Bianca Extra Band 86

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IM BRAUTKLEID ZURÜCK ZU DIR … von KATHY DOUGLASS

Rick Tyler wird ihr neuer Nachbar? Charlotte ist entsetzt. Natürlich wird sie den Arzt wie Luft behandeln - schließlich hat er sie einst im Brautkleid stehen lassen! Doch als sein süßer Sohn sie ebenso umschwärmt wie Rick, schmilzt ihre kühle Fassade. Aber kann sie ihm verzeihen?

SCHICKSALSBOTE AUF SÜSSEN PFOTEN von MELISSA SENATE

Als Matt in einem Tierheim zufällig seiner Jugendliebe Claire begegnet, prickelt es zwischen ihnen so heiß wie damals … Schon bald ist er nicht nur in den kleinen Spaniel verliebt, den sie ihm aussucht, sondern auch in Claire - obwohl er eine Frau wie sie gar nicht verdient hat …

EIN KUSS, SO WILD UND FREI von NANCY ROBARDS THOMPSON

Wilde Küsse und Sonnenuntergänge am fernen Horizont. In den Armen von Rancher Ethan vergisst Lady Chelsea den Alptraum, der hinter ihr liegt! Bei ihm fühlt sie sich geborgen und so aufrichtig begehrt wie nie zuvor. Doch wird Ethan sie noch lieben, wenn er ihr Geheimnis kennt?

LIEBESTRÄUME, BABY-PLÄNE von ALLISON LEIGH

Mr. Perfect finden? Daran glaubt Courtney schon lange nicht mehr. Ihr Plan? Ein Baby bekommen, auch ohne Mann! Aber als die Krankenschwester ihren Ex-Lover Mason nach einem Einsatz gesund pflegt, kehren alte Träume zurück - die sie dem Undercover-Agenten natürlich verschweigt …


  • Erscheinungstag 28.07.2020
  • Bandnummer 86
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748128
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kathy Douglass, Melissa Senate, Nancy Robards Thompson, Allison Leigh

BIANCA EXTRA BAND 86

KATHY DOUGLASS

Im Brautkleid zurück zu dir …

Um seinem Sohn ein neues Zuhause zu geben, zieht Dr. Rick Tyler zurück nach Sweet Briar – außerdem will der Arzt sich bei seiner Ex-Verlobten entschuldigen! Doch Charlottes Geständnis verändert alles …

MELISSA SENATE

Schicksalsbote auf süßen Pfoten

Für Claire ist Matt immer noch die große Liebe. Dass sie sich wiedersehen, weil er ein Hundebaby sucht? Für Claire ein Wink des Schicksals. Aber wie kann sie Matt von ihren Gefühlen überzeugen?

NANCY ROBARDS THOMPSON

Ein Kuss, so wild und frei

Für Ethan gibt es nur seine Ranch – bis Chelsea in sein Leben platzt. Der sonst so misstrauische Cowboy fühlt: Chelsea ist nicht nur schön, sondern ehrlich. Bedingungslos vertraut er ihr. Ein Fehler?

ALLISON LEIGH

Liebesträume, Baby-Pläne

Agent Mason muss sich nach einem Unfall in die Hände einer Krankenschwester begeben, sonst verliert er seinen Job. Aber muss es Courtney sein? Denn er wäre lieber ihr Lover und nicht ihr Patient …

1. KAPITEL

Als Charlotte Shields am Pausenraum der Sekretärinnen vorbeikam, drang ein vielstimmig gesungenes Happy Birthday auf den Flur. Sie blieb stehen.

„Mach mein Geschenk als Erstes auf!“, rief eine Stimme.

„Warte doch noch bis nach dem Kuchen“, sagte jemand, und mehrere Frauen lachten fröhlich.

Charlotte hätte sich gern dazugesellt, aber sie wusste, dass sie nicht willkommen gewesen wäre – nicht mehr. Als sie hier anfing, hatten mehrere Kolleginnen sie eingeladen, mit ihnen auszugehen. Sie hätte zwar gern zugesagt, aber dennoch abgelehnt. Gleich an ihrem ersten Tag hatte ihr Vater sie nämlich in sein Büro bestellt und ihr eine Liste mit extra für sie aufgestellten Regeln überreicht. Ganz oben stand, dass sie keinen privaten Umgang mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pflegen durfte. Seiner Erfahrung nach wäre es nämlich zu kompliziert, einen befreundeten Menschen abzumahnen oder gar zu entlassen. Sie hatte sich anstandslos gefügt.

Nach einer Weile erhielt sie keine Einladungen mehr. Die anderen Frauen empfanden sie als eingebildet und ablehnend, und vom Verhalten her wurde sie ihrem Ruf nur zu gerecht. Inzwischen bereute sie es sehr, damals alles getan zu haben, um ihrem Vater zu gefallen.

Charlotte ging weiter und blieb am Schreibtisch ihrer eigenen Sekretärin stehen. „Hat jemand angerufen, während ich weg war?“

„Ja, Mrs. Shields.“ Anita reichte ihr einen Stapel Zettel. „Ihr Vater hat für heute Nachmittag um drei Uhr eine Besprechung angesetzt.“

„Danke.“

Obwohl Anita mit dreiunddreißig nur ein Jahr jünger als sie war, sprach sie Charlotte nie mit dem Vornamen an. Bisher hatte es Charlotte nie gestört, aber heute schmerzte sie diese distanzierte Haltung.

Sie öffnete den Mund, um Anita nach deren Schwangerschaft zu fragen, fand aber nicht die richtigen Worte.

„Ist noch etwas, Mrs. Shields?“

„Nein.“

Charlotte blätterte die Informationen durch. Nichts Dringendes. Sie dachte an die Besprechung, die ihr Vater für den Nachmittag vereinbart hatte. Dass er so plötzlich eine Konferenz einberief, beunruhigte sie. Aber es wäre sinnlos, ihn nach der Tagesordnung zu fragen, denn er würde sie ihr nicht verraten. Sie war zwar seine Tochter, aber er behandelte sie nicht besser als alle anderen. Im Gegenteil, zu ihr war er strenger.

Trotz ihrer Masterabschlüsse in Betriebswirtschaft und Marketing hatte sie ganz unten anfangen und sich ihre jetzige Position als Leiterin der Marketingabteilung hart erarbeiten müssen.

Pünktlich um fünf Minuten vor drei betrat sie den Konferenzraum. Mehrere Manager unterhielten sich leise. Nervös starrte sie auf die gerahmten Zeitungsartikel an den Wänden, die den Weg von Shields Manufacturing zu einem der führenden Möbelhersteller der Welt nachzeichneten.

Fünf Minuten später kam ihr Vater herein, gefolgt von einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

„Nehmen Sie Platz“, sagte Charles Shields. Sein Begleiter setzte sich rechts von ihrem Vater – auf ihren Stuhl. Charlotte nahm auf dem Stuhl daneben Platz.

Eine Sekunde lang wirkte ihr Vater nachdenklich, was äußerst ungewöhnlich war.

Ging es ihm nicht gut? Nach dem Tod ihrer Mutter Rachel vor zwei Jahren hatte er Gewicht verloren, aber sie hatte es auf Appetitmangel in der Trauerzeit zurückgeführt. Sie musterte ihn – er sah aus wie immer.

„Bestimmt fragen Sie sich, warum ich diese Sitzung anberaumt habe.“ Charles lächelte, und er lächelte sonst nie. Charlottes Herz schlug schneller.

„Wir haben einen langen Weg hinter uns. Ich möchte sicherstellen, dass wir auch in Zukunft so erfolgreich sind wie bisher. Deshalb lege ich die Leitung des Unternehmens nieder, um Platz für jemand anderen zu machen.“

Alle redeten durcheinander, nur Charlotte nicht. Ihr Herz klopfte heftig. Endlich belohnte ihr Vater sie mit der Position, die sie verdiente – die harte Arbeit, die langen Tage und einsamen Nächte hatten sich ausgezahlt.

Charles räusperte sich, und im Raum wurde es still. „Dies ist Gabriel Jenkins, mein Nachfolger.“

Ihr Vater sprach weiter, aber Charlotte hörte nicht mehr hin. Das konnte er ihr nicht antun. Sie hatte so viel für ihn geopfert, für die Firma. Und er übergab die Leitung einem Fremden!? Jemandem, der keine Träne und keinen Blutstropfen vergossen hatte, um Shields Manufacturing zu dem erfolgreichen Unternehmen zu machen, das es jetzt war. Ihr Vater hatte sie verraten.

Sie wehrte sich gegen das Gefühl der Übelkeit und das schwarze Loch, das sie zu verschlucken drohte. Ihr Vater sah sie nicht einmal an, sondern widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem neuen Chef, der jetzt mit seinem Studium in Harvard prahlte.

Charlotte warf einen Blick in die Runde. Die meisten Spitzenmanager wirkten betroffen oder wenigstens peinlich berührt.

Zornig stand sie auf und schob den Stuhl so heftig zurück, dass er gegen die Wand knallte. Alle starrten sie an, und der neue Firmenchef verstummte. Ihr Vater zog eine Augenbraue hoch. Früher hätte sie den Blick gesenkt und sich wieder hingesetzt, aber nicht heute. Sie hatte ab sofort nichts mehr zu verlieren.

„Charlotte.“ Ihr Vater klang kalt.

„Ich kündige.“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Um drei Minuten nach drei und mit sofortiger Wirkung.“

Ihr Vater verzog keine Miene. Sein Nachfolger öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber sie drängte sich an ihm vorbei und eilte in ihr Büro. Dort bewahrte sie nur wenige persönliche Dinge auf, nur eine Wolldecke für ihre Füße an kalten Tagen und einen alten Schnappschuss von sich mit ihrer Mutter und den Schwestern Charmaine und Carmen. Sie steckte das Foto in die Handtasche, schnappte sich die Decke und schaltete das Licht aus.

„Mr. Adams von der First Bank of America wartet in Leitung vier“, sagte Anita.

„Der ist nicht mehr mein Problem!“, erwiderte Charlotte und ging an der Frau vorbei, die vielleicht eine echte Freundin geworden wäre, wenn sie nicht jeden Annäherungsversuch abgeblockt hätte – noch ein Fehler, den sie begangen hatte, um ihrem Vater zu gefallen. Sie ging zum Fahrstuhl und drückte ungeduldig auf den Knopf.

Endlich glitt die Tür auf. Blinzelnd wehrte sie sich gegen die Tränen. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch.

Sie warf ihre Sachen auf den Beifahrersitz und raste aus der Tiefgarage.

Als sie wenig später auf ihrem Sofa saß, hatte sich ihre Empörung gelegt, und ihr wurde bewusst, was sie gerade getan hatte.

Sie hatte ihren Job hingeschmissen.

Um Geld machte sie sich keine Sorgen. Sie hatte klug investiert und lebte nicht über ihre Verhältnisse, aber sie hatte die Verbindung zu ihrem Vater gekappt und damit zum letzten Familienmitglied, zu dem sie überhaupt noch eine Beziehung gehabt hatte.

Sie wehrte sich gegen die Übelkeit. Sie hatte Schlimmeres überlebt und war dadurch stärker geworden. Sie würde also auch diese Situation meistern.

„Fast da“, sagte Rick Tyler und versuchte, begeistert zu klingen. Er warf seinem zehnjährigen Stiefsohn einen Blick zu und schaute wieder nach vorn, um den Umzugstransporter um eine Kurve zu lenken.

„Hurra.“

Rick unterdrückte ein Seufzen. Zu sagen, dass Bobby sich nicht freute, von Milwaukee wegzuziehen, wäre die Untertreibung des Jahrtausends gewesen. Bobby hatte sich mit Händen und Füßen gegen alles gewehrt, seit seine Mutter sie vor anderthalb Jahren verlassen hatte. Seitdem war Funkstille gewesen, und ihnen war auch nicht klar, wie sie sie kontaktieren konnten.

„Sweet Briar ist ein toller Ort. Ich habe hier viel Zeit verbracht, als ich auf dem College war. Ich habe sogar ein paar Sommer hindurch in einer Möbelfabrik gearbeitet.“

„Du kannst Möbel bauen?!“, fragte Bobby, und in seinen Augen blitzte ein Anflug von Interesse auf.

„Nein. Ich habe im Büro gejobbt.“

Bobbys Blick wurde wieder ausdruckslos. Rick konnte es ihm nicht verdenken. Papiere zu wälzen war nicht halb so aufregend wie mit großen Werkzeugen zu hantieren. Und die Erfahrung hatte ihn erkennen lassen, dass Schreibtischarbeit nichts für ihn war. Er hatte sie gehasst, aber die Zeit mit der Tochter des Chefs hatte ihn dafür entschädigt.

Charlotte war süß und lustig gewesen, wenn auch etwas zu sehr darauf bedacht, ihrem Vater zu gefallen – ein Bedürfnis, das er allerdings nur zu gut aus eigener Erfahrung kannte. Sie beide waren einander sehr nahe gekommen, und ihre Väter hatten von ihnen erwartet, sich zu verloben.

Rick wusste, dass er dem Druck schon viel früher hätte widerstehen müssen, aber irgendwie waren die Dinge zu schnell außer Kontrolle geraten. Je näher die Hochzeit rückte, desto größer waren Ricks Zweifel geworden. Seine Eltern hatten das Sagen – und er war das Gefühl nicht losgeworden, in der Falle zu sitzen.

Sein Vater wollte, dass Rick ins Familienunternehmen seiner Zukünftigen eintrat. Schließlich würde er bestimmt bald selbst eine Familie ernähren müssen. Ricks Traum, Medizin zu studieren, löste sich vor seinen Augen in Luft auf. Er bat Charlotte schließlich, die Hochzeit abzusagen.

Sie weigerte sich. Und letztendlich war er nicht zur kirchlichen Trauung erschienen.

Er hatte es gehasst, seiner Verlobten wehzutun, aber er war absolut verzweifelt gewesen. Sie zu heiraten, wäre ein riesiger Fehler gewesen. Er hätte ihr – bewusst oder unbewusst – die Schuld an seinem gescheiterten Traum gegeben. Auf lange Sicht war es für sie beide das Beste gewesen. Jedenfalls redete er sich das ein, wenn das schlechte Gewissen ihn nachts wieder einmal nicht schlafen ließ.

„Wenn es so toll war, warum bist du nicht in Sweet Briar geblieben?“

„Weil ich an der Universität in Michigan einen Studienplatz in Medizin bekommen habe.“

Rick war überzeugt, dass Bobby sich in Sweet Briar wohlfühlen würde, aber er wusste auch, dass er einiges wiedergutzumachen hatte, angefangen bei Charlotte. Er hatte versucht, sich bei ihr zu entschuldigen, aber erfolglos. Wenn er in ihre Heimatstadt ziehen wollte, würde er sich mit Charlotte aussöhnen müssen. Und er musste den Mitbürgerinnen und Mitbürgern beweisen, dass er es wert war, ihr Arzt zu sein.

Jake Patterson, sein Berater an der Universität, hatte Angehörige in der Gegend. Er war es gewesen, der Rick erzählt hatte, der langjährige Arzt der Stadt sei verstorben, und die Einwohner von Sweet Briar müssten zur Behandlung bis nach Willow Creek fahren. In der Zwischenzeit waren zwei andere Mediziner hergekommen, aber wieder abgezogen. Rick hatte deshalb zusagen müssen, mindestens zwei Jahre in Sweet Briar zu bleiben. Bei der Gelegenheit wollte er sich mit Charlotte aussprechen.

Vor zwölf Jahren war ihm einfach nicht bewusst gewesen, wie sehr er ihr wehtat. Dann hatte ihn vor eineinhalb Jahren seine Ex-Frau verlassen, und ihm war klargeworden, wie schmerzhaft sein Abgang damals für Charlotte gewesen sein musste. Wie erniedrigend. Jetzt wusste Rick, dass er ihr damals das Herz gebrochen haben musste. Sie wiederzusehen, würde also durchaus nicht angenehm sein, aber daran war er selbst schuld. Was er ihr angetan hatte, war abscheulich. Das war ihm jetzt vollkommen klar. Er wünschte nur, er hätte es schon damals begriffen. Er hatte sie am Tag nach der geplatzten Hochzeit angerufen, aber sie hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Er hatte ihr zwei Briefe geschrieben, aber beide waren ungeöffnet zurückgekommen. Danach war ihm nie wieder der Sinn danach gestanden, ihr sein Verhalten zu erklären.

Rick und Bobby schwiegen eine ganze Weile. Als der Junge endlich etwas sagte, klang er bedrückt und regelrecht verängstigt. „Mom wird nicht wissen, wie sie mich findet. Sie wird wiederkommen, ich bin mir ganz sicher, aber dann wohnt jemand anderes in unserem Haus!“

Rick bezweifelte, dass sie jemals zurückkehren würde. Sherry war seiner Meinung nach viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Singledasein in vollen Zügen zu genießen – nicht, dass er das jemals seinem Sohn erzählen würde. „Die Browns von nebenan wissen, wo wir sind, und können es ihr ausrichten. Und ich habe noch immer dieselbe Handynummer. Wenn deine Mom uns erreichen will, kann sie es. Okay?“

„Ja, sicher, Rick“, erwiderte Bobby sarkastisch, aber seine Besorgnis war nicht zu überhören.

Rick zählte stumm bis zehn.

„Du hast mich jahrelang Dad genannt. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt nicht Rick nennen würdest.“

„Sonst noch was?! Willst du mir einen blöden Brief schreiben und dich mitten in der Nacht davonschleichen? So wie Mom?“ Bobbys Stimme zitterte.

Rick legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das wird niemals passieren. Du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Wo ich bin, bist du auch. Verstanden?“

Bobby nickte heftig blinzelnd. Einmal mehr verfluchte Rick seine Ex-Frau. Na gut, sie wollte nicht mehr mit ihm verheiratet sein – das leuchtete ihm durchaus ein, aber er konnte einfach nicht glauben, dass sie auch ihren Sohn nicht mehr wollte. Wie sollte er Bobby bloß helfen, mit dieser Situation fertigzuwerden?

Hoffentlich würde Sweet Briar ihm die Antworten liefern, die er suchte. Bobby war zuerst traurig gewesen und hatte nicht umziehen wollen, dann war er zornig geworden. Er hatte Freunde gefunden, die allerdings aus Ricks Sicht nicht gut für den Jungen waren, hatte seine Hausaufgaben nicht mehr gemacht und den Unterricht gestört. Schließlich hatte der Direktor vorgeschlagen, Bobby an einer anderen Schule anzumelden, und Rick hatte begriffen, dass er etwas unternehmen musste.

Er machte sich nichts vor. Bobbys Probleme würden in Sweet Briar nicht wie von Zauberhand verschwinden, aber er würde eine kleine Praxis betreiben und dadurch viel mehr Zeit für seinen Sohn haben als in Milwaukee.

Er fuhr langsamer und hielt nach der Adresse Ausschau, die der Makler ihm gegeben hatte. Er war froh, dass er die Doppelhaushälfte gefunden hatte.

Kurz darauf parkte er den Transporter am Straßenrand. „Wir sind da!“

Bobby sprang hinaus, nahm seinen Basketball vom Rücksitz und dribbelte die Einfahrt entlang.

„Lass uns gleich ausladen. Ich will die Betten aufstellen, danach können wir essen.“

Bobby warf den Ball auf den Rasen und ging im Schneckentempo zur Hecktür.

Rick kuppelte den Mustang ab und stellte ihn neben einer mitternachtsblauen BMW-Limousine ab. Dann schloss er den Transporter auf.

„Unser Nachbar scheint zu Hause zu sein“, sagte Rick und suchte auf der Ladefläche nach einem Karton, der nicht zu schwer für Bobby war. Der Junge nahm ihn entgegen, drückte ihn an die Brust und runzelte die Stirn. „Ach, das ist doch so ein Alte-Leute-Auto. Wahrscheinlich ein missmutiger Opa, der mich anschreit, wenn ich seinen Rasen betrete.“

„Vielleicht ist es eine nette alte Lady, die liebend gern Kekse backt.“

„Und Angst um ihre Blumen hat, wenn ich Basketball spiele.“

Rick kam nicht dazu zu antworten, denn die Haustür öffnete sich, und eine Frau trat ins Freie. Sie kehrte ihm sofort den Rücken zu, aber er hatte genug gesehen, um zu wissen, dass es sich keineswegs um eine alte Lady handelte, sondern dass die Nachbarin etwa dreißig und durchaus attraktiv war. Zweifellos war sie verheiratet oder in einer festen Beziehung – und wenn schon. Er hatte die Verantwortung für Bobby, und in seinem Leben war sowieso kein Raum für eine Frau. Da sie aber sozusagen unter einem Dach leben würden, konnte es nicht schaden, freundlich zu sein.

„Komm schon, Bobby. Stellen wir uns vor.“

Bobby verdrehte die Augen, aber er folgte Rick durch den Vorgarten. Als sie näher kamen, drehte die Frau sich um. Rick blieb fast das Herz stehen.

Charlotte.

Das konnte nicht wahr sein.

Charlotte Shields starrte den Mann an, auf den sie vor zwölf Jahren im schönsten Brautkleid in der knallvollen Kirche vergeblich gewartet hatte. Spielte die Fantasie ihr einen bösen Streich? Sie blinzelte, als könnte sie ihn dadurch verschwinden lassen, doch es half nichts. Rick Tyler stand noch immer vor ihr, mit ungläubigem Gesicht. Ihre Knie wurden weich, bis sie fast nachgaben. Nur mit Mühe straffte sie die Schultern und hob das Kinn. Sie hatte damals nicht die Fassung verloren und würde dies jetzt auch nicht tun.

„Rick.“ Sie legte alles, was sie an Abneigung fühlte, in das einzelne Wort.

Er lächelte vorsichtig. „Charlotte.“

Sie funkelte ihn an und hoffte, dass er die Botschaft verstehen und verschwinden würde.

„Wow. Du siehst großartig aus.“ Er stellte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe. Sie wich zurück, bis sie gegen ihre eigene Haustür stieß. War das sein Ernst? Sie waren keine alten Freunde, die einander umarmten und Erinnerungen austauschten. War ihm nicht klar, dass sein schäbiges Verhalten sie beide zu Feinden fürs Leben gemacht hatte?

„Dad. Ich dachte, wir packen aus und essen was. Ich hab tierisch Hunger.“

Sie sah auf den Jungen, der sie mit gerunzelter Stirn anstarrte. Zehn oder elf, überschlug sie und spürte einen Stich in der Brust. Rick hatte anscheinend nicht sehr lange damit gewartet, sich eine andere Frau zu suchen. Offenbar hatte er nur sie nicht heiraten wollen.

„Bobby, sag Hallo.“

Der Junge murmelte die unfreundlichste Begrüßung, die sie seit Jahren gehört hatte. Angesichts ihrer allgemeinen Unbeliebtheit hieß das schon etwas.

„Hi.“ Sie klang nicht freundlicher, und die Augen des Jungen wurden groß. Dann marschierte er über ihren Rasen und zertrampelte dabei einige ihrer Blumen. Sie verzog keine Miene. Ihr war selbst danach, ein paar niederzuwalzen.

„Wir ziehen nebenan ein“, sagte Rick überflüssigerweise.

„Warum?“

„Ein Neuanfang.“

„Ausgerechnet in meiner Stadt?“

„Hier hat es mir immer gefallen. Die Menschen sind warmherzig und offen. Genau das braucht Bobby jetzt.“

„Das gilt auch für viele Kleinstädte im ganzen Land.“

„Kann sein, aber dort wären wir Fremde. Hier habe ich Freunde.“

„Ich hoffe, du zählst mich nicht dazu.“

Wenigstens wirkte er verlegen. „Ich möchte mich noch einmal in aller Aufrichtigkeit entschuldigen …“

„Noch einmal“, wiederholte sie lauter, als ihr lieb war. „Ich muss das erste Mal irgendwie verpasst haben. Du hast mir über deinen Trauzeugen eine Nachricht geschickt: Charlotte, es tut mir leid, dass du nicht auch der Ansicht bist, wir sollten nicht heiraten. Hältst du das wirklich für eine Entschuldigung?!“

Er ließ kurz den Kopf hängen, bevor er ihr in die Augen schaute. Immerhin. Er schämte sich. Gut. Dazu hatte er allen Grund. „Du hast recht“, sagte er. „Es war keine. Es tut mir leid, Charlotte, aber ich bin in Panik geraten. Das lässt mich nicht gerade gut aussehen, aber es ist die Wahrheit. Ich weiß, dass ich dich verletzt und blamiert habe. Das hattest du in keinster Weise verdient. Bitte verzeih mir.“

„Oh nein, nicht in diesem Leben.“

„Charlotte“, begann er, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

„Keine Sorge, Rick, ich erzähle deiner Frau nicht, was für ein Idiot du bist.“

„Ich bin geschieden.“

„Offenbar ist sie schlauer als ich damals.“

Er drehte sich um und folgte seinem Sohn über den Rasen und ins Haus.

Charlotte schaute ihm nach und sagte sich, dass ihr Herz nur vor Schock so heftig klopfte – und nicht etwa, weil sie noch etwas für ihm empfand. Langsam ging sie ins Haus und an den Kleiderschrank in ihrem dritten und meistens ungenutzten Schlafzimmer. Sie öffnete ihn und starrte auf ihr Brautkleid. Es war das schönste im ganzen Geschäft gewesen, und sie hatte sofort gewusst, dass sie sich darin wie eine Prinzessin fühlen würde. Und so war sie sich auch vorgekommen – bis zu dem Moment, in dem sie hatte einsehen müssen, dass ihr Bräutigam sie am Traualtar versetzt hatte.

Seit Tagen war er damit angekommen, die Hochzeit absagen zu wollen, aber sie hatte geglaubt, dass es nur am Lampenfieber lag. Er wollte, dass sie ihn zu seinen Eltern begleitete, um ihnen zu erklären, dass sie beide nun doch nicht heiraten wollten. Sie hatte sich geweigert. Sicher, ihre Väter hatten das Ganze arrangiert, aber das störte sie nicht. Sie hatte sich in Rick verliebt, und er schien gern mit ihr zusammen zu sein. Sie war überzeugt, dass Rick einsehen würde, wie glücklich sie ihn machen würde.

Sie hatte sich gehörig getäuscht.

Jetzt strich sie mit beiden Händen über die durchsichtige Hülle, die ihr Brautkleid vor Schmutz und Staub schützte, und schloss die Schranktür wieder. Sie war damals ihrem Herzen gefolgt und nicht ihrem Verstand. Das würde ihr kein zweites Mal passieren.

Rick läutete an Charlottes Tür. Er wusste, dass sie zu Hause war, denn ihr Wagen stand in der Einfahrt, und durch das offene Wohnzimmerfenster drang Motown-Musik. Er konnte noch immer nicht fassen, dass ausgerechnet sie Nachbarn waren. Vorhin hatte er den Schmerz in ihren Augen gesehen. Seine Anwesenheit tat ihr weh, und das wollte er nicht. Selbst wenn er es schaffen sollte, aus dem Mietvertrag auszusteigen, würde er Bobby schon wieder einen Umzug zumuten müssen. Irgendwie musste es ihm gelingen, mit Charlotte Frieden zu schließen.

Als damals seine zwei Briefe an sie ungeöffnet zurückgekommen waren, hätte er nicht aufgeben dürfen. Er hatte sich aber eingeredet, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte und er ihren Wunsch respektieren musste. Insgeheim war er froh darüber gewesen, denn es hatte ihm den einfachsten Weg aus einer schwierigen Situation geboten. Jetzt, zwölf Jahre später, war er älter und hoffentlich klüger.

Ihre Tür ging auf. „Was willst du?“

„Können wir reden?“

„Ich hatte gehofft, dich nie wiederzusehen.“

„Charlotte, ich weiß, dass ich unsere Freundschaft zerstört habe und du mir nichts schuldest. Können wir trotzdem ein paar Minuten reden? Bitte.“

Sie schwieg so lange, dass er schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. „Fünf Minuten“, sagte sie schließlich, „aber danach lässt du mich in Ruhe. Ist das klar?“

Obwohl auf ihrer Veranda zwei Stühle standen, lehnte sie sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich hätte dich nicht in der Kirche allein lassen dürfen, Charlotte. Ich hätte bei dir sein sollen.“

„Warum hast du es dann getan?“, fragte sie leise.

„Ich habe begriffen, dass es ein zu hoher Preis gewesen wäre, zu heiraten und unsere eigenen Träume den Plänen unserer Väter zu opfern. Ich konnte dich nicht dazu bringen, zu mir zu halten.“

„Soll das heißen, es war meine Schuld, dass du nicht in die Kirche gekommen bist?“

„Nein. Es war allein meine Schuld. Ich war feige.“

Charlotte seufzte. „Mein Vater hat mir vorgeworfen, dich vertrieben zu haben!“

„Das ist doch verrückt. Du hast nichts falsch gemacht. Sie hätten uns nicht zwingen dürfen, zu heiraten. Sie brauchten unsere Heirat nicht, um ihre Firmen zu fusionieren.“

„Trotzdem ist es nicht zur Fusion gekommen.“

„Das war nicht unsere Schuld.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sind wir fertig?“

„Nimmst du meine Entschuldigung an?“

„Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“

Er schaute in ihre wunderschönen Augen und hoffte, darin irgendein Gefühl zu entdecken. Er sah keins. Wenn sie etwas fühlte, so verbarg sie es vor ihm. „Hast du denn nie etwas getan, das du bereust? Jemandem wehgetan, der dir etwas bedeutete? Würdest du nicht wollen, dass er oder sie dir verzeiht – egal, wie spät die Entschuldigung kommt?“

Sie schloss die Augen. „Na gut. Ich verzeihe dir. Wenn es sonst nichts mehr gibt …“

Er wünschte, er könnte ihr glauben, aber er wusste, dass sie ihn nur loswerden wollte. Er würde mehr Zeit brauchen.

„Ich habe meinen Makler angerufen und versucht, aus dem Mietvertrag auszusteigen. Es geht nicht. Ich tue es dir nur ungern an, aber wir bleiben Nachbarn.“

„War’s das? Oder hast du noch eine schlechte Nachricht für mich?“

„Nein. Gute Nacht.“

Sie antwortete nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet. Es war ein Anfang. Vorläufig würde er sich damit begnügen.

„Wie lange wird das dauern?“, fragte Bobby, als Rick am nächsten Morgen vor der Praxis parkte. Bobby murrte, seit Rick ihm erklärt hatte, dass er nicht allein zu Hause bleiben durfte. Sobald sie beide sich eingerichtet hatten, würde er jemanden suchen, der auf den Jungen aufpasste, bis die Schule begann.

„Ich will mich nur kurz umsehen.“ Sich hier als Arzt niederzulassen, ohne die Praxisräume zu kennen, war riskant gewesen, aber Rick sah es als berufliche und private Chance an. Er hatte sich auf die Auskünfte des Bürgermeisters Alexander Devlin III. und die Fotos des Maklers verlassen.

„Und was soll ich jetzt tun?“

„Du hättest ein Buch mitnehmen können. Wenn du dich nicht …“

„Ja, ich weiß, dann gerate ich auf die schiefe Bahn und lande dort, wo ich nicht sein will – hier zum Beispiel.“

„Bobby.“

„Schon gut. Ich stelle das Autoradio an.“

„Auf keinen Fall.“ Rick zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Bobby seufzte dramatisch, folgte ihm und knallte die Wagentür zu.

Ein Mann kam lächelnd auf sie zu. „Sind Sie Dr. Tyler?“

„Ja.“

Der Mann gab ihm die Hand. „Ich bin Alexander Devlin.“

Rick schüttelte sie. Dass der Bürgermeister persönlich erschienen war, gefiel ihm außerordentlich. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

„Nennen Sie mich Lex.“ Er sah Bobby an. „Hi. Du musst Bobby sein.“

„Ja. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir“, antwortete der Junge höflich.

Lex nickte. „Ich bin gekommen, um alle Ihre Fragen zu beantworten.“

„Danke. Wir wollten uns gerade umsehen. Sie können uns gern begleiten.“

Das Haus sah innen so gut aus wie von außen. Obwohl es lange leer gestanden hatte, war alles sauber. Rick strich mit einen Finger über den Tresen, der den Wartebereich von den Behandlungsräumen trennte – kein einziges Staubkorn.

„Sweet Briar ist ein großartiger Ort zum Leben, aber in letzter Zeit hatten wir Mühe, einen Arzt zu halten. Ihr Vorgänger hat geheiratet und ist sechs Monate später nach Boston gezogen. Die Ärztin vor ihm hat nur drei Monate durchgehalten. Sweet Briar war ihr dann eben doch zu klein. Wir alle sind froh, dass Sie sich für zwei Jahre verpflichtet haben. Einige Leute haben sich zusammengetan und hier gründlich sauber gemacht.“

„Wow. Danke.“

„Ich gebe es gern weiter.“

Hinter dem Tresen gab es genug Platz für zwei Mitarbeiterinnen und ausreichend Aktenschränke. Rick öffnete die erste der sechs Türen, die vom Flur abgingen. Der Raum war groß, und der Sonnenschein strömte durch das große Fenster. Rick konnte sich gut zwei Untersuchungsliegen sowie einen Schreibtisch, eine Körperwaage, einen Stuhl und andere Dinge darin vorstellen. Drei andere Räume waren ebenso groß, und zwei kleinere konnten als Büros eingerichtet werden.

Obwohl die Wände einen frischen Anstrich gebrauchen konnten, gefiel ihm jetzt schon, was er sah.

„Was glauben Sie, wann Sie die ersten Patienten empfangen können?“

„Innerhalb der nächsten drei Wochen, hoffe ich. Ich muss eine Krankenschwester und jemanden für die Anmeldung einstellen, aber notfalls komme ich erst mal auch ohne Personal zurecht. Der Transporter mit meinen Büromöbeln müsste in ein paar Tagen eintreffen.“

„Ich höre mich mal um.“

„Danke. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.“

Rick brachte den Bürgermeister zum Ausgang und schaute sich noch einmal in seiner zukünftigen Praxis um. Er freute sich auf die Arbeit und hätte seine Begeisterung gern mit jemandem geteilt.

„Können wir jetzt gehen?“, fragte Bobby.

Rick legte einen Arm um seinen Sohn. „Ja.“ Er schloss die Tür ab und freute sich darüber, dass Bobby seinen Arm nicht abgeschüttelt hatte. Auch das war ein Anfang.

2. KAPITEL

Charlottes Magen knurrte, als sie einen letzten Blick auf ihr neu einsortiertes Geschirr warf und die Schranktür schloss. Sie hatte aufgeräumt und gründlich sauber gemacht. Vielleicht würde sie auch noch ein paar Wände streichen. Und wenn sie schon mal dabei war, ihr Haus zu renovieren, konnte sie vielleicht auch ihr Leben ändern.

Sie beschloss, etwas zu essen. Seit ein paar Tagen nahm ihr Appetit ab, und sie wusste, woran das lag. Ihr Leben lang hatte sie gehofft, irgendwann den Chefsessel bei Shields Manufacturing zu übernehmen. Die Beförderung wäre der Beweis gewesen, dass ihr Vater sie wirklich liebte und sie nicht umsonst so viel für den Job geopfert hatte. Aber der Traum war ausgeträumt.

Er hatte sie nicht einmal angerufen, um ihr seine Entscheidung zu erklären. Es war, als würde sie für ihn nicht mehr existieren. Von ihrer Schwester Carmen hatte er sich ebenso gnadenlos abgewandt. Mit achtzehn war sie in einen tödlichen Autounfall verwickelt gewesen. Sie hatte zwar nicht am Steuer gesessen und nichts getrunken, ihr Vater hatte sie dennoch aus dem Haus geworfen und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Charlotte hatte sich auf die Seite ihres Vaters geschlagen, um sich seine Anerkennung zu verdienen. Dafür schämte sie sich noch heute. Als Carmen vor ein paar Jahren nach Sweet Briar zurückgekehrt war, hatte sie versucht, mit Charlotte darüber zu reden. Charlotte hatte sie abgewimmelt. Wie dumm sie gewesen war.

Aber sie wusste, dass ihr Appetitmangel und die Schlafprobleme in erster Linie mit ihrem neuen Nachbarn zu tun hatten. Seit drei Tagen ging sie Rick aus dem Weg. Sie sah ihn kommen und gehen, aber er läutete nicht bei ihr. Und das war ihr nur recht. Um nicht länger an Rick Tyler zu denken, ging sie an den Kühlschrank. Nichts darin reizte sie. Nach dem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, brauchte sie jetzt etwas Kalorienreiches und Fettiges.

Sie machte sich frisch, zog eine lavendelfarbene Bluse und eine knöchellange dunkelrote Hose an und legte Lippenstift auf. Die Fahrt zu Marbel’s Diner war kurz, und sie fand auf Anhieb einen Parkplatz. Charlotte nahm ihr Buch vom Beifahrersitz und stieg aus. Sie lächelte mehreren Leuten zu, aber keiner lächelte zurück. Das war kein Wunder, denn sie hatte die Bürger von Sweet Briar – von denen etliche bei Shields Manufacturing arbeiteten – wie den letzten Dreck behandelt. Sie hatte es verdient, dass man ihr die kalte Schulter zeigte.

In Sweet Briar verbreiteten sich Neuigkeiten mit Lichtgeschwindigkeit. Inzwischen hatte sich möglicherweise herumgesprochen, dass ihr Vater ihren Traumjob einem Fremden gegeben hatte und der Mann, der sie am Traualtar versetzt hatte, wieder in der Stadt weilte. Sie überlegte, ob sie besser nicht in aller Öffentlichkeit essen gehen sollte. Nein. Sie würde sich nicht verstecken.

Sie betrat den Diner.

Und sah sich Rick Tyler und dessen Sohn gegenüber.

Toll.

„Hi, Charlotte“, sagte Rick.

„Hi.“ Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Wenn sie nichts tat, um ihn zu einem Gespräch zu ermutigen, würde er den Wink vielleicht verstehen und sie in Ruhe lassen.

„Bobby, sag Hallo.“

„Hi“, sagte der Junge gehorsam. Die Traurigkeit in seinen Augen kam ihr bekannt vor. Sie sah sie jeden Morgen im Spiegel.

Sie schaute sich nach einem freien Tisch um. Eine Vierergruppe ging gerade. Eine Kellnerin kam auf Rick zu. „Ihr Tisch ist fertig.“

Rick sah Charlotte an. „Bist du verabredet oder möchtest du dich zu uns setzen?“

Er lächelte wieder. Obwohl er der letzte Mensch war, mit dem sie Zeit verbringen wollte, schlug ihr Herz schneller. Daran zu denken, wie sehr er sie verletzt und gedemütigt hatte, half nicht. Sie fand Rick noch immer attraktiv. Verdammt.

„Ich würde lieber allein essen.“

Rick wandte sich wieder der Kellnerin zu. „Wie lange ist die Wartezeit?“

„Fünfundzwanzig Minuten. Sie haben Glück, dass der Tisch schon frei ist.“

„Es macht mir nichts aus zu warten“, sagte Charlotte. „So hungrig bin ich nicht.“ Natürlich musste ihr Magen in diesem Moment knurren.

Ricks Lächeln verblasste. „Ich weiß, ich habe mich unmöglich benommen und dir sehr wehgetan, Charlotte. Und ich weiß auch, dass meine Entschuldigung deinen Schmerz nicht lindert, mich wiederzusehen. Entschuldige, dass ich dich angesprochen habe.“

Er ging davon, aber seine Worte hallten in ihrem Kopf wider. Den Schmerz nicht lindert? Glaubte er, dass sie noch nicht darüber hinweg war? Dass ihr armes kleines Herz noch immer gebrochen war? Dass sie seine Gegenwart nicht ertrug, ohne in Tränen auszubrechen? Für wie schwach hielt er sie?! Sie legte keinen Wert auf sein Mitgefühl. Im Gegenteil, sie würde ihm zeigen, wie stark Charlotte Shields war.

„Wenn ich es mir recht überlege“, begann sie laut genug, um ihn stehen bleiben zu lassen. „Ich bin doch zu hungrig, um zu warten.“

Er drehte sich um und lächelte. „Komm schon.“

Sie folgten der Kellnerin zur freien Nische. Sie legte die Speisekarten auf den Tisch und strahlte sie an. „Ich bin gleich zurück.“

Bobby rutschte auf eine Sitzbank, und Rick wartete darauf, dass Charlotte sich auf die andere Seite setzte. Sie unterdrückte ein Seufzen, als er neben ihr Platz nahm, und rückte so weit wie möglich von ihm. Sie war hier, um etwas zu beweisen, aber musste sie dazu sein Rasierwasser riechen?

Die Kellnerin erschien mit ihrem Block in der Hand.

„Geben Sie uns noch eine Minute?“, bat Rick.

„Kein Problem.“

„Schön, dass wir uns über den Weg laufen“, sagte Rick. „Findest du nicht auch, Bobby?“

„Klar“, antwortete der Junge, das Gesicht hinter der Speisekarte verborgen.

Rick nahm ihm die Karte aus den Händen und legte sie hin. „Bobby, sei nicht so unhöflich.“

Charlotte sah Ricks Sohn an. „Ich habe mir ein Buch mitgebracht, weil ich allein essen wollte. Dein Dad hat darauf bestanden, dass ich mich zu euch setze, nicht andersherum, mein Junge.“

Bobby schien nicht zu wissen, was er von ihr halten sollte. „Mich hat er auch hergeschleift. Ich wollte zu McDonald’s.“

„Keine Chance. Hier gibt es meilenweit keinen McDonald’s. Aber das Essen bei Marbel ist großartig. Ich nehme einen doppelten Burger und eine Megaportion Pommes. Vielleicht auch noch Zwiebelringe. Und bevor du fragst, ich teile nicht, also bestell dir selbst welche.“

Bobbys Augen wurden groß. „Keinen Salat?“

„Oh, ich hasse Gemüse, vor allem Salat. Ich esse Pommes frites immer mit viel Ketchup, dann kann ich mir einbilden, dass ich Tomaten bestellt habe.“

Der Junge sah sie mit so etwas wie Bewunderung an. Hoffentlich ging das vorüber. Sie wollte nicht, dass Bobby auf die Idee kam, sie könnten Freunde werden. „Ich nehme das, was Sie nehmen.“

Sie warf Rick einen Blick zu. Er starrte sie an, als hätte sie zwei Köpfe. Pech für ihn. Wenn er wollte, dass sein Sohn Gemüse aß, würde er selbst dafür sorgen müssen.

„Du machst Scherze, stimmt’s?“, fragte Rick mit Hoffnung in der Stimme. Erwartete er allen Ernstes, dass sie ihm half, seinen Sohn gesund zu ernähren?

„Keineswegs. Das einzige Grüne, das ich esse, ist Pistazieneis. Und das auch nur, wenn Cookies and Cream aus ist.“ Sie sah den Jungen an. „Zwei leckere Sachen auf einmal – Kekse und Eiscreme.“

Bobby nickte, als hätte sie ihm gerade eine bahnbrechende Erkenntnis verraten.

Rick bekam den Mund gar nicht mehr zu, und Charlotte hätte fast laut gelacht. Unglaublich, sie amüsierte sich prächtig. Es hatte etwas Befreiendes, sich keine Gedanken mehr um das Anspruchsdenken ihres Vaters machen zu müssen.

Als die Kellnerin zurückkehrte, gab Charlotte ihre Bestellung auf. Bobby nahm das Gleiche.

„Dreimal, mit zwei Salaten dazu.“ Rick sah den Jungen an.

„Ich hoffe, die sind beide für dich. Ich esse nämlich auch kein Gemüse mehr.“ Bobby warf Charlotte einen verschwörerischen Blick zu. „Wann ist Fastenzeit?“

„Da hast du Pech. Die fängt immer sechs Wochen vor Ostern an. In diesem Jahr hast du sie schon verpasst.“

„Ganz zu schweigen davon, dass wir nicht katholisch sind“, warf Rick ein.

„Ich auch nicht“, sagte Charlotte.

„Nicht sehr hilfreich.“

Sie lächelte nur.

Die Kellnerin servierte das Essen. Schweigend nahmen sie sich Senf und Ketchup. Charlotte biss in ihren Double Burger. Köstlich. Morgen würde sie auf ihrem Fahrrad ein paar Meilen mehr zurücklegen müssen.

„Die Stadt hat sich verändert, seit ich zuletzt hier war“, begann Rick.

„Hast du wirklich gedacht, dass nach zwölf Jahren alles so ist wie früher?!“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt.

„Nein, nein. Ich meine nur, dass sie gewachsen ist. Auf der Fahrt hierher habe ich viele neue Häuser entdeckt. Es müssen mehr als die neunzehnhundert Einwohner sein, die auf dem Schild am Ortseingang stehen.“

Sie zuckte mit den Schultern. Das hatte sie früher nie getan, denn es schickte sich nicht. Sie tauchte ein Kartoffelstäbchen ins Ketchup. „Auf der anderen Seite des Sees gibt es eine neue Siedlung. Ich weiß nicht, ob sie zu Sweet Briar gehört. Und viele Leute in der Stadt sind Touristen.“

„Oh.“

„Was bringt dich her?“

„Ein Job. Ich eröffne eine Arztpraxis.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Du bist Arzt? Ich dachte, du bist nach New Jersey zurückgekehrt, um die Firma deines Vaters zu übernehmen.“

„Das wollte ich nie. Ich wollte immer Arzt werden. Mein Vater hat mir nicht geglaubt, deshalb musste ich es ihm zeigen.“

„Freut mich für dich, dass du es geschafft hast.“

Ihr sarkastischer Unterton entging ihm nicht. „Charlotte, ich weiß, ich habe es schon mehrfach gesagt, aber ich wiederhole es, bis du mir glaubst. Es tut mir leid.“

„Ich glaube dir ja. Du kannst aufhören, dich zu entschuldigen. Es macht nur keinen Unterschied. Wenn du es vor zwölf Jahren getan hättest, ernsthaft und persönlich. Jetzt … ist es mir egal. Okay?“

„Ich bin bereit für den Nachtisch“, verkündete Bobby.

„Iss bitte erst deinen Salat.“

Rick sah Charlotte an, als würde er nach ihrer moralischen Unterstützung suchen. Sie nahm Geld heraus. „Tut mir leid, Junge. Da bist du allein. Ich muss los.“

Rick legte eine Hand auf ihre. „Das Essen geht auf mich.“

„Nicht nötig.“ Sie entzog ihm ihre Hand.

„Wie du richtig festgestellt hast, habe ich dich eingeladen, mit uns zu essen. Und wir haben deine Gesellschaft genossen. Mein Sohn soll lernen, dass man dann auch die Rechnung übernimmt, bitte.“

Sie hatte nicht vor, die gute Erziehung seines Sohns zu gefährden. „Na gut. Danke für die Einladung.“ Sie stand auf, und er erhob sich, um sie vorbeizulassen. „Wir sehen uns, Bobby.“

Der Junge lächelte. „Bis dann, Charlotte.“

Sie verließ den Diner, ohne zurückzuschauen, und fragte sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn der Mann am Tisch sie nicht vor dem Altar versetzt hätte und der Junge auch ihr Sohn gewesen wäre. Wäre sie glücklicher, wenn sie die Familie bekommen hätte, die sie sich immer gewünscht hatte?

„Stell erst dein Geschirr in die Spüle“, hielt Rick seinen Sohn auf. Bobby hatte seine Cornflakes heruntergeschlungen, um sofort wieder verschwinden zu können. Rick versuchte, dieses Verhalten nicht persönlich zu nehmen. „Bleib in der Nähe. Wir müssen saubermachen. Die Möbel kommen am Montag.“

Bobby stöhnte auf, deponierte Schüssel und Becher mit lautem Geklapper im Becken, schnappte sich seinen Basketball, ging durchs Haus und ließ ihn bei jedem Schritt auf den Boden prallen. Rick biss die Zähne zusammen. Gestern Abend hatte der Junge nach langer Zeit mal wieder gelächelt und war fast wieder wie früher gewesen. Bobby schien Charlotte zu bewundern, aber zugleich verwirrte sie ihn, was Rick durchaus nachempfinden konnte. Er fragte sich, ob sein Sohn zum ersten Mal sozusagen verliebt war.

Bei jeder anderen Frau hätte Rick es amüsant gefunden, aber nicht bei Charlotte. Auch wenn sie gestern mit ihnen zu Abend gegessen hatte, machte er sich nichts vor, dass sie die Vergangenheit hinter sich gelassen hatten. Außerdem wusste er, dass sie Bobbys Gefühle nicht erwiderte. Der Junge hatte genug Zurückweisung erfahren. Rick wollte nicht, dass Charlotte ihm auch noch wehtat, selbst wenn es nicht absichtlich geschah.

Als er den letzten Schluck Kaffee trank, hörte er erst die Haustür ins Schloss fallen, dann den Basketball auf dem Pflaster der Einfahrt. Er schaute auf die Uhr und konnte sich nicht vorstellen, dass Charlotte sich freuen würde, an einem Samstagmorgen vor sieben Uhr geweckt zu werden. Er ging nach vorn, öffnete die Tür und trat in die warme Luft hinaus. „Hör auf mit dem Ball. Du weckst Charlotte.“

„Tue ich nicht. Sie ist schon wach.“

Rick überquerte den Rasen. Charlotte war in ihrer Garage und prüfte gerade die Luft im Hinterreifen ihres Fahrrads. Sie hob den Kopf, sagte aber nichts.

„Ich hoffe, Bobby hat dich nicht gestört“, sagte Rick. Sie trug pinkfarbene Shorts und ein pink-weiß gestreiftes Shirt. Sein Blick fiel auf ihre langen Beine.

Ihre braunen Augen leuchteten, die honigbraune Haut war makellos. Die hohen Wangenknochen und vollen Lippen waren eine einzige Versuchung.

„Hat er nicht.“ Sie schob das Fahrrad ins Freie.

„Hey, willst du eine Ausfahrt machen? Ich komme mit!“ Bobby ließ seinen Ball mitten in der Einfahrt liegen und rannte zur Garage. „Dad, mach das Tor auf, damit ich mein Rad herausholen kann.“

„Ich habe dir gesagt, dass wir hier zu tun haben.“

„Pah, ich arbeite nur noch. Erst musste ich unser altes Haus ausräumen und sauber machen. Jetzt soll ich dieses Haus sauber machen, damit ich alles wieder einräumen kann. Nie darf ich Spaß haben! Warum haben wir mein Rad mitgenommen, wenn ich nicht damit fahren darf?“

„Charlotte hat dich nicht eingeladen.“

Bobby sah sie hoffnungsvoll an. „Ich darf doch mit, oder?“

Ihre Miene verriet nichts. Sie war nicht mehr das Mädchen, in dessen Gesicht Rick wie in einem offenen Buch hatte lesen können. Aber damals hatte es nur eine Seite gehabt: Sie tat immer, was ihr Vater wollte. Jetzt ließ sie sich nicht mehr anmerken, was sie fühlte. „Ich fahre schnell.“

„Ich auch. Nicht wahr, Dad? Ich kann wahrscheinlich schneller als du fahren.“

„Ich will zum Strand und fahre auf dem Sand. Dazu braucht man kräftige Muskeln.“

Bobby warf sich in die Brust. „Ich bin kräftig. Gestern habe ich die schweren Kartons getragen.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen. „Los, Dad, mach unsere Garage auf.“

Charlotte sah Bobby ab. Nach einem Moment nickte sie. „Na gut. Dieses Mal.“

Der Junge strahlte.

„Okay. Bin gleich zurück“, sagte Rick und folgte seinem Sohn.

Er schob das Garagentor hoch. Bobby holte sein Rad heraus, dann schob auch Rick seins ins Freie. Er hatte ihre Fahrräder in letzter Minute verladen, in der Hoffnung, er und Bobby könnten sich wieder annähern, wenn sie zusammen etwas unternahmen. Saubermachen konnten sie auch später.

„Was tust du?“, fragte Charlotte.

„Du hast gesagt, du hast nichts gegen Gesellschaft.“ Unter anderen Umständen hätte er sich nicht aufgedrängt, aber dies war eine Chance, mit seinem Sohn einen Ausflug zu unternehmen. Und vielleicht würde er ihr beweisen können, wie sehr er sich verändert hatte.

Ihre Lippen zuckten, und sie kniff die Augen zusammen – sie sah noch immer unglaublich sexy aus. „Ich habe gesagt, Bobby kann mitkommen.“

„Ja, Dad, das hat sie. Dich wollen wir nicht dabeihaben.“

Rick erstarrte. Er wusste, dass sein Sohn nur den Schmerz kompensierte, aber es traf ihn trotzdem. In Charlottes Blick lag etwas, das er nicht deuten konnte, aber dann blinzelte sie, und es war fort.

„Du meine Güte“, sagte sie, „fahren wir einfach.“ Sie trat in die Pedalen und schoss die Einfahrt entlang, dicht gefolgt von Bobby.

Sie fuhr tatsächlich schnell. Gut, dass er in Form war. Trotzdem holte er sie erst zwei Querstraßen weiter ein. Bei dem Tempo konnten sie sich zwar nicht unterhalten, aber dafür konnte er den Anblick ihres hinreißenden Körpers genießen.

Nach etwa einer Meile fiel Bobby zurück, und Rick fuhr langsamer. Zu seiner Überraschung tat Charlotte es auch, aber nicht so auffällig, dass Bobby sich gekränkt fühlte. Am Strandzugang holten beide sie ein. Sie hielt an. „Du fährst richtig gut, Bobby.“

Sein Sohn strahlte. „Danke. Fahren wir über den Sand? Das habe ich noch nie gemacht.“

„Ja.“

Bobby jubelte. Rick fand es unglaublich, wie mühelos Charlotte seinen Sohn zum Lächeln brachte.

„Aber fahr nicht zu dicht ans Wasser. Feuchter Sand ist die Hölle.“ Damit fuhr sie weiter, aber nicht schnell genug, um Bobby abzuhängen. Rick war ihr dankbar. Sie war so ganz anders als Bobbys Mutter, die verschwunden war, ohne nur einen Gedanken an ihr Kind zu verschwenden.

Nach etwa zwanzig Minuten wendete Charlotte, und sie kehrten zum Strandübergang zurück. Dort hielt sie nicht an, sondern raste auf die Straße. Auf dem Asphalt ließ sie sich Zeit, und sie und Bobby radelten nebeneinander. Der Wind trug ihre Stimmen mit sich, aber Rick konnte trotzdem nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten. Einmal lachten sie, und er wurde ein bisschen neidisch. Sofort schämte er sich dafür, dass er eifersüchtig war, weil Charlotte sich mit seinem Sohn besser verstand als er. Heute hatte Bobby häufiger gelächelt als in den letzten Monaten. Noch schlimmer war allerdings, dass er seinen Sohn darum beneidete, Charlotte zum Lächeln zu bringen. Das war ihm selbst noch nicht gelungen.

Zu Hause angekommen, hielten sie in Charlottes Einfahrt und stiegen ab. Sie schloss ihre Garage auf.

„Das hat Spaß gemacht!“, rief Bobby und rannte zu ihr, um ihr zu helfen. „Danke, dass du mich mitgenommen hast.“

Sie lächelte. „Ich nehme an, jetzt musst du erst mal deinem Dad beim Saubermachen helfen, bevor die Möbel eintreffen. Wir sehen uns später.“

Bobby seufzte, und Rick wartete auf die Explosion, aber die kam nicht. Bobby nickte nur. Und lächelte. „Ja. Wir sehen uns später.“

Er warf Bobby die Schlüssel zu. „Bring dein Rad hinein. Ich bin gleich da. Ich muss kurz mit Charlotte reden.“

Sie wartete, bis der Junge außer Hörweite war. „Wir haben nichts zu bereden.“

„Ich wollte dir nur danken. Ich weiß, du wärst lieber allein gefahren.“

„Ich hatte nichts gegen Bobbys Gesellschaft.“

Er unterdrückte ein Seufzen. „Verstanden. Trotzdem danke. Du hast Bobby eine große Freude gemacht.“

Sie drehte sich um und verschwand in ihrer Garage. Er setzte bewusst ein Lächeln auf, bevor er zu seinem Sohn ging.

Charlotte saß auf ihrer Terrasse, starrte in ihren Kaffee und wehrte sich gegen das schlechte Gewissen. Aber egal, wie sehr sie es zu unterdrücken versuchte, immer wieder sah sie Ricks Gesicht vor sich. Dass sie ihn bei ihrem Fahrradausflug an den Strand nicht mitnehmen wollte, hatte ihn getroffen. Dass sie ihm dann doch erlaubt hatte, mitzuradeln, tröstete sie nicht. Sie war zu dem unfreundlichen Menschen geworden, der sie nicht mehr sein wollte.

Jetzt lag es an ihr, sich bei ihm zu entschuldigen. Anders als er würde sie nicht zwölf Jahre damit warten.

Das Motorengeräusch eines Lastwagens holte sie aus ihren Gedanken. Druckluftbremsen zischten, gefolgt vom Knallen von Wagentüren. Ricks Möbel waren da. Sie ging zur Haustür und sah, wie Rick kurz mit den Männern des Umzugsunternehmens sprach. Wenig später herrschte Chaos. Organisiertes Chaos.

Bobby bemerkte sie und kam angerannt. Offenbar waren sie jetzt beste Kumpel. Davon hatte sie nicht viele. Nein, der Junge war tatsächlich der einzige, den sie besaß.

„Kann ich bei dir bleiben?“

„Willst du den Männern denn nicht zeigen, wo was hin soll?“

„Dad hat gesagt, ich darf bestimmen, wo ich mein Bett haben will, aber dann meinte er, ich kann es nicht in die Mitte des Zimmers stellen. Ich muss es an die Wand stellen.“ Seine Augen blitzten empört.

„Wolltest du es wirklich mitten ins Zimmer stellen?“

„Ja. Du nicht?“

„Nein. Wenn es an der Wand steht, kann man viel einfacher Sachen darunter verstauen, wenn man sein Zimmer aufräumen muss.“

Er lächelte. „Ach so, daran habe ich nicht gedacht. Wo würdest du die Kommode aufstellen?“

„Das weiß ich nicht. Hängt vom Zimmer ab – wo die Tür ist und die Fenster und der Schrank.“

Er rieb sich die Nase. „Also gibt es immer einen Ort, wo etwas hingehört?“

„Nein, nicht unbedingt. Du kannst deine Möbel so aufstellen, wie es dir gefällt. Aber du solltest es dir schon möglichst bequem machen.“

„Meine Mom hat so etwas immer für mich gemacht.“

„So?“

„Ja, sie mochte das. Sie hat gern Kissen und Lampen und so gekauft. Und Sachen zum Anziehen. Dad hat immer gesagt, sie soll kein Geld für nutzloses Zeug ausgeben, aber sie hat es trotzdem getan und alles versteckt. Und dann hat sie so getan, als hätte sie die Sachen schon lange.“

Das Thema war Charlotte zu brisant. „Okay. Na ja, wenn du das nächste Mal mit ihr sprichst, kannst du sie ja um einen Rat bitten.“

Seine Schulter sanken so tief hinab, dass er aussah, als wollte er sich verkriechen. „Ich weiß nicht, wie ich mir ihr sprechen soll. Sie ist weggegangen und nicht wiedergekommen.“

Oh nein. Das arme Kind. „Wann?“

„Ist lange her.“ Er schniefte. „Sie will nicht mehr meine Mom sein.“

„Das ist dumm von ihr. Du bist ein toller Junge.“

Überrascht sah er sie an, bevor er sich die Augen mit dem Arm abwischte. Sie ahnte die Tränen, sagte aber nichts dazu. Sie selbst weinte nie vor anderen. Für ihre Mitmenschen war sie aus Stein.

„Wieso bist du nicht bei der Arbeit, Charlotte?“

Er war ehrlich gewesen, da sollte sie es auch sein. „Ich habe mal in der Firma meines Vaters gearbeitet und habe alles getan, was er wollte. Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch sonst so. Letzte Woche hat er den Job, auf den ich lange und hart hingearbeitet habe, jemand anderem gegeben. Also habe ich hingeschmissen.“

„Wow. Hast du getobt und mit Sachen geworfen?“

Sie lächelte. „Nein. Ich bin einfach aufgestanden und gegangen.“

„Warum hat er dir den Job nicht gegeben? Weil du ein Mädchen bist?“

Gut möglich. „Nein, es ist eher, weil er mich nicht liebt. Nicht wirklich.“

Bobby nahm ihre Hand. „Dann ist er auch dumm.“

Charlotte wurde warm ums Herz. Bobbys Worte halfen ihr, etwas zu begreifen, dass sie bisher kaum hatte glauben können. Das Problem lag nicht bei ihr, denn sie war liebenswert – wenn auch nur für einen zehn Jahre alten kleinen Jungen.

3. KAPITEL

Charlotte lehnte sich im Liegestuhl zurück, schloss die Augen und genoss die abendliche Stille. Sie hatte sich daran gewöhnt, keine Nachbarn zu haben, deshalb war der Trubel für sie etwas Neues gewesen. Die Möbelpacker waren wieder weg und hatten den kleinen Transporter mitgenommen, in dem Rick und Bobby angekommen waren.

Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Rick Tyler nicht nur wieder in Sweet Briar lebte, sondern Tür an Tür mit ihr wohnte. Und noch immer versuchte er, sich mit ihr anzufreunden. Warum begriff der Mann nicht, dass es eine Beziehung ein für alle Mal ruinierte, wenn man eine Frau im Brautkleid vor dem Traualtar versetzte? Glaubte er ernsthaft, er könnte sich wieder in ihr Leben schleichen? So blauäugig war sie nicht. Und sie würde ihm auch nicht verzeihen, selbst wenn er sie immer wieder darum bat. Sie konnte nicht vergessen, wie sehr er sie vor den Augen aller Hochzeitsgäste gedemütigt hatte.

Er war attraktiv, aber nicht so attraktiv. Seine Grübchen ließen sie fast die Vergangenheit vergessen, aber doch eben nur fast.

„Ich hatte gehofft, dich hier zu finden.“

Charlotte drehte sich nicht nach Ricks Stimme um, aber sie öffnete die Augen und sah ihn über die Rosen springen, die ihre Grundstücke trennten. Ohne auf eine Einladung zu warten, setzte er sich auf den Liegestuhl neben ihren. Er hatte zwei ungeöffnete Flaschen Mineralwasser dabei und bot ihr eine an. Sie nahm sie, obwohl sie keinen Durst hatte. Er öffnete seine und nahm einen kräftigen Schluck.

„Was willst du?“

„In Sweet Briar oder in deinem Garten?“

„Beides.“

Er streckte die langen Beine aus. „In Sweet Briar bin ich, um eine Arztpraxis zu eröffnen.“

„Warum ausgerechnet in meiner Stadt?“

Er seufzte. „Du bist anders. Die Charlotte, die ich kannte, hätte mich nie so ausgequetscht.“

„Erstaunlich, was aus einem jungen Mädchen wird, das zum Gespött einer ganzen Stadt gemacht wurde, was? Man legt das Bedürfnis ab, jedem zu gefallen.“

„Es tut mir leid …“

Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Es ist vorbei, und ich habe überlebt. Ich will wissen, warum du plötzlich in einer Kleinstadt leben willst. Noch dazu in dieser.“

„Zwei Gründe. Erstens gefällt mit Sweet Briar wirklich. Ich mag es, die Straße entlangzugehen und vertraute Gesichter zu sehen – freundliche Gesichter. Das möchte ich für Bobby. Ich weiß, dass mein Ruf hier nicht der beste ist, aber …“

Sie hob eine Hand. „Zwei Gründe, hast du gesagt. Welches ist der andere?“

„Du.“

„Ich?“ Sie wusste nicht, ob sie seine Erläuterung hören wollte.

„Ich war nicht glücklich darüber, wie wir uns getrennt haben.“

„Also bist du hergezogen, um dafür zu büßen? Du hättest dich per E-Mail entschuldigen können.“

Er verzog das Gesicht. „Ich möchte es wiedergutmachen.“

„Nicht nötig.“

„Ich habe mich verändert.“

„Das brauchst du mir nicht zu beweisen.“

„Vielleicht muss ich es mir selbst beweisen.“

Sie wollte nicht länger über Rick reden, aber plötzlich wollte sie nicht mehr allein sein, denn die meiste Zeit ihres Lebens war sie allein gewesen. Und einsam. Sie suchte nach einem anderen Thema. „Bobby hat mir erzählt, dass er seine Mutter lange nicht mehr gesehen hat.“

Rick beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. „Es ist anderthalb Jahre her. Unsere Scheidung ist sechs Monate davor rechtskräftig geworden. Ich wollte das gemeinsame Sorgerecht, sie nicht. Sie wollte nichts mehr mit Bobby zu tun haben. Ich habe sie angefleht, ihn zu besuchen, und habe ihr sogar mehr Geld angeboten, als ihr zustand. Sie hat das Geld genommen und ist verschwunden.“

„Ich verstehe nicht, wie eine Mutter so einfach ihr Kind verlassen kann.“ Der Junge tat ihr leid.

„Ich auch nicht. Manchmal frage ich mich, wie lange sie das alles schon geplant hatte. Keine Ahnung, ob sie mich geliebt oder nur ausgenutzt hat.“

„Inwiefern ausgenutzt?“

„Bobby hat es dir nicht erzählt?“

„Nein.“

„Ich bin nicht sein leiblicher Vater. Er war sechs, als ich Sherry kennengelernt habe. Kurz danach haben wir geheiratet. Zweieinhalb Jahre später war sie weg, ohne ihn.“

Obwohl sie sich freute, dass Rick nicht sofort eine andere Frau geheiratet und mit ihr ein Kind bekommen hatte, war sie wütend auf seine Ex. „Ich will nicht so tun, als wüsste ich, was eine perfekte Mutter ist, aber das trifft es ganz sicher nicht.“

„Bobby hat es mir nicht leicht gemacht.“

„Wundert dich das?“

„Nein“, gab er zu, „aber das entschuldigt sein Verhalten trotzdem nicht. Er hat keine Hausaufgaben mehr gemacht und im Unterricht gestört. Dann fing er an, mit den falschen Kindern abzuhängen und hat sich noch mehr Ärger eingehandelt. Ich musste handeln. Ein Umzug quer durchs Land ist vielleicht drastisch, aber ich bin verzweifelt.“

„Und du hältst Sweet Briar für ein Wundermittel? Ich habe eine Neuigkeit für dich: Auch hier gibt es schwierige Kinder.“

„Ich erwarte kein Wunder. Ich habe viel gearbeitet und hatte zu wenig Zeit für ihn. Das wird sich hier ändern. Er liebt Basketball. Vielleicht findet er hier eine Mannschaft. Ich würde das Team sogar coachen.“

„Ja, das könnte helfen. Aber was ist mit seiner Mutter?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Was, wenn sie ihn plötzlich wiedersehen will?“

„Will sie nicht.“

„Man weiß nie. Vielleicht hatte sie eine depressive Phase oder war überfordert.“

„Sie war nicht depressiv“, widersprach Rick. „Sie hat jemanden kennengelernt und wollte ein Leben ohne Altlasten – ihr Ausdruck, nicht meiner. Sie hat mir gesagt, sie will Bobby nicht, und wenn ich ihn nicht nehme, gibt sie ihn in eine Pflegefamilie.“

„Autsch.“

„Ja. Auch deshalb mussten wir umziehen. Bobby hat es zwar bestritten, aber insgeheim hat er noch immer gehofft, dass Sherry zurückkommt.“

„Und du?“

„Ich? Absolut nicht. Meine Liebe ist vor langer Zeit erloschen.“

„Okay. Jetzt weiß ich, warum du in Sweet Briar bist. Aber warum bist du in meinem Garten?“

„Weil du dort bist.“

„Jetzt mal im Ernst.“

„Das ist mein Ernst. Ich will mit dir reden.“

Sie drehte sich zu ihm. Leider zog genau in diesem Moment eine Wolke vor die Sonne, und der Schein der Antimückenkerze auf dem Tisch reichte nicht aus, um seinen Gesichtsausdruck zu deuten. „Worüber?“

„Früher haben wir immer miteinander geredet. Du hast mich immer verstanden, ohne dass ich groß ins Detail gehen musste.“

„Ja, früher, als wir Freunde waren. Jedenfalls habe ich das geglaubt. Jetzt sind wir keine mehr.“

Er setzte sich auf. „Was soll das heißen, du hast es geglaubt?“

„Freunde lassen einander nicht im Stich.“ Sie wollte ruhig bleiben, aber es gelang ihr nicht. „Kannst du dir vorstellen, wie es damals für mich war? Wie demütigend es für mich in der Kirche war?“

„Ich wollte dir dieses Gefühl ersparen. Vergiss nicht, ich wollte mir dir zusammen zu unseren Eltern gehen und ihnen sagen, dass wir nicht mehr heiraten wollten. Immer wieder. Du hast dich geweigert. Ich weiß, ich hätte anders mit der Situation umgehen müssen, aber ich wusste nicht wie. Um ehrlich zu sein, ich weiß es noch immer nicht.“

„Du hättest in die Kirche kommen können.“

„Um was zu tun? Hättest du dich ausgerechnet in der Kirche deinem Vater widersetzt, nachdem du vorher nicht dazu bereit gewesen warst?“

„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht.“

Rick nahm ihre Hand. „Es tut mir leid, dass ich dich vor aller Augen gekränkt habe, aber die Hochzeit abzusagen, war das Beste. Ich bin kein Fachmann, aber ich weiß, eine Ehe funktioniert nicht, wenn man nicht verliebt ist. Und wir waren es nicht.“

Du vielleicht nicht, aber ich war in dich verliebt. Deshalb wollte ich die Trauung auch nicht absagen.“

Charlotte war in ihn verliebt gewesen? Wie hatte er das nicht wissen können?

„Gute Nacht.“ Sie stand auf. „Puste die Kerze aus, bevor du gehst.“

Rick sprang auf. „Warte! Du kannst jetzt nicht einfach gehen, nachdem du so eine Bombe hast platzen lassen. Wir müssen darüber sprechen.“

„Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich hab dich geliebt, du mich nicht – ENDE der Geschichte.“ Charlotte ging um ihn herum und rannte ins Haus. Er ließ sich auf den Liegestuhl zurückfallen. Wie hatte er nur so blind sein können?

Rick schloss die Augen und wünschte, er könnte den Schmerz in Charlottes Stimme vergessen. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte ihr immer wieder erklärt, dass sie beide nicht verliebt waren und keineswegs heiraten mussten. Er war jung gewesen. Und sie hatte ihm nie ihre wahren Gefühle offenbart.

Die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Es war sinnlos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er musste es in der Gegenwart besser machen.

Charlotte erschien ihm unglaublich isoliert. Wo war der Mann in ihrem Leben? Wenn es einen solchen gab, hätte Rick ihn inzwischen sehen müssen. Und was war mit Freunden? Rick hatte gehört, wie sie Bobby erzählte, ihren Job gekündigt zu haben. Hätten ihre Freunde nicht längst mit Pizza und einem Sixpack auftauchen müssen? Oder mit Schokolade und Wein? Aber niemand war gekommen, um sie zu trösten.

Die Charlotte, an die er sich erinnerte, war süß und lustig gewesen, wenn auch etwas reserviert. Hatte sie sich so sehr verändert? Und wie viel davon war seine Schuld? Egal. Er hatte das Mädchen gemocht, das sie gewesen war, und jetzt mochte er die Frau, zu der sie geworden war. Er musste sie dazu bringen, ihm zu verzeihen.

Er nahm die leeren Wasserflaschen, ging ins Haus und um die Kartons herum. Er musste Ordnung in sein Leben bringen. In mehr als nur einer Hinsicht.

Warum um alles in der Welt hatte sie Rick erzählt, dass sie in ihn verliebt gewesen war? Jahrelang hatte sie ihre wahren Gefühle für sich behalten und alle glauben lassen, dass sie ihn nur aus geschäftlichem Kalkül hatte heiraten wollen. Daher gab sie sich betont kühl und emotionslos, aber das hielt sie immer noch für besser, als zuzugeben, einen Mann zu lieben, der ihre Liebe nicht erwiderte.

Obwohl er ihr in der Tat immer wieder erklärt hatte, dass er nicht heiraten wollte, war ihm nicht zuzutrauen gewesen, so herzlos zu sein und sie vor dem Altar vergeblich warten zu lassen. Sie harrte in der Kirche aus, bis alle anderen längst gegangen waren. Dann erst zog sie ihr Brautkleid aus und überlegte, ob sie es verbrennen sollte. Schließlich behielt sie es aber doch – als mahnende Erinnerung an den Schmerz, den Rick ihr zugefügt hatte. Sie wollte nie wieder vergessen, was Liebe anrichten konnte.

Jetzt war er der letzte Mensch, der wissen durfte, wie sehr sie damals wirklich gelitten hatte. Er sollte sie nicht bemitleiden, sondern respektieren, denn nur damit konnte sie umgehen.

Charlotte radelte schneller. Ihre Muskeln protestierten, aber sie fuhr nicht langsamer. Vielleicht konnte die körperliche Erschöpfung ihr dabei helfen, nicht mehr an sein schockiertes Gesicht zu denken.

Sie wendete und machte sich auf den Nachhauseweg. Keuchend schob sie das Rad in die Garage. Mit zitternden Knien ging sie nach oben, um zu duschen. Danach zog sie ein geblümtes Sommerkleid und weiße Sandaletten an. Sie bürstete das Haar, legte glitzernde Ohrringe an, trug Mascara auf und Lipgloss. Sie wollte zwar immer gut aussehen, aber heute Morgen gab sie sich etwas mehr Mühe als sonst.

Sie hatte Bobby versprochen, ihm bei der Einrichtung seines Zimmers zu helfen und würde den Nachbarsjungen nicht enttäuschen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und sich Ricks forschendem Blick stellen. Jetzt kannte er ihr größtes Geheimnis, aber auch das würde sie überleben.

Nach einem kurzen Frühstück schaltete sie ihren Computer ein. Sie hatte sich eine Woche Zeit gegeben, um sich von ihrem Schock und der Kränkung durch ihren Vater zu erholen. Jetzt musste sie ihren Lebenslauf aktualisieren und an Headhunter verschicken. Obwohl sie genug Geld gespart hatte, um eine Weile sorglos leben zu können, wollte sie die nächsten Monate nicht untätig verbringen. Sie arbeitete gern.

Eins stand allerdings fest. Sie würde Sweet Briar verlassen. Hier hatte sie keine Freunde, nur eine Menge Feinde. Und Ricks Anwesenheit würde dafür sorgen, dass sie ihre Vergangenheit niemals hinter sich lassen konnte.

Als es an der Haustür läutete, ging sie nach vorn.

„Können wir, Charlotte?“, fragte Bobby strahlend.

„Ja.“ Sie schnappte sich die Schlüssel und verriegelte die Tür.

Bobby eilte davon und zertrat vor Aufregung zwei ihrer Blumen. Früher hätte sie sich darüber geärgert, aber brauchte sie jetzt wirklich einen makellosen Rasen und perfekte Blumenbeete?

„Die meisten Sachen stehen mitten im Zimmer“, sagte Bobby, als er ihr den Vortritt in die Haushälfte ließ, die er mit Rick bewohnte. „Ich habe Dad gesagt, er soll nichts anfassen.“

„Tatsächlich? Wie hat er reagiert?“

„Er hat nur gelacht. Wahrscheinlich, weil ich ihm auch gesagt habe, dass du bestimmst, was wohin soll.“

Oder weil er dachte, dass es ihr in Wirklichkeit um ihn ging. Sie hätte fast geschnaubt. Das war das Letzte, was sie wollte. Er war in ihre Stadt gezogen, nicht umgekehrt. Wenn alles so klappte, wie sie es sich vorstellte, wäre sie bald auf und davon.

„Ich bestimme gar nichts!“, widersprach sie, als sie ihm die Treppe hinauf folgte.

„Ich will aber nicht, dass Dad das Kommando hat“, sagte Bobby und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust.

„Augenblick mal. Ich sage nicht, dass dein Dad das Kommando hat.“

„Wer dann?“

Du! Es ist doch dein Zimmer. Ich helfe dir nur. Vielleicht mache ich ein paar Vorschläge, aber die Entscheidung liegt bei dir.“

„Echt?“

„Na klar.“

„Aber du hilfst mir?“

„Ich helfe dir.“

Er blieb vor einer Tür stehen und schob sie so weit wie möglich auf. Sie quetschten sich hindurch. Überall standen Kartons und Taschen herum. Das nicht besonders ordentlich gemachte Bett stand an der Wand, Kommode, Schreibtisch und Stuhl mitten im Raum.

Wow.

Bobby sah sie erwartungsvoll an. „Wo fangen wir an?“

„Wir schlagen eine Schneise zum Fenster und machen es auf.“

„Kein Problem.“ Bobby zwängte sich zwischen den Kartons hindurch, riss das Fenster auf und warf ihr einen triumphierenden Blick zu. „Was jetzt?“

„Wo ist dein Dad?“

„Direkt hinter dir?“

Charlotte zuckte zusammen. Irgendwie musste Rick es geschafft haben, die Tür so weit zu öffnen, dass seine breiten Schultern hindurchpassten. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sein Aftershave stieg in ihr die Nase.

„Ich habe dich gar nicht gesehen“, sagte sie.

Sein Lächeln passte eher zu einem Piraten als zu einem seriösen Hausarzt. „Zu deinen Diensten. Was brauchst du?“

„Zwei kräftige Arme für Kartons und Möbel.“

„Nein, wir brauchen ihn nicht!“ Bobby eilte herbei und stieß dabei eine Plastiktonne um. Dutzende von Videospielen ergossen sich auf den Boden, aber er ignorierte es. Er lächelte ihr zu, bevor er seinen Vater anfunkelte. „Wir schaffen das alles allein.“

Ricks Lächeln verblasste. Statt Schadenfreude empfand Charlotte Mitgefühl. Er liebte seinen Sohn, und Bobby brach ihm gerade das Herz, ohne es zu merken. „Du vielleicht, Herkules“, sagte sie zu dem Jungen. „Ich bin nicht gerade richtig angezogen, um Kartons zu schleppen. Und meine Muskeln sind auch nicht so groß wie deine oder die deines Vaters. Ich glaube, ich setze mich auf den Thron und sage euch Dienern, was ihr tun sollt. Du darfst dich als Allererstes einmal verbeugen.“

Bobby runzelte verwirrt die Stirn. Nach einem Moment verbeugte er sich grinsend. „Zu Befehl, Majestät.“

„Was ist mit dir?“ Sie zog eine Augenbraue hoch und sah Rick an. „Du darfst dich auch verbeugen.“

Seine Verbeugung fiel eleganter aus als die von Bobby. Er nahm Charlottes Hand und küsste sie. „Stets zu Ihren Diensten, Majestät.“

Ihre Wangen erwärmten sich, und sie hoffte, dass er sie nicht erröten sah. Irgendwie schaffte Bobby es, ihr seinen Stuhl zu bringen, ohne etwas umzustoßen. Sie strich ihr Kleid glatt und setzte sich.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Bobby.

„Als Erstes sollten wir deine Anziehsachen verstauen. Dann haben wir mehr Platz. Willst du deine Videospiele hier spielen oder anderswo?“

„Hier“, antwortete Bobby wie aus der Pistole geschossen.

„Im Wohnzimmer“, sagte Rick.

„Okay.“ Sie würde nicht zwischen die Fronten geraten. „Das könnt ihr später entscheiden.“

„Da gibt es nichts zu entscheiden“, erklärte Rick streng. „Du spielst im Wohnzimmer, wie bisher.“

Bobby kniff die Augen zusammen und nahm eine trotzige Haltung ein.

„Ich spiele auch gern“, griff Charlotte ein. „Vielleicht lade ich mich mal ein, um gegen dich zu spielen. Das wäre unten einfacher, weil wir auf dem Sofa sitzen könnten.“

„Wir könnten auf meinem Bett sitzen.“

Charlotte lachte. „Ich glaube nicht, dass dein Vater Mädchen in deinem Zimmer haben möchte.“

„Du bist kein Mädchen. Jedenfalls nicht so eins, wie Dad meint.“

„Installieren wir dein Spielsystem unten. Dann kannst du alle möglichen Mädchen einladen.“ Sie ahnte, für was für eine Art Mädchen Rick sie hielt – ein verzweifeltes.

„Na gut. Aber ich lade keine Mädchen ein, nur Jungs, falls ich hier überhaupt Freunde finde. Bis jetzt habe ich nur alte Leute gesehen.“

„Wie mich?“

Er nickte. „Und wie der Bürgermeister. Ich wette, in dieser blöden Stadt gibt es gar keine Kinder.“

„Oh, die Wette hast du schon verloren. Hier gibt es viele Kinder. Meistens hängen sie im Jugendzentrum ab. Dein Dad kann dich hinbringen. Du findest ganz schnell Anschluss.“

Bobby holte tief Luft, aber sie kam ihm zuvor. „Okay. Lasst uns die Kommode an die Wand stellen, neben den Schrank, denn dort passt sie besser hin.“

„Okay.“

Bobby stemmte sich gegen die Kommode. Sie war aus massivem Kirschholz und rührte sich nicht vom Fleck.

„Das sieht nach Arbeit für zwei Leute aus“, stellte Charlotte fest. „Und die Königin verrückt keine Möbel.“

Rick schlenderte hinüber. „Allein schaffe ich das nicht. Das müssen wir zusammen tun.“

Charlotte wurde warm ums Herz. Ihr imponierte, wie er seine Hilfe anbot, ohne seinen Sohn zu kränken. Rick stemmte sich gegen die Kommode, Bobby machte es ihm nach, und zusammen gelang es ihnen, sie an den richtigen Platz zu schieben. Bobby atmete schwer, aber er lächelte stolz.

„Was jetzt?“, fragte Rick.

Charlotte zeigte auf den Schreibtisch. Als er dort stand, wo Bobby ihn haben wollte, begannen sie die Kartons auszuleeren. „Hängen wir alles auf“, sagte sie. „Wir können mit den langärmeligen Shirts anfangen. Ich ordne sie nach Farben, sobald sie auf den Bügeln sind.“

„Du willst sie nach Ärmellänge aufhängen?“, fragte Rick und schüttelte ungläubig den Kopf. „Und sortiert nach Farben?“

„Warum kann ich sie nicht einfach in die Schubladen legen?“, fragte Bobby.

„Schon gut. Ich kümmere mich um die Kleidung.“ Sie scheuchte die beiden zur Seite. Vater und Sohn betrachteten sie, als hätte sie den Verstand verloren, bis sie in die Hände klatschte. „Was ist? Macht euch an die Kartons.“

Sie öffnete den ersten. Offenbar hatte er alles so hineingestopft, wie er es gerade in die Hände bekommen hatte. Seufzend zog sie Unterhosen und Unterhemden heraus und stapelte sie neben sich auf dem Fußboden. Sie hielt ein Paar Socken hoch. „Welche Schublade?“

Bobby zuckte mit den Schultern und warf seinem Vater einen verwirrten Blick zu. „Irgendeine?“

Charlotte entschied sich, seine Sachen so einzuräumen, wie es ihr sinnvoll erschien. Während sie sich an die Arbeit machte, sammelte Bobby seine Videospiele ein und trug sie ins Wohnzimmer.

„Danke, dass du Bobby hilfst“, sagte Rick, als sie allein waren. „Ich nehme an, angesichts unserer Geschichte hast du nicht geplant, uns beim Einzug zu unterstützen.“

Sie legte einen Stapel weißer Unterhemden in eine Schublade, lehnte sich mit der Hüfte gegen die Kommode und verschränkte die Arme. „Wenn dir das so klar ist, warum gehst du mir dann nicht aus dem Weg?“

„Ehrlich gesagt, vor unserem Gespräch gestern Abend war mir nicht bewusst, wie sehr ich dich damals verletzt habe. Ich wusste, dass du wütend warst, klar, aber ich hatte keine Ahnung, dass ich dir das Herz gebrochen hatte, ehrlich. Ich schäme mich dafür, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, du könntest in mich verliebt sein.“

Sie hob die Hände. „Wir müssen das alles nicht noch mal durchkauen. Ich habe dich geliebt. Seitdem sind zwölf Jahre vergangen, in denen meine Liebe verpufft ist.“ Es war ein langsamer, schmerzhafter Tod gewesen, der mehr als nur ein paar Narben hinterlassen hatte. Aber das brauchte er nicht zu wissen.

„Es tut mir leid, dass ich so blind gewesen bin.“

„Das ist gut, aber wir werden keine Freunde mehr. Wir leben Tür an Tür, also werden wir uns hin und wieder sehen und sogar miteinander sprechen. Das ist alles.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Nein? Du kannst mich nicht zur Freundschaft zwingen.“

Er seufzte. „Du und Bobby versteht euch. Seit Sherry verschwunden ist, hat er völlig den Halt verloren. Du scheinst mir der einzige Mensch zu sein, der noch zu ihm durchdringt. Auch wenn du mich nicht ausstehen kannst, Bobby braucht dich, also wirst du mich ertragen müssen.“

Fassungslos starrte sie ihn an. „Das ist doch dein Problem, nicht meins. Ich bin keine Sozialarbeiterin.“

„Magst du mich denn nicht?“

Charlotte wirbelte herum. Bobbys traurige Miene brach ihr das Herz. Auf Ricks Nähe konnte sie gut und gerne verzichten, aber auf keinen Fall würde sie diesem Kind wehtun. Seine Mutter hatte ihren Sohn im Stich gelassen, sie brachte das nicht fertig. „Doch, Bobby. Ich mag dich sehr. Es ist dein Vater, der mir gehörig auf die Nerven geht.“

Bobby lächelte und atmete hörbar auf. „Ach so, kein Problem, mir geht er auch auf die Nerven. Weil er kaum zu Hause ist, wirst du ihn gar nicht viel sehen, wenn wir zusammen abhängen.“

Charlotte erwiderte sein Lächeln, obwohl sie wusste, dass es nicht so einfach war.

4. KAPITEL

Rick verschnürte die flach gelegten Umzugskartons und stopfte sie in die Recyclingtonne. Er hatte zwei Tage gebraucht, um alles im neuen Haus einzuräumen. Mit einem Sohn, der sich ihm bei jeder Gelegenheit widersetzte, war das nicht gerade einfach gewesen. Und dass er immer an Charlotte denken musste, hatte auch nicht gerade geholfen. Seit sie zugegeben hatte, damals in ihn verliebt gewesen zu sein, nahm sein Schuldgefühl beständig zu.

Sie war so anders als das stille, zurückhaltende Mädchen, an das er sich erinnerte. Jetzt war sie stachlig, mit äußerst harten Kanten, und er fragte sich, ob er mit seiner Rücksichtslosigkeit dazu beigetragen hatte. Aber egal, wie kühl sie zu ihm war, zu Bobby war sie weich wie ein Marshmallow.

Schon am Tag, nachdem sie klargemacht hatte, mit Rick nichts zu tun haben zu wollen, bestand Bobby darauf, sie zum Videospielen einzuladen. Der Junge konnte nicht glauben, dass sie nicht jede Sekunde ihres Tages mit ihm verbringen wollte. Während Rick sein Schlafzimmer bewohnbar machte, schlich sein Sohn sich nach nebenan. Als Rick zwei Stunden später nach unten kam, saß Charlotte mit dem Controller in der Hand im Wohnzimmer. Sie war dabei zu verlieren, aber sie lachte fröhlich und wirkte völlig unbeschwert. Entspannt sah sie noch schöner aus als sonst. Verblüfft hatte Rick sich eingestanden, dass er sie – wieder – anziehend fand.

Verärgert schüttelte er den Kopf. Was für ein miserables Timing. Er hatte einen Sohn, der kaum ein Wort mit ihm sprach und ihn nur ertrug, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Sherry hatte nicht nur ihre Beziehung zu Bobby ruiniert, sondern auch dessen Grundvertrauen in andere Menschen.

Charlotte war der einzige Mensch, der es schaffte, bei dem Jungen anzudocken. Vielleicht lag es daran, dass sie beide von jemandem, der sie eigentlich lieben sollte, zurückgewiesen worden waren. Rick musste schlucken. Er hatte Charlotte damals zutiefst enttäuscht.

Auch wenn sie es noch nicht wusste, Charlotte brauchte ihn. Nicht um sie zu retten, sondern um etwas Spaß und Freude in ihr Leben zu bringen. Ihm kam es vor, als gäbe es darin kein Vergnügen, kein Lachen. Er und Bobby konnten wirklich etwas für sie tun. Sie beide brauchten Charlotte, aber das galt auch umgekehrt. Vielleicht konnten sie sich gegenseitig helfen.

Als es an der Tür läutete, warf Charlotte den Schwamm ins Spülbecken und ging langsam nach vorn.

„Bist du zu Hause, Charlotte?!“, rief Bobby und drückte noch einmal auf den Klingelknopf.

„Ich komme!“ Wie war sie seine beste Freundin geworden? Wusste er denn nicht, dass niemand sie mochte? Sie öffnete die Tür. „Was gibt es?“

„Kommst du zum Spielen rüber? Wenn du nicht trainierst, wirst du nie gut!“

Sie unterdrückte ein Lächeln. Der Junge brauchte dringend Freunde in seinem Alter. Sie würde Sweet Briar bald verlassen, und wenn er sich zu sehr an sie band, würde er sich verraten fühlen, wenn sie wegzog.

„Ich habe eine bessere Idee. Warum gehst du nicht ins Jugendzentrum? Dein Dad kann dich hinbringen.“

„Der ist beschäftigt.“

„Womit?“, fragte sie, bevor sie das Wort herunterschlucken konnte.

Er zuckte mit den Schultern und quietschte mit der Schuhsohle auf dem Boden. „Keine Ahnung. Irgendwas mit seinem Job.“

„Komm, wir fragen ihn, wann er Zeit hat.“

Rick war in seinem Arbeitszimmer. Als er Charlotte sah, zog er die Augenbrauen hoch, und seine Augen leuchteten. Er hob einen Finger, sprach ins Telefon und notierte sich etwas. „Danke für Ihre Hilfe“, sagte er und legte auf.

„Wir müssen reden.“

„Ich habe Bobby gesagt, er soll dich nicht stören.“

„Er stört mich nicht. Er ist bei mir immer willkommen.“

„Siehst du?!“ Bobby runzelte die Stirn. Wollte Rick ihr helfen, die Distanz zu wahren? Falls ja, fing er es falsch an. Bobby durfte nicht das Gefühl bekommen, abgelehnt zu werden – nicht zum zweiten Mal in seinem Leben.

„Worüber müssen wir dann reden?“, fragte Rick.

„Bobby braucht auch Freunde in seinem Alter. Du musst ihn zum Jugendzentrum bringen, damit er andere Kinder kennenlernen kann.“

Rick sah sie lange an, bevor er nach den Wagenschlüsseln griff. „Na gut. Fahren wir.“

„Mich brauchst du nicht“, sagte sie und drehte sich zur Tür um. Auf keinen Fall wollte sie mit Rick im Auto sitzen. Es fiel ihr auch so schon schwer genug, emotional auf Abstand zu bleiben. Wenn sie seinen Duft roch und seine Wärme spürte, würde sie vielleicht schwach werden. Und was dann? Die Mauer um ihr Herz war brüchig genug.

„Willst du nicht mitkommen?“, fragte Bobby.

„Ja, komm doch mit“, sagte Rick auf dem Weg zur Tür. Sein Lächeln war entschieden zu sexy. Offenbar hatte er etwas vor. Was immer es war, sie würde nicht darauf hereinfallen. Sie musste nur noch ihren Körper dazu bringen, dem Verstand zu gehorchen.

„Du brauchst mich nicht“, sagte sie zu Bobby.

„Doch“, gab der Junge leise zu. Seine Verletzlichkeit griff ihr ans Herz und brach ihren Widerstand.

„Okay. Ich bin dabei.“

Bobby strahlte und rannte zum Wagen. Rick und Charlotte folgten ihm. Nachdem sie sich auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte, beschrieb sie ihm den Weg zum Jugendzentrum. Zwanzig Minuten später bogen sie auf den Parkplatz ein. Ein farbenfrohes Graffiti zierte die Fassade.

„Wow, richtig cool!“, entfuhr es Bobby.

„Meine Schwester ist die Künstlerin. Sie hat die Fassadengestaltung entworfen, und viele Leute haben dabei geholfen, alles fertigzustellen.“ Charlotte wusste nicht, warum sie Stolz empfand. Ihre jüngste Schwester Carmen und sie standen sich seit Jahren nicht mehr nahe. Inzwischen schämte sie sich dafür, dass sie jeden Versuch der Wiederannäherung boykottiert hatte. Sie hatte jeden Anruf von Carmen ignoriert und ihr in aller Öffentlichkeit die kalte Schulter gezeigt. Irgendwann hatte Carmen schließlich aufgegeben.

„Welche Schwester?“, fragte Rick.

„Carmen.“

„Wirklich? Das beeindruckt mich.“

Mehrere junge Mädchen sprangen aus einem SUV und eilten zum Eingang, gefolgt von einer jungen Frau in Charlottes Alter. Sie kannte sie nicht. Vielleicht gehörte sie zu denen, die in den letzten Jahren neu zugezogen waren.

„Wie geht es ihr?“

Charlotte tat so, als hätte sie Ricks Frage nicht gehört. Wie konnte sie ihm die Entfremdung zwischen ihr und Carmen erklären? Sie wünschte, es wäre anders, aber jetzt war es zu spät. Carmen hatte jetzt ihre eigene Familie, zu der Charlotte nicht gehörte.

Rick hatte sich immer bestens mit seiner großen, lebhaften Familie verstanden. Obwohl Charlotte nur ein paarmal bei ihnen in New Jersey gewesen war, hatte sie schnell gemerkt, wie liebevoll alle miteinander umgingen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hätte Familie Shields liebend gern gegen die Tylers eingetauscht.

„Ich weiß nicht genau, wie es hier abläuft“, sagte sie, als sie die Stufen hinaufstiegen.

„Du warst noch nie hier?“, fragte Bobby erstaunt. „Woher weißt du dann, dass es hier toll ist?“

„Doch, doch, ich war schon mal hier“, erwiderte sie ruhig. „Und ich weiß, dass die Leute sehr nett sind. Sonst hätte ich es dir nicht vorgeschlagen. Ich habe aber keine Kinder, deshalb weiß ich nicht, was hier abgeht. Okay?“

Der Junge nickte. „Okay.“

„Kann ich Ihnen helfen?“

Charlotte drehte sich um. Eine junge Frau saß an einem großen Schreibtisch und strahlte Rick und Bobby einladend an. Als sie Charlotte sah, erstarb ihr Lächeln. Charlotte ignorierte Ricks fragenden Blick. „Ich bin Charlotte Shields. Das sind Dr. Rick Tyler und sein Sohn Bobby. Die beiden sind gerade erst hergezogen, und Bobby würde gern hier mitmachen.“

„Willkommen.“ Die junge Frau wandte sich wieder Rick zu, und wie von Zauberhand kehrte ihr Lächeln zurück. Charlotte schätzte sie auf Anfang zwanzig, viel zu jung, um mit einem Mann seines Alters zu flirten. Aber was interessierte sie das? Er war nicht mehr ihr Verlobter. Sie beide waren nicht einmal gute Freunde. Trotzdem sollte das Mädchen sich vor seinem Sohn etwa zurückhalten.

„Dann brauchen wir ein paar Informationen über Sie und Ihren Sohn, Doc.“ Die junge Frau reichte Rick ein Klemmbrett, an dem ein Stift baumelte. Er füllte die Formulare aus.

„Wenn Sie möchten, rufe ich jemanden, der mich hier vorn vertritt. Dann kann ich Ihnen alles zeigen.“

„Nicht nötig.“ Charlotte setzte ein Lächeln auf. Sie hatte genug. „Ich kenne mich hier aus.“

Bevor das Mädchen widersprechen konnte, ging Charlotte vor. Auch die Innenwand war mit einem kunstvollen Gemälde verziert, und zwar in heller, fröhlicher Farbe, die Lebensfreude ausstrahlte – genau wie Carmen. Charlotte wurde sofort wieder weh ums Herz. Als ihr Vater Carmen hinausgeworfen hatte, war sie ihr nicht zu Hilfe gekommen. Sie hatte ihre kleine Schwester nicht bei sich aufgenommen. Als Carmen vor zwei Jahren zur Beisetzung ihrer Mutter nach Sweet Briar gekommen war, hatte Charlotte die Jüngere wie eine Fremde behandelt.

Sie folgten einem Lachen zur kleinen Sporthalle. Etwa zehn Jungen in Bobbys Alter standen im Kreis und schienen gerade die Mannschaften für ein Spiel zusammenzustellen. Einer von ihnen schaute herüber. „Hey.“

Bobby sah Charlotte an. Sie nickte aufmunternd. „Hey!“, rief er zurück, blieb aber an ihrer Seite.

„Spielst du Basketball? Wir brauchen noch einen Mitspieler.“

Genau darauf schien Bobby gewartet zu haben, denn er rannte aufs Feld. Der erwachsene Mann, der im Kreis stand, sagte etwas, das Charlotte nicht verstand. Die Jungen lachten, schnappten sich rote oder blaue Leibchen und streiften sie über die T-Shirts. Bobby lächelte Charlotte zu und stellte sich zu den Jungen in den blauen Leibchen.

Der Mann drehte sich um und kam auf sie zu. Charlotte erstarrte. Es war der Polizeichef Trenton Knight – ihr Schwager, der Mann von Carmen. Obwohl er sich ihr gegenüber nie feindselig benommen hatte, war er nicht gerade freundlich zu ihr.

Trent gab Rick die Hand, und die beiden Männer machten sich miteinander bekannt. Dann nickte der Chief Charlotte zu, und sie nickte zurück. Wieder wirkte Rick erstaunt, aber er sagte nichts dazu.

„Sie sind also unser neuer Arzt. Wir sind wirklich froh, wieder einen in der Stadt zu haben.“

„Ich freue mich auch“, erwiderte Rick.

Die Jungen riefen nach Trent. „Ich bin der Schiedsrichter und will die Jungs nicht länger warten lassen. Kommen Sie mal auf einen Kaffee bei mir im Büro vorbei, ja?“

„Gern. Wann soll ich Bobby abholen?“

„Wann immer es passt. Wir haben die Sporthalle noch für zwei Stunden für uns, ehe die älteren Kinder kommen. Wahrscheinlich essen wir danach etwas und gehen dann ins Spielzimmer. Wenn ihr Junge früher los will, kann er Sie anrufen. Einverstanden?“

„In Ordnung.“

Auf dem Weg zum Wagen schwieg Rick. Erst nachdem sie sich angeschnallt hatten, drehte er sich zu ihr. „Was geht hier vor, Charlotte?“

„Was meinst du?“

„Warum behandeln dich alle, als hättest du ihr Lieblingsspielzeug kaputt gemacht? Die junge Frau am Empfang, der Polizeichef – warum?“

„Nicht jeder ist beliebt. Manche Leute gehören dazu, andere nicht.“

„Da war mehr in der Luft. Sie waren geradezu ablehnend.“

„Lass es, ja? Ich möchte nicht mit dir darüber reden.“

Er musterte sie stirnrunzelnd. Schließlich nickte er, aber sie wusste, dass das Thema nicht abgeschlossen war. Er würde es nur anders versuchen. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie es sich mit der ganzen Stadt verscherzt hatte, um ihrem Vater zu gefallen? Und dass der Vater, für den sie so viel geopfert hatte, sie nach ihrer Kündigung kein einziges Mal angerufen hatte. Schließlich hatte sie nachgegeben und selbst angerufen, aber er hatte sich geweigert, mit ihr zu sprechen. Das hätte sie nicht wundern dürfen. Mit Carmen hatte er seit Jahren kein Wort mehr gewechselt, nicht mal deren Namen hatte er in den Mund genommen. Wenn Charles Shields mit jemandem brach, dann geschah es für immer. Sie hatte nur nicht glauben können, dass es sie treffen würde. Und wie sehr es schmerzen würde.

Kaum hielt Rick in der Einfahrt, sprang Charlotte aus dem Wagen und verschwand hinter ihrer Haustür. Er folgte ihr nicht. Sie hatte während der Fahrt geschwiegen und würde ihm auch jetzt nichts erzählen. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, um herauszubekommen, warum die Leute sich so abweisend ihr gegenüber benahmen.

Er hatte nicht vor, untätig zuzusehen, wie sie so mies behandelt wurde. Sie war schon einmal von ihm im Stich gelassen worden. Das würde er nie wieder tun.

Bobby war im Jugendzentrum, also konnte er ein paar Stunden ungestört arbeiten. Als Erstes besorgte er im Baumarkt Farbe. Er entschied sich, die Behandlungsräume hellblau und den Empfang und den Wartebereich gelb zu streichen. Ein Mann mittleren Alters lehnte am Tresen und unterhielt sich mit einem Angestellten, der eine Schürze trug und sich einen Zahnstocher in den Mundwinkel geklemmt hatte. Die beiden verstummten, als Rick näher kam.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mitarbeiter lächelnd. Laut Namensschild hieß er Harvey.

„Ich brauche Farbe.“

„Dann sind Sie hier goldrichtig.“

Rick zeigte ihm die Farbmuster. „Ich möchte vierzig Liter von jeder.“

„Das ist eine Menge.“ Harvey sah ihn fragend an.

„Da haben Sie sich viel vorgenommen“, sagte der andere Mann.

Rick unterdrückte ein Lächeln. Er hatte vergessen, wie neugierig die Bewohner einer Kleinstadt sein konnten. „Ich bin Rick Tyler, der neue Arzt. Ich will meine Praxis streichen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Harvey schob den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. „Das ist eine ziemlich große Sache. Falls Sie Hilfe brauchen, kann ich ihnen ein paar Studenten vom College empfehlen, die ordentlich arbeiten. Und sie verlangen nicht mal so viel.“

„Danke. Ein oder zwei Helfer wären tatsächlich angebracht. Wo finde ich die beiden?“

„Joseph Whitfield und Brady Edwards arbeiten im Jugendzentrum. Sie können dort eine Nachricht hinterlassen. Oder bei mir, dann erledige ich das für Sie. Sagen Sie mir einfach, wann die beiden kommen sollen.“

„Danke. Das mache ich.“

„Hey, ich erinnere mich an Sie.“ Der andere Mann musterte Rick. „Sie waren mit Charlotte Shields verlobt … und haben sie am Altar stehen gelassen.“

Rick suchte nach Worten, um ihnen zu versichern, dass er sich geändert hatte und nicht mehr so verantwortungslos war wie vor zwölf Jahren.

Zu seiner Überraschung lachten die beiden, und Harveys Freund klopfte ihm auf die Schulter. „Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Sie haben in letzter Minute die Notbremse gezogen.“

Autor

Allison Leigh

Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...

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