur einen kurzen mürrischen Laut von sich. Er hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie ihn abpassen würde.

Mitch packte gerade seine mitgebrachten Utensilien wieder zurück in die Arzttasche und hörte dabei zunächst nicht das Klopfen an der Tür. Als es dann erneut klopfte, diesmal lauter und hartnäckiger, blickte er erschrocken hoch.

Was ist ihr jetzt schon wieder eingefallen?

Wie so oft schon hatte er auch heute eine gute Dreiviertelstunde länger in der Notunterkunft verbracht, als er eigentlich vorgehabt hatte. Jetzt wollte er möglichst schnell nach Hause und sich auf keinen Fall zu einer weiteren Aufgabe überreden lassen. Das wäre dieser Melanie durchaus zuzutrauen, schließlich hatte sie das in den letzten Wochen schon mehrfach erfolgreich versucht.

Eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Angst ergriff ihn, als sie zu ihm in den winzigen Raum kam, der ursprünglich mal als Abstellkammer gedient hatte. Melanie hatte Polly davon überzeugt, hier ein kleines Sprechzimmer für die Arztbesuche einzurichten. Darin war gerade genug Platz für eine Untersuchungsliege, ihn selbst und höchstens noch eine weitere Person. Ausführlichere Arztgespräche fanden nach wie vor in Pollys Büro statt. In letzter Zeit war er zwei- bis dreimal wöchentlich hier – und blieb grundsätzlich länger als ursprünglich geplant.

Jetzt trug Melanie etwas zu ihm in den Raum.

Er kniff die Augen zusammen. „Was ist das denn?“

„Ein Kuchen“, klärte sie ihn auf. Dann stellte sie ihn vor ihm auf der Untersuchungsliege ab. „Das heißt … eigentlich ist es nur ein übergroßer Cupcake.“

„Das sehe ich. Eigentlich wollte ich auch wissen, warum er da vor mir auf einem Teller steht und eine Kerze darin steckt. Eine brennende Kerze sogar“, fügte er hinzu.

„Damit du sie auspustest“, erklärte sie und lächelte schon wieder dieses Lächeln, das ihn jedes Mal fast um den Verstand brachte.

Mitch machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen. „Gibt es denn einen besonderen Grund dafür, ausgerechnet heute einen Cupcake in Brand zu setzen?“

Sie lächelte sanftmütig. „Ich habe ihn nicht in Brand gesetzt. Wir feiern heute …“

„… dein Jubel-läum!“, rief April aufgeregt und kam hinter Melanie zum Vorschein. „Du kommst jetzt schon einen ganzen Monat lang hierher. Jetzt wünsch dir schnell was und puste die Kerze aus!“, wies sie ihn aufgeregt an.

Offenbar kam er hier nicht weg, bis er sich auf diesen Blödsinn eingelassen hatte. Also stellte er die Arzttasche auf den Boden, beugte sich vor und blies etwas entnervt die Kerze aus.

„Seit einem Monat komme ich her?“, wiederholte er und blickte Melanie an. „Komisch, es kommt mir viel länger vor.“

„Komisch, und ich wollte gerade sagen, dass es mir viel kürzer vorkommt“, gab sie zurück. „Allerdings bin ich hier nicht mit Gewalt hergeschleift worden, im Gegensatz zu dir.“

„Wer ist hier hergeschleift worden?“, wollte April wissen. Mit großen Augen schaute sie in die Runde.

Melanie strich ihr liebevoll übers Haar. „Niemand, das ist nur so eine Redensart.“

Das Mädchen schien allerdings nur halb zuzuhören. Im Moment galt ihre Aufmerksamkeit eher dem übergroßen Cupcake. „Willst du den gar nicht essen?“, fragte sie Mitch. „Ich habe Melody beim Backen geholfen.“

Einerseits wollte er die Kleine nicht verletzen, andererseits aber so schnell wie möglich von hier verschwinden. Plötzlich kam ihm eine Idee. Eine ziemlich clevere, wie er fand. „Weißt du was?“, sagte er. „Wie wär’s, wenn du den Cupcake für mich isst? Du magst doch gern Cupcakes, oder?“

„Ich liebe Cupcakes!“, informierte April ihn und nickte dazu heftig. Dann fixierte sie ihn mit ihren großen Augen. „Du nicht?“

„Ja, doch, klar.“ Erneut griff er nach seiner Arzttasche und vermied es dabei, in Melanies Richtung zu schauen. „Aber ich habe es gerade ziemlich eilig.“

Aprils Blick wurde immer betrübter. „Du hast es immer eilig. Willst du nicht auch mal eine Pause machen?“

Gegen diese Kinderlogik kam er nicht an. Schließlich schaute er doch zu der Frau, die ihm das alles eingebrockt hatte. „Hilf mir doch bitte, aus der Nummer rauszukommen.“

Melanie zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, dafür bin ich selbst viel zu gespannt auf deine Antwort.“ Wie immer lächelte sie ihm zum Abschluss freundlich zu. Und dieses Lächeln zeigte allmählich seine Wirkung: Nach und nach hatte es die Schutzschichten durchdrungen, die er in den letzten Jahren um sich herum aufgebaut hatte. Schließlich seufzte er. „Also gut, dann esse ich jetzt eben ein Stück Cupcake. Aber nur, wenn du den Rest aufisst“, sagte er zu April. „Einverstanden?“

Das Mädchen, das ihm gerade mal bis zum Bauchnabel reichte, strahlte über das ganze Gesicht. „Einverstanden!“

„Rein zufällig habe ich auch ein Messer, Papierteller und Gabeln dabei“, verkündete Melanie und legte alles auf die Untersuchungsliege, als hätte sie es eben erst aus dem Hut gezaubert.

„So ein Zufall aber auch“, murmelte Mitch vor sich hin. Dann bemerkte er, dass April ihn kritisch betrachtete. „Was ist denn?“

„Das machst du ganz schön oft“, bemerkte April vorwurfsvoll.

„Was denn?“

„Mit dir selbst flüstern“, erwiderte das Mädchen. „Keiner kann es hören, nur du.“

Melanies Meinung nach hatte April das hervorragend zusammengefasst. Immer, wenn dem Arzt etwas nicht passte, grummelte er leise vor sich hin. Das hatte auch sie schon oft mitbekommen. „Tja, Kindermund tut Wahrheit kund“, bemerkte sie lachend. Dann halbierte sie den Cupcake und gab je eine Hälfte dem fröhlichen Mädchen und dem miesepetrigen Arzt.

Mitch betrachtete erst die beiden Pappteller, dann schaute er Melanie an. „Und wieso isst du nicht mit?“

„Weil dieser Cupcake zwar groß ist – aber so groß auch wieder nicht.“

„Warum habt ihr dann nicht einfach einen größeren gebacken? So viel aufwendiger wäre das auch nicht gewesen.“

„Dann hätte ich aber noch mehr Personen zu unserer kleinen Feier einladen müssen. Und irgendwie war mir so, als wärst du über so viel Aufmerksamkeit gar nicht glücklich.“

„Hm … Mir war bisher nicht klar, dass du so ein rücksichtsvoller Mensch bist“, bemerkte er.

„Es gibt eine ganze Menge Dinge, die du nicht über mich weißt“, erwiderte Melanie. Dann wandte sie sich zu April um. „Hey, was ist los? Schmeckt dir der Cupcake nicht?“

Das Mädchen hatte ihr den Teller zugeschoben, auf dem immer noch ein Viertel Cupcake übrig war. „Doch, richtig gut sogar.“

„Warum hast du ihn dann nicht aufgegessen?“

„Weil du auch etwas abbekommen sollst.“

Melanie hatte keine Ahnung, warum diese Antwort ihr die Tränen in die Augen schießen ließ. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Das ist wirklich lieb, meine Süße“, hauchte sie und räusperte sich. „Aber weißt du was? Warum bringst du das Stück nicht Jimmy vorbei? Darüber freut sich dein Bruder bestimmt.“

Die Idee schien April zu gefallen. Sie nahm den Pappteller in beide Hände und lächelte Melanie und Mitch breit zu. „Fröhliches Jubel-läum!“, sagte sie noch mal, dann lief sie aus dem Zimmer.

Mitch blickte ihr nach. „Wenn alle so wären wie sie, wäre die Welt viel besser.“

„Da gebe ich dir recht“, seufzte Melanie.

Er lachte auf. „Na, das hatten wir ja noch nie!“

„Das kommt auch so schnell nicht wieder vor“, beschloss sie. Sie stapelte die Pappteller übereinander. „Dann will ich dich mal nicht länger aufhalten …“

„Das hatten wir auch noch nie“, entfuhr es ihm. „Was ist denn bloß los heute?“

Melanie hielt inne und betrachtete ihn eindringlich. „Das hört sich an, als wärst du nicht gern hier.“

„Na ja, es war nicht gerade meine erste Wahl für eine ehrenamtliche Tätigkeit“, informierte er sie.

„Du kannst jammern, wie du willst, Dr. Mitch. Trotzdem wissen wir beide, dass du nicht hier wärst, wenn es dir wirklich nicht passen würde. Es ist ja nicht so, als hätten wir dich an die Heizung gekettet.“

„Ich jammere doch gar nicht!“, protestierte er.

Melanie lächelte bloß. „Erinnere mich bei deinem nächsten Besuch gern daran, ein Diktiergerät mitlaufen zu lassen. Dann kannst du dir danach gern anhören, was du so von dir gibst.“

Welchem Beruf ging diese Frau eigentlich nach, wenn sie nicht gerade hier in der Unterkunft arbeitete? Anwältin?

In diesem Moment wurde Mitch klar, dass er das gar nicht wusste. Überhaupt wusste er bisher sehr wenig über sie. Nicht, dass ihr Leben ihn großartig interessierte, aber manchmal konnte ein bisschen Hintergrundwissen durchaus nützlich sein. „Sag mal … was machst du eigentlich, wenn du nicht gerade hier für eine bessere Welt kämpfst?“

Melanie erstarrte – so wirkte das jedenfalls auf ihn. Dann tat sie jedoch so, als wäre nichts passiert. „Wie meinst du das?“

„Na ja, hier sind doch alle Mitarbeiter ehrenamtlich tätig – abgesehen von der Leiterin. Da habe ich mich gefragt, was dein eigentlicher Beruf ist.“

„Operndiva“, gab sie fröhlich zurück.

„Wusste ich’s doch.“ Schlagartig wurde Mitch wieder ernst. „Aber jetzt mal ohne Witz, was machst du so?“

„Ich räume hier auf“, erwiderte sie knapp und ging mit den Papptellern und sonstigen Utensilien zur Tür. „Und jetzt muss ich schnell weiter.“

4. KAPITEL

Normalerweise erkundigte sich Mitch ausschließlich nach Dingen, die direkt mit der Krankengeschichte seiner Patienten zusammenhingen. Ihr Privatleben interessierte ihn nicht.

Und trotzdem ging er zu seiner eigenen Überraschung nicht gleich zum Auto, sondern fand sich stattdessen vor dem Büro der Leiterin wieder.

„Ja, bitte?“, rief Polly French, nachdem er angeklopft hatte. Dann machte sie auch schon die Tür auf und lächelte ihn freundlich und gleichzeitig fragend an.

„Haben Sie kurz Zeit?“, erkundigte er sich.

„Für Sie doch immer“, erwiderte sie, ging ein Stück zurück und wies ihn an, auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Anschließend setzte sie sich selbst dahinter. „Ist irgendetwas passiert?“

„Es ist alles in Ordnung“, antwortete er.

Nein, gar nichts ist in Ordnung. Melanie hat schon auf mich abgefärbt, und ich frage nach Dingen, die mich eigentlich nicht interessieren sollten.

Mitch zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe nur eine kurze Frage. Aber wenn es gerade nicht passt …“ Er stand wieder auf.

„Doch, keine Sorge, ich habe Zeit“, beruhigte Polly ihn. „Setzen Sie sich doch bitte wieder hin.“ Sie wartete, bis er Platz genommen hatte, dann verschränkte sie die Hände auf der Tischplatte und lehnte sich zu ihm herüber. „Und jetzt sagen Sie mir bitte, was Sie beschäftigt.“

Inzwischen kam er sich ziemlich idiotisch vor.

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich hin wie Kaugummi. Aber statt ihm vorzuschlagen, ein anderes Mal wiederzukommen, versuchte Polly ihn zu ermutigen. „Dr. Stewart, ich verspreche Ihnen, dass alles, was hier gesagt wird, unter uns bleibt.“ Sie senkte die Stimme dabei, als wollte sie damit unterstreichen, dass dieses Gespräch nur für ihre Ohren bestimmt sei. „Sie haben uns und den Müttern und Kindern unendlich viel geholfen … da würden Sie mir jetzt einen Gefallen tun, wenn ich sie auch irgendwie unterstützen könnte.“ Die Frau würde so schnell nicht locker lassen, das spürte er sofort.

Also stellte er ihr die Frage, die ihn schon so lange wurmte: „Ich habe mich bloß gefragt, ob Ms. McAdams neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit noch einen Hauptberuf hat.“

„Als sie hier angefangen hat, hat sie noch als Grundschullehrerin gearbeitet“, erklärte Polly mit Stolz in der Stimme. Lächelnd fügte sie hinzu: „Darum kann sie auch so gut mit den Kindern umgehen.“

Bei seiner Tätigkeit in der Notunterkunft hatte er gelernt, etwas genauer zuzuhören als sonst. „Sie meinten eben, Melanie hätte anfangs noch als Grundschullehrerin gearbeitet. Tut sie das inzwischen nicht mehr?“

„Nein, sie hat sich freistellen lassen, nachdem …“ Polly brach ab und machte keine Anstalten weiterzusprechen.

Das weckte erst recht Mitchs Interesse – vor einem Monat hätte er so etwas nicht für möglich gehalten. „Nachdem was passiert ist?“, griff er den Satz auf.

Polly seufzte. „Na ja, eigentlich ist es ja kein Geheimnis. Bestimmt erzählt Melanie Ihnen die Geschichte selbst irgendwann, wenn sie dazu bereit ist …“

„Ja?“, hakte er nach und bemühte sich dabei, einigermaßen gelassen zu klingen. Natürlich war er das überhaupt nicht. Warum hatten die meisten Frauen bloß diese schreckliche Angewohnheit, alles unendlich in die Länge zu ziehen?

„Melanies Verlobter Jeremy war bei der Army und ist bei einem Kampfeinsatz im Ausland ums Leben gekommen“, erzählte Polly schließlich. „Vier Tage bevor er zu ihr in die USA zurückfliegen und sie heiraten wollte. Das hat sie sehr schwer getroffen. Sie fand, dass sie nicht in der richtigen Verfassung war, weiter Schüler in einem so wichtigen Alter zu unterrichten. Hier in der Unterkunft hat sie einen eher ungezwungenen Kontakt zu den Kindern, das ist gerade besser für sie.“

Polly lächelte traurig, dann fuhr sie fort: „Alle unsere Schützlinge lieben sie, und ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie machen sollte. Als sie mir vorgeschlagen hat, hier in Vollzeit ehrenamtlich zu arbeiten, habe ich aus reiner Eigennützigkeit gar nicht erst versucht, ihr das auszureden. Beantwortet das Ihre Frage?“

„Ja.“ Mitch stand auf. „Auf jeden Fall. Vielen Dank für Ihre Zeit.“

„Das kann ich nur zurückgeben!“, rief Polly ihm hinterher, als er zur Tür hinausging.

5. KAPITEL

„Na, Mitch, dann erzähl doch mal, wie dir deine ehrenamtliche Arbeit gefällt“, forderte Charlotte ihren Sohn auf. Über einen Monat war es inzwischen her, dass sie ihn überredet hatte, die Notunterkunft zu unterstützen, von der Maizie ihr erzählt hatte. Jetzt sahen sie sich zum ersten Mal wieder. In einem Restaurant in der Nähe des Krankenhauses Bedford Memorial, um zusammen zu essen.

Zunächst reagierte Mitch auf ihre Frage nicht, also versuchte sie es noch einmal. Wenn sie ihrem Sohn eine wichtige Information entlocken wollte, musste sie erfahrungsgemäß geschickt vorgehen und geduldig sein.

Vor allem Letzteres war der entscheidende Punkt.

„Wie gefällt es dir?“, wiederholte sie und bemühte sich dabei, ihre Ungeduld zu verbergen.

Mitch löste den Blick von seinem Steak – als hätte er gerade erst mitbekommen, dass seine Mutter mit ihm sprach. „Wie gefällt mir was?“ Offenbar hatte er keine Ahnung, wovon sie gerade redete. „Meinst du das Steak?“, fragte er und wies auf seinen Teller, den er inzwischen fast leer gegessen hatte.

„Nein, mein Schatz, ich meinte deine ehrenamtliche Tätigkeit im Obdachlosenheim“, erklärte Charlotte geduldig, dann wiederholte sie ihre Frage: „Wie gefällt es dir dort?“

Sie war wirklich gespannt, wie er auf diesen für ihn neuen Bereich reagierte. Vor allem aber war sie auf seine Reaktion auf die junge Frau gespannt, die dort arbeitete und von der Maizie ihr erzählt hatte. Deren Freundin Theresa, die ebenfalls für die Einrichtung tätig war, hatte Maizie diesen Hinweis gegeben.

Gleichzeitig vermied Charlotte Stewart es, wo sie konnte, ihren Sohn mit ihrer Neugierde zu sehr zu bedrängen. Sie wollte keine von diesen Müttern sein, deren Kinder schon zusammenzuckten, wenn sie nur ihre Stimme hörten oder ihre Nummer auf dem Telefondisplay entdeckten. Also durfte sie sich nicht zu sehr in sein Privatleben einmischen.

Andererseits wiederum schien Mitch gar kein Privatleben zu haben, in das sie sich einmischen konnte, weil er sich offenbar nur für seine Arbeit interessierte.

Natürlich konnte sie sich glücklich schätzen, so einen intelligenten, erfolgreichen Sohn zu haben, der ganz in seinem Beruf aufging. Und trotzdem wünschte sie sich mehr – nicht so sehr für sich, als vielmehr für ihn. Sie wünschte ihm so sehr jemanden an seiner Seite. Jemanden, mit dem er lachen und reden oder einfach nur zusammen sein konnte. Doch aus eigenen Stücken würde er diese Person nie kennenlernen …

Mitch, der ihre Frage nach der Obdachlosenunterkunft immer noch nicht beantwortet hatte, zuckte jetzt mit den Schultern. „Ach, es ist frustrierend“, gestand er.

„Und warum?“ Das war mal wieder typisch für ihn: Alles musste man ihm aus der Nase ziehen!

„Weil viele dieser Kinder nicht mal die grundlegendsten Impfungen haben. Dabei leben wir hier doch nicht hinterm Mond, und es gibt genug Kliniken, die kostenlose Impfungen für bedürftige Menschen anbieten“, erwiderte er aufgebracht. Dann hielt er kurz inne und sprach etwas ruhiger weiter: „Ich finde, dass diese Mütter sich besser informieren sollten.“

Charlotte lächelte leise vor sich hin. Selbst wenn Mitch sich noch nicht mit der jungen Frau dort auseinandergesetzt hatte – seine Aufgaben in der Unterkunft schienen ihn nicht völlig kalt zu lassen. Aus ihrer Sicht war das schon mal ein erster, wichtiger Schritt.

„Manchmal rutschen Menschen eben durch das soziale Netz. Genau darum habe ich ja angeregt, dass du in der Unterkunft aushilfst“, informierte sie ihren Sohn. „Wenn du dort nur einem Menschen hilfst, einfach um etwas Gutes zu tun, dann kann ich beruhigt sein, dass ich meine Aufgabe als Mutter erfüllt habe.“

Inzwischen hatte Mitch sein Steak aufgegessen. Er legte Messer und Gabel neben den Teller und betrachtete Charlotte schweigend. „Das klingt so, als würdest du dich von mir verabschieden.“

Sie lächelte ihren Sohn an. „Das habe ich noch lange nicht vor, aber wir wissen alle nicht, wie viel Zeit uns noch auf dieser Erde bleibt. Dein Vater ist davon ausgegangen, dass er praktisch für immer leben würde, aber dann ist es doch anders gekommen“, fügte sie traurig hinzu. „Und mir ist es wichtig, dass du weißt, wie es sich anfühlt, für anderen Menschen da zu sein … je früher, desto besser.“

„Wo kommt denn das Thema auf einmal her, Mom?“

„Von Herzen“, erwiderte sie, ohne zu zögern. „Und ich hatte mir gewünscht, dass du deins auch spürst – dein Herz, meine ich. In letzter Zeit hast du dich so oft zurückgezogen und warst so distanziert.“

„Ich hatte eben viel zu tun“, erklärte Mitch.

„Das weiß ich“, bemühte sich Charlotte mit sanfter Stimme zu erwidern. „Aber mir ist wichtig, dass du weiterhin einen guten Draht zu ganz normalen Menschen hast.“

„Ach, Mom … Ich hatte doch noch nie einen guten Draht zu ganz normalen Menschen.“

„Dann ist es höchste Zeit, dass du ihn entwickelst.“ Ihr war sofort klar, dass sie sich auf unbekanntes Terrain begab mit diesen Worten. Auf keinen Fall wollte sie ihn damit nerven, am Ende gab er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Unterkunft noch auf!

Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die er ihr vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. „Okay“, sagte sie laut und legte die Gabel neben ihre leere Salatschüssel. „Jetzt habe ich dich lange genug aufgehalten, wahrscheinlich musst du schnell wieder ins Krankenhaus.“

Sie zahlte die Rechnung, dann gingen sie gemeinsam zum Ausgang. „Das war ein wirklich schönes Treffen“, verkündete sie und sah ihren Sohn an. „Das können wir gern bald wiederholen.“

„Klar.“ Mitch küsste sie auf den Kopf. „Bloß die Sache mit dem Verhör darfst du nächstes Mal gern weglassen.“

Charlotte blieb stehen. „Welches Verhör denn?“, erkundigte sie sich und setzte eine Unschuldsmiene auf.

Er lachte. „An deiner Schauspielerei musst du aber noch mal arbeiten, Mom“, sagte er. „Das überzeugt mich gerade überhaupt nicht.“

„Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst.“

„Warum tust du das eigentlich?“ Diese Frage stellte Mitch Melanie zwei Tage später. Vor fünf Stunden war er bei der Notunterkunft eingetroffen, seitdem hatte er eine Patientin nach der anderen und ein Kind nach dem nächsten untersucht.

Seit Kurzem gab es hier mehrere neue Bewohner, darunter auch zwei kleine Jungen mit ihrer Mutter. Und noch nie hatte Mitch so einen schlimmen Fall von Kopfläusen gesehen oder auch nur davon gelesen. Also mussten erst mal alle Bewohner vorsorglich gegen Läuse behandelt werden, selbst diejenigen, bei denen gar nichts zu sehen war und die entsprechend deutlich protestierten.

Als sie mit den Behandlungen so gut wie durch waren, verschwand Melanie auch noch plötzlich aus dem Zimmer. Mitch ging davon aus, dass sie eine Pause brauchte, sich vielleicht sogar kurz hinlegen wollte. Genau das hätte er nämlich auch zu gern getan.

Umso erstaunter war er, als sie wenige Minuten später mit zwei Tassen Kaffee zurückkam, und ihm dann eine davon überreichte.

Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, kehrten langsam seine Lebensgeister zurück. Nach einem weiteren Schluck betrachtete er Melanie nachdenklich, die inzwischen neben ihm auf der Untersuchungsliege Platz genommen hatte und ebenfalls aus ihrer Tasse trank. Und dann hatte er ihr die Frage gestellt: „Warum tust du das eigentlich?“

Wahrscheinlich war er durch das Treffen mit seiner Mutter erst auf diese einfache Frage gekommen. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sie sich nicht so leicht beantworten ließ.

Melanie blickte ihn verwirrt an. „Wie bitte?“

„Warum tust du das?“, wiederholte er. „Warum kommst du jeden Tag hierher und kümmerst dich um die Menschen hier?“

Das alles war bestimmt ganz schön anstrengend … und sie wurde nicht mal dafür bezahlt.

„Also, die kurze, einfache Antwort darauf lautet, dass es irgendjemand ja tun muss.“

„Okay, das leuchtet mir ein. Aber wie lautet die längere, etwas kompliziertere Antwort?“, wollte Mitch wissen. „Willst du damit vielleicht Buße tun?“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Buße?“, wiederholte sie.

„Ganz genau.“ Je länger er darüber nachdachte, desto plausibler kam ihm diese Erklärung vor. „So nach dem Motto: Ich fühle mich schuldig, weil ich es so viel leichter im Leben habe als die Bewohner hier, also muss ich etwas tun, um dieses Schuldgefühl zu lindern.“

Melanie schaute ihn an, als hätte er aus ihrer Sicht den Verstand verloren. „Ich fühle mich aber nicht schuldig“, protestierte sie. „Ich habe Mitgefühl mit den Menschen.“ Sie atmete tief durch und sprach dann etwas ruhiger weiter: „Gut, ich kann für meinen Lebensunterhalt aufkommen, zumindest im Moment noch … aber bei meiner Arbeit hier geht es mir darum, den Leuten zu vermitteln, dass es immer noch Hoffnung gibt. Dass sie niemals aufgeben sollen.“

Sie sah ihm ins Gesicht. „Bist du denn hier, weil du Schuldgefühle hast und etwas wiedergutmachen willst?“

Mit dieser Rückfrage hätte er eigentlich rechnen müssen. „Ich bin nur hier, um meine Mutter glücklich zu machen.“

Melanie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist doch bloß eine faule Ausrede. Wie ein Muttersöhnchen kommst du mir nicht gerade vor.“

„Also gut“, sagte er. Jetzt hatte sie seine Neugierde geweckt. „Wenn du mich dermaßen durchschaust, dann erzähl mir doch mal, warum ich wirklich hier bin.“

„Aus dem gleichen Grund wie ich“, gab sie zurück. „Du gibst es bloß nicht zu, weil du befürchtest, damit dein Selbstbild zu zerstören.“ Sie zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck Kaffee. „Vielleicht würde dich das in deinen Augen zu menschlich machen … während du dich aus irgendwelchen Gründen lieber als gefühllosen distanzierten Roboter sehen würdest und auch andere davon überzeugen willst, dass du so bist.“ Sie suchte und fand seinen Blick. „Dabei bist du das gar nicht.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

Ihre Mundwinkel zuckten, und ihm war, als versuchte sie ein Lächeln zu unterdrücken. „Ach, ich spüre so etwas einfach.“

Mitch lachte kurz auf, dann schüttelte er den Kopf. „Wenn du meinst …“ Eigentlich hatte er das Thema damit beenden wollen. Stattdessen passierte etwas ganz anderes. Etwas, womit er nie im Leben gerechnet hätte.

6. KAPITEL

Eben noch hatte Mitch sich darüber amüsiert, dass Melanie einfach naiv davon ausging, ihn besser zu kennen als er sich selbst. Dann hatte er sich im selben Moment zu ihr umgedreht, in dem auch sie sich ihm zugewandt hatte.

Und jetzt saßen sie nebeneinander, ihre Gesichter waren gerade mal einen Zentimeter voneinander entfernt. So dicht, dass er die Luft einatmete, die Melanie gerade ausgeatmet hatte.

So dicht, dass sich ihre Lippen beinahe berührten.

Und dann berührten sie sich wirklich.

Auf einmal gab es nur noch sie beide. Für kein Geld der Welt hätte Mitch sagen können, wie es dazu gekommen war – ob er oder sie schließlich diese winzige Entfernung überwunden hatte.

Er wusste nur, dass es plötzlich keinen Abstand mehr zwischen ihnen gab. Auf einmal küsste er Melanie, und sie küsste ihn zurück.

Nachdem er den Schreck darüber einigermaßen überwunden hatte, erlebte er eine noch viel größere Überraschung: Er genoss es so sehr, sie zu küssen, dass er gar nicht mehr damit aufhören wollte. Im Gegenteil, er wollte ihr immer näher kommen, wollte sie spüren, am ganzen Körper.

Was war bloß auf einmal los mit ihm? Hatte sie ihm etwas in den Kaffee getan? Oder lag es daran, dass er inzwischen völlig einsam und verzweifelt war?

Alarmstufe rot! Alarmstufe rot!

Jetzt waren dringend Notfallmaßnahmen erforderlich. Er musste sich sofort zurückziehen, sonst würde er es noch bereuen.

Sofort.

Er legte die Hände auf Melanies schmale Schultern und war überrascht, wie zart sie sich anfühlte. Dann schob er sie widerwillig immer weiter von sich – so schwer ihm das auch fiel.

Er hätte schwören können, dass er sie immer noch auf seinen Lippen schmeckte. Blaubeeren, sie schmeckte nach Blaubeeren … was völlig absurd war, zumal sie doch gerade Kaffee getrunken hatte, genau wie er.

Das ergab einfach keinen Sinn, überhaupt nichts ergab irgendeinen Sinn.

„Vielen Dank für den Kaffee“, murmelte er und ließ die Tasse auf der Untersuchungsliege stehen. Dann räusperte er sich. „Vielleicht trinken wir ihn beim nächsten Mal nicht ganz so stark.“

„Ja, vielleicht wäre das besser“, sagte Melanie. Vielleicht hatte sie sich ihre Antwort aber auch nur eingebildet. Immer noch war sie völlig überwältigt und benommen von dem, was gerade zwischen ihnen passiert war.

Mitch hat mich geküsst, dachte sie.

Einfach so, ganz unvermittelt.

Dabei hätte sie ihr gesamtes Vermögen – das gar kein Vermögen war – darauf verwettet, dass so etwas absolut jenseits seiner Vorstellungskraft war. Und jetzt hatte er es einfach getan.

Und sie selbst? Sie hatte mitgemacht, was war bloß in sie gefahren? Als stünde plötzlich der Weltuntergang bevor, und sie hätten alle nur noch fünf Minuten zu leben. Eine andere Erklärung konnte es für ihr Verhalten eigentlich nicht geben.

Jetzt nimm dich mal zusammen, ermahnte sie sich. Mach nicht so ein Riesentheater, das war doch nur ein Kuss. Andere Leute küssen sich ständig.

Aber was für andere Leute galt, galt noch lange nicht für sie, Melanie.

Abgesehen von Jeremy hatte sie noch nie einen Mann geküsst. Er war für sie der Eine gewesen … Und jetzt, wo er nicht mehr am Leben war, hatte sie ihr Interesse an Männern verloren.

Ach, wirklich? Und wer hat gerade Doktor Traummann geküsst?

Mitch hatte inzwischen das Zimmer verlassen, aber sie selbst saß immer noch da und konnte sich nicht bewegen. Dabei hatte der Mann sie bloß geküsst, nicht am Gehirn operiert.

Los, steh auf und erledige deine Arbeit. Das Leben geht weiter!

Aber im Grunde war genau das das Problem: Das Leben ging weiter, obwohl sie die Liebe ihres Lebens vor zehn Monaten für immer verloren hatte.

Melanie richtete sich auf und rutschte von der Untersuchungsliege. Sie prüfte kurz, ob ihre Beine sie überhaupt trugen, dann ging sie aus dem Zimmer.

Auf dem Flur kam sie am Speisesaal vorbei, der Mitch nach wie vor als Wartezimmer diente. In diesem Moment hörte sie seine Stimme. „Melanie, ich brauche dich!“

Sie erstarrte.

Hatte sie das etwa richtig gehört?

Der Dr. Mitchell Stewart, den sie vor einigen Wochen kennengelernt hatte, hätte diese Worte nie im Leben von sich gegeben, schon gar nicht ihr gegenüber.

Andererseits hätte sie auch nicht für möglich gehalten, dass eben dieser Dr. Mitchell Stewart sie so heiß und voller Verlangen küsste …

Und weil sie ihn nicht einfach ignorieren konnte, wandte sich Melanie zum Speisesaal um, während ihr Herz wie wild hämmerte. „Wie bitte?“, brachte sie heiser hervor.

„Ich muss noch Mrs. Sanchez und Ms. Ames untersuchen“, gab er ihr nüchtern zu verstehen und wies mit dem Kopf auf die beiden Frauen an seiner Seite. „Dabei muss eine weitere Frau anwesend sein. So sind die Regeln hier“, fügte er hinzu und wirkte alles andere als glücklich darüber – so ähnlich wie sie selbst. „Erinnerst du dich?“

„Oh.“ Wie hatte sie bloß so dumm sein können? Natürlich hatte er ihr damit nicht sagen wollen, dass er sie als Frau an seiner Seite brauchte, sondern eben einfach als Assistentin für eine Untersuchung. „Ja. Ja, natürlich“, erwiderte sie steif und kam sich dabei unendlich dämlich vor. „Von mir aus kann es sofort losgehen, Herr Doktor.“

„Ist alles in Ordnung, Melanie?“, fragte Theresa und sah sie besorgt an.

Die ältere Frau war ihr aus dem Speisesaal entgegengekommen, als sie mit den Untersuchungen für den Tag fertig gewesen waren, und hatte Melanies Versuch, ihr auszuweichen, einfach ignoriert.

„Mir geht es gut, ja“, erwiderte Melanie schnell, während sie fieberhaft einen Grund suchte, weiterzugehen.

Doch Theresa nutzte die kurze Stille, trat näher an Melanie heran und streckte ihre Hand aus, um ihre Stirn zu fühlen. „Also auf mich machst du den Eindruck, als hättest du Fieber.“

Mehr als eine Stunde war seit dem Kuss vergangen, und Melanies Herz hatte sich noch immer nicht wieder beruhigt. Mitch mochte zwar heilende Hände haben, gleichzeitig waren seine Lippen aber definitiv mit Vorsicht zu genießen.

„Ich muss einfach zu viel rumgerannt sein“, versuchte sich Melanie herauszureden und ging um Theresa herum.

Doch die Köchin ließ sich nicht so einfach abschütteln. „Bist du dir sicher? Mit all den Kindern hier kann man sich schneller etwas einfangen, als man denkt.“

„Ganz sicher, aber danke.“ Melanie wollte es auf jeden Fall vermeiden, irgendwem von dem zu erzählen, was zwischen ihr und Mitch geschehen war. Der forschende Blick der älteren Frau war das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte.

„Dr. Mitch kann doch sicher einen Check-up machen, nur um sicherzugehen“, schlug Theresa da vor.

Melanie blieb abrupt stehen und konnte ihre heftige Reaktion nicht zurückhalten: „Nein, bloß nicht!“ Sie räusperte sich und ruderte zurück. „Ich meine, er hat bestimmt Besseres zu tun, als seine Zeit mit mir zu verschwenden.“

Melanie lächelte Theresa schwach an und hoffte, sie dadurch loszuwerden. Doch Theresa nahm nur ihre Hand und zog sie etwas zur Seite. „Was liegt dir auf dem Herzen, Melanie?“

„Nichts, alles ist bestens“, beharrte Melanie und drückte Theresas Hand. Umsonst versuchte sie, Theresas prüfendem Blick auszuweichen. Es schien fast, als könnte Theresa ihre Gedanken lesen. „Du siehst aus wie ein Kaninchen, das vor der Schlange steht. Was ist passiert?“

Ertappt seufzte Melanie und versuchte die richtigen Worte zu finden. Schließlich mochte sie die Frau und wollte sie nicht mit weiteren Versuchen, zu lügen, vor den Kopf stoßen.

„Ich … wir … Also, er hat mich geküsst“, brachte sie endlich heraus.

„Er?“

„Dr. Mitch“, stieß Melanie hervor und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Ach, der“, sagte Theresa und lächelte wissend. „War der Kuss so schlecht, Liebes?“

„Nein, eben nicht“, sagte sie.

„Warum guckst du denn dann so traurig?“

Autor

Marie Ferrarella
<p>Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...
Mehr erfahren
Cindy Kirk
Solange sie denken kann, liebt Cindy Kirk das Lesen. Schon als kleines Mädchen in der ersten Klasse hat sie einen Preis dafür gewonnen, hundert Bücher gelesen zu haben! 1999 war es so weit: Ihr erster eigener Roman erschien bei Harlequin. Seitdem muss die Autorin ihr Lieblingshobby Lesen damit unter einen...
Mehr erfahren
Teresa Southwick
Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
Mehr erfahren
Christy Jeffries
<p>Christy Jeffries hat einen Abschluss der University of California in Irvine und der California Western School of Law. Das Pflegen von Gerichtsakten und die Arbeit als Gesetzeshüterin haben sich als perfekte Vorbereitung auf ihre Karriere als Autorin und Mutter erwiesen. Mit zwei Energiebündeln von Söhnen, der eigenwilligen Großmutter und einem...
Mehr erfahren