Bianca Extra Band 81

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HERZ VERLOREN, FAMILIE GEFUNDEN von LYNNE MARSHALL
Nach einem schmerzlichen Verlust hat Daniel der Liebe abgeschworen und stürzt sich ganz in die Arbeit. Hätte er nur nicht die hinreißende Keela O‘Mara als Assistentin eingestellt! Sie erinnert ihn ständig an das, was er verloren hat - und berührt gegen seinen Willen sein Herz …

EIN FLIRT, EIN KUSS - UND MEHR? von SUSAN CROSBY
Niemand fasziniert Anwältin Laura so sehr wie der attraktive Reporter Donovan McCoy. Aber sie muss seine Flirtversuche ignorieren! Als ihr Klient ist er tabu für eine Affäre; sie wiederum ist keine Frau zum Heiraten, zumindest für einen kinderlieben Mann wie ihn. Oder?

TÜR AN TÜR MIT DEM GLÜCK von ROCHELLE ALERS
Natalia lässt die Großstadt und ihren übergriffigen Ex hinter sich, um im beschaulichen Wickham Falls neu anzufangen. Das Letzte, was sie da braucht, ist gleich die nächste Beziehung! Allerdings ist ihr Nachbar Seth einfach unwiderstehlich. Kann ein einziger Kuss ein Fehler sein?

TRAUMFRAU MIT GEHEIMNISSEN von CINDY KIRK
Erst ist Singledad Joel einfach nur dankbar, dass sich die neue Kinderärztin so liebevoll um seine Adoptivtochter Chloe kümmert. Dann fühlt er sich immer mehr zu Dr. Kate McNeal hingezogen. Noch ahnt er nicht, wer Kate wirklich ist - und dass sie nicht zufällig in die Stadt gekommen ist …


  • Erscheinungstag 10.03.2020
  • Bandnummer 81
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748074
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lynne Marshall, Susan Crosby, Rochelle Alers, Cindy Kirk

BIANCA EXTRA BAND 81

LYNNE MARSHALL

Herz verloren, Familie gefunden

Nach ihrer Scheidung kommt Singlemom Keela wunderbar allein zurecht! Dumm nur, dass ihr Boss Daniel sie magisch anzieht. Denn mit einer Affäre riskiert sie nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren Job!

SUSAN CROSBY

Ein Flirt, ein Kuss – und mehr?

Ein einziger heißer Kuss – danach zieht sich die schöne Anwältin Laura sofort wieder von Donovan zurück. Dabei scheint sie ihn genauso zu begehren wie er sie! Hat sie womöglich etwas zu verbergen?

ROCHELLE ALERS

Tür an Tür mit dem Glück

Sheriff Seth Collier ist wunschlos glücklich mit seinem Leben in Wickham Falls. Bis seine aufregende neue Nachbarin Natalia plötzlich heftige Sehnsucht in ihm weckt – und trotzdem nur Freundschaft will!

CINDY KIRK

Traumfrau mit Geheimnissen

Inkognito sucht Kate nach etwas, das sie einst aufgeben musste – und verliebt sich dabei in den attraktiven Joel. Aber Vorsicht: Er darf ihr Geheimnis nicht entdecken!

1. KAPITEL

Als Daniel Delaney den Materialraum öffnete, sah er, dass die Regale fast leer waren. „Keela!“, brüllte er frustriert nach seiner Assistenz-Physiotherapeutin. Was war nur los mit ihr? Normalerweise hatte sie immer alles perfekt im Griff, und jetzt stand er plötzlich ohne auch nur ein einziges Kinesiotape da.

Enttäuscht sah er sich um. Wo waren die roten Therabänder oder die Elektroden-Pads für das Reizstromgerät? Auch diverse andere Gegenstände fehlten. „Keela!!“

Besagte Physiotherapeutin streckte den Kopf in den kleinen Raum und sah ihn verwirrt aus großen blauen Augen an. „Ja?“

„Wo sind die ganzen Materialien?“ Er blickte demonstrativ im Raum umher, um sein Anliegen klarzumachen.

Sie zog die hellbraunen Augenbrauen zusammen und trat ein. „Ich habe Ihnen doch schon letzte Woche gesagt, dass sich die letzte Lieferung wegen der schlechten Wetterverhältnisse verzögert.“ Im Gegensatz zu ihm blieb sie ruhig und höflich, verschränkte jedoch die Arme vor der Brust und hob etwas das Kinn.

„Ach ja?“

Daniel arbeitete seit drei Monaten mit Keela zusammen. Er hatte sie vom Fleck weg engagiert – ausnahmsweise, da ihre Vorgängerin kurzfristig gekündigt hatte. Wegen seines zurzeit praktisch nicht existenten Privatlebens war es gerade nicht leicht, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wahrscheinlich der Grund dafür, dass Tiffany so schnell gekündigt hatte. Deshalb und wegen seiner hohen Ansprüche.

Er erwartete zum Beispiel absolute Pünktlichkeit. Dickköpfig, wie er war, hatte er einen stressigen Monat lang versucht, alles allein zu schaffen, womit er jedoch kläglich gescheitert war. Inzwischen hatte er seine Lektion gelernt: Niemand, der gerade eine Physiotherapiepraxis eröffnet hatte und nebenbei noch trauerte, schaffte alles allein.

Bei der jungen Frau aus Irland mit dem guten Abschluss vom City College hatte er sofort ein gutes Gefühl gehabt. Was vielleicht an ihrem Akzent lag, der ihn an seinen Großvater erinnerte.

Keela war neu in der Stadt, geschieden und hatte eine kleine Tochter. Als Angestellte war sie das komplette Gegenteil von Tiffany, die sich darüber beschwert hatte, dass er zu viel von ihr verlangte, nur weil er sie gebeten hatte, pünktlich zu kommen und mit ihrer Arbeit fertig zu werden, bevor sie ging. Keela hingegen hatte das Zeug zur Angestellten des Monats.

Bisher hatte er nicht bereut, sie eingestellt zu haben. Sie konnte mit seinem schon länger nicht mehr sonnigen Gemüt umgehen und ließ seine gelegentliche Ruppigkeit einfach an sich abprallen. So wie jetzt zum Beispiel, als er nicht zugeben wollte, dass sie ihm bereits den Grund für die Materialknappheit genannt hatte.

„Aber ich sollte Ihnen solche Dinge wahrscheinlich besser nicht mitteilen, wenn Sie in Ihre Unterlagen vertieft sind.“ Keela schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln, das ihn komplett entwaffnete. Wenn sie lächelte, funkelten ihre Augen immer so süß.

„Wann soll die nächste Lieferung denn kommen?“

Die kleine Kammer kam ihm plötzlich ganz schön eng vor. Außerdem brachte ihn Keelas Vanille-Parfum aus dem Konzept. Er wusste nicht, ob er lieber an ihr schnuppern oder ihr den Hals küssen wollte, was ihn schon wieder nervte. Er wedelte sie aus dem Raum und folgte ihr in den Flur.

„Ende der Woche.“

„Dann werden wir wohl so zurechtkommen müssen“, sagte er seufzend.

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Das haben Sie letztes Mal auch gesagt.“ Sie kehrte in das Behandlungszimmer zurück, wo ihr erster Nachmittagspatient wartete.

Keela hatte vermutlich recht. Vor lauter Arbeit in seiner neuen Praxis wusste er kaum, wo ihm der Kopf stand – aber das bot ihm nun mal die perfekte Gelegenheit, seine Trauer zu verdrängen.

Eigentlich hatte er gern im Krankenhaus in Ventura, Kalifornien, gearbeitet, doch dass Kathryn ihn nach einem Jahr verlassen hatte, war ein solcher Tiefschlag für ihn gewesen, dass er beschlossen hatte, in seine Heimatstadt zurückzukehren und dort eine eigene Praxis zu eröffnen. Er war fest entschlossen, sich hier in Sandpiper Beach zu etablieren, obwohl so etwas in Küstenstädten nicht leicht war.

Sein Job machte ihm großen Spaß.

Als Jugendlicher hatte er es einmal beim Sport etwas übertrieben und musste zum Physiotherapeuten. Der hatte ihm seine Schmerzen genommen, ohne ihm Tabletten zu verschreiben, sodass Daniel schnell wieder nach Herzenslust hatte Football und Baseball spielen können. Da hatte er Blut geleckt. Er hatte angefangen, sich für Sportmedizin zu interessieren, wenn auch vielleicht deswegen, weil er nicht groß und kräftig genug für eine Karriere als Sportler gewesen war. Wie auch immer, er hatte jedenfalls während seiner Highschoolzeit, auf dem College, der Uni und als Stipendiat und Assistenzarzt unermüdlich gearbeitet.

Als er jetzt in sein Büro trat, sah er sich mit einem gewissen Stolz in dem kleinen funktionalen Raum um. Er hatte es tatsächlich geschafft, das erste Jahr ohne Kathryn und mit neuer Praxis zu überleben.

Sich selbstständig zu machen lag bei ihm in der Familie. Padraig Delaney, sein fünfundachtzigjähriger Großvater, war in den 1950ern in die Staaten ausgewandert, hatte in Kalifornien an der Küste Golfplätze mitgebaut. Er und seine Frau Mary hatten eisern gespart und sich ein Grundstück in Sandpiper Beach gekauft, das sie an ihre Heimatstadt in Irland erinnerte. Dort hatten sie ein kleines Strandhotel gebaut und es „The Drumcliffe“ genannt. Inzwischen leiteten Daniels Eltern das Hotel.

Er schrieb ein Rezept für ein Kinesiotape und kehrte zurück ins Behandlungszimmer. „Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit, John, aber Sie müssen sich das Tape leider in der Apotheke besorgen. Unsere Vorräte sind alle.“

Der Mann mittleren Alters mit einem Tennisarm nahm das Rezept dankend entgegen. „Kein Problem.“

„Sollten Sie Fragen haben, wie man es anlegt, kommen Sie ruhig noch mal vorbei.“ Daniel zeigte auf die Stelle am Unterarm, wo man das Tape befestigen sollte, ohne die Blutzufuhr abzuschnüren. „Ach ja, und besorgen Sie sich einen Entzündungshemmer, aber vergessen Sie nicht, den Arm auch zu kühlen. Wenn die Beschwerden in zwei Wochen nicht abgeklungen sind, können wir es mit Injektionen versuchen, aber vorerst bleiben wir dabei.“

„Einverstanden, Doc.“ Der Mann stieg vom Untersuchungstisch. „Ist irgendwie ein komisches Gefühl, ‚Doc‘ zu dem kleinen Danny Delaney zu sagen.“ Er zwinkerte Daniel zu, bevor er ihm die Hand schüttelte. „Ich bin froh, dass du hier eine Praxis eröffnet hast. Sonst hätte ich vierzig Meilen weit fahren müssen.“

„Ich bin auch froh, John.“ Daniel brachte seinen Patienten zur Tür und beschloss, in seinem Büro noch etwas Papierkram zu erledigen, bevor in – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – zehn Minuten sein nächster Patient kam.

Als er den Flur entlangging, kam Keela aus ihrem Behandlungszimmer. „Daniel?“

Er blieb stehen und sah sie fragend an. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, das Sagen zu haben.

Als sie auf ihn zukam, fiel ihm mal wieder auf, wie gut sie in ihrer Arbeitskleidung, bestehend aus kakifarbener Cargohose und weißem Polohemd, aussah. „Sie haben hier zehn Übungen zehn Mal täglich notiert.“ Sie zeigte auf den Behandlungsplan, den er für den Patienten entworfen hatte. „Sie meinten doch bestimmt drei Mal täglich, oder?“

Machten ihm seine unerfreulichen Erinnerungen an Kathryn und alles, was er verloren hatte, also noch immer einen Strich durch die Rechnung? Er setzte ein reumütiges Gesicht auf, griff wortlos nach dem Blatt Papier und korrigierte die Angabe, was ihm wieder ein strahlendes Lächeln seiner Kollegin eintrug.

Keela O’Mara musste beim Anblick seines Gesichtsausdrucks lächeln. Daniel sah aus wie ihre vierjährige Tochter manchmal, wenn sie über die Linie malte. Dass er öfter aufbrauste, nahm sie ihm nicht übel. Immerhin wusste sie bei ihm immer, woran sie war. Der Mann war authentisch, und damit konnte sie umgehen.

Sie arbeitete gern für Daniel Delaney. Es war ein Riesenglück gewesen, direkt nach dem Studium den Job hier zu ergattern. Viele ihrer Kommilitonen suchten immer noch nach einer Anstellung. Außerdem empfand sie es als Segen, anderthalb Jahre nach ihrer Scheidung von Ron wieder in Sandpiper Beach zu sein.

Vor sechs Jahren hatte sie sich online mit einem Mann aus Kalifornien angefreundet. Von Irland aus hatte sie das zwar für ein bisschen ungewöhnlich, aber sicher gehalten. Nach sechs Monaten hatte sie zugestimmt, ihn während eines Zwischenaufenthalts am Flughafen von Shannon zum Kaffee zu treffen.

Seine braunen Augen und sein herzliches Lächeln hatten ihr sofort gefallen. Noch dazu war er der perfekte Gentleman gewesen – so höflich und kultiviert, dass sie Lust bekommen hatte, ihn besser kennenzulernen. Als sie spontan den Wunsch geäußert hatte, ihm Ennis zu zeigen, hatte er seinen Urlaub in Europa um ein paar Tage verkürzt. Sogar ihren Eltern hatte er gefallen!

Eins hatte zum anderen geführt, sodass er schließlich angeboten hatte, ihr einen Flug nach Kalifornien zu bezahlen, damit sie ihn besuchen konnte. Sie hatte zugestimmt, doch nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht bei ihm übernachtete, woraufhin er ihr ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Strand gebucht hatte, dem Drumcliffe.

Bei ihrem Aufenthalt dort hatte sie sich in ihn verliebt. Als sie nach zwei Monaten in Irland feststellte, dass sie schwanger war, und Ron ihr einen Heiratsantrag machte, zog sie zu ihm.

Und danach hatte sich alles geändert.

Als Keela Mittwoch um zehn nach vier mit Joan Haverhill, einer Stammpatientin der Praxis, falls man nach einem Jahr schon von Stammpatienten reden konnte, aus dem Behandlungszimmer kam, stand Daniel gerade am Kopierer und bereitete seine Präsentations-Unterlagen für das Central Coast City College vor.

„Mit Ihren Gelenken ist alles in Ordnung, wenn man die üblichen Abnutzungserscheinungen berücksichtigt“, sagte Keela zu der Frau und nickte Daniel im Vorbeigehen zu.

„Sagen Sie es ruhig – für eine Frau meines Alters“, sagte die große, leicht gebeugte grauhaarige Frau. „Das höre ich immer, wenn ich heutzutage zum Arzt gehe. Für Ihr Alter.

Keelas Lachen weckte Daniels Aufmerksamkeit. Er hörte sie gern lachen. Es klang fast so melodiös wie Gesang.

„So etwas würde ich nie sagen, Mrs. Haverhill. Sie sind toll in Form.“

Die Frau warf Daniel einen belustigten Blick zu. Unglaublich, was sie mir hier alles auftischt, oder? Aber bitte mehr davon.

Er lächelte wohlwollend.

„Bitte machen Sie drei Mal täglich die vier Übungen, die ich Ihnen gezeigt habe“, fuhr Keela fort.

„Mach ich, keine Sorge.“

Keela sah der Patientin einen Moment hinterher, bevor sie sich lächelnd zu Daniel umdrehte.

Er erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich. Er hatte von Anfang an gespürt, dass sie eine verdammt gute Physiotherapeutin war. Stören tat ihn nur eins: dass sie eine Frau war. Seit Kathryn war er nämlich nicht gut auf Frauen zu sprechen.

Sie griff nach den Unterlagen für den nächsten Patienten. Daniel hatte sie gebeten, heute Nachmittag ein paar mehr zu übernehmen, damit er sich auf den Vortrag morgen vorbereiten konnte. Wenn er den Auftrag des Colleges bekam, sich um die Sportstudenten zu kümmern, würde die Durststrecke vorbei sein. Es hing also eine Menge davon ab.

Da Keelas Telefon klingelte, ging sie in ihr Büro, um abzunehmen. Daniel, der sie durch das Fenster in der Tür sah, verstand nicht, was sie sagte, aber ihrem Blick nach zu urteilen, war es ein frustrierendes Gespräch. Als der Kopierer vor Daniel endlich verstummte, legte sie gerade auf und ließ die Schultern hängen. „Danke auch für die rechtzeitige Info“, sagte sie wütend zum Telefon auf ihrem Schreibtisch.

In diesem Augenblick schoss ein kleines Mädchen durch die Eingangstür, gefolgt von einer älteren Frau. Keelas Gesicht hellte sich beim Anblick des Kindes schlagartig auf. „Hi, Anna!“ Sie hockte sich hin und umarmte die Kleine.

Bisher hatte Daniel von Keelas Tochter nur Fotos auf ihrem Schreibtisch gesehen. Damit konnte er umgehen, aber mit dem leibhaftigen Anblick der Kleinen nicht. Himmel, war sie klein! Sie sah aus wie die Miniaturversion ihrer Mutter.

„Danke, dass Sie sie vorbeigebracht haben, Mrs. Jenkins.“ Keela war eigentlich immer fröhlich, aber diesmal wirkte ihr Lächeln etwas gezwungen.

Daniel stapelte seine frisch kopierten Unterlagen und kehrte damit in sein Büro zurück, wobei er zu ignorieren versuchte, dass die ältere Frau ging und die Kleine zurückließ.

Kaum hatte er den Stapel auf seinen Schreibtisch gelegt, spürte er eine Bewegung hinter sich. Keela stand in der Tür, ihre Tochter neben sich. Sie wirkte etwas nervös.

„Ich muss Sie um einen Riesengefallen bitten“, sagte sie. „Mein Ex-Mann sollte Anna eigentlich heute Nachmittag und Abend übernehmen, aber er hat gerade abgesagt, und Mrs. Jenkins hat einen Friseurtermin.“

Daniel ahnte schon, was jetzt kommen würde, und verhärtete sich innerlich. Dank der vielen Arbeit in der Praxis kam er ganz gut mit seinem Verlust klar, aber der bloße Anblick des süßen kleinen Mädchens reichte, um die Fortschritte eines ganzen Jahres zunichtezumachen. „Lassen Sie sie doch solange in Ihrem Büro.“

„Äh … sie ist erst vier.“

„Ich bin schon fast fünf!“ Die Kleine hob eine Hand und spreizte die Finger. Sie sah wirklich niedlich aus mit ihren Locken und den großen braunen Augen, aber …

„Sie kann nicht unbeaufsichtigt bleiben.“

Oh nein, nicht auch noch das! „Wollen Sie die Nachmittagstermine etwa absagen? Jetzt noch?“

„Oh nein!“ Keela riss erschrocken die blauen Augen auf. „Das würde ich Ihnen nie zumuten.“ Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe, während ihre Tochter fragend zu ihr aufsah. „Ich habe noch vier Patienten. Wäre es irgendwie möglich, dass Sie eine Stunde lang auf sie aufpassen?“

Was?! Ich habe viel zu viel zu tun! Außerdem kann ich gar nicht mit Kindern umgehen. Doch das zu sagen wäre gemein, oder? Keela war seine Angestellte des Monats, jeden Monat. Verdammt! Jetzt brauchte sie mal etwas, und er war hier. „Na ja, sie kann sich ja zu mir setzen, während ich arbeite.“ Er legte die Betonung extra auf das letzte Wort, damit Keela gar nicht erst auf dumme Gedanken kam.

„Danke!“ Sie klang so erleichtert, dass er sich prompt für seine Reaktion schämte. Als er Panik in sich aufsteigen spürte, beschloss er, die Kleine einfach zu ignorieren. „Solange so etwas nicht öfter vorkommt.“ Er verstand ihre Situation, aber Kinderbetreuung stand nicht in ihrem Arbeitsvertrag.

„Nein, keine Sorge, Daniel.“

Widerstrebend richtete er den Blick auf die Kleine. „Okay, setz dich.“

Das Mädchen sah seine Mutter fragend an. Keela hockte sich hin. „Sei schön lieb zu Dr. Delaney, okay? Mommy muss jetzt arbeiten.“

Anna nickte ernst.

Keela nahm ihrer Tochter den kleinen orangefarbenen Rucksack ab, öffnete den Reißverschluss und zog ein paar Buntstifte und ein Malbuch heraus. „Du kannst ja ein paar Bilder für Daddy malen.“ Sie brachte das Mädchen zu einem kleinen Tisch mit Magazinen.

Als Daniel bewusst wurde, dass er der Kleinen mit seinem abweisenden Gesichtsausdruck vielleicht Angst einjagte, bemühte er sich um ein beruhigendes Lächeln, scheiterte jedoch kläglich. Es war nicht ihre Schuld, dass sie jetzt bei einem alten Miesepeter festsaß, der immer noch traurig war und einfach nicht über seinen Verlust hinwegkam.

Keela schlug das Malbuch an einer bestimmten Seite auf, bevor sie „danke“ hauchend den Raum verließ. Die Kleine machte sich sofort an die Arbeit.

Okay, so weit, so gut. Irgendwie würde Daniel die nächste Stunde schon überstehen. Er warf einen Blick auf seine Uhr, widmete sich seinem Vortrag und ignorierte das Mädchen.

„Was machst du da?“, riss sie ihn aus seiner Konzentration.

Sofort verkrampfte er sich wieder. „Äh … ich arbeite an einem Projekt.“

„Soll ich dir helfen?“

Er war gerade damit beschäftigt, die Unterlagen für den Vortrag zusammenzutackern. Eigentlich wollte er das nur rasch hinter sich bringen, um danach den Inhalt einzustudieren, bis er ihn in- und auswendig konnte, aber jetzt stand Anna neben seinem Schreibtisch und sah ihn hoffnungsvoll an. „Na gut. Kannst du so kräftig hier draufhauen, dass die Klammer durch die Blätter dringt?“

Er positionierte den Tacker an die obere linke Ecke der nächsten vier Seiten. Da Anna nicht rankam, kletterte sie auf Daniels Schoß, der sein Entgegenkommen sofort bereute. Wie klein sie war und doch so voller Energie …

Peng! Sie betätigte den Tacker so professionell, dass er sie verdutzt anstarrte. „Gut gemacht!“ Wenn sie in dem Tempo weiterarbeiteten, waren sie bald fertig.

Ein paar Minuten später war alles erledigt, und Daniel hatte es sogar überlebt. „Das war’s. Danke. Jetzt kannst du weitermalen.“ Er setzte die Kleine ab und holte erst mal tief Luft, um sich zu beruhigen.

„Ich will nicht.“

„Was?“

„Ich will nicht weitermalen. Ist das da ein Brunnen?“ Sie zeigte auf den Trinkbrunnen im Flur.

„Ja. Bedien dich.“ Vielleicht konnte er dann ja endlich weiterarbeiten.

Anna schoss aus dem Zimmer, dass ihre Sneakers auf den Fliesen quietschten. Mit ihren rosafarbenen Leggings und dem Tutu sah sie wirklich süß aus, doch Daniel verdrängte diese Wahrnehmung. Viel zu schmerzlich. Stattdessen seufzte er erleichtert auf und konzentrierte sich auf seinen Vortrag.

„Kannst du mir helfen?“, rief Anna von draußen.

Sofort sprang er auf, um sie hochzuheben. Mann, war sie leicht! Das reinste Fliegengewicht. So verletzlich und so abhängig. So vertrauensvoll.

Sie drückte auf den Knopf für das Wasser, aber ihre Locken waren im Weg, sodass sie ganz nass wurden. Sie kicherte.

Daniel hätte fast gelächelt. „Warte mal, so geht’s besser.“ Er setzte sie auf sein angewinkeltes Bein und hielt ihr mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht. Sie schlürfte gierig, bis sie nach Luft schnappen musste. „Mm, lecker.“

„Ich kann dir gern einen Becher füllen. Dann geht es leichter.“

„Nein, so mach ich es lieber.“

Also blieb Daniel, wo er war, und sah zu, wie sich die Tochter seiner Physiotherapeutin mit eiskaltem Wasser volllaufen ließ.

„So, fertig!“, rief sie endlich.

Daniel setzte sie erleichtert ab. Vielleicht konnte er jetzt ja endlich weitermachen!

„Ich muss mal!“

Genervt verzog er das Gesicht. Echt jetzt? „Schaffst du das nicht allein?“ Nie im Leben würde er ihr dabei helfen!

„Ich bin schon fast fünf!“ Wieder schoss die Hand hoch.

Was auch immer sie ihm damit sagen wollte. Er griff nach ihrer ausgestreckten Hand, ging mit ihr zur Toilette und schob sie hinein, wobei er hoffte, dass sie nicht ins Klobecken fiel. Sie war schon dabei, sich die Leggings runterzuziehen, bevor er die Tür geschlossen hatte.

Er blieb eine gefühlte Ewigkeit davor stehen, während er sich über die Unbefangenheit von Kindern wunderte. Man musste sie wirklich beschützen. Nach einer Weile warf er einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr, lauschte an der Tür und wünschte, er wäre endlich wieder in seinem Büro. Leider blieben seine Gedanken irgendwo zwischen Verlust und Trauer hängen.

Er versuchte, seine Emotionen zu verdrängen. Schließlich war er der Erwachsene hier.

Kurz darauf hörte er die Spülung rauschen. „Ich komm nicht ans Becken!“, schrie sie.

Als er vergeblich versuchte, die Tür zu öffnen, fragte er sich, wie sie es nur geschafft hatte abzuschließen, ohne dass er etwas gehört hatte. „Lass mich rein, damit ich dir helfen kann.“

„Was?“, brüllte sie über das Rauschen der Toilette hinweg.

„Lass mich rein!“

Sie brauchte so lange, um die Tür zu öffnen, dass Daniel sich schon zu fragen begann, wo er den Reserveschlüssel hatte, strahlte jedoch zu ihm auf, als hätte sie gerade etwas ganz besonders Tolles vollbracht.

Daniel betrat den kleinen Raum und drehte den Wasserhahn auf. „Ich zeig dir mal einen Trick“, sagte er und klappte den Klodeckel runter. „Stell dich hierauf.“ Hauptsache, er musste sie nicht wieder hochheben.

Sie kletterte auf den Sitz, stellte sich hin und beugte sich zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.

„Siehst du? Geht das so nicht viel besser?“

Sie warf ihm einen bewundernden Blick zu. „Du bist total schlau!“

Warum klang bei ihr eigentlich jeder Satz so, als hätte er ein Ausrufezeichen dahinter? Trotzdem freute er sich über das Kompliment. Zum ersten Mal an diesem Tag musste er aufrichtig lächeln. Sie war wirklich total niedlich.

Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. Erst eine Viertelstunde war vergangen, seitdem er Annas Betreuung übernommen hatte, und Keela war erst um fünf fertig. Was jetzt?

2. KAPITEL

Als Keela ihre letzte Patientin zurück zum Wartezimmer begleitete, warf sie im Vorbeigehen einen Blick in Daniels Büro, das zu ihrer Überraschung leer war. Als sie gerade Abby, die Rezeptionistin, fragen wollte, wo die beiden steckten, flog die Tür auf, und Daniel und Anna betraten mit Eistüten in den Händen die Praxis. Daniels Erleichterung bei Keelas Anblick war nicht zu übersehen.

Anna rannte sofort auf ihre Mutter zu. „Das war ganz toll!“

„Ach ja?“ Überrascht lächelnd hob sie den Blick zu Daniel, der den Rest seines Eises verspeiste und sie beide ignorierte. „Okay, mein Job ist hiermit erledigt“, sagte er kühl, bevor er kommentarlos in seinem Büro verschwand.

Keela sah ihm verwirrt hinterher. Aber was konnte sie schon erwarten, wenn sie ihm ihre Tochter aufhalste? Dass es ihm Spaß machte? „Komm, bedank dich noch mal bei ihm, Anna“, sagte sie zu ihrer Tochter und ging mit ihr zu Daniels Büro.

„Danke!“, rief Anna in den Raum hinein.

Er hob den Blick und wirkte halb überrascht, halb verärgert wegen der nochmaligen Unterbrechung. „Gern geschehen“, sagte er. „Und vergiss nicht, die Beine vorzustrecken, wenn du nach vorn schaukelst, und sie wieder anzuwinkeln, wenn die Schaukel zurückschwingt. So kommst du viel höher.“ Er hatte die Aufmerksamkeit schon wieder auf seinen Computerbildschirm gerichtet.

Anna schien das nicht zu stören. Sie griff nach ihrem Rucksack, steckte ihre Stifte und ihr Malbuch ein und zog den Reißverschluss zu.

Keela fragte sich, wie hoch Anna wohl geschaukelt war, während sie ihrer Tochter beim Aufsetzen des Rucksacks half. „Hast du Dad ein Bild gemalt?“

„Nein. Wir haben ganz viel andere Sachen gemacht.“ Anna ließ sich von Keela zur Tür führen. „Dr. Dan hat mir beigebracht, ganz hoch zu schaukeln! Er hat gesagt, er will nicht die ganze Arbeit allein machen.“

„So unfreundlich habe ich das nicht ausgedrückt“, warf Daniel ein, ohne den Kopf zu heben.

Anscheinend war er doch nicht so ignorant, wie er tat. Keela warf ihm einen fragenden Blick zu, doch er tat immer noch so, als wären sie gar nicht da.

„Wir haben uns Käfer angesehen, und ich durfte eine Raupe anfassen und …“, zählte Anna auf dem Weg zum Auto alles auf, was sie unternommen hatten. Eine erstaunlich lange Liste.

„So viel habt ihr gemacht?“, fragte Keela ungläubig auf dem Weg zum Wagen.

Irgendwie passte das nicht zu Daniels Verhalten von gerade eben. Er konnte Anna unmöglich den Nachmittag über ignoriert und trotzdem ihre Zuneigung gewonnen haben. Das Kind war förmlich aus dem Häuschen vor Begeisterung. Was natürlich auch mit dem Zucker im Eis zusammenhängen konnte, aber ehrlich gesagt war Anna nach den gelegentlichen Treffen mit ihrem Vater nie so fröhlich.

Keela schnallte ihre Tochter in ihrem Kindersitz an, schloss die Tür und setzte sich hinters Steuer, um den Motor ihres alten, aber zuverlässigen Sedans zu starten.

Bisher hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass Daniel Delaney nur für seinen Job lebte. Er schien seine ganze Freizeit in die Praxis zu stecken, wofür sie ihn respektierte.

Von der netten Rezeptionistin Abby hatte sie von seiner schlimmen Trennung und den schlechten Erfahrungen mit seiner letzten Physiotherapeutin gehört und vermutete daher, dass er nicht nur ihr, sondern allen Frauen gegenüber so distanziert war. Sie nahm das genauso wenig persönlich wie seine gelegentliche Unfreundlichkeit. Sie wusste, wie sich Liebeskummer anfühlte und wie lange er nachwirken konnte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sie beide ein Team waren – ganz anders als sie und Ron.

Als sie die Main Street entlangfuhren, kamen sie an der Eisdiele vorbei, wo Daniel Anna Eis gekauft hatte. Kurz darauf bog sie in ihr Viertel, das ein paar Häuserblocks vom Strand entfernt lag.

Ron hatte sich nicht über Nacht verändert. Nein, er hatte einfach sein wahres Ich erst nach zwei Jahren offenbart. Er war sehr geschickt mit Worten, aber wenn es um den Alltag und seine Rolle als Ehemann und Vater ging, hatte er sich als egozentrisch und nörglerisch entpuppt. Nachdem Keela begriffen hatte, dass sie ihm sowieso nichts recht machen konnte, hatte sie aufgehört, es zu versuchen, und sich auch nicht mehr mit ihrer Kritik zurückgehalten. Ihre Konflikte hatten sich irgendwann so zugespitzt, dass er immer öfter von zu Hause weggeblieben war.

Irgendwann hatte er sie betrogen, und sie hatten sich schließlich getrennt. Er hatte sich bereit erklärt, ihr die Ausbildung zur Physiotherapeutin zu bezahlen – vermutlich, um sie endlich loszuwerden, nachdem er eine neue Freundin hatte.

Keela hatte eine Weile gebraucht, um alles zu verarbeiten, aber inzwischen war sie darüber hinweg. Sie wusste nur eins: Nie wieder würde sie sich von einem Schmeichler reinlegen lassen!

Sie parkte unter dem Carport neben ihrem Häuschen. Nach der Scheidung waren ihr wieder ihre erste Reise nach Kalifornien und das idyllische Strandhotel in Sandpiper eingefallen, das ihr so gut gefallen hatte. Da die Stadt in der Nähe ihres Colleges lag, hatte sie sich dort ein kleines Häuschen zur Miete gesucht. Und seit sie den Job in der Praxis hatte, ging es mit ihrem Leben steil bergauf.

Sie war heilfroh, dass Daniel sie eingestellt hatte, und hatte sich daher fest vorgenommen, ihr Bestes zu geben. Mit seiner abweisenden Art konnte sie umgehen. Die war kein Vergleich zu den ständigen Beschwerden ihres Ex.

Als sie die Haustür aufschloss, rannte Anna sofort ins Bad. „Dr. Daniel hat mir einen Trick gezeigt“, rief sie über eine Schulter.

„Hat er das?“ Keela folgte ihr in den rosa gefliesten Raum.

Nachdem Anna ihr Geschäft verrichtet hatte, klappte sie strahlend den Toilettendeckel runter, stieg darauf und beugte sich zum Waschbecken. „Siehst du?“, fragte sie, während sie das Wasser aufdrehte und sich die Hände wusch. „Ich schaff das ganz allein. Ich brauche keinen Hocker mehr.“

Bisher war Daniel für Keela nur ihr Arbeitgeber gewesen, aber plötzlich sah sie ihn mit völlig neuen Augen. Wie sagte man so schön? Taten sagen mehr als Worte. Hinter seiner abweisenden Fassade schien er ein richtig toller Mann zu sein.

Nach der schwierigen Ehe mit Ron und anderthalb Jahren allein tat es gut zu wissen, dass es da draußen auch noch gute Männer gab. Oder zumindest normale Männer mit gutem Herzen. Männer, denen man vertrauen konnte.

Auch wenn die Erkenntnis, dass ausgerechnet ihr Chef zu ihnen gehörte, ganz schön beunruhigend war.

Als Daniel mit der Untersuchung des letzten Patienten heute fertig war, ging er in sein Büro, um dort weiterzumachen, wo er vorhin aufgehört hatte, bevor Anna ihn unterbrochen hatte.

Obwohl die Praxis leer war, schloss er die Tür hinter sich, da sich der Knoten in seiner Brust seit Annas Auftauchen inzwischen so hart und schmerzhaft anfühlte, dass er sich für einen Moment hinsetzen und sich die Schläfen reiben musste. Er versuchte, sich auf seinen Atem zu konzentrieren und seinen Schmerz und seine Trauer zu verdrängen. Lass das. Denk einfach nicht mehr daran.

Doch anstatt seinen eigenen Rat zu befolgen, öffnete er die unterste Schreibtischschublade und nahm einen Umschlag heraus. Kopfschüttelnd, weil er genau wusste, dass er einen Fehler machte, öffnete er ihn und griff nach dem Ultraschallfoto von Emma mit zwanzig Wochen. Das Foto von jenem Tag, an dem sie erfahren hatten, dass es ein Mädchen war. Und die niederschmetternde Diagnose bekommen hatten.

Der Knoten in seiner Brust löste sich etwas, als ihm die Tränen in die Augen schossen und Emmas perfektes kleines Profil vor seinen Augen verschwamm. Sie hatte nie die Chance bekommen, aus Brunnen zu trinken, zu schaukeln oder rosa Tutus zu tragen. Noch nicht mal ein einziger Atemzug war ihr vergönnt gewesen. An Tagen wie diesen fragte er sich manchmal, ob er wohl je über ihren Verlust hinwegkommen würde.

Donnerstagvormittag brachte Keela gerade ihre letzte Patientin zur Tür, als Daniel strahlend in die Praxis geeilt kam und triumphierend mit einer Faust in die Luft schlug. „Ich hab’s geschafft!“, rief er. „Sie haben mich engagiert, oder vielmehr unsere Praxis! Ab nächstem Monat werden Sie Gruppentherapie geben müssen, da wir von jetzt an die Sportstudenten vom City College betreuen.“

„Das ist ja fantastisch!“

„Ich weiß! Lassen Sie uns das feiern! Was sagen Sie, Abby und Keela? Wie wär’s mit einem Mittagessen beim Chinese Dragon? Ich lade Sie ein.“

Eine Stunde später leerte Keela ihren grünen Tee, griff nach ihrem Glückskeks und brach ihn auseinander. „Ein Lächeln öffnet fremde Herzen …“ Kopfschüttelnd rümpfte sie die Nase.

Daniel folgte ihrem Beispiel. „Na sieh mal einer an! ‚Ein Traum wird für Sie wahr.‘ Wer sagt, dass Glückskekse nur Unsinn sind?“

Keela erwiderte Daniels Blick. Irgendwie fiel ihr auf, dass er sie heute anders ansah als sonst.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Sie beide zuckten nicht mal mit einer Wimper – bis Keelas Herzschlag sich plötzlich so heftig beschleunigte, dass sie blinzen musste.

Abby öffnete gerade ihren Glückskeks und verzog das Gesicht. Dankbar für einen Vorwand, den Blick von Daniels tiefgrünen und faszinierenden Augen zu lösen, richtete Keela die Aufmerksamkeit auf ihre über vierzigjährige Kollegin.

„‚Ein fliegender Vogel denkt immer ans Land‘? Was soll das denn heißen?“

Sie mussten lachen. Die Mägen waren voll, und die Stimmung war gut, wobei Keelas Stimmung noch von etwas anderem angeheizt wurde …

Als Daniel Delaney sich eine Stunde später hinter seinen Schreibtisch setzte, versuchte er, nicht an Keela O’Maras verführerische Attribute zu denken. Große blaue Augen? Nicht sein Ding. Hellbraune schulterlange Haare mit goldenen Strähnen? Nie aufgefallen. Und ihr fröhliches, liebes Lächeln? Okay, das wusste er zu schätzen, aber nur, weil es die Zusammenarbeit erleichterte.

Er ertappte sich dabei, praktisch zu sabbern, während er von Keela und der Zukunft der Praxis träumte. Ruckartig setzte er sich auf. Gut, dass er seine veränderte Wahrnehmung auf das Bier zum Mittagessen schieben konnte. Das Letzte, was er zurzeit gebrauchen konnte, waren unkontrollierte Fantasien. Die Praxis erforderte seine volle Aufmerksamkeit. Außerdem … Denk nur an Kathryn und wie sie dich abserviert hat.

Wenn ihn das nicht ernüchterte, was dann? Gescheiterte Beziehungen steckte niemand leicht weg, und er war nicht der Einzige mit einer tragischen Beziehungsgeschichte. Die Wände in der Praxis waren dünn, und er hatte immerhin am Rande mitbekommen, dass auch Keela schlechte Erfahrungen gemacht hatte. „Nie wieder!“, hatte er sie öfter ausrufen hören, wenn sie ihren Ex mal wieder telefonisch auf den verspäteten Kindesunterhalt angesprochen hatte. Der Typ schien ein richtiges Arschloch zu sein. Was hatte sie nur je an ihm gefunden?

Dank seiner Erfahrungen mit Kathryn konnte Daniel gut nachvollziehen, dass Keela von Männern im Allgemeinen die Nase voll hatte. Was das anging, konnten sie sich die Hand reichen. Auch wenn er natürlich nie mit einer Angestellten über sein Privatleben reden würde. Nur seine Familie kannte die ganze Geschichte.

Himmel, ihm wurde schon ganz schwindlig vom vielen Grübeln! Warum hatte er nur das Bier getrunken?

Um zu feiern, deshalb! Weil er es sich verdient hatte.

Er klickte eine Patientenakte auf seinem Computerbildschirm an, um sich abzulenken, musste jedoch warten, bis sie auf dem Bildschirm erschien.

Wollte er denn wieder eine neue Beziehung? Emmas Tod lag inzwischen fast zwei Jahre zurück. Er rieb sich die Schläfen, um den plötzlichen Druck darin zu vertreiben – und seine trüben Gedanken gleich mit.

Stattdessen fielen ihm seine derzeitigen Lebensumstände ein: Mit dreiunddreißig wohnte er immer noch im Hotel seiner Familie, zusammen mit seinen Brüdern Mark und Conor in einer Dreizimmer-Suite, um Geld zu sparen. So lange lag er seinen Eltern quasi auf der Tasche. Das machte ihn nicht gerade zu einem Hauptgewinn, oder?

Er tröstete sich damit, dass er nur so lange im Hotel bleiben würde, bis seine Praxis aus dem Gröbsten raus war. Wer hätte gedacht, wie schwer es sein würde, eine Privatpraxis aufzubauen? Aber heute hatte er große Fortschritte gemacht. Schon bald würde er schwarze Zahlen schreiben, und dann konnte er endlich aus dem Hotel ausziehen.

Da er in der Patientenakte nicht die gewünschte Information fand, klickte er auf den Krankheitsverlauf. Während er durch die Berichte scrollte, dachte er an Frauen im Allgemeinen, um sich von Keela abzulenken. Er hatte mehrere Freundinnen gehabt, aber vor Kathryn war er mit keiner länger als zwei Monate zusammen gewesen. Ob er sich damit wohl die Rache des Universums zugezogen hatte? Kathryn hatte ihn von Anfang an fasziniert, und sie waren sehr schnell im Bett gelandet. Ihr hatte gefallen, dass er Mediziner war, und ihm ihr Ehrgeiz und ihre Unabhängigkeit.

Leider war sie etwas zu unabhängig gewesen, wie sich herausgestellt hatte. Sie hatte nichts von der Ehe wissen wollen, noch nicht mal, nachdem sie unbeabsichtigt schwanger geworden war. Damals war ihm das noch nicht bewusst gewesen, aber er hatte sie viel mehr geliebt als sie ihn. Und nachdem sie ihm das Herz gebrochen hatte, fiel es ihm eben schwer, das wieder zusammenwachsen zu lassen.

Er schloss die Akte und durchsuchte die Berichte auf seinem Schreibtisch. In Kathryn hatte er geglaubt, die große Liebe gefunden zu haben – ein gewaltiger Irrtum. Nach wenigen Monaten nur hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte – lange, bevor sie schwanger wurde –, aber sie war noch nicht so weit gewesen. Idiotischerweise hatte er geglaubt, dass sie einfach nur Zeit brauchte.

Nach Emmas Verlust hatte sie sich dann ganz von ihm zurückgezogen, auch wenn er sein Bestes versucht hatte, sie zu unterstützen und für sie da zu sein. Er war sogar zur Trauerberatung mit ihr gegangen und hatte ihr noch mehr Zeit gegeben, doch es war zwecklos gewesen. Sie hatte sich immer mehr von ihm entfernt, ihn immer weiter von sich weggeschoben. Irgendwann hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie allein über Emmas Verlust hinwegkommen wollte, und Daniel hatte sie gehen lassen, obwohl er sie in seinem eigenen Schmerz und seiner Trauer mehr gebraucht hatte denn je.

Bis zum Schluss hatte er sich an der Hoffnung festgeklammert, dass sie zu ihm zurückkehren würde, doch das war nicht passiert. Eines Tages hatte sie ihre Sachen zurückverlangt und ihm einen kalten, berechnenden Abschiedsbrief geschrieben. Vor einem Jahr hatte er dann erfahren, dass sie mit jemand anderem zusammen war.

Er wünschte ihr alles Gute, ehrlich. Aber er selbst hing immer noch in der Luft.

Seit dieser Erfahrung machte er sich nichts mehr vor. Er würde nie die Art Liebe finden, die seine Eltern und Großeltern gefunden hatten. Im Grunde hätte er von Anfang an erkennen müssen, dass Kathryn ihn nicht so liebte wie er sie, aber er war blind dafür gewesen. Die Liebe hatte ihn blind gemacht.

So schnell würde er sich bestimmt auf niemanden mehr einlassen. Zumal er seinem Urteilsvermögen offensichtlich nicht trauen konnte.

Wo steckte nur dieser verdammte Bericht? Mann, war das frustrierend!

Wieder tauchte Keela vor seinem inneren Auge auf, lächelnd und fröhlich. Warum musste er nur die ganze Zeit an sie denken? Er wusste vor lauter Arbeit kaum, wo ihm der Kopf stand, da konnte er keine Ablenkung gebrauchen! Was war, wenn er wieder alles verlor? Die Konsequenzen waren nicht auszudenken.

Seine Nervosität weitete sich zu regelrechter Panik aus, was ihn dazu veranlasste, laut „Keela!“ zu brüllen.

Kurz darauf erschien sie in seiner Tür und sah ihn fragend an. Ihre Augen funkelten genauso süß wie beim Mittagessen. So verlockend – und so tabu. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Das Beste war, diese fatale Anziehung schon im Keim zu ersticken.

Als sein Blick auf ihre Hände fiel, die sie nervös knetete, kam er sich vor wie der letzte Idiot, aber es musste sein. „Die Sache ist die“, kam er ohne Umschweife zur Sache. „Mit den Sportstudenten vom City College werden wir alle vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Ich werde öfter außer Haus sein, um die jungen Männer beim Trainieren und Spielen zu coachen, sodass Sie hier vor Ort mehr Verantwortung übernehmen müssen. Fühlen Sie sich dem gewachsen?“

Sie nickte. Ihr Lächeln war inzwischen erloschen. Sie sah plötzlich ganz ernst aus. Ihm wurde unangenehm bewusst, welche Macht er als ihr Chef über sie hatte, aber er musste das hier trotzdem durchziehen. „Ich werde in Zukunft keine Lieferverzögerungen mehr dulden. Das ist unprofessionell und darf nicht wieder vorkommen.“

„Ich werde mein Bestes tun, damit uns die Materialien nicht mehr ausgehen. Wenn Sie einverstanden sind, kann ich die Bestellungen ja schon früher aufgeben oder gleich einen Dauerauftrag einrichten. Aber bisher mussten wir ja jeden Penny umdrehen.“

„Jetzt nicht mehr.“ Die Praxis war sein Lebensinhalt. Sie hatte ihn davor bewahrt, vollends in die Verzweiflung abzurutschen. Der neue Vertrag mit dem College bot ihm die Chance, endlich schwarze Zahlen zu schreiben. Sein Privatleben mochte eine Katastrophe sein, aber wenigstens die Praxis würde laufen. Zumindest darüber hatte er einigermaßen die Kontrolle.

„Für die Kinderbetreuung sind von jetzt an Sie zuständig, nicht ich. Auch so etwas darf nicht mehr vorkommen, verstanden?“

Schon allein, weil er keinen weiteren Nachmittag mit ihrer Tochter überstehen würde … oder vielmehr den schmerzlichen Emotionen, die die Kleine bei ihm auslöste. Aber wie konnte er von Keela erwarten, keine Betreuungsengpässe oder keinen Ärger mehr mit unzuverlässigen Lieferanten zu haben? Er kam sich vor wie ein Schwein, als er fortfuhr: „Kriegen Sie das hin? Ihr Job hängt nämlich davon ab.“

So, da war es, sein Ultimatum. Keela war seine Angestellte des Monats, während er sich gerade für die Auszeichnung zum schlimmsten Chef aller Zeiten qualifiziert hatte.

Sie sah ihn ganz bestürzt an. „Ja. Natürlich“, antwortete sie mit zitternder Stimme.

„Gut.“ Ich Mistkerl.

Daniel zwang sich, ihrem unglücklichen Blick standzuhalten, obwohl ihm bei dem Anblick ganz elend wurde. Sich selbst hassend biss er die Zähne zusammen, während Keela schweigend den Raum verließ.

Er schluckte mühsam. Na, das hast du ja toll hingekriegt! Es war ihm erfolgreich gelungen, die gute Atmosphäre, die seit dem Mittagessen geherrscht hatte, zu ruinieren und der besten Angestellten, die er je gehabt hatte, Angst einzuflößen.

Als Keela abends nach Hause ging, blieb sie nicht wie sonst immer in seiner Tür stehen, um ihm einen guten Abend zu wünschen. Aber was hatte er auch anderes erwartet, nachdem er sich ihr gegenüber wie das letzte Arschloch benommen hatte?

Sie konnte absolut nichts dafür, dass ihr Ex-Mann in letzter Minute abgesagt hatte, aber Daniel hatte ihr die Verantwortung trotzdem aufgebürdet. Sollte ein guter Chef nicht Verständnis zeigen, anstatt seinen Angestellten die Hölle heißzumachen? Er ließ den Kopf in die Hände sinken.

Vorhin beim Mittagessen hatte Keela ihn so seltsam angesehen, dass er sich für einen Moment gefragt hatte, ob es nicht doch mehr für ihn geben könnte als nur die Arbeit, obwohl ihm schon allein die Vorstellung, sich wieder auf eine Frau einzulassen, eine Heidenangst einjagte. Was er prompt überkompensiert hatte, indem er sich hinter der Fassade des strengen Chefs verschanzte.

Was für ein Chaos!

Freitagmorgen stand Daniel plötzlich in Keelas Bürotür. Sie war extra ein paar Minuten früher gekommen, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich das ganze Material bestellt hatte, und um sich schon mal mental auf ihre heutigen Termine vorzubereiten.

Er sah irgendwie … schuldbewusst aus, oder vielleicht interpretierte sie das auch nur so, weil sie Schuldbewusstsein in seinem Gesicht sehen wollte, nachdem er ihr gegenüber gestern so streng gewesen war. „Hi“, sagte sie leise.

„Hi.“ Er zögerte. „Darf ich reinkommen?“

„Natürlich.“ Sie legte ihre Notizen beiseite, um ihm ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Ich muss mich wegen gestern entschuldigen. Mein Verhalten war unpassend. Ich war viel zu streng mit Ihnen.“

„Nein, Sie hatten völlig recht. Ich war nicht aufmerksam genug, was die Bestellungen angeht. Es gibt nicht nur einen Lieferanten auf der Welt. Ich hätte mehr Druck machen sollen. Und was Ron angeht, ist es gut, mich immer zusätzlich abzusichern. Es war nur so, dass Mrs. Jenkins diesen Friseurtermin hatte. Aber das wird nicht wieder vorkommen, versprochen.“ Keela hatte sich diese Worte heute Morgen während der Fahrt zur Arbeit zurechtgelegt, aus Angst, sonst ihren Job zu verlieren.

„Eigentlich wollte ich mich doch bei Ihnen entschuldigen.“ Wieder zögerte er einen Moment. „Bei mir wird so ein Verhalten auch nicht noch mal vorkommen, versprochen.“

Keela sah ihm hinterher, als er den Raum verließ.

Plötzlich musste sie an Ron denken. Nach ihrer Hochzeit mit ihm und nach Annas Geburt hatte sie alles versucht, es ihm recht zu machen. Er hatte ihr zwar nie direkt gesagt, dass er sie nur aus Pflichtgefühl geheiratet hatte, aber unterschwellig hatte er ihr nur allzu deutlich vermittelt, dass er ihr im Grunde einen Riesengefallen damit getan hatte.

Er hatte immer einen Anlass gefunden, sich zu beschweren. Ganz egal, welche Mühe sie sich gegeben hatte, es war nie gut genug gewesen. Jeden Fehler, den sie gemacht hatte, hatte er ihr wieder und unter die Nase gerieben, bis sie sich irgendwann wie eine totale Versagerin gefühlt und es aufgegeben hatte, es ihm recht machen zu wollen. Und das hatte er dann zum Vorwand genommen, sie zu betrügen, als wäre sein Fremdgehen ihre Schuld! Und sie war daraufhin noch tiefer verunsichert gewesen denn je und hatte sich komplett infrage gestellt.

Und jetzt, bei Daniel, fiel sie schon wieder in ihr altes Muster zurück! Lag es daran, dass alle Männer gleich waren? Andererseits hatte Daniel sich bei ihr entschuldigt. In dieser Hinsicht war er schon mal ganz anders als ihr Ex.

Nachdem Daniel den Quarterback des College-Footballteams begutachtet hatte, kehrte er in sein Büro zurück und sah sein Telefon auf dem Tisch blinken.

„Ihre Mom ist dran!“, informierte Abby ihn.

Er nahm ab. „Hey, Mom, was ist los?“

„Ich hoffe, ich störe nicht, aber ich habe nachgedacht und wollte dich etwas fragen.“

„Okay?“

„Dad und ich haben darüber gesprochen, wie wir diese Saison mehr Gäste anlocken, und ich kam auf die Idee, unser Angebot zu erweitern. Du weißt schon, Massagen und Kosmetikbehandlungen. Meine Friseurin hat eine Teilzeitkosmetikerin, die gern kommen würde, aber ich kenne keine Masseurin. Du kennst dich doch in der Branche aus, oder? Fällt dir jemand ein?“

Nachdenklich rieb er sich am Kinn. In der Branche kannte er sich ehrlich gesagt nicht aus, aber er kannte eine ehemalige Masseurin, die inzwischen Physiotherapeutin war und die das Extrageld bestimmt gut gebrauchen konnte. „Keela.“

„Keela?“

Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. So bekam er eine Gelegenheit, erneut ins Gespräch mit ihr zu kommen und den Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutzumachen. Seit seiner Standpauke war die Atmosphäre in der Praxis nämlich irgendwie bedrückend. Seine Entschuldigung schien nicht gereicht zu haben, um Keelas innere Anspannung zu vertreiben.

„Ja, meine Assistenz-Physiotherapeutin. Hey, ich habe eine Idee! Ich kann sie doch Sonntag zu Granddads Geburtstagsfeier mitbringen, dann kannst du mit ihr reden. Was sagst du dazu?“

„Klingt gut. Sie hat eine Tochter, oder? Sag ihr, sie soll sie mitbringen.“

„Mach ich.“ Als Daniel auflegte, war seine Laune schon viel besser. Problem gelöst?

3. KAPITEL

Als Keela Daniel im Flur über den Weg lief, lächelte er ihr zu – zum ersten Mal an diesem Tag. Sein Lächeln wirkte zwar etwas verkrampft, war aber besser als das grimmige Gesicht, das er bisher zur Schau getragen hatte. Er sah zumindest nicht so aus, als würde er sie feuern, was eine Riesenerleichterung war.

Vor ihrem vorletzten Termin des Tages stand er wieder in ihrer Tür. Was war heute nur los mit ihm?

Er schien nicht recht zu wissen, wie er sagen sollte, was ihm auf dem Herzen lag. Hatte er etwa noch mehr schlechte Neuigkeiten? Panik stieg in ihr auf. Wollte er sie jetzt doch feuern? Was sollte sie dann nur machen?

„Haben Sie Sonntag Zeit?“

Moment mal, was?! „Sonntag?“, wiederholte sie ratlos. Sollte sie jetzt auch noch sonntags arbeiten? Natürlich würde sie das machen, wenn das hieß, dass sie ihren Job behielt, aber …

Er trat einen Schritt näher. „Ja. Sonntag hat mein Großvater Geburtstag und gibt eine große Feier. Ich dachte, Sie und Anna wollen vielleicht auch kommen. Als Entschädigung dafür, dass ich gestern so ein schrecklicher Chef war.“

„Echt?“ Er benahm sich wirklich völlig anders als Ron, dem es nie eingefallen wäre, sich zu entschuldigen oder sich etwas Nettes zur Entschädigung zu überlegen.

„Ich dachte, Sie haben vielleicht Lust auf frische Seeluft und gutes Essen?“

„Eine Party beim Drumcliffe?“ Ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. „Gern. Habe ich Ihnen eigentlich schon mal erzählt, dass ich vor sechs Jahren dort gewohnt habe, als ich Ron zum ersten Mal besucht habe?“

„Das soll wohl ein Witz sein!“

„Das Hotel hat mir gleich gefallen. Deshalb bin ich nach meiner Scheidung auch hierher zurückgekehrt. Paso Robles ist ganz okay, liegt aber zu weit im Binnenland. Außerdem wollte ich weg von Ron und seiner Neuen.“

Sie redete mal wieder zu viel – noch so eine alte Gewohnheit von ihr. Aber dass ihr Chef sie zu einer Familienfeier einlud, bedeutete ihr viel. „Die Klippen und das Meer haben mich an Sligo Bay zu Hause erinnert, auch wenn die Landschaft hier nicht so rau ist.“

„Wow, die Welt ist wirklich klein. Freut mich, dass das Hotel Ihnen gefällt. Dann kommen Sie also?“

„Das würde ich mir doch nicht entgehen lassen.“

„Ach ja, noch etwas. Kein Geschenk, okay? Der alte Mann hat alles, was er braucht. Ihre Gesellschaft ist mehr als genug.“ Seine grünen Augen funkelten. „Ich hole Sie um eins ab.“

„Sie holen uns ab?“

„Ich habe Sie schließlich eingeladen, oder?“

Keela wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Halb verunsichert, halb glücklich strich sie sich das Haar hinters Ohr. Sie wurde nicht nur nicht gefeuert, sondern Daniel lud sie auch noch zu einer Familienfeier ein. War das ein Entschuldigungs-Date?

Der Sonntag entpuppte sich als herrlich sonniger Frühlingstag. Keela hatte sich schon lange nicht mehr so sehr auf etwas gefreut, und auch Anna hüpfte aufgeregt in dem kleinen Cottage herum.

„Au ja, eine Geburtstagsparty!“

„Vergiss nicht, dass es eine Feier für Erwachsene ist. So viel Spaß macht das vielleicht gar nicht.“

„Gibt es Spiele?“

„Ich glaube nicht, Schatz, aber ganz bestimmt Torte.“

„Jippie! Eis auch?“

„Was wäre ein Geburtstag ohne Eis?“

Anna rannte zum Wohnzimmerfenster. „Ich mag Dr. Daniel!“

Keela ging es ähnlich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie ihr Make-up im Bad kontrollierte. Zu viel? Nicht genug? Ach, egal, Daniel Delaney nahm ihre Existenz sowieso kaum wahr. Mit seiner Einladung wollte er sich nur für sein schroffes Verhalten entschuldigen. Das hier war kein Date. Der Mann würdigte sie kaum eines Blickes, wenn sie nicht gerade über einen Patienten redeten … auch wenn er sie Donnerstag beim Chinesen eindeutig interessiert angesehen hatte …

Sie sah wieder seine moosgrünen Augen vor sich, die zum Dahinschmelzen waren … Moment mal, sie hatte sich Männer doch abgeschminkt! Seit Ron und der Scheidung von ihm hatte sie die Nase gestrichen voll. Außerdem war Daniel ihr Chef. Nur eine Idiotin würde sich auf ihren Chef einlassen und damit ihren Job aufs Spiel setzen.

Außerdem war Anna jetzt ihr Lebensmittelpunkt, alles andere war sekundär.

Als Keelas Handy klingelte und sie den Namen ihres Ex-Manns auf dem Display sah, bekam sie sofort ein ungutes Gefühl. Was er wohl wollte? Seitdem er und seine neue Freundin ihren Sohn Diesel bekommen hatten, schien Ron jegliches Interesse an Anna verloren zu haben. Reiß dich zusammen! Keela holte tief Luft. „Hey, Ron, was gibt’s?“

„Ich will Anna heute zum Mittagessen abholen.“

„Wie schade, jeder andere Tag wäre toll gewesen, aber wir wollen gleich zu einer Geburtstagsparty.“ Warum ausgerechnet heute? Mittwoch hast du mal wieder ausfallen lassen, und jetzt willst du auf einmal …

„Es wird noch andere Geburtstagspartys geben. Es wird Zeit, dass sie ihren kleinen Bruder kennenlernt.“

Das hätte sie auch Mittwoch tun können, du Idiot!

Keela dachte rasch nach, wie sie Ron am geschicktesten von der Idee abbringen konnte. „Das würde sie bestimmt gern, aber sie freut sich so auf die Party. Wie wär’s mit dem nächsten Wochenende?“ Schweigen. „Ron? Bist du noch dran?“

„Mal sehen“, antwortete er kurz angebunden. „Bis bald.“

So wie früher hatte sie falsch reagiert, und jetzt war er sauer. Er legte auf, bevor Keela sich verabschieden … und ihn auf seine mal wieder verspätete Unterhaltszahlung ansprechen konnte. Und er hatte noch nicht mal nach Anna gefragt! Aber das war typisch für ihn. Wenn er seinen Willen nicht bekam, musste jemand dafür büßen, und heute war eben ihre total unschuldige Tochter die Leidtragende.

Keela blinzelte die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten. Anna durfte sie nicht so sehen, das würde sie nur verstören. Was sie nicht wusste, konnte sie auch nicht verletzen.

„Mom! Dr. Daniel ist da!“

Keelas Herzschlag beschleunigte sich. Sie warf einen raschen Blick in den Spiegel an der Badezimmertür, um sich zu vergewissern, dass ihre beigefarbene Hose ihren Po nicht zu breit machte und Tanktop und Pullover nicht zu viel Ausschnitt zeigten. Waren die Ohrringe okay? Wäre es zu viel, wenn sie ein Armband überstreifte?

Was war nur los mit ihr? Das hier war kein Date, sondern nur Daniels Art, sich bei ihr zu entschuldigen.

„Mom, er klopft schon!“

Keela holte tief Luft. Beruhige dich! Sie eilte zur Haustür, wobei sie versuchte, nicht zu eifrig zu wirken. „Hi“, sagte sie atemlos.

„Hey. Sind Sie bereit?“

Nicht für seinen Anblick. Fünf Tage die Woche sah sie ihn in seiner Praxiskleidung, und neulich vor seinem Termin am College hatte er einen Anzug angehabt, aber mit der Jeans und dem hellgrünen Hemd mit schmaler dunkelgrüner Krawatte sah er attraktiver aus denn je. Das Hemd war so schmal geschnitten, dass man einen Waschbrettbauch darunter erahnen konnte. Sie zwang sich, den Blick zu seinem Gesicht zu heben, und sah etwas in seinen Augen, das ihr verriet, dass er sie genauso eingehend gemustert hatte wie sie ihn. Ihr Herz machte einen Satz.

„Ich würde Sie gern ins Haus bitten, aber es gibt nicht viel zu sehen.“

„Kein Problem. Sie sehen übrigens toll aus.“ Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, wurde jedoch von Anna unterbrochen, die auf ihn zustürmte.

„Hi! Wie alt ist denn dein Opa?“

„Er wird heute fünfundachtzig.“

„Wow, er lebt noch?“

Daniel lachte. „Klar, er ist quicklebendig. Hast du Lust, ihn kennenzulernen?“

„Ja!“

Obwohl Daniel auf Annas Fragen einging und sich locker gab, fand Keela sein Lächeln etwas verkrampft.

Sie stiegen in seinen Wagen, und ein paar Minuten später kamen sie beim Drumcliffe-Hotel an. Anna schwatzte die ganze Zeit. Sie genoss den Kontakt zu anderen Menschen so offensichtlich, dass Keela bereute, ihr solche Gelegenheiten nicht öfter bieten zu können. Anna hatte noch nicht mal Gleichaltrige zum Spielen, aber das würde sich hoffentlich im Herbst ändern, wenn sie in die Vorschule ging. Das Leben war gerade alles andere als perfekt, aber ziemlich gut, und der heutige Tag versprach, sehr schön zu werden. Was konnte Keela mehr verlangen?

Daniel bog auf einen Privatparkplatz vor einer der separaten Gästesuiten. Das zweigeschossige Hotel stand direkt am Meer und war der wichtigste Anlaufpunkt für Touristen in Sandpiper Beach. Es war Keela ein Rätsel, dass die Delaneys Schwierigkeiten hatten, die Zimmer zu vermieten. Die Touristen, die Carmel oder Pismo Beach bevorzugten, wussten nicht, was ihnen entging.

Ein schmaler, von Hecken gesäumter Pfad trennte das Hotel vom Strand. Rechts vom Hotel befand sich eine große Wiese mit Büschen und Palmen, dahinter Dünen.

Zu Ehren des heutigen Tags waren runde Tische mit integrierten Sonnenschirmen aufgestellt worden. Menschengruppen schlenderten herum, deren helle Kleider sich bunt vom blauen Himmel und dem schiefergrauen Meer abhoben. Keela atmete dankbar die salzige Luft ein. Sie konnte gar nicht genug davon und vom Rauschen der Wellen bekommen.

Wie sie diese Stadt liebte! Der Umzug nach Sandpiper Beach war einer der Pluspunkte ihrer Scheidung von Ron gewesen.

„Da ist er ja! Alles okay, Danny-Boy?“, hörte sie jemanden rufen.

Beim Klang des vertrauten Dialekts ihrer Heimat glaubte Keela für einen Moment, wieder in Ennis zu sein. Sie musste fast lachen, als sie einen alten Mann in leuchtend grüner Knickerbockerhose mit Strümpfen, karierter Jacke und Schiebermütze auf sich zukommen sah.

„Machen Sie sich auf etwas gefasst“, raunte Daniel Keela zu. „Grandpa! Herzlichen Glückwünsch zum Geburtstag!“

Jetzt klang sogar Daniel wie ein waschechter Ire. Keelas Lächeln vertiefte sich.

„Ist das das hübsche Mädchen aus Irland?“

„Ja, das ist Keela“, bestätigte Daniel und lächelte dabei so stolz, dass es sie für einen Moment aus dem Konzept brachte.

„Ist mir ein Vergnügen, Keela!“ Als der alte Mann sie an sich zog, erwiderte sie seine Umarmung lachend. Er roch nach Guinness und dem würzigen Männerparfum ihres eigenen Großvaters. Plötzlich stieg so heftiges Heimweh in ihr auf, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mr. Delaney.“

Die Augen des alten Mannes funkelten genauso wie Daniels, und er hatte die gleichen Linien um die Mundwinkel. Kein Zweifel, die beiden waren blutsverwandt.

„Bitte nennen Sie mich Padraig.“ Er stützte sich auf seinen Golfschläger und betrachtete sie wohlgefällig, bevor er den Blick zu Anna senkte. „Und wer ist diese kleine Elfe?“

„Meine Tochter Anna.“

„Hallo, Lassie.“ Er beugte sich vor, nahm Annas Hand und schüttelte sie. Die Kleine kicherte. „Wie alt bist du?“

Sofort schossen wieder sämtliche Finger ihrer Rechten hoch. „Fünf.“

„Fast“, fügte Keela hinzu.

Fast fünf. Essen wir gleich Torte und Eis?“

Padraig lachte schallend. „Und ob. Wir Delaneys wissen, wie man einen Geburtstag feiert. Komm, ich zeig dir die Torte.“ Ihre Hand fest in seiner ging er mit ihr auf einen großen Tisch auf der Terrasse zu, auf dem eine riesige Torte und eine Schüssel mit Punsch standen. Von dem eingemauerten Grill dahinter stieg ein köstliches Aroma auf.

Keela unterdrückte ein Lächeln. „Er ist noch ganz schön rüstig, oder?“

„Allerdings.“ Daniel folgte seinem Großvater zum Tisch, wo sich eine Menschengruppe versammelt hatte – seine Familie, wie Keela annahm.

Sie lächelte freundlich, als Daniel sie seinen Eltern Sean und Maureen Delaney vorstellte.

Seine Mutter drückte sie herzlich an sich. „Ich bin ja so froh, dass Sie kommen konnten.“

„Ich freue mich auch, hier zu sein.“

„Ich hoffe doch, mein Sohn behandelt Sie gut?“

„Oh ja, er ist ein toller Chef.“

„Ich habe da noch eine Frage an Sie. Machen Sie zufällig auch Massagen?“

„Ja, schon. Bei meiner Arbeit als Physiotherapeutin gehört das auch dazu, aber in Irland habe ich ausschließlich als Massagetherapeutin gearbeitet.“

„Toll. Wir sollten uns beim Mittagessen mal unterhalten.“

Das weckte Keelas Neugier, aber zugleich war sie auch etwas enttäuscht. Hatte Daniel sie nur deshalb eingeladen? Als sie gerade nachhaken wollte, schob Padraig Anna vor. „Und das hier ist die bildhübsche Miss Anna, Keelas Tochter.“

Maureen kniete sich hin, um auf Augenhöhe mit Anna zu sein. Bei dem Anblick wurde Keela ganz warm ums Herz. Kein Wunder, dass Daniel ein so toller Mann war – er hatte eine wundervolle Familie.

Als sie eine warme Hand an ihrem Arm spürte, drehte sie sich um. Daniel. Ihre Haut begann zu kribbeln.

„Kommen Sie, ich stelle Sie meinen Brüdern vor.“

Er brachte Keela zu zwei stattlichen jungen Männern, während Anna mit Maureen und Padraig Delaney plauderte, als kenne sie die beiden schon ihr ganzes Leben.

„Mark, das hier ist die beste Physiotherapeutin von Sandpiper Beach: Keela O’Mara.“

„Behandelt mein Bruder Sie auch gut?“ Der Mann mit den leuchtend blauen Augen bemühte sich um ein Lächeln, als er ihr die Hand schüttelte.

„Ich arbeite jedenfalls gern mit ihm zusammen. Schön, Sie kennenzulernen.“

„Gleichfalls.“ Er verlor offensichtlich nicht viele Worte. Trotzdem gefiel er ihr auf Anhieb.

„Das hier ist mein kleiner Bruder Conor.“ Daniel knuffte den größten der drei Brüder spielerisch in den Magen, woraufhin Conor so tat, als krümme er sich vor Schmerz.

„Hallo. Sie sind Hilfssheriff, wie ich gehört habe?“ Bei seiner Größe und seinem Körperbau konnte sie sich ihn gut in Uniform vorstellen.

„Das bin ich. Schön, Sie kennenzulernen.“

Daniel beobachtete seine Familie und seine Kollegin. Es war nicht zu übersehen, dass sie den anderen gefiel, aber wieso auch nicht?

Genauso war ihm bewusst, dass seine Familie auch ihn und Keela genau beobachtete und vermutlich alles Mögliche in die Tatsache hineininterpretierte, dass er sie mitgebracht hatte. Eine Frau mit Kind noch dazu. Ob sie sich jetzt Sorgen um ihn machten? Da sie wussten, dass er immer noch nicht ganz über Kathryn hinweg war, musste er wohl Nachsicht mit ihnen haben.

Padraig berührte Keela an einem Arm. „Wollen Sie sich mal unseren Pub ansehen?“

„Gern.“

Daniel spürte, dass jemand an seinem Hemd zupfte, und senkte den Blick. Anna lächelte so vertrauensvoll zu ihm auf, dass es ihm einen schmerzhaften Stich versetzte, doch er zwang sich, ihren Blick zu erwidern. Die braunen Locken und die dunklen Augen musste sie von ihrem Vater geerbt haben, aber ihr Lächeln war eindeutig das ihrer Mutter. Die Kombination war total niedlich. Der Anblick zerstörte auch noch den Rest dessen, was von seinem Herzen noch übrig war.

Hilfesuchend sah er sich um. Von Keela und seinem Großvater war keine Spur mehr zu sehen. Flüchtig spielte er mit dem Gedanken, die Kleine einfach an Conor weiterzureichen, aber er hatte sie eingeladen, und ein Kind konnte die Trauer eines erwachsenen Mannes nicht nachvollziehen.

Außerdem schien ihr Vater sie schon oft genug zu ignorieren, und das Letzte, das Daniel wollte, war, sie noch mehr zu verunsichern. Sie war so unschuldig und arglos, genauso wie Emma. Also sollte er sich zusammenreißen und seine Trauer verdrängen, bis er wieder alleine war.

Sein Blick fiel auf etwas, womit er die Kleine ablenken konnte. „Hey, hast du Lust, den Familienhund kennenzulernen?“

„Au ja!“, rief Anna aufgeregt.

„Dann lass uns hingehen.“

Zwei Stunden später hatten alle auf das Geburtstagskind angestoßen, das Mittagessen verspeist und Torte gegessen. Und Daniel hatte die Zeit mit Anna irgendwie überstanden, wenn auch nur knapp. Keela war nämlich schon wieder weggezerrt worden, diesmal von seiner Mutter.

Gott sei Dank zeigte Padraig Anna gerade, wie man einen Hula-Hoop-Reifen benutzte. Daniel war ihm außerordentlich dankbar für die Pause.

Er setzte sich auf eine Bank und versuchte, sich auf das Positive in seinem Leben zu besinnen – seinen Vertrag mit dem College zum Beispiel, und das gute Wetter. Er beschloss, einen kleinen Strandspaziergang zu machen. Nach dem üppigen Mittagessen konnte er das gut gebrauchen.

„Wo wollen Sie denn hin?“, hörte er Keelas Stimme hinter sich.

„Ich dachte, ich gehe ein bisschen in den Dünen spazieren. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?“

„Gern. Ich hole rasch Anna.“

Seine positiven Gedanken verflogen, als er beobachtete, wie Keela sich von hinten an ihre Tochter heranschlich, sie unter den Achseln packte und sie im Kreis herumwirbelte, bis Anna vor Vergnügen kreischte.

Die beiden wirkten so harmonisch. Man merkte sofort, dass sie eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten. Wahrscheinlich war die Scheidung für beide sehr hart gewesen und hatte ihre Bindung gefestigt. Während er nach Emmas Verlust und seiner Trennung von Kathryn ganz allein zurückgeblieben war, gequält von einer Sehnsucht, die sich nie erfüllen würde.

Der Hund, Daisy, rannte auf ihn zu. Er kraulte sie hinter den Ohren und erfreute sich an ihrer Begeisterung. Er beschloss, sie ebenfalls mitzunehmen.

Als Keela und Anna sie beide einholten, zeigte er in Richtung Klippen und Gezeitentümpel hinter den Dünen. Anna rannte mit Daisy voraus, sodass er und Keela zum ersten Mal an diesem Nachmittag allein waren.

„Ihr Großvater hat mir vorhin etwas sehr Interessantes erzählt“, sagte Keela schmunzelnd, während sie durch den Sand gingen. „Er hat gesagt, Sie und Ihre Brüder hätten einen Selkie gerettet?“

„Ich weiß noch nicht mal, was ein Selkie ist“, antwortete er belustigt und beschleunigte seine Schritte.

„Ein Wesen aus der irischen Mythologie.“ Sie ging schneller, um mit ihm Schritt zu halten. „Ein Selkie lebt als Seehund im Meer, kann sich aber an Land in einen Mann oder eine Frau verwandeln. Er hat erzählt, Sie haben einen vor einem Schwarm Orcas gerettet?“

„Und wenn das so wäre?“

„Dann würde Ihnen der Selkie einen Gefallen schulden. Padraig ist überzeugt, dass Sie deswegen bald alle drei Ehefrauen finden werden.“

Daniel hob die Hand an die Schläfe. Hätte sein Großvater diesen Teil nicht für sich behalten können? „Er kann manchmal richtig peinlich sein.“

„Ich finde es irgendwie süß, dass er seine Enkel unter die Haube bringen will. Wie haben Sie die Rettungsaktion überhaupt hingekriegt?“

Daniel versuchte, sich an die Ereignisse von vor fast einem Jahr zu erinnern. „Der Arme war von den Orcas eingekreist worden, und sie haben mit ihm gespielt, um ihn zu schwächen. Es war ziemlich schlimm, das mit anzusehen, also starteten wir den Motor unseres Boots und fuhren dichter an sie heran. Rückblickend war das vielleicht eine dumme Idee, aber der Lärm hat die Orcas abgelenkt, sodass der Seehund die Chance nutzte zu entkommen.“

„Eine schöne Geschichte.“

„Nicht wirklich. Eigentlich wollten wir nur mit Mark angeln gehen, um ihn von seiner Zeit bei der Armee abzulenken.“ Mir ging’s damals auch nicht viel besser. Und Conor ebenfalls nicht, wenn ich es recht bedenke. „Wir hatten nicht die Absicht, die Helden zu spielen oder so. Wir haben nur den Fehler gemacht, es hinterher unserer Familie zu erzählen.“ Es beschloss, endlich das Thema zu wechseln. „Und? Wie lief das Gespräch mit meiner Mom?“

„Ganz toll! Ihre Mutter hat mich gebeten, an den Wochenenden ihre Gäste zu massieren. Sie besorgt einen Massagetisch und will irgendwann einen Mini-Spa einrichten. Sie hat mir sogar angeboten, auf Anna aufzupassen, während ich arbeite. Ich glaube, das könnte funktionieren. Natürlich nur, wenn das okay für Sie wäre.“

„Wenn es sich für Sie finanziell lohnt, warum nicht? Aber haben Sie dann nicht noch weniger Zeit für sie?“ Er zeigte auf Anna, die mit Daisy nun sehr weit vorausrannte.

„Bei mir wird es manchmal finanziell ganz schön eng, weil Ron mit seinen Unterhaltszahlungen ziemlich unzuverlässig ist. Es sind ja nur ein paar Stunden.“

„Einen Versuch ist es wert. Auch wenn es vielleicht einfacher wäre, wenn ich Ihnen eine Gehaltserhöhung gebe.“ Er wusste zwar nicht, ob er sich das leisten konnte, aber wenn es ihr das Leben erleichterte …

„Danke, aber bei meinem Vorstellungsgespräch haben wir mein Gehalt für ein Jahr festgelegt. Außerdem macht mir das Massieren Spaß.“

Als typischer Mann mit typischen Männerfantasien stellte Daniel sich sofort ihre Hände auf sich vor. Er versuchte, die Bilder zu verdrängen, aber er war schwach – vor allem, wenn Keela so schön aussah wie heute.

Zu seiner Bestürzung wurde ihm bewusst, dass er sich heute zum ersten Mal seit Kathryn wieder für eine andere Frau interessierte. Und wenn er sowieso schon gerade dabei war, sich seinen Dämonen zu stellen, konnte er genauso gut zugeben, dass es mehr als nur Interesse war. Er war drauf und dran, sich in Keela O’Mara zu verlieben.

Na toll! Das ist das Letzte, das ich gerade gebrauchen kann!

Beziehungen brachten nun mal nichts als Leid. Und trotzdem fiel ihm auf, wie schön sie war und wie sich das Meer in ihren Augen spiegelte.

„Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass Sie der beste Chef sind, den ich je hatte?“

Ach, stimmt ja, sie war seine Angestellte! Das war seine Rettung! „So viele Jobs hatten Sie doch bestimmt noch gar nicht.“ Hoffentlich verriet sein Gesichtsausdruck nicht, was gerade in ihm vorging.

Beim Anblick ihres Lächelns machte sein Herz einen Satz. Verdammt, das musste endlich aufhören! Er wandte den Blick ab, um den Zauber zu brechen. Das hier würde nirgendwo hinführen. Außerdem fing er gerade erst wieder an, sich wieder halbwegs normal zu fühlen.

„Wir sollten die beiden lieber einholen.“ Ohne nachzudenken, griff er nach Keelas Hand, merkte jedoch, dass er einen Fehler gemacht hatte, sobald er ihre Hand in seiner spürte. Vor allem nach seiner Fantasie von gerade eben. Aber jetzt konnte er ihre Hand nicht gleich wieder loslassen, das wäre zu auffällig. Er musste zumindest warten, bis sie Daisy und Anna eingeholt hatten. Hör auf zu grübeln. Lauf einfach weiter, du Idiot. Ich habe eine noch bessere Idee: Genieß es.

Daisy sprintete über die Dünen, dicht gefolgt von der lachenden und rufenden Anna. Daniel, der sich allmählich Sorgen machte, beschleunigte seine Schritte.

Als Daisy mit einem Sprung aus ihrem Blickfeld verschwand, rannte Anna einfach weiter. Im nächsten Augenblick stolperte sie und war verschwunden.

4. KAPITEL

Daniel ließ Keelas Hand los und sprintete auf die Stelle in den Dünen zu, wo das Kind verschwunden war. Panisch Annas Namen rufend rannte Keela hinter ihm her.

Erinnerungen an Emma, so winzig und hilflos, stiegen in ihm auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er keuchend am Rand der Dünen ankam. Anna lag mindestens zwei Meter unter ihm zwischen nassen Felsen.

Als er hinunterkletterte, sah er sofort, dass sie sich ein Bein gebrochen hatte. Spitze Knochen ragten aus der Haut, und ein Stück höher hatte sie eine klaffende Wunde, die heftig blutete.

„Ich bin da“, versuchte er das panisch schluchzende Kind zu beruhigen. „Lass mich mal sehen.“

Anna hielt ganz still, obwohl sie nicht aufhören konnte zu zittern.

Daniel unterdrückte einen Anflug von Panik und konzentrierte sich auf die Wunde. Hoffentlich hatte der Knochen keine Arterie verletzt.

Keela tauchte am Rand des Abhangs auf. „Anna!“

„Mommy!“, heulte Anna auf. Ein gutes Zeichen.

„Haben Sie Ihr Handy dabei?“, rief Daniel, während er seine Krawatte abnahm und sein Hemd auszog, um es auf die Wunde über dem offenen Bruch zu pressen.

„Nein. Es ist im Garten.“

„Dann holen Sie Hilfe. Ich kümmere mich solange um die Verletzung.“

„Was ist passiert?“

„Sie hat sich ein Bein gebrochen.“

Keela keuchte entsetzt auf. Daniel erwähnte die Blutung nicht, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen.

„Mommy!“, schrie das Kind wieder. Kein Anzeichen für einen Schock oder eine drohende Bewusstlosigkeit. Sie konnte den Kopf heben und die Hände bewegen. Gut. Also war ihre Wirbelsäule nicht beeinträchtigt.

„Es wird alles wieder gut, Anna, Schatz“, sagte Keela mit zitternder Stimme. „Daniel wird sich um dich kümmern. Ich komme zurück, sobald ich Hilfe geholt habe. Sei tapfer, ich hab dich lieb!“ Sie drehte sich um und rannte zum Hotel.

Während Daniel sein Hemd auf die Wunde presste, versuchte er, das Kind zu beruhigen. „Es wird alles wieder gut. Ich bin ja da. Mommy holt nur rasch Hilfe und kommt dann sofort wieder.“

Anna streckte schluchzend die Arme nach ihm aus. Nach kurzem Zögern band er Annas Oberschenkel mit seiner Krawatte ab und wickelte sein Hemd um die Verletzung, um ein weiteres Eindringen von Sand und Meerwasser zu verhindern, wobei er nach wie vor Druck auf die blutende Wunde ausübte. Mit dem freien Arm zog er die Kleine an sich. „Es wird alles wieder gut.“

„Geh nicht weg“, wimmerte sie.

Ihr Flehen war herzerweichend. „Nie im Leben. Ich bleibe bei dir.“ Fieberhaft zerbrach er sich den Kopf, wie sie jetzt von hier wegkommen sollten. Auf keinen Fall konnte er den steilen Abhang mit Anna auf dem Arm hochklettern. Da Ebbe war, konnte er Richtung Strand ausweichen, musste aber aufpassen, nicht auf den nassen Felsen auszurutschen. Sollte der Knochen eine Arterie verletzt haben, zählte jede Minute. Er musste handeln, und zwar schnell.

Der Kleinen fielen die Augen zu. „Bleib wach, Schatz. Alles okay mit dir?“

Sie nickte wimmernd. Tief Luft holend stand er mit ihr auf dem Arm auf und folgte dem ablaufenden Wasser zum Strand. Wieder musste er an Emmas kleinen Körper denken, wie zerbrechlich sie sich angefühlt hatte. Sie hatte er nicht retten können, aber bei Anna würde ihn nichts davon abhalten. Tränen strömten ihm über die Wangen, als er sich den Weg über die Felsen bahnte. Ab und zu rutschte er aus, ließ Anna jedoch nicht los.

Er warf einen Blick auf ihr Bein – die Blutung schien etwas nachgelassen zu haben. Er konnte es schaffen. Er würde es schaffen, und wenn es das Letzte war, das er machte.

Drei Stunden später saß Keela neben Daniel im Wartezimmer des Krankenhauses, während Anna operiert wurde, und biss sich nervös auf einen Daumennagel. Als Arzt hatte Daniel anscheinend seine Beziehungen spielen lassen, um die Dinge zu beschleunigen. Ohne ihn wäre sie aufgeschmissen gewesen.

Sie hatte nur noch verschwommene Erinnerungen daran, wie er Anna zurück zum Hotel getragen hatte und der Krankenwagen gekommen war. Während der Fahrt zum Krankenhaus und auch in der Notaufnahme war er nicht von Annas Seite gewichen und hatte Keela den Rücken gestärkt, wenn sie die Selbstbeherrschung verloren hatte.

Er hatte mit den Ärzten und Schwestern gesprochen, wenn sie so emotional geworden war, dass sie sich nicht mehr klar ausdrücken konnte, und sich rührend um sie gekümmert, indem er ihr Wasser und Kaffee brachte. Und auch jetzt noch saß er neben ihr, obwohl er nicht dazu verpflichtet war. Für sie war er ein echter Held.

Conor Delaney in der Uniform des Hilfssheriffs kam in den Warteraum geeilt. „Ich habe gerade von dem Unfall erfahren und bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“

„Sie operieren gerade den Bruch.“

Conor verzog das Gesicht. „Klingt nicht angenehm.“

Keelas Magen verkrampfte sich schmerzlich bei der Vorstellung, was ihre Tochter gerade durchmachte.

„Es wird eine Weile dauern, bis der Knochen wieder zusammenwächst und die Infektionsgefahr gebannt ist.“

„So ein Pech. Wow, das tut mir leid.“ Conor sah Keela voller Mitgefühl an.

Sie versuchte sich zusammenzureißen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Was ist mit deinem Hemd passiert?“, fragte Conor seinen Bruder. „Bist du jetzt unters Krankenhauspersonal gegangen?“

Daniel senkte den Blick. Bei seiner Ankunft hatte eine Schwester ihm ein OP-Oberteil gegeben. Dass er während der Fahrt im Krankenwagen kein Hemd getragen hatte, war Keela nicht entgangen. Sie hatte recht gehabt, was den Waschbrettbauch anging. Seltsam, was einem in einer Krisensituation so alles auffiel. Und wie völlig unpassend unter diesen Umständen.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Ron noch gar nicht angerufen hatte. Während sich die beiden Brüder unterhielten, wählte sie die Nummer ihres Ex-Mannes und wappnete sich schon mal innerlich gegen das ihr bevorstehende Gespräch.

Wie zu erwarten, reagierte er nicht gerade erfreut.

„Sie ist jetzt im OP, falls du noch ins Krankenhaus kommen willst.“

„Das ist alles nur deine Schuld, weißt du das?“

Sie zuckte zusammen. Hatte sie richtig gehört?

„Hättest du mich sie heute abholen lassen, wäre das alles nicht passiert. Jetzt hat deine Tochter ein gebrochenes Bein, und die Operation kostet ein Vermögen!“

Sie ballte die freie Hand zu einer Faust, doch ihn anzuschreien hatte keinen Zweck. Das hatte schon während ihrer Ehe nicht funktioniert. Ron wurde dann nur doppelt so streitsüchtig. „Ich dachte nur, du willst sie vielleicht sehen. Ich werde dich informieren, sobald sie in ihrem Zimmer ist.“ Mit zitternden Fingern beendete sie das Telefonat.

Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wusste selbst nicht, warum er immer noch die Macht hatte, sie zu verletzen. Musste er denn immer so ein Arsch sein? Früher oder später würde er zwar kommen, das war bei ihm immer so, doch vorher musste er erst mal kräftig austeilen. Und sein Lieblingsopfer war sie. Du hast schon wieder versagt. Warum bist du nicht gut genug, klug genug, hübsch genug?

Als sie Daniels Arm um ihre Schultern spürte, vergrub sie das Gesicht an seinem warmen Hals. Anscheinend holte der ganze Stress sie jetzt doch noch ein, denn sie konnte sich nicht länger beherrschen und brach in Tränen aus. In Daniel Delaneys Armen und unter Conors Blick. Sie brauchte ein paar Minuten, um sich wieder halbwegs in den Griff zu bekommen.

„Wie geht es dir hier eigentlich?“

Die Frage stammte von Connor, und sie war an Daniel gerichtet.

„Gut, danke“, antwortete Daniel kurz angebunden.

Keela wunderte sich über die Frage. Warum sollte Daniel sich in Krankenhäusern nicht wohlfühlen? Er war schließlich Arzt.

„Okay. Ich muss mal zurück zur Arbeit.“

„Klar“, sagte Daniel über Keelas Kopf hinweg. „Danke für dein Kommen. Wir halten dich auf dem Laufenden.“

Conor klopfte seinem Bruder auf den Rücken. „Ruf mich an, falls du mich brauchst“, sagte er und verschwand.

Wieder fragte Keela sich, was er damit meinte.

Es war ein gutes Gefühl, in Daniels Arm zu liegen. Doch sie schuldete ihm eine Erklärung: „Er hat gesagt, es sei meine Schuld.“

„Was?“ Daniel hob den Kopf und sah sie stirnrunzelnd aus grünen Augen an.

„Er hat ‚deine Tochter‘ gesagt, als hätte er nichts mit ihr zu tun.“ Wut verdrängte ihre Traurigkeit. „Sie ist unsere Tochter. Wie kann er nur so herzlos sein?“

Tröstend zog Daniel sie wieder an sich.

„Ich kann ja verstehen, dass er mir aus dem Weg geht, aber Anna ist auch seine Tochter!“ Neue Tränen liefen ihr übers Gesicht, als der alte Schmerz wieder hochkam. Wegen Ron hatte sie so gelitten, dass sie sich nicht vorstellen konnte, je wieder Gefühle für jemanden zu empfinden außer für ihre Tochter. Es war ein Riesenfehler gewesen, ihm ihre Liebe zu schenken.

„Er sollte für seine Tochter da sein“, sagte Daniel. „Mit Schuldzuweisungen ist sowieso niemandem geholfen. Niemand ist hierfür verantwortlich. Unfälle passieren einfach. Lassen Sie sich nichts einreden.“ Seine Worte taten so gut. „Falls überhaupt jemand Schuld hat, dann ich. Es war meine Idee, einen Spaziergang durch die Dünen zu machen.“

„Aber ich habe angeboten mitzukommen.“

„Wissen Sie was? Es ist völlig überflüssig, weiter darüber zu reden. Die Reaktion Ihres Mannes war schlicht und einfach scheiße.“

Da konnte sie nicht widersprechen. Sie kuschelte sich wieder an Daniels Brust, dankbar für seine Sichtweise und vor allem dafür, dass er zu ihr hielt. Sie seufzte tief. Es tat gut, eine Schulter zum Anlehnen zu haben.

„Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Mann Ihnen je aus dem Weg gehen würde.“

Was für ein verrückter Augenblick, um etwas so Liebes zu sagen. Sie beschloss, Daniels Worte wie einen Schatz zu hüten. Eines Tages würde sie Trost darin finden.

Sie war ihm so dankbar, dass sie wieder in Tränen ausbrach und sein geborgtes OP-Hemd zu durchtränken drohte.

In den nächsten Tagen wich Keela nur von der Seite ihrer Tochter, um zu Hause zu duschen und sich umzuziehen. Als die Schwellung schließlich abklang, wurde Anna entlassen.

Daniel, der mindestens einmal täglich zum Krankenhaus gefahren war, um sich nach Anna zu erkundigen, holte sie ab. „Schreibst du deinen Namen auf meinen Gips?“, fragte Anna ihn.

Daniel griff nach einem Filzstift und setzte seine Unterschrift neben die anderen, die das Krankenhauspersonal hinterlassen hatte.

Keela musste lächeln, als er ein albernes Gesicht dazu malte und Anna damit zum Lachen brachte. Das Kind hatte ein paar sehr harte Tage mit OP, Schmerzen und Tropf mit Antibiotika hinter sich. Jetzt, mit dem Gips, konnte ihre Wunde endlich heilen.

„Ich helfe dir in den Rollstuhl“, sagte Daniel und trug Anna vom Bett zum Stuhl. „Ich habe direkt vor dem Krankenhaus geparkt, sodass wir dich gleich ins Auto setzen können. Ach ja, auf dem Heimweg halten wir noch bei der Eisdiele. Was sagst du dazu?“

„Au ja!“, rief Anna begeistert. Noch nicht mal ein gebrochenes Bein und ein schwerer Gips konnten ihre gute Laune dämpfen. Es war immer wieder erstaunlich.

Eine Stunde später kamen sie zu Hause an. Daniel half, die Patientin zum Wohnzimmersofa zu tragen. „Kann ich euch noch etwas besorgen, bevor ich gehe?“

„Geh nicht. Bitte!“, flehte Anna.

Ihre Anhänglichkeit schien Daniel etwas zu verwirren. „Aber ich muss mich um meine Patienten in der Praxis kümmern. Ich verspreche dir, morgen zu kommen, okay?“

Anna verschränkte die Arme vor der Brust und schob schmollend die Unterlippe vor – offensichtlich nur zur Show, doch lieb wie Daniel war, spielte er das Spiel mit. „Soll ich meine Patienten hierherkommen lassen, damit ich nicht gehen muss?“ Er zückte sein Handy, als sei er bereit, Ernst zu machen.

„Ja“, bestätigte sie nickend.

Daniel sah Keela hilfesuchend an.

Sie unterdrückte ein Lachen. „Ich habe eine bessere Idee. Warum kommst du nicht zum Abendessen?“, schlug sie vor. Sie waren inzwischen zum Du übergegangen.

„Au ja!“, rief Anna.

„Ich habe eine noch bessere Idee. Ich bringe etwas zum Essen mit, wenn ich zurückkomme. Du hast auch so schon genug zu tun. Abgemacht?“

An Daniel Delaney war eine Menge attraktiv, aber am anziehendsten war seine Fürsorglichkeit. „Ich bin so erledigt, dass ich nicht widersprechen kann“, sagte sie dankbar. Die letzten Nächte im Krankenhaus waren ziemlich anstrengend gewesen. Sie freute sich schon auf eine ausgiebige Dusche und vielleicht sogar ein Nickerchen. Das Letzte, wonach ihr jetzt zumute war, war kochen.

„Also dann abgemacht. Bis nachher.“ Er ging zur Tür. „Erhol dich gut, Anna.“

Das Kind strahlte ihn ganz verliebt an. Keela fand das etwas bedenklich, wusste aber nicht, was sie dagegen tun sollte. Zumal es ihr ganz ähnlich ging.

Auch sie schwärmte inzwischen für Daniel. Und zwar gewaltig.

In den nächsten Tagen kannte Anna kein anderes Thema als Daniel und all die lieben Dinge, die er für sie machte. Zum Beispiel, dass er täglich von der Arbeit aus anrief, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Wer tat so etwas schon? Annas Vater jedenfalls nicht, so viel stand fest.

Keela ging all das Gerede über Daniel allmählich auf die Nerven, weil sie gerade ihr Bestes gab, sich nicht in den Typen zu verlieben. Welche Mutter konnte schon einem Mann widerstehen, der ihr Kind gerettet hatte? Einem Mann, der sie selbst an seiner Schulter hatte weinen lassen und zu ihr stand? Einem Mann, der darauf bestand, dass sie Urlaub nahm, obwohl sie für ihn eigentlich unentbehrlich war?

Immer schön langsam! Sie musste auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Erstens war er ihr Chef. Sie durfte ihren Job nicht wegen einer Schwärmerei aufs Spiel setzen. Sie brauchte ihre Arbeit, um über die Runden zu kommen.

Zweitens hatte sie ihre Scheidung noch nicht überwunden. Die war zwar schon anderthalb Jahre her, aber Rons Verhalten ihr gegenüber steckte ihr immer noch in den Knochen.

Und drittens konnte sie ihrer Urteilsfähigkeit nicht trauen, was Männer anging. Schließlich hatte sie Ron für die Liebe ihres Lebens gehalten, als sie ihn geheiratet hatte.

Außerdem sprach noch etwas dagegen: Daniel hatte sich in Annas Gegenwart zwar inzwischen so weit entspannt, dass er sogar mit ihr herumalberte, aber dafür schien er Keela auszuweichen. Er war wieder total verschlossen und distanziert. Professionell.

Von daher waren ihre Gefühle für den Mann reine Zeitverschwendung.

Ehrlich gesagt vermisste sie manchmal die alten Zeiten bei der Arbeit, in denen sie einfach nur ihren Job erledigt hatten. Dass er jetzt öfter bei ihr vorbeikam und sie zu dritt zu Abend aßen, brachte die Chef-Angestellten-Dynamik gewaltig durcheinander. Um mit halbwegs heiler Haut davonzukommen, würde sie dafür sorgen müssen, dass sich die Verhältnisse schnell wieder normalisierten, auch wenn sie Anna damit das Herz brach.

Sie griff nach ihrem Handy. „Daniel? Hier ist Keela.“

„Ist mit Anna alles okay?“

„Oh ja, es geht ihr gut. Ich rufe meinetwegen an.“

„Alles in Ordnung?“

Nicht wirklich. „Klar. Ich rufe nur an, weil ich wieder arbeiten will.“

„Nein, nein, nein. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Du musst dich um Anna kümmern, solange ihr Bein noch nicht verheilt ist.“

„Sie macht gute Fortschritte, und Mrs. Jenkins hat angeboten, zu uns kommen, bis Anna wieder auf den Beinen ist.“

„Nein, es ist besser für euch beide, wenn du bei ihr bleibst.“

„Übertreibst du es nicht ein bisschen?“

„Wie bitte?“

„Das ist doch total unfair dir gegenüber. Was ist mit meinen Patienten? Und den Sportstudenten?“

„Ich habe eine Zeitarbeitskraft eingestellt. Phil kann dir zwar nicht das Wasser reichen, aber wir kommen gut zurecht.“

Die Vorstellung, dass jemand ihren Platz einnahm und ihr womöglich den Job wegschnappte, machte ihr Angst. Außerdem hatte Daniel ihr dieses Detail bisher verschwiegen. Warum eigentlich? Sie beschloss, ihren Stolz hinunterzuschlucken. „Ich brauche meinen Job, Daniel.“

„Das weiß ich doch. Mach dir keine Gedanken deswegen.“

Seine Gutmütigkeit fiel ihr allmählich auf die Nerven. „Danke, aber ich will lieber arbeiten!“

„Warte noch, bis Anna auf Krücken läuft. Du bist Physiotherapeutin. Zeig ihr ein paar Kräftigungsübungen. Sie lernt schnell, also wird es nicht lange dauern, bis sie wieder ganz gesund ist. Um deinen Job brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich wäre verrückt, dich nicht zurückzunehmen.“

Wie konnte sie da noch protestieren?

Daniel saß in seinem Büro und starrte blicklos auf seinen Computerbildschirm. Er vermisste Keela und – so schwer vorstellbar das auch war – Anna, aber mit den beiden zusammen zu sein tat ihm einfach nicht gut.

Seit Annas Unfall verfolgten ihn die Erinnerungen an die winzige, hilflose Emma erbarmungsloser denn je. Letztes Jahr war es ihm ganz gut gelungen, sie in Schach zu halten, aber dann war Anna in sein Leben getreten, und er stand wieder ganz am Anfang.

Er hatte sich so gewünscht, Vater zu werden – Emmas Vater. Noch als sie leblos in seinen Armen gelegen hatte, hatte er eine Verbindung zu ihr gespürt. Leider holten ihn die schmerzlichen Erinnerungen an jenen Augenblick immer ausgerechnet dann ein, wenn er es am wenigsten gebrauchen konnte. Wie oft konnte man den traurigsten Moment seines Lebens durchleben, ohne daran zu zerbrechen? Nein, das war es einfach nicht wert, ganz egal, wie zauberhaft Keela und ihre Tochter waren!

Es war inzwischen eine Woche her, dass er Keela zuletzt gesehen hatte, und mehrere Tage, dass er darauf bestanden hatte, sie solle noch zu Hause bei Anna bleiben. Natürlich könnte er ihre Hilfe gut gebrauchen, aber vorerst war es besser, wenn sie wegblieb. Zumindest, bis er wieder ganz der Alte war.

Die jungen Sportstudenten strömten immer zahlreicher in seine Praxis. Inzwischen war er total ausgebucht. Manche Termine musste er sogar doppelt vergeben, deshalb die Zeitarbeitskraft. Die Zusammenarbeit mit Keela würde ihn nur ablenken. Klar fühlte er sich schuldig, dass er sich nicht mehr die Zeit nahm, Anna zu besuchen oder sie auch nur anzurufen, aber in letzter Zeit war er schon froh, wenn er irgendwie den Tag überstand.

Anna hatte etwas Besseres verdient als ihn, und Keela sowieso. Nicht so hastig, Kumpel, so edelmütig sind deine Motive nicht.

Er hatte seine Besuche bei den beiden auch deshalb eingestellt, weil er die Erinnerung an Keelas warmen, an ihn gepressten Körper nicht abschütteln konnte. Schon allein bei dem Gedanken daran wurde er hart. Das war sein wahrer Grund dafür, darauf zu bestehen, dass sie noch zu Hause blieb – er brauchte dringend Abstand.

Phil, die Zeitarbeitskraft, erschien in Daniels Tür. „Dr. Delaney? Wir haben kein Schmerzgel mehr, und ich habe gerade die letzte Packung mit Elektroden für den Elektrostimulator verbraucht.“

Hast du denn nicht daran gedacht, welche zu bestellen, wie ich dir letzte Woche aufgetragen habe? „Ich rufe rasch den Lieferanten an. Gibt es noch etwas, das uns ausgeht?“

Als Phil weitere Sachen nannte, notierte Daniel sie zähneknirschend. Der junge Mann war ganz gut, aber seine Kommunikationsfähigkeiten waren nicht die besten. Und er hatte keine Ahnung, wie man Material bestellte.

Wahrscheinlich war Daniel nur verwöhnt. Keela und er waren ein perfekt eingespieltes Team. Manchmal schien sie sogar seine Gedanken zu lesen, denn er musste sie kaum je auf etwas hinweisen, das er oder die Patienten brauchten. Ihre Vorschläge oder Ideen waren manchmal besser als seine. Kein Wunder, dass er nachlässig geworden war.

Aber solche Überlegungen nützten ihm im Moment auch nichts, weil er sie gerade für eine weitere Woche von ihrem Arbeitsplatz verbannt hatte.

Er brauchte noch Zeit, um seine Gefühle für sie wieder in den Griff zu bekommen.

Beziehungen brachten nichts als Kummer. Außerdem wäre es ein großer Fehler, einem von ihrem Vater vernachlässigten kleinen Mädchen und ihrer verletzlichen Mutter falsche Hoffnungen zu machen, bloß weil er scharf auf die Mutter war. Wenn er das auslebte, war er sogar noch schlimmer als der Idiot von ihrem Ex-Mann!

Gequält verzog er das Gesicht. Einerseits wollte er ja einen Neuanfang. Andererseits hatte er einfach zu große Angst davor. Warum sehenden Auges ins Unglück laufen? Nur gut, dass er bis zum Hals in Terminen steckte und keine Sekunde Zeit hatte, an Keela zu denken!

Seine Gegensprechanlage summte. „Ihre nächste Patientin ist in Raum zwei.“

Dankbar für die Ablenkung sprang er auf.

5. KAPITEL

Keela hatte keine Ahnung, womit sie sich die Zeit noch vertreiben sollte. Anna ging schon längst an Krücken, und das kleine Haus war blitzblank geputzt. Und von den neuesten Computeranimations-Filme hatte sie die Nase allmählich auch voll.

Außerdem vermisste sie Daniel, ihren tollen Chef, der sich als echter Held entpuppt hatte.

Da sie zu viel Zeit hatte, ertappte sie sich immer wieder dabei, sämtliche Eigenschaften aufzulisten, die ihn von Ron unterschieden: verlässlich, vertrauenswürdig, loyal, lieb, aufmerksam. Verdammt sexy. Sein Anblick mit nacktem Oberkörper hatte diese Frage ein für alle Mal geklärt.

Sie blies sich das Haar aus dem Gesicht, da sie gerade die hässlichen rosa Badezimmerfliesen schrubbte. Sie brauchte ihre Arbeit. Warum stellte Daniel sich nur so stur? Warum ließ er seine Patienten von irgendeiner dahergelaufenen Zeitarbeitskraft behandeln, wenn sie den Job genauso gut übernehmen könnte? Ob der Neue überhaupt wusste, wo das zweite Reizstromgerät war? Sorgte er dafür, dass der Materialraum immer gut gefüllt war? Wusste er überhaupt, wie man Bestellungen aufgab? Wahrscheinlich ging es in der Praxis gerade drunter und drüber.

Vielleicht würde es Daniel ja umstimmen, wenn er mit eigenen Augen sah, wie viel besser es Anna schon ging.

Autor

Susan Crosby
Susan Crosby fing mit dem Schreiben zeitgenössischer Liebesromane an, um sich selbst und ihre damals noch kleinen Kinder zu unterhalten. Als die Kinder alt genug für die Schule waren ging sie zurück ans College um ihren Bachelor in Englisch zu machen. Anschließend feilte sie an ihrer Karriere als Autorin, ein...
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