Bianca Extra Band 80

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STADT, LAND, MILLIONÄR von ROCHELLE ALERS
In Wickham Falls ist Jessica zu Hause, nie würde sie aus dem idyllischen Städtchen wegziehen! Was ihre neue aufregende Beziehung mit dem gut aussehenden Sawyer in Gefahr bringt. Denn der IT-Millionär ist nur einen Sommer lang hier. Danach will er zurück nach New York City …

WENN DU GEHST, BIN ICH VERLOREN von STELLA BAGWELL
Tessa ist fassungslos. Ein Fremder hat ihr seine Ranch vererbt! Als sie sich das Anwesen anschaut, geschieht etwas Seltsames. Sie fühlt sich magisch mit diesem Ort verbunden. Und dann ist da ihr neuer Nachbar Joseph Hollister: sehr misstrauisch - aber unwiderstehlich attraktiv!

EIN HOCHZEITSKLEID FÜR ROSEMARY von WENDY WARREN
Er ist smart, reich und charmant: Dean Kingsley ist der begehrteste Junggeselle in ganz Honeyford. Alle Single-Frauen wollen ihn heiraten - außer der Bibliothekarin Rosemary. Doch eine impulsive Nacht mit Dean verändert alles. Sollte ihr Baby nicht einen Daddy haben?

ZWEI WIE MOND UND SONNE von MELISSA SENATE
Von der leichtlebigen Barkellnerin zur eleganten jungen Dame: Entschlossen bucht Ginger einen Kurs in einer Benimmschule. Wo sie sich Hals über Kopf in den korrekten Lehrer James verliebt! Er kennt die Spielregeln der Gesellschaft. Aber auch Ginger kann ihm einiges beibringen …


  • Erscheinungstag 11.02.2020
  • Bandnummer 80
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748067
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rochelle Alers, Stella Bagwell, Wendy Warren, Melissa Senate

BIANCA EXTRA BAND 80

ROCHELLE ALERS

Stadt, Land, Millionär

Sein Vater ist krank – sofort fliegt Sawyer von New York City ins verschlafene Wickham Falls. Wo er seiner Traumfrau begegnet! Jessica hat nur einen Fehler: Nie würde sie in sein geliebtes NYC ziehen …

STELLA BAGWELL

Wenn du gehst, bin ich verloren

Warum hat sein Nachbar einer Fremden seine Ranch vermacht? Joseph steht vor einem Rätsel – und einem Riesenproblem. Denn wenn Tessa, die ihn so verzaubert, das Erbe verkauft und weggeht, ist er verloren …

WENDY WARREN

Ein Hochzeitskleid für Rosemary

Zugegeben, sie haben nur eine Nacht miteinander verbracht. Aber Dean muss dringend heiraten, so will es das Testament seines Vaters. Ein Ja von Rosemary wäre die perfekte Lösung! Warum sagt sie Nein?

MELISSA SENATE

Zwei wie Mond und Sonne

Noch einen Kurs wird er in der Benimmschule geben, dann will James endlich ungebunden reisen. Doch ausgerechnet seine neue Schülerin Ginger fasziniert ihn mehr als jedes Abenteuer in der Fremde …

1. KAPITEL

„Wer will den Börsengang bis zum Herbst verschieben?“, fragte Elena.

Zwei der drei Softwareingenieure am Tisch hoben die Hand, darunter auch Sawyer Middleton.

Damit hatte sich das Thema vorerst erledigt, denn sie brauchten eine Stimmenmehrheit, um eine börsennotierte Firma werden zu können. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, hätte Sawyer sich schon einmal innerlich darauf vorbereitet, seinen Anteil an ihrer Internetfirma zu verkaufen.

Er trank einen Schluck aus seinem großen Kaffeebecher. Das Meeting hatte heute Morgen um sechs begonnen und dauerte inzwischen fast vier Stunden. Er hätte dringend eine Pause nötig, wusste jedoch, dass die anderen das Meeting durchziehen wollten. Sie wollten noch klären, ob alle bis zum Tag der Arbeit eine bezahlte Auszeit nehmen würden oder nicht.

Die sechzehn Angestellten der Softwarefirma betrachteten sich als erweiterte Familie und verbrachten mehr Zeit miteinander als mit ihren eigenen Familienangehörigen. Für Sawyer waren Siebzigstundenwochen normal, seitdem er keine Freundin mehr hatte.

Als sein Handy vibrierte, warf er einen Blick auf das Display und erblickte den Namen seiner Schwester. Stirnrunzelnd stand er auf. „Sorry, Leute, aber ich muss da rangehen.“ Während er das Zimmer verließ, fragte er leise: „Was ist los, Rachel?“

„Dad hatte letzte Nacht einen Herzinfarkt. Ich bin gerade bei ihm im Krankenhaus.“

Sawyer keuchte erschrocken auf. „Wie geht es ihm?“

„Die OP ist gut verlaufen. Er hatte zwei verstopfte Arterien. Im Moment liegt er noch auf der Intensivstation.“

Obwohl Sawyer und Henry Middleton wie Hund und Katze waren, beschloss er sofort hinzufahren – wenn schon nicht seinem Vater zuliebe, dann zumindest wegen seiner Mutter und Schwester. „Wie geht es Mom und den Jungs?“

„Mom ist ziemlich durch den Wind. Colin und Dylan sind gerade mit den Pfadfindern zelten und kommen erst heute Abend zurück. Sie wissen also noch nichts, und das soll auch so bleiben, bis sie wieder zu Hause sind. Wir wollen ihnen den Ausflug nicht verderben.“

„Ich komme, sobald ich einen Flug kriege.“

„Schreib mir eine Nachricht, wenn du beim Krankenhaus ankommst. Danke, Sawyer.“

„Keine Ursache. Dad und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, aber er ist immer noch mein Vater.“ Sawyer beendete das Telefonat und kehrte in den Konferenzraum zurück. „Ich muss nach Hause, mein Vater hatte einen Herzinfarkt. Keine Ahnung, wann ich wieder hier bin.“

Thom stand auf. „Mach dir keine Gedanken deswegen, Saw. Wir haben den Börsengang ohnehin verschoben und nehmen uns alle ab Monatsende frei. Tut mir leid, dass dein Urlaub ausgerechnet mit einem Krankheitsfall in der Familie starten muss.“

Die beiden Männer klopften ihm tröstend den Rücken. Elena küsste ihn auf eine Wange. „Geh nach Hause und pack deine Sachen. Ich rufe im Reisebüro an und bitte Shirley, dir einen Flug und einen Mietwagen zu buchen. Sie wird dich auf deinem Handy benachrichtigen, sobald sie die Abflugzeiten hat.“

Sawyer nickte. „Danke, Elena.“

„Halt uns auf dem Laufenden“, sagte Darius.

Sawyer lächelte gezwungen. „Mach ich.“

Anderthalb Stunden später ging Sawyer in New Jersey als einer von sechs Passagieren an Bord eines Privatjets. Die erste Zwischenlandung würde Charleston in West Virginia sein, wo Sawyer in einen Mietwagen steigen und nach Wickham Falls fahren würde.

Eine Flugbegleiterin brachte ihn zu seinem Sitzplatz. „Sobald wir die richtige Flughöhe erreicht haben, werden wir das Mittagessen servieren. Sie finden die Speisekarte in der Tasche an der Rückenlehne vor sich.“

Sawyer lächelte höflich. „Danke, aber ich will nichts essen.“

Er hatte Schlaf dringender nötig als Essen. Inzwischen war es über drei Jahre her, dass er zuletzt in Wickham Falls gewesen war. Als er das Haus verlassen hatte, in dem er aufgewachsen war, hatte sein Vater ihm verboten, je wieder einen Fuß über die Schwelle zu setzen, und Sawyer hatte sich daran gehalten. Trotzdem fühlte er sich manchmal schuldig und warf sich vor, seine Mutter, seine Schwester und seine beiden Neffen im Stich gelassen zu haben.

Er schloss die Augen, als der Jet über die Startbahn raste, und schlug sie erst wieder auf, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. Danach stellte er seine Rückenlehne zurück und schlief ein. Als der Pilot die Flugbegleiter anwies, alles für die Landung vorzubereiten, kam es ihm so vor, als wären sie gerade erst gestartet. Sanft setzte der Flieger auf einer Landebahn in Charleston auf, wo ein Chauffeur Sawyer abholte und ihn zum Mietwagenverleiher brachte.

Es war Mitte Mai – Sawyers Lieblingsjahreszeit in West Virginia. Alles grünte und blühte, und es war schon warm genug, um ein kurzärmeliges Hemd zu tragen. Er verstaute sein Gepäck in seinem gemieteten Jeep und fuhr gen Süden nach Wickham Falls. Der vertraute Anblick der Berge versetzte ihn zurück in seine Kindheit, in der er oft im See gebadet und geangelt hatte und Indianerpfade zu erkunden wusste.

Sawyer war froh über jeden Tag gewesen, an dem sein Vater auf See war, egal, ob bei Regen oder Sonnenschein. Dann summte seine Mutter bei der Hausarbeit nämlich immer fröhlich vor sich hin, das Haus war von Kuchenduft erfüllt, und seine jüngere Schwester und deren Freundinnen kicherten unbefangen über jede Kleinigkeit. Doch kaum war Henry Middleton nach Hause zurückgekehrt, zerplatzte diese Stimmung.

Eine Stunde später bog Sawyer auf den Besucherparkplatz des Johnson County Medical Centers und benachrichtigte Rachel, dass er angekommen war. Sie schrieb zurück, dass sie sich gerade im Schwesternzimmer befand und ihn an der Rezeption abholen würde.

Als Sawyer den Eingangsbereich betrat und seine Schwester sah, verstärkten sich sofort seine Schuldgefühle. Rachel war noch schmaler als bei ihrer letzten Begegnung, und sie hatte es sich schon damals nicht leisten können abzunehmen. Sie versank also förmlich in ihrem rosafarbenen Anzug. Als sie näher kam, sah er die dunklen Schatten unter ihren blaugrauen Augen. Offensichtlich arbeitete sie zu viel und schlief zu wenig.

Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf das dunkelrote Haar. „Hey, kleine Schwester.“

„Ich hätte nicht vor heute Abend mit dir gerechnet!“, sagte Rachel Phelan lächelnd.

„Ja, ich hatte das Glück, schon vorher einen Flieger zu bekommen.“

Rachel machte sich von Sawyer los und musterte ihn eingehend. „Es ist zwar gerade keine Besuchszeit, aber ich kann dich trotzdem zu ihm bringen. Er nimmt allerdings noch Schmerzmittel.“

„Ich besuche ihn, sobald er aufwacht.“

Rachel runzelte die Stirn. „Warum kannst du ihm nicht einfach verzeihen, dich rausgeworfen zu haben?“

„Es geht nicht ums Verzeihen. Er ist, wer er ist, und ich bin, wie ich bin. Ich werde bleiben, bis Dad entlassen wird, und dann kehre ich nach New York zurück.“

„Das kann noch Wochen dauern. Kannst du es dir denn leisten, so lange von deiner Firma wegzubleiben?“

Er legte eine Hand auf den Rücken seiner Schwester und führte Rachel Richtung Ausgang zum Jeep. „Hast du schon vergessen, dass ich mein eigener Chef bin?“

Rachel schüttelte den Kopf. „Mein Wagen steht auf dem Angestelltenparkplatz. Ich habe heute eine Doppelschicht, weil die Kinderkrankenschwester einen Notfall in der Familie hatte.“

„Lass dein Auto stehen. Ich bringe dich rechtzeitig zu deiner nächsten Schicht zurück. Du siehst total erschöpft aus. Wann hast du eigentlich das letzte Mal acht Stunden am Stück geschlafen?“

„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, um ehrlich zu sein. Wenn ich morgens nach Hause komme, bringe ich erst einmal die Jungs zur Schule, bevor ich ins Bett gehe, aber oft kann ich nicht einschlafen, weil Mom und Dad sich wegen irgendwelcher Nichtigkeiten streiten.“

Sawyer half Rachel auf den Beifahrersitz und streifte sein Jackett ab. „Willst du nicht endlich dort weg?“

„Nein, ich will nicht nach New York.“

„Ich rede gar nicht von New York. Ich könnte dir helfen, hier in der Gegend ein Haus zu kaufen.“

Rachel wartete, bis Sawyer um den Jeep herumgegangen war und sich hinters Steuer gesetzt hatte. „Nein, ich will mir nicht noch mehr Geld von dir leihen.“ Sie war nach ihrer Scheidung aus ihrem Mietshaus ausgezogen und wieder bei ihren Eltern eingezogen, um finanziell einigermaßen über die Runden kommen zu können.

Sawyer startete den Motor und legte den ersten Gang ein. „Ich habe das Glück, eine Menge Geld zu verdienen. Warum sollte ich meiner Schwester und meinen Neffen nicht unter die Arme greifen? Außerdem habe ich dir schon einmal gesagt, dass du mir das Geld nicht zurückzuzahlen brauchst.“

„Ich bin nicht dein Wohltätigkeitsprojekt, Sawyer!“

Er presste die Lippen zusammen und erzählte ihr mit keinem Sterbenswörtchen, dass er Bankkonten auf die Namen ihrer Söhne eingerichtet hatte, weil er nicht wollte, dass ihr Ex womöglich noch ganz damit aufhörte, Kindesunterhalt zu zahlen. Sawyer nagte nicht gerade am Hungertuch. Das viergeschossige Fabrikgebäude gegenüber von Enigma4For4 war seine bisher größte Ausgabe gewesen. Er bewohnte die oberen zwei Stockwerke und vermietete den ersten Stock und das Erdgeschoss an eine Kunstgalerie und ein Architekturbüro.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Rachel ihn neugierig musterte. „Was ist?“

„Hast du eine Freundin?“

Er schüttelte den Kopf.

„Was ist aus dem Mädchen geworden, mit dem du länger als nur zwei Monate zusammen warst?“

Er verzog das Gesicht. „Wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt.“

„Was ist passiert?“

Sawyers Griff festigte sich um das Lenkrad. „Sie wollte ein Baby, und ich habe ihr gesagt, dass ich noch nicht bereit dazu bin, Vater zu werden.“

„Und wann bist du bereit? Mit vierzig? Fünfzig?“

„Sehr witzig!“

„Das ist kein Spaß. Du bist dreiunddreißig und mehr denn je davon entfernt, eine Familie zu gründen. Magst du Frauen überhaupt, abgesehen davon, dass du gern mit ihnen schläfst?“

„Ich kann dir versichern, dass ich Frauen sogar sehr mag! Nur nicht die, die mich zu etwas zwingen, wozu ich noch nicht bereit bin.“

„Willst du damit sagen, du würdest eine Frau, die das nicht tut, sofort heiraten?“

„Nicht unbedingt, ich müsste sie schon auch lieben.“

„Dann besteht also tatsächlich die Möglichkeit, dass du mich eines Tages zur Tante machst?“, fragte Rachel lächelnd.

Er erwiderte ihr Lächeln. „Wer weiß? Aber das kann noch eine Weile dauern.“

„Warum willst du eigentlich keine Kinder?“

Sawyer biss die Zähne zusammen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Kinder will. Ich will nur nicht so ein Vater werden wie Dad!“

Rachel seufzte ungeduldig. „Hast du nicht selbst gesagt, dass ihr total unterschiedlich seid? Das heißt doch, dass du nie so werden kannst wie er.“ Sie zögerte einen Moment. „Außerdem ist er gar nicht mehr derselbe, seitdem du weggegangen bist.“

„Wie meinst du das denn?“

„Er ist irgendwie umgänglicher geworden. Und wenn er Mom anblafft, dann blafft sie zurück.“

Sawyer musste lächeln. „Wunder geschehen doch immer wieder. Ich dachte mir schon, dass sie es irgendwann satthaben würde, sein Fußabtreter zu sein.“

„Sie hat gesagt, mit fünfundfünfzig habe sie die Nase gestrichen voll.“

Sawyer hätte gern mit eigenen Augen gesehen, wie seine Mutter sich gegen ihren Mann zur Wehr setzte. „Sieht so aus, als hättet ihr Besuch“, stellte er fest, als er einen alten grauen Ford hinter dem roten Pick-up seines Vaters parken sah.

„Das ist Jessica. Sie war vorletztes Jahr die Klassenlehrerin der Jungs. Wahrscheinlich ist sie hier, um die Bücher für die Sommerferien vorbeizubringen, um die ich sie gebeten habe. Ich will nicht, dass die Jungs den Anschluss verpassen, weißt du.“

Sawyer parkte seinen Jeep neben dem SUV und stellte den Motor aus. „Ich dachte, sie seien gut in der Schule.“

„Sind sie auch, eben nur nicht in Sprachen. Ich liege ihnen ständig in den Ohren, dass sie mehr lesen sollen und sich weniger Computerspielen widmen sollen.“

„Das Spielen lässt sich leicht beschränken. Du kannst den Internetzugang für sie sperren. Ich könnte dir zeigen, wie …“ Er verstummte, als die ehemalige Lehrerin seiner Neffen aus ihrem Wagen stieg und auf die Beifahrertür zuging.

Fasziniert starrte er Jessicas schlanke, in einer dunkelblauen Strumpfhose steckende Beine an, die in farblich passenden Seidenpumps endeten. Sein Blick wanderte höher zu ihrem hautengen ärmellosen schwarzen Kleid mit etwas ausgestelltem Rock. Rachel stieg aus und umarmte die junge Frau.

Jessicas schwarzes kurz geschnittenes Haar glänzte in der Sonne. Als sie sich zu Sawyer umdrehte und ihm zulächelte, blieb ihm buchstäblich die Luft weg. Beim Militär hatte er viele schöne Frauen aus verschiedenen ethnischen Gruppen mit den unterschiedlichsten Hauttönen kennengelernt, doch Jessica hatte etwas an sich, das ihn in seine Teenagerzeiten zurückversetzte.

Er konnte den Blick gar nicht von ihrem dunklen Gesicht mit den großen schwarzen Augen, der zauberhaften Stupsnase und den vollen, orangerot geschminkten Lippen losreißen. Sie sah aus wie eine dunklere Version von Salma Hayek.

Mit ungelenken Bewegungen stieg er aus dem Wagen. Erst als seine Brust zu schmerzen begann, wurde ihm bewusst, dass er die Luft anhielt.

Rachel hakte sich bei Jessica ein und drehte sich zu ihm um. „Sawyer? Ich möchte dir Jessica Calhoun vorstellen.“

Jessicas Lächeln wurde breiter, als sie ihm eine Hand hinhielt. „Freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Rachel spricht ständig von Ihnen.“

Sawyer schüttelte ihr die Hand. Alles an ihr war sinnlich, sogar ihr Parfüm und ihre sexy Stimme. „Ich hoffe doch, sie erwähnt vor allem Gutes?“

Jessica zögerte einen kurzen Augenblick. „Sie betet Sie förmlich an.“

Er richtete den Blick auf Rachel, die verlegen errötete. „Ich bete meine kleine Schwester auch an.“

„Darf ich bitte meine Hand zurückhaben?“, fragte Jessica lächelnd.

Sawyer war gar nicht aufgefallen, dass er diese noch festhielt. Hastig ließ er die Finger fallen. „Sorry.“

„Das mit Ihrem Vater tut mir leid.“

Er nickte, weil ihm keine passende Antwort einfiel. Hätte sein Vater nicht einen Herzinfarkt erlitten, wäre er in diesem Moment bestimmt nicht hier.

Jessica drehte sich um, öffnete die Beifahrertür ihres SUVs und nahm einen Baumwollbeutel heraus. Sie gab ihn Rachel. „Hier sind die Bücher für Dylan und Colin. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Picknickkorb aus dem Kofferraum zu holen, Sawyer?“

„Kein Problem.“ Er ging zur Rückseite des Wagens und griff nach dem zugedeckten Picknickkorb. „Wohin soll ich ihn bringen?“

„Ins Haus.“

„Was ist da drin?“, fragte Rachel.

„Ich habe ein paar Gerichte für deine Mutter gekocht. Solange euer Vater im Krankenhaus ist, hat sie bestimmt nicht viel Zeit für so etwas.“

Rachel sah Jessica genervt an. „Das ist völlig überflüssig!“

Jessica zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Fang bitte nicht schon wieder damit an, Jessica. Deine Mutter weiß längst Bescheid. Was für eine Freundin wäre ich denn, wenn ich euch nicht in dieser Krisensituation unterstützen würde? Ich wollte die Sachen nur kurz vorbeibringen, weil ich noch zur Verabschiedung einiger Kollegen muss. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Sawyer!“, rief sie ihm hinterher.

Sawyer, der bereits auf dem Weg ins Haus war, blieb stehen und drehte sich wieder um. Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Ganz meinerseits.“ Er stand immer noch an derselben Stelle, als Jessica davonfuhr.

„Pass bloß auf, Bruderherz, nicht dass du dich noch in Jessica verliebst“, neckte Rachel ihn. „Du hast sie ja angestarrt, als wärst du kurz vorm Verhungern.“

„Weil sie absolut umwerfend aussieht.“ Er ging weiter zum Haus, Rachel auf den Fersen.

„Ich dachte immer, du stehst auf große, schlanke Blondinen. Korrigier mich, falls ich mich irre, aber bisher warst du noch nie mit einer Frau mit anderen kulturellen Wurzeln zusammen.“

„Du irrst dich tatsächlich. Seitdem ich in New York lebe, war ich mit allen möglichen Frauen zusammen.“

Rachel musterte ihn aufmerksam. „Du hast dich irgendwie verändert.“

Sawyer wollte gerade widersprechen, als die Haustür aufging und seine Mutter auf die Veranda trat. Er wusste, dass seine Abwesenheit ihr mehr Kummer bereitet hatte als Rachel oder seinen Neffen.

Er stieg die Stufen zur Veranda hoch, stellte den Picknickkorb auf einen Tisch und nahm Mara Middleton in die Arme. Bis auf ein paar graue Haarsträhnen mehr hatte sie sich nicht sehr verändert.

Sie erwiderte seine Umarmung. „Wie lange wirst du bleiben?“, fragte sie.

Sawyer küsste sie auf die Stirn. „Wie lange brauchst du mich denn?“

Mara hob das Gesicht. Tränen standen in ihren grauen Augen. „Du machst dich doch nicht gerade über mich lustig, oder?“, fragte sie.

Er küsste sie wieder, diesmal auf beide Wangen. „Nein, Mom. Ich bleibe so lange, wie du mich brauchst.“

„Mir wäre es am liebsten, wenn du ganz nach Wickham Falls zurückkommen würdest.“

Sawyer wollte so lange bleiben, bis er sich wieder mit seinem Vater versöhnt hatte. Dann würde er leichteren Herzens nach New York zurückkehren können. „Daraus wird nichts, das sage ich dir gleich, aber ich kann zumindest den Sommer über hier sein.“

„Na ja, besser als nichts. Und jetzt lass dich erst mal ansehen. Facetime ist nicht das Gleiche, wie dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.“ Mara ließ eine Hand über sein Gesicht gleiten. „Du siehst gut aus.“

„Du auch.“

Als er spürte, dass die Verandadielen unter seinem Gewicht nachgaben, sah er sich stirnrunzelnd um. Sein Blick fiel auf zwei Fensterläden, die sich aus ihren Scharnieren gelöst hatten. Außerdem konnten sie alle dringend einen neuen Anstrich gebrauchen.

„Lass uns reingehen und das Essen verstauen, das Jessica vorbeigebracht hat“, schlug Mara vor. „Sie hat uns angeboten, für uns zu kochen, solange Rachel und ich uns im Krankenhaus abwechseln.“

„Echt?“

Mara nickte. „Bist du schon so lange weg, dass du ganz vergessen hast, dass man sich hier in Notzeiten gegenseitig unterstützt?“

Sawyer lächelte gezwungen. „Sieht ganz so aus.“

Mara öffnete die Fliegengittertür und hielt sie auf, damit Sawyer den Picknickkorb in jenes Haus tragen konnte, in das er nie wieder einen Fuß hatte setzen wollen – dies hatte er sich vor drei Jahren geschworen.

2. KAPITEL

Jessica war erst zehn Minuten unterwegs, als Rachels Handynummer auf dem Bildschirm ihres Navis auftauchte. Sie tippte auf die Bluetooth-Taste auf ihrem Lenkrad. „Ja?“, fragte sie munter.

„Ich kann nicht fassen, was du alles für uns gekocht hast!“, hörte sie Rachels Stimme durch den Lautsprecher. „Wann hast du denn Zeit gehabt, um Kartoffelsalat und Pasteten zu machen?“

„So aufwendig war das gar nicht. Ich hatte noch Hähnchen übrig, also habe ich Pasteten daraus gemacht, weil Colin und Dylan sie so gern essen.“

Jessica teilte sich jeden Wochentag während des Schuljahrs strikt für bestimmte Aufgaben ein. Samstags putzte sie und kochte für die ganze Woche vor. Obwohl sie allein lebte und schon seit Jahren keine feste Beziehung mehr gehabt hatte, fühlte sie sich nie einsam – erst recht nicht, seitdem sie einen schwarz-weißen Hund aus dem Tierheim geholt hatte.

Rachels Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Du verwöhnst meine Jungs. Wenn du so weitermachst, komme ich vielleicht noch in Versuchung, sie in den Sommerferien bei dir abzugeben.“

Jessica lachte. „Warum nicht? Dann bringe ich ihnen bei, ihr eigenes Obst und Gemüse anzubauen. Und sie spielen bestimmt gern mit Bootsy.“

Rachel zögerte einen Moment. „Ich weiß, du kannst die Leier nicht mehr hören, aber du solltest allmählich heiraten und Kinder bekommen, damit du aufhörst, anderer Leute Kinder zu verwöhnen.“

„Daraus wird nichts, meine Liebe, bis ich einem Mann begegne, dem ich genug vertrauen kann, um mich überhaupt erst einmal in ihn zu verlieben. Außerdem habe ich doch schon ein Baby, das mich jeden Morgen weckt und meine komplette Aufmerksamkeit einfordert, kaum dass ich einen Fuß vor die Tür setze.“

„Ein Hund ist kein Ersatz für einen …“

„Lass es gut sein!“, unterbrach Jessica ihre Freundin ungeduldig. Ein spannungsgeladenes Schweigen folgte. „Tut mir leid, Rachel, ich hätte dich nicht so anblaffen sollen, aber du weißt doch genau, warum ich Männern gegenüber so misstrauisch bin. Ich würde eher ein Kind adoptieren, als mich noch einmal auf einen Mann einzulassen.“ Sie fuhr über eine Bahnschwelle.

„Eines Tages wirst du darüber hinwegkommen müssen – dein Verlobter hat dir blöderweise vorgeworfen, dass du gegen den Mann ausgesagt hast, der deine Zimmergenossin vergewaltigt hat!“

„Du klingst wie meine damalige Therapeutin.“

Rachel lachte. „Das liegt eben daran, dass wir uns gegenseitig therapieren.“

Jessica und Rachel waren befreundet, seitdem Rachel Elternsprecherin in Jessicas Schulklasse gewesen war. Sie hatten ein sehr offenes Verhältnis. „Stimmt. Manchmal fällt es mir nun mal schwer zu vergessen. Der Mann, den ich geliebt habe und den ich heiraten wollte, hat mir vorgeworfen, das Leben seines besten Freundes zu ruinieren – unglaublich!“

„Wenn sein Collegefreund ihm wichtiger war als du, dann bist du ohne ihn sowieso besser dran.“

„Das weiß ich jetzt auch.“

„Ich habe es auch geschafft, Mason zu verzeihen, dass er nicht für mich und unsere Kinder da ist. Ich habe nach unserer Scheidung einfach gemerkt, dass ich es allein durchaus schaffen werde.“

Jessica bog auf die Autobahnauffahrt. Da dieses Jahr gleich mehrere Kollegen in Rente gingen, fand die Abschiedsfeier in einem Hotel außerhalb der Stadt statt. „Das hast du doch schon.“

„Noch nicht ganz.“

„Wie meinst du das?“

„Bitte erzähle das niemandem weiter, noch nicht einmal meiner Mutter, aber Sawyer überweist mir jeden Monat Geld, um Masons Kindesunterhalt aufzustocken. Inzwischen habe ich sogar etwas Geld für Notzeiten zurückgelegt. Als ich meinem Bruder gesagt habe, dass er mir nicht mehr so viel Geld zu überweisen braucht, hat er nur gesagt, es gehöre sich nicht, über Geld zu reden.“

„Sehe ich genauso.“ Jessica war auf ein nobles Internat gegangen und hatte es irgendwann sattgehabt, ihre Klassenkameradinnen prahlen zu hören, wie reich deren Familien waren.

„Wenn das so ist, dann werdet ihr euch bestimmt gut verstehen. Da wir gerade beim Thema sind – du wirst ihn in nächster Zeit wahrscheinlich öfter sehen. Er will nämlich bis Labor Day bleiben. Colin und Dylan werden ausflippen, wenn sie das hören.“

Jessica lächelte. Ihre ehemaligen Schüler waren nicht die Einzigen, die sich auf die Sommerferien freuten. Sie zählte schon die Tage bis zum Ende des Schuljahrs. „Freut mich für die beiden. Ich kann es auch kaum erwarten, dass die Ferien endlich losgehen. Dieses Jahr haben mir meine Schüler wirklich den letzten Nerv geraubt.“

„Wie bitte? Dir, Miss Ich-bin-ruhig-und-beherrscht?“

Jessica schnalzte mit der Zunge. „Ich hatte bisher noch nie eine Klasse, deren Schüler sich einfach nicht verstanden haben. Ständig gab es Reibereien und Auseinandersetzungen. Es hat noch nicht einmal etwas gebracht, sie zum Direktor zu schicken.“

„Oh, ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist.“

„Tja, wahrscheinlich kann ich es nicht jedes Jahr so leicht haben wie damals mit euch.“

Rachel lachte. „Okay, ich lege jetzt auf und versuche, etwas zu schlafen.“

„Ruf mich an, sobald dein Vater Besucher empfangen darf.“

„Wahrscheinlich erst, wenn er von der Intensivstation runterkommt.“

„Kein Problem. Bis bald.“

„Bis bald“, erwiderte Rachel.

Jessica beendete das Gespräch, stellte das Radio an und stimmte sich schon einmal mit lauter Popmusik auf die bevorstehende Party ein. Zwanzig Minuten später parkte sie ihren Wagen und betrat das Hotel.

Drei Kolleginnen, Abigail, Beatrice und Carly, mit denen sie sich eng angefreundet hatte, betraten gemeinsam mit ihr die Lobby. Sie begrüßten Jessica mit Umarmungen und Luftküssen und machten ihr ein Kompliment zu ihrem Kleid und ihren Schuhen. Jessica trug nämlich nur sehr selten Kleider und Pumps, da sich das nicht gut mit dem Unterrichten von Zweitklässlern vertrug.

„Lasst uns reingehen, bevor das beste Essen weg ist“, schlug Beatrice vor.

Jessica ging voran in den Ballsaal, der mit Mitgliedern des Vorstands, mit Verwaltungsangestellten und Lehrern gefüllt war. Sie nahm ein Sektglas vom Tablett eines vorbeikommenden Kellners. Der Raum war von Gläserklirren, Gelächter und Rufen erfüllt. Als sie dem Blick Logan Fowlers, Lehrer für Naturwissenschaften an der Highschool, begegnete, bahnte er sich einen Weg durch die Menge auf sie zu.

„Wann, glaubst du, können wir uns zusammensetzen, um einen neuen Versuch zu starten, einen Zuschuss für die neuen Computer zu bekommen?“, fragte er Jessica.

Logan und sie leiteten den Ausschuss, der sich um zusätzliche Gelder für die drei Schulen in Wickham Falls bemühte. „Hast du in den Ferien Zeit?“, fragte sie.

Logan sah sie verdutzt an. „Ich dachte, du fährst zu deinen Eltern.“

Während der letzten Ausschusssitzung hatte sie angekündigt, den Sommer bei ihren Eltern verbringen zu wollen „Das hatte ich eigentlich vor, aber meine Eltern haben beschlossen, nach Alaska zu fahren.“

„Ich würde gern so früh wie möglich anfangen, da ich wahrscheinlich nicht viel Zeit haben werde, wenn das neue Schuljahr beginnt, und im Juli bin ich verreist. Wenn es dir recht ist, würde ich gern nächstes Wochenende loslegen.“

Als Jessica Ausschussmitglied geworden war, hatte sie versprochen, Gelder für neue Computer und andere Geräte für die Grundschule und die weiterführenden Schulen zu beantragen. „Nächstes Wochenende passt gut. Wir können uns bei mir treffen.“

Logan küsste sie auf eine Wange und ging.

Als der Cocktailempfang vorbei war, begann die eigentliche Verabschiedung. Jessica betrachtete die zwölf Ruheständler auf dem Podium, die kleine Anstecksträuße in den Farben der Schule trugen.

Sie konnte sich gut vorstellen, dort auch in vierundzwanzig Jahren zu sitzen. Sie hatte sich nämlich vorgenommen, sich schon mit fünfundfünfzig zur Ruhe zu setzen und erst einmal für längere Zeit auf Weltreise zu gehen. Nach ihrer Rückkehr nach Hause würde sie dann endlich ihren langjährigen Traum verwirklichen und Kinderbücher schreiben.

Sawyer sah seine Neffen erst Sonntagvormittag, da deren Bus auf dem Rückweg eine Reifenpanne hatte und sich die Rückkehr verzögerte. Während ihrer Ankunft brachte er Rachel gerade zu ihrer Nachtschicht ins Krankenhaus, und als er wieder nach Hause kam, hatte Mara ihre erschöpften Enkel bereits ins Bett gebracht.

Sawyer trank gerade in der Küche seine zweite Tasse Kaffee, als die Jungs in die Küche schossen, um ihren Onkel zu begrüßen. Sie waren in den letzten drei Jahren mindestens fünfundzwanzig Zentimeter gewachsen und sahen sich immer ähnlicher, obwohl sie zweieiig waren.

„Hallo, Onkel Sawyer!“, rief Dylan. „Das ist ja toll, dass du wieder hier bist!“

Sawyer lachte. „Wie geht’s dir, Champ?“

Colin umarmte seinen Onkel glücklich.

Sawyer nahm die beiden Jungs auf den Schoß, so wie früher, als sie noch klein gewesen waren, und drückte sie an sich. „Ihr seid ganz schön schwer geworden.“ Er setzte die beiden wieder runter. „Wie war euer Campingausflug?“

„Ganz toll, Onkel Sawyer“, antwortete Colin. „Wir haben ein Lagerfeuer gemacht, Marshmallows gegrillt und in einem Zelt geschlafen.“

Sawyer lächelte. „Das hat bestimmt großen Spaß gemacht.“ Er musterte die beiden, die ihrem Vater mit ihrem dunkelblonden Haar, den braunen Augen und dem Grübchen am Kinn sehr ähnlich sahen.

Colin sah sich in der Küche um. „Wo sind Grandma und Grandpa?“

„Grandma hat Grandpa ins Krankenhaus gebracht, damit die Ärzte sein Herz untersuchen können.“

„Stimmt etwas nicht damit?“, fragte Dylan.

„Er hatte Schmerzen in der Brust. Wahrscheinlich muss er ein paar Tage dort bleiben, bevor er wieder nach Hause darf.“

Die beiden Jungs wechselten einen Blick. „Bist du deshalb hier?“, fragte Colin.

Sawyer zögerte einen Moment, beschloss dann jedoch, die Wahrheit zu sagen. „Ja, ich bin hier, weil Grandpas Herz krank ist, aber ich wollte auch euch und eure Mutter und Großmutter sehen.“

„Wie lange bleibst du?“, erkundigte Dylan sich.

„Wie lange soll ich denn bleiben?“

„Für immer!“, riefen die Jungs unisono.

Sawyer musste lächeln. „Nichts ist für immer, aber ich verspreche euch, bis August zu bleiben, wenn ihr wieder zur Schule müsst.“ Er warf einen Blick auf die Uhr an der Mikrowelle. „Es ist schon zu spät, um in die Kirche zu gehen. Habt ihr Lust, bei Ruthie’s zu frühstücken?“ Ruthie’s war ein beliebtes Familienlokal, das an sieben Tagen die Woche von acht bis acht ein Büfett bot.

„Au ja!“

„Dann zieht eure Schuhe an und kämmt euch die Haare.“

Jessica musste sich anstellen, um bei Ruthie’s einen Tisch zu bekommen. Normalerweise ging sie sonntags immer in den Frühgottesdienst, aber heute hatte sie wegen der gestrigen Feier etwas länger geschlafen als sonst. Es war inzwischen ein Uhr, und das beliebte Lokal hatte sich fast komplett gefüllt.

„Hallo, Jessica!“

Jessica warf einen Blick über eine Schulter, um zu sehen, zu wem die kindliche Stimme gehörte. In Wickham Falls gab es nicht allzu viele Orte, wo sie nicht von einem Schüler oder dessen Eltern erkannt wurde.

Ihr Blick fiel auf Dylan und Colin … und deren Onkel, der direkt hinter seinen Neffen stand. Sawyer musterte Jessica bewundernd von Kopf bis Fuß, was sie etwas verunsicherte – auf angenehme Art.

Sie lächelte ihren ehemaligen Schülern zu. „Hi, wie geht es euch?“

Die beiden strahlten. „Gut.“

Sie hob wieder den Blick zu Sawyer, der sie intensiv aus indigoblauen Augen ansah. „Guten Tag, Sawyer.“

Sein schulterlanges rötliches Haar verlieh ihm ein etwas ungezähmtes Aussehen, was sie jedoch sehr anziehend fand, genauso wie sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem markanten Kinn.

Jessica fragte sich, warum sie so atemlos war. Vielleicht lag es daran, dass Rachel so oft über Sawyer sprach. Zugegeben, er sah gut aus, aber daran konnte es nicht liegen, dass ihr Herzschlag sich in seiner Gegenwart beschleunigte.

Sawyer nickte ihr freundlich zu. Einer seiner Mundwinkel zuckte belustigt. „Guten Tag, Jessica. Warten Sie auf jemanden?“

„Nein. Warum?“

„Wenn wir uns zusammensetzen, kriegen Sie schneller einen Platz, als wenn Sie einen Tisch für sich allein wollen.“

Er hatte recht. Es gab nur sehr wenig Tische für zwei. „Okay.“

Sie beobachtete, wie Sawyer zum Anfang der Schlange ging, um mit der Kellnerin zu sprechen, bevor er zurückkehrte und seinen Neffen sagte, dass sie schon einmal nach vorn gehen sollten. Jessica erstarrte, als er ihr eine Hand auf den Rücken legte. Alles an ihm – seine Körperwärme, der Duft seines Aftershaves, seine Berührung – beschleunigte ihre Atemzüge. „Tricia hat schon einen Tisch für uns“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Er dirigierte Dylan zur Kellnerin, und Jessica übernahm Colin, wobei sie die wütenden Blicke der anderen Wartenden in der Schlange ignorierte. Sawyer bezahlte für zwei Erwachsene und zwei Kinder, und eine Kellnerin brachte sie zu einem Tisch in der Mitte des Restaurants.

Sie beugte sich zu Sawyer. „Ich gehe mit Colin zum Büfett und helfe ihm beim Aussuchen.“

„Dann warte ich, bis Sie zurückkommen, bevor ich dann mit Dylan losgehe.“

Sawyer nahm mit Dylan am Tisch Platz und beobachtete Jessica, wie sie Colins Teller mit Speisen füllte, auf die der Junge zeigte. Statt des sexy Outfits von gestern Abend trug sie eine kurze khakifarbene Stretchhose, eine grüne Bluse und schwarze Lederpantoletten. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihrem knackigen Po loszureißen.

Dylan wurde allmählich ungeduldig. „Ich habe Hunger, Onkel Sawyer!“

Er fuhr seinem Neffen durchs Haar. „Wir gehen, sobald Colin und Miss Calhoun zurückkommen. Sieh mal, da kommen sie schon.“

Dylan schoss hoch und rannte zum Büfett. Sawyer zwinkerte Jessica zu, als sie mit ihrem und Colins Teller an den Tisch zurückkehrte, bevor er Dylan folgte und ihm beim Befüllen half. Er selbst entschied sich für Hähnchensteak mit Kartoffelbrei, weißer Soße, Biskuits und Tee – typisches Südstaatenessen, das ihm das Gefühl gab, zu Hause zu sein.

„Ich hole die Getränke“, sagte Jessica, als er mit seinem Teller zurückkehrte.

„Ich komme mit. Sie müssen mir noch sagen, wann Sie zu Hause sind, damit ich Ihnen den Picknickkorb zurückbringen kann.“ Er füllte zwei Gläser mit Milch.

Jessica musterte Sawyer mit schief gelegtem Kopf. „Dafür brauche ich doch nicht extra zu Hause zu sein. Sie können ihn vor die Haustür oder auf die Terrasse hinterm Haus stellen.“

„Damit Waschbären reinkriechen?“

„Oh, Sie haben davon gehört?“

„Ja. Meine Mutter hat erzählt, dass sie bei ihr versuchen, in die Mülltonnen zu klettern, ein paar Tiere sogar tagsüber, was heißt, dass sie vielleicht tollwütig sind. Haben Sie denn auch Probleme mit Waschbären?“

„Bisher nicht.“ Jessica goss etwas Milch in ihren Kaffee. „Bootsy bleibt tagsüber im Haus, und wenn ich mit ihm spazieren gehe, habe ich immer Pfefferspray dabei.“

„Sie gehen mit einer Katze spazieren?“

„Bootsy ist ein Hund, keine Katze.“

„Wer nennt denn seinen Hund Bootsy?“, witzelte Sawyer. „Was ist aus dem guten alten Namen Bruno geworden?“

„Bootsy ist viel zu klein, um Bruno heißen zu können.“ Sie drehte sich um und ging zurück zum Tisch.

„Tut mir leid“, sagte Sawyer.

„Tut es nicht“, antwortete sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Er beschleunigte seine Schritte. „Doch, tut es. Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, Bootsy beleidigt zu haben.“

Dylan griff nach dem Milchglas, das Sawyer ihm hinhielt. „Du musst Bootsy unbedingt kennenlernen, Onkel Sawyer. Er ist ein toller Hund, stimmt’s, Colin?“

„Ja. Kaufst du uns auch einen Hund, Onkel Sawyer? Wir haben Momma gefragt, aber sie hat gesagt, sie hat kein Geld.“

Jessica beugte sich zu Sawyer, wobei sie ihn fast mit einer Schulter berührte. „Sehen Sie, was Sie angerichtet haben?!“, flüsterte sie.

Er wandte ihr den Kopf zu, sodass sein Mund nur wenige Zentimeter von ihren Lippen entfernt war. Am liebsten hätte er sie geküsst. Die Zeit schien stillzustehen, so groß war sein Verlangen – irgendwie beunruhigend, dass er in der Öffentlichkeit und in Gegenwart seiner Neffen den Drang verspürte, die Freundin seiner Schwester zu küssen.

„Das besprechen wir später.“

„Wann später?“, fragte Dylan.

„Ich muss erst mit deiner Mutter reden. Wenn sie Ja sagt, kontaktieren wir einen Züchter.“ Er wusste, dass Rachel genug Geld für einen Hund besaß, vermutete jedoch, dass sie keine Lust auf die zusätzliche Verantwortung für ein Tier hatte.

„Ich habe meinen Hund aus einem Tierheim.“ Jessica sah Sawyer über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. „In den Heimen warten zu viele Hunde auf ein gutes Zuhause. Wenn niemand sie aufnimmt, werden sie eingeschläfert. Ich denke ernsthaft darüber nach, mir einen zweiten Hund anzuschaffen – als Gesellschaft für Bootsy.“

Sawyer griff nach seinem Besteck und schnitt in sein Steak. Als er im Alter der Jungen gewesen war, hatte er seine Mutter so lange bekniet, bis sie ihm einen Hund gekauft hatte. Meistens hatte er gar keine Zeit gehabt, sich um das Tier zu kümmern, weil er nachmittags oft Sport gemacht hatte.

„Darf ich mir noch was zu essen holen?“, riss Colin ihn aus seinen Gedanken.

„Na klar. Nimm deinen Bruder mit. Und versucht, diesmal etwas Grünes auf eure Teller zu legen.“

Die Jungs schossen vom Tisch hoch und verschwanden.

Sawyer richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Jessica. „Sind Sie öfter hier?“

Kopfschüttelnd betupfte sie sich die Mundwinkel mit ihrer Serviette. „Nur ein oder zwei Mal im Monat. Ich koche lieber selbst.“

„Ja, Sie sind eine außergewöhnlich gute Köchin. Wir haben gestern Ihre Hähnchenpastete probiert. Wer hat Ihnen denn das Kochen beigebracht?“

„Meine Großmutter hat im Catering gearbeitet. Ich habe ihr immer über die Schulter gesehen, wenn sie für Partys gekocht hat. Dabei hatte sie noch nicht einmal eine richtige Ausbildung. Die Leute haben sie immer nach ihren Rezepten gefragt, aber sie hat sie niemals verraten.“

„Dann werden Sie mir vermutlich auch nicht verraten, was für Zutaten und Gewürze Sie benutzt haben, oder?“

Jessica schürzte die Lippen, was unglaublich sexy aussah. „Da könnten Sie recht haben.“

Sawyer hätte sie am liebsten angeknurrt, das schön bleiben zu lassen, denn er fühlte sich durch ihre geschürzten Lippen förmlich dazu aufgefordert, ihren Mund zu küssen. Er konnte den Blick gar nicht mehr von ihren vollen Lippen losreißen. „Sie sind doch eng mit Rachel befreundet. Macht uns das nicht praktisch zu Familienmitgliedern?“

Jessica tätschelte ihm eine Hand. „Netter Versuch.“

Er räusperte sich verlegen. „Wie lange leben Sie hier schon?“

„Ich bin vor zwei Jahren nach Wickham Falls gezogen. Davor war ich in Beckley.“

„Das liegt doch keine halbe Stunde von hier.“

„Ich weiß, aber ich hatte keine Lust mehr, zur Miete zu wohnen. Es gab ein paar Häuser auf dem Markt, die mir jedoch zu teuer waren. Als ich ein Haus hier in der Porterfield Lane entdeckte, sprach ich mit meiner Bank, und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.“

„Freut mich für Sie.“

Jessica wusste nicht, dass sie gerade gewaltig in Sawyers Achtung gestiegen war. Sie war offensichtlich nicht nur schön und sexy, sondern auch noch intelligent und eine gute Geschäftsfrau. Diese Kombination hielt er nicht für selbstverständlich.

Dylan und Colin kehrten mit grünem Wackelpudding und Frozen Joghurt mit Schokosoße und bunten Zuckerstreuseln auf ihren Tellern zurück. „Du hast doch gesagt, wir sollen etwas Grünes holen“, sagte Colin frech, als Sawyer den wackeligen Nachtisch missbilligend musterte.

„Hab ich doch“, gab er zu, wobei er Jessicas schadenfrohes Lächeln ignorierte.

Sie stand auf. „Ich muss jetzt los. Danke für den Brunch.“

Sawyer schob seinen Stuhl zurück und erhob sich ebenfalls.

„Dürfen wir Bootsy besuchen kommen, Jessica?“, fragte Dylan.

„Wenn euer Onkel Sawyer euch mitnimmt, wenn er den Picknickkorb zurückbringt, dann dürft ihr gern mit Bootsy spielen, klar.“

Dylan schob sich einen Würfel Wackelpudding in den Mund. „Bitte, Onkel Sawyer!“

Belustigt schüttelte er den Kopf. „Anscheinend bleibt mir keine andere Wahl, oder?“

„Nein!“, sagten Jessica und die Zwillinge einstimmig.

„Welcher Tag passt Ihnen am besten?“

„Nächsten Samstag?“

Er griff nach seinem Handy und trug den Termin in seinen Kalender ein. „Wann soll ich da sein?“

„Ab zwölf. Da am Montag danach Feiertag ist, will ich draußen grillen, falls das Wetter es zulässt. Falls Sie noch nichts vorhaben, können Sie mir und meinen Freunden gern Gesellschaft leisten.“

Er lächelte. „Wenn das so ist, bis bald.“

Sie winkte ihren ehemaligen Schülern zu. „Vergesst nicht, mindestens eine halbe Stunde täglich zu lesen.“

Die Brüder senkten die Köpfe, plötzlich ganz in ihre Desserts vertieft.

Sawyer verschränkte die Arme vor der Brust und sah Jessica hinterher, bis diese verschwunden war, bevor er sich wieder setzte. Nicht nur seine Schwester, seine Mutter und seine Neffen mochten Jessica. Ihm gefiel sie ebenfalls – sehr sogar, obwohl er bisher keine Stunde mit ihr verbracht hatte.

Er freute sich plötzlich auf den Sommer. Wenn es nach ihm ginge, würden Jessica Calhoun und er nämlich noch viel Zeit miteinander verbringen – natürlich nur auf rein freundschaftlicher Basis …

Sawyer holte sich einen Besucherausweis an der Rezeption des Krankenhauses und fuhr mit dem Fahrstuhl in den ersten Stock, wo er den rechten Flur betrat, in dem sich das Zimmer seines Vaters befand.

Als er in den sonnenlichtdurchfluteten Raum hineinging und sein Blick auf die Gestalt im Bett vor dem Fenster fiel, blieb er erschrocken stehen. Er wusste selbst nicht, womit er gerechnet hatte, aber er erkannte seinen Vater kaum wieder. Henry Middleton war siebenundsechzig und wirkte jetzt mindestens zehn Jahre älter. Die vielen Jahre auf See waren nicht spurlos an seiner Haut vorbeigegangen.

Sawyer griff nach einem Stuhl, zog ihn zum Bett und betrachtete seinen schlafenden Vater. Henrys Brust hob und senkte sich gleichmäßig unter seinen Atemzügen. Seine auf dem schneeweißen Laken liegende Hand fühlte sich kühl an.

Henry schlug die Augen auf. „Du bist gekommen“, flüsterte er heiser.

„Ja, Dad. Ich bin hier.“

Henry schossen Tränen in die blutunterlaufenen blauen Augen. „Ich habe dafür gebetet, dass du kommst.“

Beim Anblick seiner Tränen verspürte Sawyer selbst einen Kloß im Hals. Rachel hatte ihn schon vorgewarnt, dass Henry sich verändert hatte, aber nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass der Despot je auch nur eine Träne vergießen würde.

Unbeholfen tätschelte er seinem Vater die Hand. „Deine Gebete wurden erhört.“ Er zupfte ein Tuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch und tupfte Henry die nassen Wangen ab. Er wusste nicht, wie er einen Mann trösten sollte, der ihm gegenüber kaum ein freundliches Wort verloren hatte.

„Wie … wie lange … lange bleibst … du?“ Henrys Augen fielen wieder zu.

„Den Sommer über.“ Sawyer war sich nicht sicher, ob sein Vater ihn gehört hatte. Wahrscheinlich hatte die Krankenschwester ihm ein Schlafmittel verabreicht.

Der ältere Mann lächelte schwach. „Ich habe das Gefühl, mir sitzt ein Elefant auf der Brust.“ Sein Lächeln erlosch, und er schloss wieder die Augen. „Wahrscheinlich werde ich noch eine Weile Schmerzen haben. Wusstest du, dass ich Stents in den Arterien habe?“

„Ja, Dad, und du wirst dich viel besser fühlen, wenn du erst mal hier raus bist.“

„Wann bist du angekommen?“

„Gestern.“

„Wer hat dich angerufen?“

„Rachel.“

Er nickte kraftlos. „Gut, dass sie hier arbeitet. Dann kann sie darauf achten, dass ich keine falschen Medikamente bekomme.“

Sawyer schüttelte den Kopf. Das hier war nicht der Henry, den er kannte. „Sie werden dir doch keine falschen Medikamente geben.“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Mit Sicherheit nicht.“

Henry seufzte erschöpft. „Ich glaube, ich schlafe jetzt weiter. Bleibst du hier, bis ich eingeschlafen bin?“

Sawyer beugte sich vor und küsste seinen Vater auf die Stirn. „Klar.“ Sekunden später erfüllte leises Schnarchen den Raum. Als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah, drehte er sich zur Tür um und begegnete dem Blick seiner Schwester, die in der Tür stand. Sie winkte ihn zu sich. Er stand auf und ging zu ihr.

„Hast du mit ihm gesprochen?“, flüsterte sie.

„Ja.“

„War er brummelig?“

„Nein, er ist überhaupt nicht in der Verfassung zu grummeln. Wie lange muss er noch hierbleiben?“

„Wahrscheinlich bis übermorgen.“

„Wird er Treppen steigen können?“

„Die erste Woche nicht. Ich werde Mom bitten, das Fernsehzimmer in ein provisorisches Schlafzimmer zu verwandeln. Da lässt sich das Sofa ausklappen.“ Rachel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich habe gerade Pause. Ich geh rasch etwas essen und leg mich kurz hin, bevor die nächste Schicht beginnt.“

„Sieh zu, dass du auch etwas Schlaf bekommst, ehe du morgen früh nach Hause fährst.“

„Aber ich muss die Jungs wecken, weil sie dazu neigen …“

„Mach dir keine Gedanken deswegen, Rachel!“, schnitt Sawyer ihr das Wort ab. „Ich sorge schon dafür, dass sie aufstehen und in den Bus steigen.“

„Das brauchst du nicht, Sawyer.“

„Ich mach das gern. Bleib du ruhig hier und schlaf etwas, bevor du dich hinters Steuer setzt. Vergiss nicht – du bist Krankenschwester, nicht Superwoman.“

Rachel lächelte dankbar. „Ich bin ja so froh, dass du hier bist.“

Sawyer nahm sie in die Arme und drückte sie kurz an sich. „Ich auch.“

Er blieb in der Tür stehen und sah Rachel hinterher, bis sie verschwunden war, bevor er zu Henrys Bett zurückkehrte. Er griff nach seinem Handy und tippte eine Nachricht an seine Geschäftspartner ein, dass er den Sommer über in Wickham Falls bleiben würde.

3. KAPITEL

Am nächsten Samstagmorgen stand Jessica früh auf und stellte die Terrassenmöbel nach draußen, bevor sie das Essen für ihre Memorial-Day-Party vorbereitete. Sie hatte nicht nur Sawyer und dessen Neffen eingeladen, sondern auch Rachel und drei befreundete Kolleginnen mit ihren Familien.

Als es an der Tür klingelte, schoss Bootsy in die Küche und forderte Jessica laut bellend auf, ihr zu folgen. „Ich komme ja schon!“

Sie öffnete die Tür. Beim Anblick Sawyers, der neben Rachel und seinen Neffen auf der Veranda stand, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Seinem tief gebräunten Gesicht unter einer Baseballkappe nach zu urteilen, hatte er sich letzte Woche viel draußen aufgehalten. Die Bräune betonte seine Augenfarbe, die sie an Saphire erinnerte. Jessica wusste immer noch nicht, was der Bruder ihrer besten Freundin an sich hatte, dass ihr Körper bei seinem Anblick immer von Kopf bis Fuß zu kribbeln begann.

Sie öffnete die Tür ein Stück weiter. „Willkommen!“, quietschte sie. Rachel, die den Picknickkorb dabeihatte, sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

„Hi, Jessica!“, riefen beide Jungs gleichzeitig.

„Dürfen wir mit Bootsy spielen?“, fragte Dylan.

„Ja, aber sobald er zu sehr hechelt, bringt ihn bitte rein.“ Der Hund rannte hinter den beiden Jungs her, als sie hinterm Haus verschwanden. „Sie hätten nichts mitzubringen brauchen“, sagte sie zu Sawyer, der eine Plastikkiste voller Bier und Softdrinks trug.

„Hier tauchen wir nie mit leeren Händen auf, wenn wir irgendwo eingeladen sind.“

Rachel stellte den Korb auf einem Stuhl im Eingangsbereich ab und tätschelte ihrem Bruder den Rücken. „Das sagt der Typ mit der Yankees-Kappe.“

„Folgen Sie mir, Sawyer, dann zeige ich Ihnen, wo Sie Ihre Hehlerware hinbringen können.“

Lachend folgte er Jessica um das Haus herum zu einer großen Terrasse. „Das riecht ja lecker hier.“

Sie warf ihm einen Blick über eine Schulter zu. „Hoffentlich haben Sie einen guten Appetit mitgebracht, ich räuchere nämlich gerade Rinderbrust, Schweinerippchen und Hähnchen. Für die Kinder habe ich Grillwürste und Burger besorgt.“ Sie zeigte auf eine große Blechwanne, die mit Eiswürfeln, Bierflaschen, Saftkartons und Getränkedosen gefüllt war. „Ich glaube, da ist noch etwas Platz für Ihren … Beitrag.“

Sawyer verstaute seine Getränke in der Wanne. Als er sich wieder aufrichtete, musterte er Jessica verstohlen. Sie schien ihm das reinste Chamäleon zu sein. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ausgesehen wie aus dem Ei gepellt, während ihr Outfit im Restaurant eher lässig gewesen war. Jetzt, in einem weißen Tanktop, in Shorts und blau-weiß gestreiften Espadrilles wirkte sie wie eine Studentin. Ihr Haar hatte sie mit einem weißen Tuch bedeckt. Er konnte sich kaum entscheiden, welche Jessica ihm am besten gefiel.

Er sah sich auf der Terrasse mit einer Outdoorküche um. „Ich bin schon ein paarmal an diesem Haus vorbeigefahren, hatte aber keine Ahnung, dass das Grundstück dahinter so groß ist.“

„Ja, es ist etwas mehr als ein Morgen.“

„Ich weiß noch, dass die vorherigen Besitzer einen eigenen Gemüsegarten hatten und das meiste verkauft haben, was sie anbauten.“

„Die Gewächshäuser sind noch da, hinter den Bäumen dort drüben. Ich habe das Haus ihretwegen gekauft.“

Er hob die Augenbrauen. „Soll das ein Witz sein?“

„Nein, ich baue mein Obst, mein Gemüse und meine Blumen selbst an.“

Sawyer verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Jessica war noch faszinierender als gedacht. Irgendwie konnte er sich eine berufstätige Frau Anfang dreißig nicht als Landwirtin vorstellen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das alles wirklich selbst anbauen.“

„Wenn Sie das nächste Mal hier sind, führe ich Sie gern herum.“

„Wird es denn ein nächstes Mal geben?“

„Bestimmt.“

Er versuchte, seine freudige Überraschung hinter einer neutralen Miene zu verbergen. „Kann ich noch irgendwie helfen, bevor die anderen Gäste kommen?“

„Nein. Sie sind mein Gast, Sawyer.“

„Das hier ist eine Grillparty und kein förmliches Abendessen, und Sie sind bestimmt schon seit Stunden auf den Beinen, um alles vorzubereiten, stimmt’s? Am Ende werden Sie zu müde sein, um sich um Ihre Gäste zu kümmern, wenn Sie sich nicht helfen lassen. Also, was kann ich tun?“

Ihr Lächeln lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihre Lippen. „Sie sind sehr geschickt darin, jemandem Schuldgefühle einzuflößen!“

Sawyer zwinkerte ihr zu. „Ich würde mich eher als überzeugend bezeichnen. Apropos – wollen wir uns nicht duzen? Sie gehören doch gewissermaßen zur Familie.“

Jessica legte ihm eine Hand auf einen Unterarm. „Okay, Mister Überzeugend. Du kannst schon mal den Grill anschmeißen und Burger und Grillwürste für die Kinder drauflegen. Die Kids wollen bestimmt vor uns essen.“

Rachel gesellte sich zu ihnen auf die Terrasse. „Gibt es etwas, was ich tun kann, bevor die anderen kommen?“

„Du kannst mir beim Tischdecken helfen“, schlug Jessica vor. „Das Geschirr und das Besteck liegen auf dem Küchentresen.“

Sawyer legte den Kopf schief und lauschte. „Ich glaube, da ruft jemand nach dir, Jessica.“

„Du hast anscheinend Ohren wie ein Luchs“, neckte sie ihn, bevor sie sich umdrehte und ums Haus herumging.

Rachel musterte Sawyer aufmerksam. „Dich hat es ja voll erwischt, Bruderherz.“

Stirnrunzelnd erwiderte er ihren Blick. „Wovon redest du?“

„Von Jessica. Sie gefällt dir, oder?“

Er schob seine Kappe tiefer in die Stirn. „Warum sollte sie mir nicht gefallen? Sie ist hübsch, intelligent und total patent.“

„Davon rede ich nicht. Sie gefällt dir als Frau.“

„Soll ich dir jetzt widersprechen?“

„Nein. Ich ja bin froh, dass sie dir gefällt. Ich glaube nämlich, dass sie dir guttun würde.“

Sawyer ging zum Gasgrill und schaltete ihn ein. „Inwiefern?“

„Sie hat sämtliche Eigenschaften, die eine künftige Ehefrau haben sollte.“

Sawyer sah Rachel fassungslos an. „Willst du mich etwa verkuppeln?! Ich hatte bisher noch keine Probleme, einer Frau selbst mein Interesse zu signalisieren, wenn ich etwas von ihr will. So, und jetzt Schluss mit dem Thema. Jessica hat mich damit beauftragt, den Grill anzuschmeißen, ich habe zu tun.“

Jessica umarmte ihre Kollegin Carly Adams zur Begrüßung, die einen Strohhut trug, um ihre helle Haut vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. „Ich hoffe doch, in der Dose befinden sich deine leckeren Schokoladentörtchen?“

„Ich würde doch nie ohne welche kommen.“

„Gott segne dich!“ Jessica kochte gern, aber sie befasste sich nicht mit Desserts, weil diese ihr zu kompliziert zuzubereiten waren. „Wo stecken deine Kinder?“, fragte sie, als sie um das Haus herumgingen.

„Benny bringt sie nachher mit. Katie hat bei einer Freundin übernachtet. Er holt sie gerade ab.“ Abrupt blieb Carly stehen, als sie Sawyer am Grill stehen sah. Er hatte seine Kappe abgenommen und sein schulterlanges Haar zu einem Knoten hochgebunden. „Hast du uns etwas verheimlicht?“, flüsterte sie.

„Was meinst du?“

„Ich meine den tollen Typen da am Grill.“

„Sawyer ist der Onkel der Phelan-Zwillinge und der Bruder meiner besten Freundin Rachel. Hör bloß auf, ihn anzustarren, und komm mit, damit ich ihn dir vorstellen kann.“ Jessica unterdrückte ein Lächeln, als sie Sawyer mit Carly und anschließend mit Abby und Beatrice bekannt machte, die ebenfalls mit Männern und Kindern eintrafen. Die Frauen waren sichtlich angetan von Rachels Bruder, der sich in einen wahren Südstaaten-Gentleman verwandelt hatte und die Damen mit Handkuss begrüßte.

Carlys Mann und Kinder trafen zur selben Zeit ein, als Dylan und Colin mit Bootsy aus dem Garten zurückkehrten.

Jessica ging in die Küche, um einen Strohkorb mit verschiedenen Beilagen und Soßen zu füllen – würziger Krautsalat, gebackene Bohnen, Mais sowie Salat mit einer Vinaigrette, die gut zu der geräucherten Rinderbrust, den Schweinerippchen und dem Hähnchen passte. Beatrice und Abby hatten einen Obstsalat und kleine Cupcakes mitgebracht.

Sawyer schien sich wie zu Hause zu fühlen. Während er die Burger wendete und Bier trank, unterhielt er sich lebhaft mit den anderen Männern über Sport.

„Sieht so aus, als hätte Sawyer neue Freunde gefunden“, sagte Jessica zu Rachel.

Rachel lachte. „Gib einem Mann ein Bier und einen Grill, und er schwebt im siebten Himmel. Bestimmt sitzt er schon bald mit den anderen im Wolf Den, um darüber zu diskutieren, wie man die Welt retten kann.“ Sie drehte sich zu Jessica um. „Du hast dich heute übrigens selbst übertroffen, was das Essen angeht.“

„Ach, das ging ganz schnell. Ich habe übrigens ein paar salz- und kalorienarme Rezepte für deinen Vater rausgesucht.“

„Mom wird sich darüber freuen. Er meckert jetzt schon, dass er nichts Frittiertes mehr essen darf.“

„Er wird sich irgendwann daran gewöhnen.“ Jessica erstarrte, als ihr der Duft von Sawyers Rasierwasser in die Nase stieg.

„Ich wusste nicht, wie du deinen Burger magst. Probier mal, ob der hier so richtig ist.“

Sie drehte sich langsam um und blickte zu ihm auf. „Normalerweise mag ich ihn halb durch.“ Sie hielt sein Handgelenk fest und biss in den Hamburger. „Wow!“ Der Burger war genau so, wie sie ihn mochte. „Wirklich lecker.“ Sie wollte gerade noch einmal abbeißen, als Sawyer ihr zuvorkam und kauend die Augen schloss.

„Du hast recht, der ist gut.“ Er hielt den Burger hoch über dem Kopf, als sie danach griff.

„Hey, das ist meiner!“

„Ich bring dir auch einen“, versprach Sawyer, ehe er sich den Rest in den Mund schob. „Als Koch wollte ich mich eben erst vergewissern, dass die Chefköchin zufrieden ist.“

„Ich bin zufrieden.“ Lächelnd ging sie zum Räucherofen, um nach dem Fleisch zu sehen.

Später am Abend, als alle fort waren, räkelte sich Jessica in der Hängematte. In der Luft hing noch der Duft von gegrilltem Fleisch. Noch hielten die Citronellakerzen und die Fackeln die Mücken ab, aber nicht mehr lange, und die Viecher würden sich auf sie stürzen.

Sie musste dennoch eingeschlafen sein, denn das Klingeln ihres Telefons und Bootsys Bellen rissen sie aus dem Schlaf. Sie kletterte aus der Hängematte und ging in die Küche. Ihr Festnetztelefon klingelte nur sehr, sehr selten. Um diese Uhrzeit konnten das nur ihre Eltern sein.

Sie warf einen Blick auf die Rufnummernanzeige – Henry Middleton. Stumm betete sie, dass es keine schlechten Neuigkeiten gab und Henry keinen zweiten Herzinfarkt erlitten hatte. Sie griff nach dem Apparat. „Hallo?“

„Jessica, hier ist Sawyer. Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, aber Rachel kann ihr Handy nicht finden und vermutet, dass sie es bei dir vergessen hat.“

„Ich sehe mal kurz draußen nach und rufe dich zurück.“

„Danke.“

Jessica legte das Telefon auf den Tresen und kehrte auf die Terrasse zurück. Sie sah auf den Tischen und dann auf den Stühlen nach. In einer Polsterfalte fand sie eine kleine Tasche mit einem Handy. Sie ging zurück ins Haus und griff nach dem Telefon. „Ich habe es gefunden. Ich bringe es rasch vorbei.“

„Nicht nötig, ich komme und hole es ab.“

„Aber ich …“ Sie verstummte. Sawyer hatte schon aufgelegt.

Zehn Minuten später hörte sie das Geräusch eines Wagens. Als sie auf die Veranda heraustrat, sah sie Sawyer gähnend aus einem SUV steigen und ging ihm entgegen.

„Hallo, du Schlafmütze“, neckte sie ihn und reichte ihm das Täschchen.

„Sorry.“

Jessica versuchte, seine Gesichtszüge in der Dunkelheit zu erkennen. „Willst du noch einen Kaffee, bevor du zurückfährst?“

Sie sah seine Zähne weiß in seinem gebräunten Gesicht aufblitzen. „Klingt nach einem Angebot, das ich nicht ablehnen kann.“ Er tätschelte Bootsy den Kopf, als der Hund ihn beschnüffelte, und folgte Jessica zurück ins Haus. „Ich mache Rachel ständig Vorhaltungen, wenn sie in übermüdetem Zustand Auto fährt, und jetzt mache ich das Gleiche.“

„Nachtschichten können schon mal solche Auswirkungen haben“, sagte Jessica über eine Schulter.

Sawyer betrachtete verstohlen ihre sanft schwingenden Hüften. War ihr eigentlich bewusst, welche Wirkung sie auf seine Libido hatte? Rachel hatte ihrem Bruder früher oft vorgeworfen, nur mit oberflächlichen Tussis auszugehen, und wenn er seine früheren Freundinnen mit Jessica verglich, hatte sie nicht ganz unrecht.

Er ließ den Blick über die Möbel im Eingangsbereich und im Wohnzimmer gleiten, bevor er die Küche betrat. Das Erdgeschoss war minimalistisch eingerichtet und wirkte daher großzügig und offen. Ob Jessica eine Innenarchitektin beauftragt hatte?

„Man sieht, dass du keine Kinder hast“, stellte er fest.

„Wie kommst du darauf?“

„Dein Haus ist so makellos sauber und ordentlich.“

Sie drehte sich zu ihm um. „Ach, ich bin ein bisschen zwanghaft, wenn es ums Putzen geht“, gab sie zu.

„Ein bisschen?“

„Okay, ich bin eine richtige Sauberkeitsfanatikerin. Aber deshalb werde ich noch lange nicht mit einem Besen oder einem Tuch hinter meinen Kindern herlaufen. Kinder brauchen Freiraum, um sich wohlzufühlen.“

Sawyer lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete, wie Jessica die Hände in der Küchenspüle wusch und einen Becher aus dem Schrank nahm. „Willst du Kinder?“, hörte er sich zu seiner Überraschung fragen.

Jessica erstarrte für einen Moment. „Ich habe Kinder. Fünfzehn genau genommen.“

Er schlenderte auf sie zu. „Ich meine eigene Kinder.“

„Wahrscheinlich nicht. Ich spiele eher mit dem Gedanken, irgendwann eins zu adoptieren.“ Sie drehte sich zur Kaffeemaschine um und öffnete eine Klappe. „Normal oder koffeinfrei?“

„Normal.“

„Was ist mit dir, Sawyer?“, fragte sie, als sie eine Kapsel einlegte. „Willst du heiraten und Kinder kriegen?“

Verdammt, dachte er, als sie den Spieß umdrehte. „Eines Tages vielleicht schon.“

„Dann bist du also nicht gegen die Ehe?“

Er legte den Kopf schief. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur noch nicht bereit, jetzt schon zu heiraten.“

Sawyer musste an die vielen Ermahnungen seines Vaters denken. Von dessen Erziehungsmethoden war er überhaupt nicht begeistert, stimmte jedoch mit Henry überein, dass man Verantwortung übernehmen musste. Wenn ein Mann mit einer Frau schlief, ohne dass die beiden verhüteten, und sie dann schwanger wurde, musste man das Richtige tun, und für Henry war das Richtige, sie zu heiraten.

Jessica schaltete die Kaffeemaschine ein. „Ich habe jede Menge Schüler, die ganz allein von ihren Müttern großgezogen werden.“

„So wie Rachel?“

„Nein, nicht wie Rachel. Dylan und Colin wissen ja, wer ihr Vater ist, während diese Kinder ihren nie kennengelernt haben. Nicht alle Paare können zusammenbleiben, aber Eltern sollten ihre Differenzen ihren Kinder zuliebe hintanstellen.“

„Was ist mit Singlevätern?“

„Von denen habe ich auch einige. Manchmal komme ich mir vor wie eine Sozialarbeiterin und nicht wie eine Lehrerin. Ich werde oft mit Problemen konfrontiert, für die ich gar nicht ausgebildet wurde.“

„Was machst du dann?“

„Ich verweise die Eltern an die Schulpsychologin. Willst du Milch?“, fragte sie, als der Kaffee fertig war.

„Nein, ich trinke ihn schwarz.“ Er nahm ihr den Becher ab. „Trinkst du keinen?“

Jessica schüttelte den Kopf. „Ich beschränke mich auf eine Tasse morgens. Wenn ich abends Kaffee trinke, kann ich nicht einschlafen. Mit entkoffeiniertem Kaffee ist es komischerweise genauso.“

Sawyer hätte am liebsten geantwortet, dass er eine todsichere Methode kannte, die Nacht durchzuschlafen … aber dazu müsste man ein Bett teilen.

Er ging zum Tresen und wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, bevor er ihr gegenüber Patz nahm. Er sah sich in der ultramodernen Edelstahlküche um. Glänzende Kupfertöpfe und Pfannen hingen über ihnen, und Küchenkräuter wuchsen in kleinen handbemalten Blumentöpfen im Erkerfenster.

„Hast du eigentlich viel Arbeit in dieses Haus gesteckt?“ Es war besser, sich mit einem neutralen Gesprächsthema abzulenken, als an Sex mit Jessica zu denken. Sie war seit Langem die erste Frau, zu der er sich auf den ersten Blick körperlich hingezogen fühlte, was ihn ziemlich durcheinanderbrachte.

4. KAPITEL

Jessica konnte kaum glauben, dass sie nachts in ihrer Küche mit einem Mann am Tisch saß, als handelte es sich um das Selbstverständlichste der Welt. Sie fühlte sich erstaunlich wohl in seiner Gegenwart … und körperlich so stark zu ihm hingezogen, wie es ihr schon sehr lange nicht mehr passiert war. Sawyer wirkte unglaublich männlich. Manchmal sah er sie so intensiv an, als wollte er ihr auf den Grund ihrer Seele sehen, aber wahrscheinlich war er nur neugierig auf die beste Freundin seiner Schwester und die ehemalige Lehrerin seiner Neffen.

„Ein Architekt hat die Substanz für gut erklärt, sodass ich mich ausschließlich auf das Innere konzentrieren konnte. Im Erdgeschoss habe ich Wände entfernen und neue Fenster einbauen lassen. Das Bad hier unten und die Küche wurden erneuert, und ich habe eine Terrassentür einbauen lassen, sodass ich jetzt von morgens bis abends Sonne habe.“

„Wie viele Bäder hast du oben?“

„Zwei.“

Sawyer trank einen Schluck Kaffee. „Und wer hat das Haus eingerichtet?“

„Ich. Es ist alles neu, bis auf den Räucherofen, der meinem Großvater gehörte. Dessen geräucherte Rinderbrüste und Schweinerippchen waren in Pittsburgh legendär.“

Sawyers Gesicht hellte sich auf. „Dann kommst du also aus der Stahlstadt?“

Sie nickte.

„Dann bist du bestimmt ein Steelers-Fan, oder?“

„Klar. Wenn es um die Teams meiner Heimatstadt geht, bin ich eine echte Patriotin.“

Sawyer trank noch einen Schluck des heißen Gebräus. „Warst du schon einmal im Wolf Den, um unsere Teams gegeneinander spielen zu sehen?“

„Nein.“

„Würdest du mit mir hingehen?“

Jessica lächelte. „Soll das eine Einladung sein?“

„Ja.“

Sie zögerte einen Moment. Einerseits war Sawyer der Bruder ihrer besten Freundin. Andererseits mochte sie ihn, sehr sogar. „Okay“, antwortete sie daher nach kurzem Zögern.

Er hob die Augenbrauen. „Ist das ein Ja?“

Sie nickte.

Sawyer atmete hörbar auf. „Was hat dich dazu bewogen, von Pennsylvania nach West Virginia zu ziehen?“

Jessica zögerte wieder und entschied sich dann für die halbe Wahrheit. Sie war noch nicht bereit, ihm den wahren Grund zu offenbaren, warum sie damals von Pittsburgh weggegangen war. „Um zu studieren.“ Sie erzählte ihm, dass sie an die Howard University in Washington D. C. gegangen war und schon während ihrer Abschlusszeit angefangen hatte, als Grundschullehrerin zu arbeiten. „Als ich im Internet eine Anzeige sah, dass die Johnson-County-Schulen in West Virginia Lehrer suchen, habe ich mich beworben und wurde nach zwei Vorstellungsgesprächen eingestellt.“

„Damals zogst du nach Beckley?“

„Ja. Ich wohnte zur Miete in einer Einzimmerwohnung, die so klein war, dass ich dort Klaustrophobie bekam. Außerdem mag ich es nicht, in einem Raum kochen und schlafen zu müssen.“

„Ich wäre früher überglücklich über so viel Privatsphäre gewesen. Ich musste mir mit drei anderen Typen eine Einzimmerwohnung teilen.“

Jessica stützte einen Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand. Neugierig sah sie ihn an. „Wann war das?“

Sawyer stellte seinen Becher ab. „Während meines Studiums in New York. Drei Wochen im Monat schlief ich entweder auf der Klappcouch oder im Schlafsack auf dem Fußboden. Meistens Letzteres.“

„Das ist ja schrecklich!“

No shit! Sorry“, fügte er hastig hinzu, als Jessica kichern musste.

„Man hört dir den New Yorker Slang wirklich an.“

Sawyer schien das als Kritik aufzufassen. „Was weißt du schon darüber?“

„Ich weiß genug. Ich weiß auch, dass man sich nicht mit New Yorker Taxifahrern anlegen oder in der U-Bahn einschlafen sollte.“

„Hoppla! Was hast du gegen meine Stadt?“

„Ich habe nichts gegen New York, Sawyer. Es ist nur, wie es ist. Über Philly oder L. A. könnte man das Gleiche sagen.“

Er lächelte ironisch. „Über Pittsburgh auch?“

Sie zuckte die Achseln. „Schon möglich.“

Jessica liebte ihre Geburtsstadt, in der ihre Familie seit Generationen verwurzelt war. Eigentlich hatte sie ihr ganzes Leben dort verbringen wollen, aber ein Vorfall auf dem College hatte sie gezwungen wegzuziehen. Nachdem sie mitbekommen hatte, dass ihre Zimmergenossin von einem beliebten Footballspieler vergewaltigt worden war, hatte sie ihn bei der Unileitung angezeigt und sich damit die Feindschaft ihres Verlobten und mehrerer anderer Kommilitonen zugezogen.

Die Schikanen waren so schlimm geworden, dass sie es nicht mehr ausgehalten hatte und das College wechseln wollte. Gregory hatte nicht nur nicht zu ihr gehalten, sondern er hatte auch noch Partei für jene ergriffen, die den Quarterback verteidigt hatten – der hatte behauptet, der Sex sei in gegenseitigem Einvernehmen passiert.

„Warum bist du Lehrerin geworden?“

„Zu unterrichten, liegt bei uns in der Familie. Meine Eltern waren Collegeprofessoren. Danke übrigens, dass du die Männer vorhin dazu gebracht hast mit aufzuräumen“, wechselte sie rasch das Thema, um von sich abzulenken.

Sawyer stand auf, ging zur Spüle, wusch seinen Becher aus und stellte ihn in den Geschirrspüler. „Du hast schließlich schon das Essen vorbereitet. Da war Aufräumen doch das Mindeste, was wir tun konnten. Danke für den Kaffee.“ Er nahm ihre Hand. „Bringst du mich noch zur Tür?“

Jessica konnte Schwielen an seiner Handfläche spüren. Anscheinend arbeitete er auch mit den Händen, was irgendwie nicht zu jemandem passte, der am Computer saß. „Bist du wieder wach genug, um zurückzufahren?“

Er drückte ihr sanft die Hand und ließ sie los. „Ja. Danke noch mal für deine Gastfreundschaft.“

Er senkte den Kopf und küsste sie auf die Lippen. Für einen Moment erstarrte sie vor Schreck, entspannte sich dann jedoch. Ihr wurde bewusst, dass ihr letzter Kuss schon viel zu lange her war.

„Wenn das Schuljahr vorbei ist, rufe ich dich wegen einer Sportübertragung im Wolf Den an. Gute Nacht, Jessica.“

Obwohl der Kuss nicht lange gedauert hatte, hatte sie den Geschmack von Kaffee auf der Zunge. „Gute Nacht, Sawyer.“

Sie beobachtete, wie Sawyer sich hinters Steuer setzte. Als sie ihm einen Kaffee angeboten hatte, hätte sie nicht damit gerechnet, dass er sie bitten würde, mit ihm auszugehen … und dass sie Ja sagen würde.

Als er ihr durch das offene Fahrerfenster zuwinkte, winkte sie lächelnd zurück. Bootsy, der neben ihr saß, knurrte leise. „Ich weiß, mein Junge. Wir gehen noch mal kurz vor die Tür, bevor ich abschließe.“

Vierzig Minuten später kam sie aus der Dusche, trocknete sich ab und streifte sich ein Nachthemd über den Kopf. Sie schlief ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte. Stunden später wachte sie ruckartig auf. Sie war schweißgebadet, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Drei Uhr. Sie hatte einmal wieder von ihrem Bruder geträumt – Captain Elliot Calhoun, Hubschrauberpilot bei der Marine, war während eines Rettungseinsatzes von einer Granate getroffen worden.

Es war schon nach vier, als sie wieder einschlief. Als sie Stunden später aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Bootsy lag auf dem Teppich neben ihrem Bett, die Schnauze zwischen den Vorderpfoten, und wartete darauf, dass sie aufstand und ihn rausließ.

„Leg die Arme um meinen Hals, Dad. Dann ist es einfacher für mich, dich zu tragen.“

Henry schüttelte den Kopf. „Ich will allein aussteigen. Ich bin doch viel zu schwer für dich.“

Sawyer schloss genervt die Augen. „Ich werde dich aber nicht selbst aussteigen lassen. Wenn du stürzt, landest du wieder im Krankenhaus. Also, was ist jetzt?“

Henry grunzte. „Na schön, aber nur dieses eine Mal.“ Er schlang die Arme um den Hals seines Sohns, und Sawyer trug seinen Vater aus dem Auto zum Haus und ins Fernsehzimmer, wo Mara das Sofa in ein Bett verwandelt hatte. Er setzte Henry auf den Fernsehsessel, erhöhte die Fußstütze und strich ihm das graue Haar aus der Stirn. Er hatte seinen Vater vorhin zur Reha gefahren, aber der Therapeut hatte den Termin abgebrochen, als Henry über Schwindel geklagt hatte.

„Ich hole noch den Rollator, falls du ins Bad musst.“

„Ich brauche den Rollator nicht! Bisher habe ich immer den Stock benutzt.“

„Ich hole ihn trotzdem, falls du ihn doch noch brauchst.“

„Ich habe doch schon gesagt, dass ich ihn nicht brauche!“, brüllte Henry.

Sawyer kehrte zur Veranda zurück, holte den Rollator und ignorierte Henrys vernichtenden Blick, als er das Gerät neben dem Sessel abstellte und den Stock außer Reichweite stellte. Bei Henrys Zustand zählten Taten mehr als Worte.

Mara betrat mit einem Tablett das Zimmer. „Warum hast du denn den Rollator geholt?“

Sawyer erwiderte den vorwurfsvollen Blick seines Vaters streng. „Dein Mann hat über Schwindel geklagt, also eignet sich der Rollator gerade besser als der Stock.“

„Es geht mir schon viel besser!“, widersprach Henry gereizt. „Und ich habe keine Lust, wie ein Kind behandelt zu werden.“ Er zeigte auf Sawyer. „Das war das erste und einzige Mal, dass ich mich von dir habe tragen lassen!“

Sawyer verschränkte die Arme vor der Brust. „Würdest du es vorziehen, wenn ich dich vom Fußboden aufsammle?“

Mara stellte das Tablett auf einen niedrigen Tisch vor das Sofa. „Bitte fang nicht an zu streiten, Sawyer. Und du, Henry, hör auf, dich zu beschweren, und iss dein Mittagessen. Ich habe gedünstetes Hähnchenfleisch mit Möhren und Avocado gemacht.“

Henry lächelte ihr zu. „Isst du mit, Hon?“

„Soll ich denn?“

„Ja bitte.“

Sawyer wechselte einen verblüfften Blick mit Mara. Henry hatte früher so gut wie nie bitte oder danke gesagt.

„Isst du auch mit, Sawyer?“, fragte Henry.

„Nein, Dad. Ich will noch zu Grand’s Hardware, Farbe und Band zum Abkleben kaufen.“

„Den Verandafußboden hast du gut hingekriegt. Du warst ja immer schon sehr geschickt mit den Händen.“

Sawyer hatte sämtliche Fensterläden abgenommen und abgeschliffen und die losen Fußbodendielen der Veranda ersetzt. „Ich hatte eben einen guten Lehrherrn.“ Er salutierte. „Bis später.“

Wann immer Henry Landgang gehabt hatte, hatte er Reparaturen im Haus vorgenommen, und als Sawyer alt genug gewesen war, hatte Henry seinen Sohn mitmachen lassen. Mit sechzehn war Sawyer imstande gewesen, einen Automotor zu reparieren und Holzdielen in exakter Länge zurechtzusägen.

Sein Vater war ein strenger Lehrer gewesen. Meistens hatte Sawyer sich auf die Zunge gebissen, aber je älter er geworden war, desto öfter hatte er widersprochen. Vielleicht würden sie ja jetzt einen Umgang auf Augenhöhe finden.

Als Sawyer im Baumarkt die Farbe abmischen ließ, dachte er an Jessica. In den letzten Tagen hatte er sich bewusst mit Reparaturarbeiten abgelenkt, um nicht an sie zu denken.

Sie war nicht nur eine tolle Köchin, sondern auch eine gute Gastgeberin. Für einen verrückten Moment stellte er sich vor, mit ihr verheiratet zu sein und gemeinsam mit ihr Freunde und Familie zu bewirten, verwarf diese Fantasie jedoch sofort. Er war noch nicht bereit für die Ehe, und er wollte nicht den Rest seines Lebens in einer Kleinstadt verbringen.

Wieder zu Hause breitete er drei Planen im Schatten zweier Eichen aus, füllte eine Farbpistole und begann damit, achtzehn Paare Fensterläden mit rasch trocknendem blauen Hochglanzlack einzusprühen.

Jessica stand am Schreibtisch und ließ den Blick ein letztes Mal durch ihr leeres Klassenzimmer gleiten. Seit zwölf Uhr war das Schuljahr vorbei, sodass sie endlich aufatmen konnte – keine durchgetakteten Wasch-, Bügel- oder Kochtage mehr.

Sie griff nach ihrer Tasche. Vor einer Woche hatte sie erfahren, dass sie zum ersten Mal die fünfte Klasse unterrichten würde, was hieß, dass sie dieselben Schüler unterrichten würde wie vor drei Jahren, darunter auch die Phelan-Zwillinge.

Abends parkte sie vor dem Haus der Middletons. Sie hatte den Nachmittag mit Unkrautjäten verbracht und Salat, Radicchio, Kohl, Tomaten, Gurken und Paprika geerntet. Anders als die Vorbesitzer ihres Hauses verschenkte Jessica alles, was sie nicht selbst verzehren oder einmachen konnte. Zwei Nachbarn und die Middletons waren ihre derzeitigen Nutznießer.

Sie nahm den Beutel mit Gemüse vom Beifahrersitz und stieg aus dem SUV. Sofort fiel ihr der neue blaue Anstrich der Verandadielen und der Fensterläden auf. Die Farbe passte perfekt zu den blauweißen Kissen auf den weißen Korbmöbeln.

Als sie durch die Fliegengittertür spähte, sah sie Sawyer auf der anderen Seite stehen. Der Duft seines inzwischen vertrauten Rasierwassers stieg ihr in die Nase, als er die Tür öffnete.

„Hey!“, säuselte er.

„Selber hey. Ich bringe euch etwas Gemüse aus dem Garten.“ Sie reichte ihm den Beutel.

Er hielt ihre Hand fest und küsste sie. „Geh noch nicht“, bat er, als sie sich wieder umdrehte. „Hast du schon zu Abend gegessen?“

„Nein.“

Seine Lachfältchen vertieften sich. Er senkte den Kopf. „Bei uns ist heute Taco-Abend. Ich bin vielleicht etwas voreingenommen, aber meine Mutter macht die besten Tacos und Nachos, die ich je gegessen habe“, murmelte er dicht an ihrem Ohr, sodass sein warmer Atem sie kitzelte. „Außerdem wird mein Vater sich bestimmt freuen, dich zu sehen.“ Sanft zog er sie ins Haus.

„Die Veranda und die Fensterläden sehen ja toll aus“, plapperte Jessica atemlos. Sie verspürte den Drang, etwas zu sagen, irgendetwas, so erregend waren Sawyers körperliche Nähe und sein Händedruck. Alles an ihm erregte sie, auch seine tiefe Stimme mit dem leichten Südstaatenakzent. Ganz zu schweigen von seinem schlanken, durchtrainierten Körper. Es war schon sehr lange her, dass sie sich körperlich so stark zu einem Mann hingezogen gefühlt hatte.

„Die sehen deshalb so toll aus, weil mein lieber Bruder sie gestrichen hat“, ergänzte Rachel, die in diesem Augenblick zu ihnen kam. „Du bleibst doch noch zum Essen? Heute gibt es Tacos.“

„Sawyer hat mich schon eingeladen.“

„Gut.“ Rachel zog Jessica von Sawyer weg und in die Küche.

Aus dem Fernsehzimmer hörte Sawyer die Jungs lachen, die gerade mit Henry einen Comicfilm sahen. Er und sein Vater hatten miteinander immer noch kein klärendes Gespräch geführt, aber Sawyer wollte nicht derjenige sein, der damit anfing.

Er folgte den beiden Frauen in die Küche. Den Anblick, der sich ihm bot, würde er so schnell nicht vergessen. Rachel und Jessica tanzten zu einem beliebten Song, während Mara unkontrolliert lachend eine Hip-Hop-Figur probierte. Er zog sein Handy aus seiner Jeanstasche und filmte seine Mutter und seine Schwester.

Mara erstarrte bei seinem Anblick vor Schreck. „Wenn du das ins Internet stellst, enterbe ich dich!“

„Keine Sorge, Mom, ich will nur etwas zum Lachen haben, wenn ich mal etwas Aufmunterung brauche.“ Ihm fiel auf, dass Jessica überdurchschnittlich gut tanzte, und applaudierte, als der Song vorbei war.

Rachel rümpfte die Nase. „Mach dich nicht über uns lustig. Du hast selbst zwei linke Füße.“

Er legte sein Handy auf den Küchentresen. „Kein Kommentar. Braucht ihr noch Hilfe?“

Mara schüttelte den Kopf. „Wir haben hier alles im Griff.“

Sawyer verließ pfeifend die Küche und ging ins Fernsehzimmer, wo Colin und Dylan sich über die Umtriebe einer computeranimierten Figur kaputtlachten. Henry lächelte ihm flüchtig zu, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf den Fernsehbildschirm richtete.

Sawyer ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus. Es überraschte ihn immer wieder, wie anders die Beziehung zwischen Henry und seinen Enkelsöhnen war als damals zu ihm. Henry war zwar nur vier Monate im Jahr zu Hause gewesen, aber seine Rückkehr war immer mit Bangen erwartet worden. Er hatte von allen Familienmitgliedern sofortigen Gehorsam erwartet, von seiner Frau eingeschlossen. Als Sawyer angefangen hatte, sich zur Wehr zu setzen, hatte Henry ihn jedes Mal zu Stubenarrest verdonnert.

Zu seinem dreizehnten Geburtstag hatte Sawyers Mutter ihm einen Computer geschenkt, was sein Leben verändert hatte. Er hatte jeden verfügbaren Computerkurs in der Schule belegt und sich beim Militär auf EDV spezialisiert.

Mit achtzehn hatte er eine Auseinandersetzung mit seinem Vater gehabt, die in Handgreiflichkeiten ausgeartet wäre, wenn er nicht das Haus verlassen hätte. Am nächsten Tag hatte er sich zum Wehrdienst gemeldet. Er hatte mehrere Jahre Abstand und viele Gespräche mit einem Armeepsychologen gebraucht, um zu akzeptieren, dass Henry nun einmal grundsätzlich das Sagen haben wollte.

Sawyer machte es sich bequem und sah mit fern, bis Rachel sie zum Essen rief.

Jessica fiel auf, dass Sawyer sie jedes Mal ansah, wenn sie den Blick hob.

Henry hob seine mit Hähnchenfleisch gefüllte Tortilla. „Danke, Schatz. Ich habe nichts gegen Gemüse, aber ab und zu muss ein Mann auch mal in ein Stück Fleisch beißen, oder, Sawyer?“

Sawyer prostete ihm mit seinem Eistee zu. „Richtig, Dad. Ich habe mal versucht, mich einen Monat lang vegetarisch zu ernähren, aber nach drei Wochen habe ich es aufgegeben, bin in ein Steakhouse gegangen und habe das dickste Steak bestellt, das auf der Speisekarte stand.“

„Und? Hast du es aufgegessen, Onkel Sawyer?“, fragte Dylan.

„Nein, es war einfach zu viel.“

Mara strich sich das dunkle, mit grauen Strähnen durchzogene Haar hinter ein Ohr und richtete den Blick auf Jessica. „Warst du schon mal in New York?“

„Ja, zwei Mal.“

„Hat es dir gefallen?“, fragte Rachel.

„Ja, sehr.“

Rachel füllte ihr Glas mit Cranberrysaft. „Ich könnte mich nie daran gewöhnen, in einer Millionenstadt zu leben.“

„Du vergisst, dass ich auch aus einer Großstadt komme. Natürlich ist Pittsburgh kleiner als New York, aber auch dort klappt man abends nicht die Bürgersteige hoch, so wie hier.“

„Lebst du trotzdem gern hier?“, fragte Mara.

„Sehr sogar. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, woanders zu wohnen.“

„Ach, ich wünschte, mein Sohn würde das genauso sehen“, murmelte Mara.

Jessica beobachtete, wie sich Sawyers Gesichtsausdruck verfinsterte. Er presste die Lippen zusammen. „Nicht jetzt, Mom.“

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Mara mit gespielter Unschuld.

„Mara, Schatz“, ermahnte Henry sie sanft. „Lass es gut sein. Sawyer ist ein erwachsener Mann. Er kann leben, wo er will.“

„Aber …“

„Wir besprechen das später!“, fuhr Henry ihr über den Mund.

Jessica wand sich unbehaglich auf ihrem Sitz, als sich am Tisch ein unbehagliches Schweigen ausbreitete. Alle senkten den Blick zu ihren Tellern.

Rachel tupfte sich den Mund ab und legte ihre Serviette hin. „Sawyer, würdest du bitte den Computer für Colin und Dylan einschalten? Jetzt, bitte“, fügte sie prononciert hinzu, als er zögerte.

Sawyer schob seinen Stuhl zurück, stand auf und verließ das Esszimmer mit Dylan und Colin im Schlepptau.

Jessica legte ihre Serviette ebenfalls auf den Tisch, um zu gehen. „Danke für das Abendessen. Es war köstlich.“

„Du kannst unmöglich vor dem Dessert nach Hause“, protestierte Mara. „Ich habe Karamellpudding gemacht.“

„Mom, bitte steh nicht auf, bis Sawyer zurückkommt“, sagte Rachel. „Ich will, dass ihr alle hört, was ich euch zu sagen habe.“

„Sogar ich?“, fragte Jessica verdutzt.

„Sogar du. Du solltest inzwischen wissen, dass du zur Familie gehörst.“

Sawyer kehrte zum Tisch zurück und nahm neben Rachel Platz. Er legte ihr einen Arm um die Schultern. „Was willst du uns mitteilen, das die Jungs nicht hören dürfen?“

„Mason will, dass sie die Sommerferien bei ihm auf Hawaii verbringen.“

Maras Kopf schoss hoch. „Wann hat er dir das gesagt?“

„Er hat mich heute angerufen.“ Rachel seufzte. „Am besten erzähle ich euch alles von Anfang an.“

„Ja bitte“, sagte Sawyer.

Jessica hörte zusammen mit den anderen zu, wie Rachel erzählte, dass ihr Ex-Mann endlich Erfolg als freischaffender Künstler hatte. Er war eine Geschäftspartnerschaft mit dem Sohn eines Hotelbesitzers auf Hawaii eingegangen, der in seine Designs für Surfbretter, Skate- und Snowboards für Profis investierte. „Man nennt ihn dort inzwischen den Andy Warhol der Surfbretter.“

„Und wie lange entwirft er die Bretter schon?“, fragte Sawyer.

„Seit achtzehn Monaten. Letzte Woche hat er ein Haus gekauft und mir den ausstehenden Kindesunterhalt des letzten Jahres sowie einen Vorschuss für den Rest dieses Jahres überwiesen.“

Henry rieb sich das Gesicht. „Willst du die Jungs wirklich zu ihm schicken? Und warum fragt er ausgerechnet jetzt, nachdem er seine Söhne jahrelang nicht gesehen hat?“

Rachel schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen. Was mir mehr zu schaffen macht, ist, dass er den Jungs inzwischen bestimmt total fremd ist.“

„Willst du, dass wir dir dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen?“, fragte Sawyer.

Rachel lächelte schwach. „Ja, danke, Sawyer. Jessica, würdest du deine Kinder weit wegfliegen lassen, damit sie Zeit mit einem Mann verbringen, den sie seit Jahren nicht gesehen haben?“

Jessica fragte sich, warum Rachel das ausgerechnet sie fragte. Sie hatte weder Kinder noch einen Ehemann. „Nein. Zumindest nicht, ohne dass ich sie begleite.“

„Da hast du deine Antwort, Rachel“, sagte Sawyer. „Sag Mason, dass ihr nur im Paket kommt. Schließlich hast du das alleinige Sorgerecht.“

Rachel strahlte ihn an. „Du hast recht, Sawyer. Danke, Jess.“

Mara runzelte irritiert die Stirn. „Dann fliegst du also hin?“

„Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich Urlaub bekomme.“

Mara schlug mit einer Hand auf den Tisch. „Wenn das Krankenhaus dir nicht freigibt, obwohl du jedes Mal einspringst, wenn jemand im Urlaub oder krank ist, dann kündigst du eben! Du kannst jederzeit einen neuen Job in einem Krankenhaus finden, das nicht so weit weg liegt. Ich bin zwar nicht gerade begeistert von der Idee, dass du wieder Kontakt zu Mason hast, aber natürlich kannst du deinen Jungs nicht die Chance vorenthalten, ihren Vater kennenzulernen.“

„Außerdem brauchst du dringend Erholung!“, warf Henry ein.

„Okay, ich werde mir dieses Wochenende Zeit lassen, bevor ich Mason antworte.“

Jessica vermutete jedoch, dass Rachel ihre Entscheidung bereits getroffen hatte.

Mara klatschte in die Hände. „Dann wäre das ja geklärt. Wer hat Lust auf Nachtisch?“

Sawyer wartete, bis Jessica seine Mutter, seine Schwester und seinen Vater zum Abschied umarmt hatte, bevor er ihre Hand nahm. „Ich bringe dich noch zum Wagen.“

„Ich glaube, den finde ich auch allein“, sagte sie trocken.

Er zwinkerte ihr zu. „Bitte tu mir den Gefallen, meine Schöne.“ Als sie zögerte, fragte er sich, ob er mit seinem Kompliment etwas zu dick aufgetragen hatte. „Solltest du nichts anderes vorhaben, würde ich mir gern deine Gewächshäuser ansehen.“

Überrascht blinzelte sie zu ihm auf. „Heute Abend?“

„Ja, heute Abend.“ Hoffentlich dachte sie jetzt nicht, er wollte gleich die Nacht mit ihr verbringen.

Sie nickte. „Okay.“

„Ich komme vorbei, nachdem ich beim Aufräumen der Küche geholfen habe.“ Er küsste sie aufs Haar. „Bis später.“

Sie lächelte. „Ich schlage vor, du bringst ein Paar alte Stiefel mit. In den Gewächshäusern ist der Boden immer etwas nass.“

„Kein Problem.“ Sawyer brachte Jessica zu ihrem Wagen, öffnete ihr die Tür und wartete, bis sie hinterm Steuer saß. Er sah ihrem Wagen hinterher, bis die Rücklichter um die Kurve verschwunden waren, bevor er ins Haus zurückkehrte.

5. KAPITEL

Es dämmerte schon, als Sawyer in Jessicas Einfahrt parkte und ausstieg. Sie erhob sich aus einem Verandasessel und kam ihm entgegen. Beim Anblick ihrer orangeroten schlammbespritzten Gummistiefel musste er lächeln. Statt des T-Shirts von vorhin trug sie eine locker sitzende Bluse.

Sawyer nahm ihre Hand, und sie gingen zu den hinter einer Baumgruppe liegenden Gewächshäusern. „Sehen wir uns mal deine Farm an, bevor es dunkel wird.“

Jessica drückte ein paar Knöpfe auf einer Fernbedienung, und Licht durchflutete die beiden gläsernen, mit Solarzellen ausgestatteten unterschiedlich großen Gebäude. Sie öffnete die Tür des kleineren Gebäudes.

„Hier ziehe ich meine Blumen“, erklärte sie und ließ Sawyer hinein.

Feuchtwarme Luft und eine Fülle von Düften schlugen ihm entgegen. Sawyer erkannte Rosen, Tulpen, Kakteen und verschiedene Orchideen, konnte die anderen Blumen jedoch nicht einordnen. Verblüfft schüttelte er den Kopf und sah sich nach Jessica um, die immer noch in der Tür stand. „Das ist ja fantastisch. Ziehst du die Blumen aus Samen?“

„Nein, das nicht. Ich kaufe Setzlinge in einer Gärtnerei und ziehe nur Tulpen, Narzissen und Amaryllis aus Zwiebeln. Willst du dir jetzt das Gemüse ansehen?“

„Klar.“ Die Blumen hatten ihn schon beeindruckt, aber der Anblick der Gemüsehochbeete und der großen Töpfe mit Zitronen- und Limettenbäumen und Erdbeeren haute ihn förmlich um. Er bezweifelte, dass Jessica noch Gemüse und Obst kaufen musste. „Oh Mann, das ist ja das reinste Vegetarierparadies.“

Jessica musste lachen. „Mag sein.“

„Was baust du eigentlich nicht selbst an?“

Sie kam zu ihm. „Reis und Kartoffeln.“

Sawyer schlang ihr einen Arm um die Taille und unterdrückte ein Lächeln, als sie sich an ihn lehnte. Ihre Körperwärme und der Duft ihres Parfüms waren geradezu berauschend. Sie hatte etwas an sich, das ihn aus dem Konzept brachte, aber auf gute Art. Alles an ihr sprach seine Männlichkeit an. Sie flirtete nicht, aber ihr Blick törnte ihn trotzdem total an.

„Erntest du das ganze Jahr über?“

„Nein, im Herbst ist alles vorbei. Erst im Frühjahr fange ich wieder an.“ Ein Piepen halte durch das Gewächshaus. „Wir haben noch eine Minute, bevor die Sprinkleranlage angeht.“

Sie verließen das Gebäude, und dreißig Sekunden später regnete es sanft auf das Gemüse und das Obst. Jessica schaltete das Licht aus und verschloss die Türen. Der Nachthimmel war mit Sternen übersät, als sie zur Vorderseite des Hauses zurückgingen.

Sawyer drehte sich zu Jessica um und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Bitte setz dich noch eine Weile mit mir auf die Veranda. Ich möchte mit dir über deine Pläne für die Sommerferien sprechen.“

„Okay?“ Sie stieg die Verandastufen hoch, setzte sich aufs Korbsofa und klopfte auf den Sitzplatz neben sich, als Sawyer sich mit verschränkten Armen gegen einen Pfosten lehnte. „Du darfst dich ruhig zu mir setzen. Ich verspreche dir auch, dich nicht zu beißen.“

Sawyer setzte sich neben sie. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und küsste ihren Hals. „Hat dich noch niemand gewarnt, dass ich ein Vampir bin und schönen jungen Frauen das Blut aussauge, sobald die Sonne untergegangen ist?“

Autor

Wendy Warren
Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...
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<p>Melissa Senate schreibt auch unter dem Pseudonym Meg Maxwell, und ihre Romane wurden bereits in mehr als 25 Ländern veröffentlicht. Melissa lebt mit ihrem Teenager-Sohn, ihrem süßen Schäfermischling Flash und der spitzbübischen Schmusekatze Cleo an der Küste von Maine im Norden der USA. Besuchen Sie ihre Webseite MelissaSenate.com.</p>
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