Bianca Gold Band 23

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WO UNSERE TRÄUME WOHNEN von TEMPLETON, KAREN
Auch wenn er sie erst kurze Zeit kennt - Violet ist die Frau seines Lebens. Mit ihr und ihren Söhnen will sich Ex-Cop Rudy in dem alten Gasthof eine neue Zukunft aufbauen. Bis plötzlich Violets Ex-Mann auftaucht - und sie sich gegen ihn und seine Liebe entscheidet …

SAG MIR DIE WAHRHEIT! von SMITH, KAREN ROSE
Ein Albtraum wird wahr! Jillians Baby wurde nach der Geburt vertauscht! Klopfenden Herzens fährt sie zu Chase, der ihr leibliches Kind alleine aufzieht. Und hofft beim ersten Blick in die Augen des sexy Winzers, dass aus dem Albtraum ein Happy End in seinen Armen wird!

GLÜCK IST, WENN DU BEI MIR BIST von ANDERSON, CAROLINE
Jetzt kann nur noch eine helfen: Emily! Harry muss überraschend ein Baby versorgen und braucht dringend Unterstützung! Auch wenn er Emily vor Jahren verlassen hat: Sie ist die einzige, an die er sich wenden kann. Und vielleicht kann er auch ihr Herz wieder erobern …


  • Erscheinungstag 26.09.2014
  • Bandnummer 0023
  • ISBN / Artikelnummer 9783733730383
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Templeton, Karen Rose Smith, Caroline Anderson

BIANCA GOLD BAND 23

Single Mom trifft Single Dad

KAREN TEMPLETON

Wo unsere Träume wohnen

Rudy Vaccaro hat den Gasthof gekauft, in dem Violet ihr Glück finden wollte! Der Ex-Cop bietet ihr an, das Haus gemeinsam zu renovieren. Und je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto lauter schlägt ihr Herz bei seinem Anblick. Sie träumt von vielen Jahren an seiner Seite – bis auf einmal ihr Ex-Mann und Vater der beiden Söhne auftaucht …

KAREN ROSE SMITH

Sag mir die Wahrheit!

Sie ist nicht sein eigen Fleisch und Blut, dennoch liebt er sie über alles! Seine Tochter muss operiert werden, und es stellt sich heraus, dass Chase nicht ihr Vater ist: Sie wurde nach ihrer Geburt vertauscht! Der Witwer sucht die richtige Mutter. Und ahnt nicht, dass er in ein romantisches Liebes-Abenteuer schlittert, als er Jillian schließlich findet.

CAROLINE ANDERSON

Glück ist, wenn du bei mir bist

Groß, muskulös, strahlend blaue Augen: Als Harry vor ihr steht, fällt Emily wieder ein, wie sehr es sie verletzt hat, dass er sie verlassen hat. Sie sollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen! Doch er sieht so verzweifelt aus. Und in seinen Armen wimmert ein kleines Baby! Emily bittet ihn herein – fest entschlossen, ihm nicht noch einmal zu verfallen …

1. KAPITEL

Ein einziger Blick reichte, und Rudy Vaccaro verliebte sich auf der Stelle.

Hals über Kopf, bis über beide Ohren und unwiderruflich.

Auch wenn sie nicht perfekt war. Verdammt, sie sah nicht mal besonders gut aus, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Und selbst dass sie pflegebedürftig zu sein schien, störte ihn nicht. Kein Zweifel, es hatte ihn schwer erwischt.

Aber vielleicht war es genau das, was ihm an ihr so gefiel. Dass sie ihn brauchte. Dringend sogar. Rudy lächelte zufrieden.

„Oh mein Gott, Dad! Ich kann nicht glauben, dass du mein Leben für das hier ruiniert hast!“, rief seine zwölfjährige Tochter Stacey.

Und auch sein jüngerer Bruder Kevin gab seinen Senf dazu. „Wie genau hast du dir diesen Laden eigentlich angesehen, bevor du ihn gekauft hast?“

Rudy ließ sich die Stimmung nicht verderben, sondern betrachtete die abblätternde Farbe im Eingangsbereich des heruntergekommenen Gasthauses und stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Das war sie also, seine neue Heimat.

Zwölf Jahre lang hatte er sich auf diesen Moment gefreut und so viel wie möglich von seinem Polizistengehalt zurückgelegt. Zwölf Jahre lang war aus einer nagenden Unzufriedenheit erst ein vager Traum, dann ein konkretes Ziel geworden – und jetzt, dank eines unvorhersehbaren Zufalls, hatte er es erreicht.

Dieses spezielle Ziel war hundertfünfzig Jahre alt, mit sechs Schlafzimmern, welligen Tapeten, scheußlich braunem Teppichboden und Spinnweben, die dick genug waren, um ein Flugzeug zu fangen.

Rudys Atem wurde in der ungeheizten Luft zu einer weißen Wolke, als er ungeduldig in die Hände klatschte. Das neue Jahr und sein neues Leben waren kaum zwei Tage alt, und er konnte es kaum abwarten, endlich anzufangen.

Meins, alles meins, dachte er und ging über die knarrenden Dielen, um gegen den Thermostat im Durchgang zum Speiseraum zu klopfen. Hmm. Vermutlich kein Öl mehr.

Wenn er Glück hatte.

Und das hatte er. Riesiges Glück sogar. Endlich hatte er ein eigenes Zuhause, ein eigenes Leben.

„Wie eklig!“, rief seine Tochter jetzt, den Blick auf einen fleckigen Sessel gerichtet, der irgendwann einmal gelb gewesen war. Oder hellgrün. Stacey war schon sauer genug auf ihren Vater, weil er sie von all ihren Freunden und der großen Familie getrennt hatte. Die Vorstellung, ihre Jugend ausgerechnet hier verbringen zu müssen, brachte ihm nicht gerade Punkte bei ihr ein. „In dem Ding haben wirklich Leute gesessen?“

„Tausende, wie es aussieht“, knurrte Kevin.

Schaudernd wich Stacey zurück.

Rudy riss sich die Strickmütze vom Kopf und strich sich durchs kurze Haar. „Was glaubt ihr denn, warum ich den Gasthof so günstig bekommen habe? Habt ihr eine Ahnung, wie hoch die Preise hier oben normalerweise sind?“

Kev verschränkte die Arme und starrte mit finsterer Miene auf eine dunkle Spur, die sich von der Decke bis zum Boden zog, zwischen den Unmengen von startenden, landenden oder paddelnden blassgrünen Wildenten auf der Tapete hindurch. „Das sieht nach einem Leck aus. Wenn du Glück hast, ist es nur ein undichter Heizkörper …“

„Ich muss ins Bad“, sagte Stacey und stopfte die Hände in die Taschen ihrer Daunenweste. Ihre kaffeebraunen Augen blitzten. Das zahle ich dir heim, lautete die Botschaft darin. Rudy lächelte aufmunternd. Das hier wird gut. Für uns beide.

„Es gibt sechs. Vier oben, zwei hier unten. Du hast freie Auswahl.“

Ihre Augen wurden groß. Mit zwölf war sie noch zu beeindrucken, aber in einem Jahr würde er wahrscheinlich zu härteren Mitteln greifen müssen. „Sechs?“

„Ja.“ Rudy grinste. Hoffentlich waren die Leitungen in Ordnung … Aber darüber konnte er sich morgen den Kopf zerbrechen. Jetzt zeigte er den Flur entlang. „Das nächste ist gleich dort.“

Kevin runzelte die Stirn.

„Die Maklerin hat mir einen Grundriss geschickt“, erklärte Rudy.

„Einen Grundriss.“

„Genau.“

„Was bedeutet, dass du all deine Ersparnisse in ein Haus gesteckt hast, das du heute zum ersten Mal siehst.“

Rudy klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Sie hat mit ihrem Handy Dutzende Fotos gemacht und mir die geschickt.“

„Na dann.“

„Ich musste mich schnell entscheiden. Der Preis war gerade gesunken – und es gab noch zwei andere Interessenten. Sieh mich nicht so an, Kev. Das Dach wird nicht einstürzen, und – wahrscheinlich – gibt es keine Termiten. Sicher, es ist heruntergekommen, aber …“

Kevin lachte. „Dass ausgerechnet du dein ganzes Geld in einen schäbigen Gasthof mitten im Nichts …“

„In New Hampshire. Und in jeder Richtung stößt du in spätestens einer Stunde auf irgendetwas. Lake Winnipesaukee, die Berge, sogar eine Rennbahn. Was willst du mehr?“

„Zivilisation?“

„Jetzt klingst du wie Stacey.“

„Aus gutem Grund. Was hast du dir bloß dabei gedacht?“

Rudy strich über den staubigen Kaminsims. „Dass ich mich zwölf Jahre lang nur um mein Kind gekümmert und mein eigenes Leben vernachlässigt habe. Endlich habe ich mal an mich selbst gedacht.“

Kevins Mundwinkel zuckten. „Und deshalb hast du dieses Psycho-Motel gekauft.“

Stacey schrie. Rudy rannte los, dicht gefolgt von seinem Bruder, und stieß mit seiner hysterischen Tochter zusammen, die aus der Gegenrichtung kam.

„Es ist da drin!“, kreischte sie und zeigte zur Küche. „Hol es raus, Daddy! Hol es raus!“

„Was denn, Honey?“, fragte er, während Kevin und er zur Tür schlichen, bewaffnet mit nichts als ihren Handys und den Wagenschlüsseln.

„Das weiß ich nicht!“, wimmerte das Mädchen hinter ihnen. „Es war groß und fett und haarig, mit schrecklichen Knopfaugen!“ Stacey packte Rudys karierte Jacke. „Ich hasse es hier, ich hasse es! Ich will nach Hause!“

Okay, in ihrem Alter hasst sie alles, sagte Rudy sich und betrat die Küche. Geräumig, dachte er, und seine Stimmung hob sich schlagartig. Viel Licht.

Und abgrundtief hässlich, aber das lässt sich ändern. Er lächelte.

Die Farbkombination aus Avocado und Orange erinnerte ihn an seine Kindheit, Kühlschrank und Herd hätten besser in ein Museum gepasst, den Boden bedeckte rissiges Linoleum, aber ein Fenster ging nach Osten, also zur Morgensonne hinaus, das andere zum Wald hinter dem vernachlässigten Garten. Tapeten konnte man entfernen, und unter dem Kunststoffbelag fand sich ja vielleicht …

„Was immer es war, es muss geflüchtet sein“, sagte Kevin. „Neben der Hintertür ist ein Loch in der Wand.“

Richtig. Die einheimische Tierwelt.

Sein Bruder inspizierte die Öffnung. „Könnte ein Waschbär gewesen sein. Oder ein Stinktier.“

„Ein Stinktier!“, kreischte Stacey. „Krass!“ Doch dann überlegte sie kurz. „Nein, ein Stinktier war es bestimmt nicht – es war nicht schwarzweiß.“ Plötzlich schien ihr aufzugehen, wie uncool es war, sich an ihren Daddy zu klammern, und sie ließ Rudys Jacke los. „Müssen wir wirklich hier übernachten?“

„Natürlich übernachten …“

„Keine Heizung, Bruderherz“, erinnerte ihn Kevin und betätigte einen Schalter. „Und kein Strom.“

Verdammt. Die Maklerin hatte ihm versprochen, das Haus wieder anzuschließen. Aber sie hatten Kerzen, und auf der hinteren Veranda stapelte sich Kaminholz. Notfalls lag das nächste Motel auf der anderen Seite der Stadt.

„Wir machen Feuer in den Holzöfen“, verkündete Rudy unbeschwert. „Zünden Kerzen an. Und wir haben jede Menge Campingsachen mit. Morgen rufe ich an und lasse den Strom einschalten.“ Als Stacey ihm einen skeptischen Blick zuwarf, drückte er aufmunternd ihre Schulter. „Ach, komm schon – wo ist deine Abenteuerlust geblieben?“

„Auf den Bahamas“, erwiderte sie trocken.

Hinter ihm verschluckte Kevin sich fast vor Lachen.

Der Imbiss war voller Gäste, die auf ihr Abendessen warteten. Violet Kildare nahm zwei, drei, vier Tagesgerichte für Tisch sechs aus der Durchreiche. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker, dachte sie.

„Mom!“, rief George, ihr neunjähriger Sohn, aus der Ecke, in der er und sein jüngerer Bruder Julian saßen, umgeben von Rucksäcken, Gameboys, Schulsachen und dem Rest der Burger mit Pommes frites, die sie ihnen vor einer Stunde gebracht hatte. „Wie viel sind fünf plus vier?“

„Nimm die Finger!“, rief sie zurück, als sie die Teller vor Olive, Pesha und die Millies hinstellte, die an jedem Abend aus der Seniorenwohnanlage herkamen. Sie lächelte ihnen zu, obwohl sie nie ein Trinkgeld gaben und mindestens eine von ihnen immer am Essen herummäkelte.

„Das sollten Sie nicht zu ihm sagen, Liebes“, meinte Old Millie, die mit sechsundachtzig zwei Jahre älter als Young Millie war. Die anderen Ladys nickten zustimmend, bis Pesha – knochig, blond und halb blind – Violet einen spitzen Fingernagel in die Hüfte rammte.

„Das hier habe ich nicht bestellt.“

„Doch, Pesha. Sie haben das Tagesgericht bestellt. Warmes Roastbeef.“

„Nein, das Tagesgericht ist Salisbury-Steak.“

„Das gab es gestern. Heute gibt es Roastbeef.“

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Pesha auf Young Millies Teller. „Hat sie das?“

„Ja, Ma’am, das haben alle.“

„Na ja, ich will kein Roastbeef. Ich will Salisbury-Steak. Mit Pilzen.“ Sie wedelte mit der Hand. „Nehmen Sie das weg.“

Seufzend kehrte Violet mit dem Teller zur Küche zurück. „Neun?“, rief George. „Ist vier plus fünf neun?“

„Richtig, Kleiner“, antwortete sie, strich sich eine rote Korkenzieherlocke aus dem Gesicht und wehrte sich gegen die Tränen. Das hier war einfach zu viel – jeden Abend Rückenschmerzen und brennende Füße, missmutige alte Ladys und alte Knacker, die unbedingt mit ihr flirten wollten. Zwei Söhne, die sie vernachlässigen musste, anstatt sie sicher durch das Minenfeld der Zahlen und Buchstaben zu geleiten.

„Was zum Teufel soll das?“, kam eine gereizte Stimme aus der Küche, als Violet das verschmähte Roastbeef in die Durchreiche schob.

„Tut mir leid, Maude. Pesha will Salisbury-Steak“, erklärte Violet erschöpft. „Mit Pilzen.“

Die Betreiberin des einzigen unabhängigen gastronomischen Betriebs von Mulligan Falls griff nach dem Teller und murmelte etwas Unfreundliches vor sich hin, während die nächste mathematische Frage das Stimmengewirr im voll besetzten Imbiss übertönte. „Mo-om! Wie viel ist sechs plus zwei?“

Violet schloss kurz die Augen. Sie musste durchhalten. Nicht, dass sie erwartet hatte, ihr neues Leben würde einfach werden, aber eine winzige Chance auf …

„Hier“, knurrte Maude und schob Peshas Salisbury-Steak auf den Tresen. Violet nahm sich eine Gabel, kratzte die Pilze vom Hackbraten und schob sie zu einem ordentlichen Haufen zusammen.

„Nimm die Finger, George!“, rief sie auf dem Weg zum Tisch.

Die Glocke über dem Eingang läutete. Noch mehr Gäste. Hurra. Schlagartig wurde es so still, als hätte jemand den Ton ausgeschaltet. Violet hob den Kopf und schaute direkt in zwei hellblaue Augen – in einem Männergesicht, an dem es keine einzige weiche Stelle zu geben schien. Jedenfalls soweit es unter den Bartstoppeln zu erkennen war.

Er war groß, das Haar auf dem Kopf kaum länger als das an den Wangen. So groß, dass er den jüngeren Mann hinter ihm fast verdeckte. Das hübsche, langhaarige Mädchen vor ihm wirkte fast zwergenhaft, zumal zwei riesige Hände auf ihren schmalen Schultern lagen.

„Drei?“, brachte Darla, die zweite Kellnerin, endlich heraus, nachdem sie den Mann eine Weile angestarrt hatte.

„Ja, drei“, erwiderte er, und Violet hörte die tiefe Stimme nicht nur, sie spürte sie auch, tief in sich …

Keine Liebesromane mehr! befahl sie sich streng, aber ihre seit zwei Jahren auf einen Einsatz wartenden Hormone waren nicht so leicht zu beruhigen. Entsetzt beobachtete sie, wie Darla die drei an einem Tisch unterbrachte, für den sie selbst zuständig war. Die Enttäuschung darüber, dass bei ihr alles voll war, stand Darla deutlich ins Gesicht geschrieben.

Großartig. Einfach großartig.

Entschlossen zog Violet den Bleistift aus dem Haar und marschierte hinüber.

„Lächeln“, zischte Darla ihr im Vorbeigehen zu.

Violet nahm die Bestellung auf – zwei Mal Burger und Pommes frites, Spaghetti für das Mädchen – und gab sie an Maude weiter. „Was bringt Sie nach Mulligan Falls?“, fragte sie freundlich.

„Ich habe gerade das alte Hicks Inn oben auf dem Hügel gekauft.“

Und damit nahm Mitch auf der Liste ihrer meistgehassten Männer den zweiten Platz ein.

„Ihr Essen kommt gleich“, sagte die rothaarige Kellnerin mit einem Anflug von Schärfe, während sie die Speisekarten vom Tisch riss. Rudy hob den Kopf und registrierte den Zorn und den Schmerz in ihren graugrünen Augen, bevor sie sich abwandte. Im Schein der Deckenbeleuchtung schimmerten ihre tausend Korkenzieherlocken, deren Farbe ihn an das Orange seiner „neuen“ Küchentapete erinnerte.

Inzwischen war er auch wach genug, um den kleinen, kurvenreichen, kompakten Körper unter der blassgrünen Uniform genauer in Augenschein zu nehmen. Wie ein VW-Käfer, dachte er. Stärker und zäher, als es auf den ersten Blick scheint.

„Was war das denn?“, fragte Kevin erstaunt.

„Keine Ahnung.“

„Dad?“, flüsterte Stacey. „Warum sehen uns alle an?“

„Das wüsste ich auch gern, Honey.“

Sein Bruder beugte sich vor. „Warum komme ich mir vor, als wären wir gerade mitten in einem Stephen-King-Roman gelandet?“

Stacey rutschte näher, während ihr Vater Kevin unter dem Tisch einen Tritt verpasste.

Noch vor drei Minuten war es Rudy nicht schwergefallen, sich seine gute Laune zu bewahren. Die drei Schlafzimmer oben sahen gar nicht so übel aus, genau wie die Bäder. Sicher, die Treppe war marode, aber damit hatte er gerechnet. Nach vier Stunden gründlicher Inspektion und oberflächlicher Reinigung war niemand von ihnen – auch er nicht – auf Dosennahrung versessen gewesen, also hatten sie den Anhänger abgekoppelt und sich in seinen klapprigen Wagen gesetzt. Die „Stadt“ selbst bestand aus der Hauptstraße, fünf Blocks lang, mit einem altmodischen Platz, an dem Maude’s Diner lag. Nichts für Feinschmecker, doch je früher sie sich eingewöhnten, desto besser war es für alle.

„Eingewöhnen? Niemals!“, hatte seine Tochter gemurmelt, aber ihm war nicht entgangen, dass ihr Blick bereits auf dem Stück Schokoladentorte ruhte, das in der Vitrine auf dem Tresen ausgestellt war.

Nicht erwartet hatte Rudy allerdings, dass ihre neuen Nachbarn sie anstarrten, als hätte er gerade mit seinem Wagen ein Kornfeld umgepflügt. Was war los mit diesen Leuten? Du meine Güte, Kevin und er brauchten nur den Mund aufzumachen, und jeder konnte hören, dass sie nichts Besseres als die meisten braven Einwohner von Mulligan Falls waren!

Die Kellnerin servierte ihre Getränke, genauer gesagt, sie knallte sie auf den Tisch. Ihr Mund war schmal, und Rudy sah ihr an, wie frustriert sie war. Hatte das etwas mit ihm zu tun? Wohl kaum. Der Polizist in ihm spürte, dass sie kurz vor dem Explodieren stand und sich nur mühsam beherrschte. Was um alles in der Welt war hier los?

„Ach, Miss?“, begann er sanft. „Meine Tochter möchte das Stück Schokoladentorte aus der Vitrine. Ist das machbar?“

„Sicher“, sagte sie, ohne ihn anzusehen, aber sie lächelte Stacey kurz zu.

Dann rief eine der alten Schachteln am Tisch auf der anderen Seite in herrischem Ton nach ihr. Sie ging hinüber und musste sich anhören, dass etwas zu kalt oder heiß oder was auch immer war. Gleichzeitig meldete sich im hinteren Teil ein kleiner Junge lautstark zu Wort. „Mom? Wie viel ist zwölf minus sieben?“ Am Tresen schlug eine Frau auf die viel zu schrille Klingel. „Violet! Bestellung ist fertig!“

Er sah, wie sie – Violet – eine Sekunde erstarrte und tief durchatmete. „Nimm die Finger!“, befahl sie dem Jungen, der mit einem anderen in einer Nische saß, halb begraben unter Schulbüchern. Dann nahm sie den Teller der alten Lady, trug ihn zur Küche und lud sich drei voll beladene auf.

Mit den Tellern auf dem Arm drehte sie sich ausgerechnet in der Sekunde um, in der der kleinere Junge aufsprang und ihr in die Quere kam. Mit einem Aufschrei geriet Violet ins Stolpern. Die Teller segelten durch die Luft und landeten krachend auf den Fliesen. Violet riss ihren Sohn an sich, bevor auch sie zu Boden ging.

Rudy und Kevin sprangen auf und liefen zu den beiden. Während Kevin das Kind aus dem Haufen zersplitterten Porzellans und verstreuter Spaghetti hob, griff Rudy nach der benommen wirkenden Kellnerin.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, fauchte sie, schlug nach seinen Händen und kämpfte sich auf die Knie, bevor sie die Arme nach ihrem Sprössling ausstreckte. „Julian, Julian! Ist dir etwas passiert? Tut dir etwas weh?“ Ohne auf die Tomatensauce an ihrer Brust zu achten, suchte sie an ihm nach Blut und blauen Flecken. Eine Nudel baumelte zwischen ihrem Haar, und sie nahm sie missmutig heraus und warf sie zur Seite. Dann legte Violet eine Hand auf die winzige Schulter des Jungen und hielt ihm die andere vor die Nase. „Wie viele Finger?“

„Drei“, antwortete er mit zitternder Stimme. „Tut mir leid, Mama, ich musste mal! Ich hab dich nicht gesehen!“

„Schon gut, schon gut.“ Sie drückte ihn an sich und küsste ihn auf die blonden Locken. „So etwas passiert eben. Es ist nicht deine Schuld.“

Aus den Augenwinkeln sah Rudy, wie Stacey näher kam. „Wenn Sie möchten, gehe ich mit Ihrem kleinen Jungen in den Waschraum und mache ihn sauber“, bot sie an. Rudy traute seinen Ohren nicht.

„Danke“, sagte Violet und schien erst jetzt zu bemerken, welches Chaos die Kollision angerichtet hatte. Als Stacey mit Julian davonging, stöhnte seine Mutter kurz auf. Eine hochgewachsene Brünette mit fleckiger Schürze und Haarnetz baute sich vor ihr auf. Im Raum herrschte absolute Stille. Rudy schaute über die Schulter. Alle Gäste sahen jetzt herüber.

„Das wievielte Mal war das jetzt, Violet? Das dritte in diesem Monat?“

„Ich weiß“, antwortete Violet und sammelte mit hochrotem Kopf die Scherben ein. Rudy ging in die Hocke, um ihr zu helfen. „Julian ist mir in den Weg …“

„Habe ich nicht gesagt, dass du die Kinder nur mit zur Arbeit mitbringen darfst, solange sie keinen Ärger machen?“

„Es war ein Unfall, Maude.“ Die Kellnerin griff nach den beiden Hälften eines Tellers und warf sie in den Abfalleimer. „Ich bezahle den Schaden. Wie immer.“

„Es tut mir leid, Violet, wirklich“, entgegnete Maude. „Es funktioniert einfach nicht, und …“

„Nein! Maude, bitte!“ Violet sah hoch, und ihr kamen die Tränen. „Es wird nicht wieder passieren, das verspreche ich.“

Rudy richtete sich auf, funkelte diese Maude an und verbarg seine Entrüstung hinter der ausgleichenden, besänftigenden Polizistenstimme. „Wie gesagt, es war wirklich ein Unfall. Wie wär’s, wenn Sie mal ein Auge zudrücken?“

„Halten Sie sich da raus“, sagte Violet in einem Ton, der irgendwie nicht zu den beiden anmutigen Brüsten passte, auf die sein Blick wie von selbst fiel. Er hatte zwar seine Waffe und sein Abzeichen abgegeben, aber nicht seine Hormone. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht!“

„Vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen.“ Rudy streckte die Hand aus. „Rudy Vaccaro.“

Eine Sekunde lang sah sie aus, als ob sie ihn gleich anspuckte.

„Wer?“, fragte Maude.

„Er hat Doris’ Gasthaus gekauft“, erklärte Violet, und etwas in ihrer Stimme ließ ihn herumfahren. Als wäre die Situation nicht schon bizarr genug, lachte Maude auch noch. Rudy drehte sich wieder um. Sie grinste höhnisch.

„Nein, Mister, ich bezweifle ernsthaft, dass sie ausgerechnet Ihre Hilfe braucht“, sagte sie und schaute dem kleinen Jungen entgegen, der gerade mit Stacey zurückkam und sich sofort an seine Mutter schmiegte. „Es liegt bei dir, Violet“, fuhr sie fort. „Entweder du besorgst dir einen Babysitter für deine Gören, oder du suchst dir einen neuen Job.“

Violet errötete wieder. Die rosigen Wangen bildeten einen auffallenden Kontrast zum fast orangefarbenen Haar, als sie ihrem anderen Sohn zuwinkte. „Pack deine Sachen zusammen. Wir gehen.“

Kevin zupfte an Rudys Ärmel. „Das ist nicht dein Problem“, flüsterte er. „Wir setzen uns wieder, okay? Rudy!“

Rudy runzelte die Stirn.

„Du hilfst ihr nicht, wenn du dich einmischst“, fügte sein Bruder leise hinzu. „Komm schon.“

Nach einem letzten Blick auf Violet, die ihre Söhne zur Hintertür scheuchte, folgte Rudy Kevin und seiner Tochter zum Tisch. Aber alle anderen starrten noch immer in seine Richtung, und er wusste, dass sie über ihn tuschelten.

„Okay, offenbar ist mir etwas entgangen“, begann er, als eine zweite Kellnerin ihnen das Essen servierte. „Was hat die Tatsache, dass ich den alten Laden der Hicks’ gekauft habe, mit Violet zu tun?“

Ihre Blicke trafen ich. „Das wissen Sie nicht?“

Rudy schüttelte den Kopf.

„Dann werden Sie es wohl von mir erfahren müssen …“

2. KAPITEL

„Lass mich raten“, sagte Kevin auf dem Weg zum Wagen. „Du hast keine Ahnung, was du jetzt tun sollst.“

Rudy wartete, bis Stacey außer Hörweite war. „Stimmt. Nichts ist schlimmer, als der Übeltäter zu sein, obwohl man keine Schuld hat. Ich meine, wenn es kein Testament …“

„Dann dürfte juristisch alles sauber sein.“ Sein Bruder blieb vor einem Sportgeschäft stehen. „Ich bin zwar kein Experte, aber wie gesagt, du hast nichts falsch gemacht. Ich frage mich nur, wie du jetzt mit Violet umgehen willst.“

Verärgert sah Rudy seinen Bruder an. „Wie kommst du darauf, dass ich mit ihr umgehen will?“

Kevin schmunzelte nur.

Rudy seufzte. Je mehr Darla, die andere Kellnerin, ihm von Violets Lage erzählt hatte, desto klarer war ihm geworden, dass er etwas tun musste. Auch wenn er nicht gewusst hatte, dass die Vorbesitzerin den Gasthof Violet versprochen hatte.

„Da-ad!“, rief seine Tochter und sprang neben dem Wagen auf und ab. „Hallo? Machst du die Tür auf?“

„Entschuldigung.“ Er drückte auf die Fernbedienung. Stacey stieg ein und knallte die Wagentür hinter sich zu.

Darla hatte Rudy erzählt, wie die Tochter von Doris Hicks Violet und ihre Söhne aus dem Haus geworfen hatte. Und das, obwohl Violet den Gasthof übernehmen sollte, nachdem sie Doris achtzehn Monate lang geholfen hatte, ihn am Laufen zu halten – was sowohl der alten Frau, die in ihrem Zuhause bleiben wollte, als auch Violet, deren Mann sie und die Kinder im Stich gelassen hatte, zugutegekommen war.

Rudy konnte sich vorstellen, wie hintergangen sich Violet jetzt fühlen musste. Genau wie er, als Staceys Mutter ihn und das erst sechs Monate alte Baby sitzen gelassen hatte. Aber Rudy hatte wenigstens seine eigene große Familie als Sicherheitsnetz gehabt.

Jetzt hielt er vor dem dunklen Gasthof. Das einzige Licht stammte vom Mond und dem halben Dutzend schwacher Solarleuchten, die den rissigen Gehweg säumten. Bewaffnet mit einer Taschenlampe sprang Stacey aus dem Wagen und eilte ins Haus – zur Toilette, vermutete Rudy. Kevin blieb sitzen und musterte ihn erstaunt, denn der Motor lief noch immer.

„Ich mache ein Feuer an, ja?“, sagte er nach einem Moment und stieg aus.

Rudy wendete den Wagen, fuhr wieder in den Winterabend hinaus und hoffte, dass er ein oder zwei Feuer ausmachen konnte.

Stacey rieb sich den Po, der noch von der eiskalten Klobrille kribbelte, und schlich zurück in das noch kältere, stockdunkle Wohnzimmer, wo ihr Onkel vor dem Holzofen kniete, der in den Kamin gestellt worden war. Im Schein seiner Taschenlampe versuchte er, ein Feuer zu entfachen. Stacey schauderte. Schon am Tag war es hier gruselig genug. Sicher, sie hatte gezeltet und alles, aber das hier war anders.

„Wo … ist … Dad?“, fragte sie mit klappernden Zähnen.

„Der hat noch was zu erledigen“, erwiderte Onkel Kev. „Er kommt bald wieder.“

Stacey verdrehte die Augen. Warum behandelten die beiden sie immer wie ein Kleinkind?

„Es ist so kalt hier.“ Sie rieb sich die Arme und suchte nach ihrer Jacke, die sie vorhin ausgezogen hatte. Wahrscheinlich würde sie irgendwann erfrieren, und ohne Strom und Telefon konnte sie nicht mal ihre E-Mails checken. Zu Weihnachten würde sie – als Entschädigung für ihr ruiniertes Leben – einen neuen Laptop bekommen, aber was nutzte das jetzt noch?

Blinzelnd wehrte sie sich gegen die Tränen. Ihr Dad und Onkel Kev sollten sie auf keinen Fall für eine Heulsuse halten!

„Gleich wird es warm“, versprach Kevin und bewunderte sein Werk durch die offene Ofenklappe hindurch. Nervös sah Stacey sich um. Im Schein des Feuers tanzten die Schatten. Konnte es noch unheimlicher werden? Sie setzte sich zu ihm auf den zusammengerollten Schlafsack.

„Ich weiß, du bist ziemlich unglücklich über diesen Umzug“, sagte er nach einer Weile.

„Stimmt.“ Stacy starrte in die züngelnden Flammen. „Ich musste alle Freunde zurücklassen, mitten im Jahr die Schule wechseln, das nächste Einkaufszentrum ist wahrscheinlich fünfhundert Meilen entfernt, und dieses Haus ist das Letzte.“

„Zufällig weiß ich, dass es keine zehn Meilen von hier ein Outlet-Center mit zweihundert Geschäften gibt.“

„Na und? Glaubst du wirklich, dass mein Dad mit mir zu einem Outlet-Center fährt?“

„Du wirst neue Freundinnen finden, Stacey. Mit Moms, die liebend gern mit euch ins Outlet-Center fahren. Und dein Dad und ich werden dieses Haus renovieren. Warte nur ab.“ Aufmunternd stieß Kev seine Nichte an. „Es wird toll. Meinst du, du könntest deinem Dad … eine Chance geben? Das hier bedeutet ihm nämlich sehr viel, weißt du.“

Stacey seufzte. Das Haus ihrer Großeltern in Springfield war gemütlich und warm, aber dort hatte sie nicht bleiben können, weil die beiden viel reisen wollten. Und Tanten und Onkel hatten genug mit ihren eigenen Kindern zu tun.

„Ich verstehe noch immer nicht, warum wir unbedingt umziehen mussten“, murmelte sie betrübt.

„Dein Dad war unglücklich.“

„Davon hat er mir nie etwas gesagt.“

„Du kennst deinen Dad. Er bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich es dir erzählt habe. Also kein Wort, okay?“

Stacey nickte. „Aber wir hätten uns doch in Springfield eine andere Wohnung suchen können.“

„Manchmal muss man eben einen Neuanfang wagen, um wieder glücklich zu werden. Verstehst du das?“

Eigentlich nicht. Aber es freute sie, dass Onkel Kev sie ernst nahm. Sie setzte sich auf und sah ihn an. „Bist du deshalb mitgekommen?“

„Auch deshalb. Glaub mir, genauer willst du es nicht wissen. Ich war ziemlich kaputt. Aber dein Dad … der war immer wie ein Fels in der Brandung. Verlässlich. Selbstlos. Du bist für ihn das Wichtigste auf der Welt.“

Er stand auf, um im Feuer zu stochern. Funken stoben auf, bevor er die Klappe schloss. Endlich wurde es warm, und Stacey öffnete ihre Jacke. Sie fragte sich, worauf ihr Onkel hinauswollte.

„Dir kommt es vielleicht so vor, als wäre er nur seinetwegen hergezogen, aber …“ Kevin lachte. „Aber dein Dad ist gar nicht fähig, etwas seinetwegen zu tun. Es geht ihm bei allem immer nur um dich, Stacey.“

Bevor sie antworten konnte, meldete sich sein Handy. ­Wenigstens das funktionierte hier draußen! Ob es eine Freundin war? Süß genug war er ja, und vermutlich hatte er an jedem Finger zehn. Im Gegensatz zu Dad, der gar keine hatte. Zum Glück. Dauernd las und hörte sie von Kindern, die verzweifelt versuchten, ihren Dad oder ihre Mom mit jemandem zusammenzubringen. Und was dann? Man bekam jede Menge neuer Stiefgeschwister! Viele ihrer Freundinnen lebten in solchen Patchwork-Familien und hassten es. Nein, es war besser so, wie es war – nur sie und ihr Dad. Sie brauchten niemanden.

Doch als sie sich durchs Haar strich und auf die Ofenklappe starrte, musste sie an etwas denken, das Kevin gerade gesagt hatte. Dass sie für ihren Dad immer an erster Stelle stand.

Zum ersten Mal, seit sie hier waren, lächelte Stacey.

Das war doch immerhin ein Anfang.

„Das ist einfach nicht fair!“, rief George empört. „Warum muss ich zur selben Zeit ins Bett wie Julian? Der ist fünf Jahre jünger als ich!“

„Hey!“, sagte Violet und schaute über ihren kichernden, zappelnden, in seinen flauschigen Bademantel gehüllten Jüngsten zu George hinüber. Ein Wunder war geschehen, und ihre Laune besserte sich schlagartig.

„Was denn?“, fragte George, dessen feuchtes Haar wie Stacheln abstand.

Violet strahlte. „Du hast gerade im Kopf gerechnet!“

„Hab’ ich nicht“, protestierte er.

„Doch, ganz bestimmt. Du hast gesagt, Julian ist fünf Jahre jünger als du. Das bedeutet, dass du sein Alter – vier – von deinem – neun – abgezogen hast.“

„Hab’ ich?“

„Ja. Ohne zu überlegen.“ Sie reckte den Daumen.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, beschwerte ihr Sohn sich nach einem Moment.

„Stimmt. Weil meine Antwort nicht anders ausfällt als gestern oder vorgestern Abend“, sagte Violet, bevor sie das Oberteil über Julians honigfarbene Locken zog und ihn auf eine rosige Wange küsste. „Putz dir die Zähne.“

Barfuß marschierte George über den ein wenig modrig riechenden Teppichboden. Violet schloss kurz die Augen. Teppichboden im Badezimmer? Noch dazu, wenn es von kleinen Jungen benutzt wurde, die in der Badewanne für die 100-Meter-Freistil bei den nächsten Olympischen Spielen trainierten? Wahnsinn. Typisch Betsy …

Mit Julian auf dem Schoß setzte sie sich auf den geschlossenen Klodeckel und half George, sich den Schlafanzug anzuziehen. „Wisst ihr eigentlich, wie lieb ich euch habe?“

Den Mund voller Schaum, drehte ihr Ältester sich um und musterte sie besorgt.

Violet lächelte aufmunternd und verfluchte Mitch. Und sich selbst dafür, dass sie schon wieder einen blauäugigen Mann attraktiv fand – und zwar ausgerechnet den, der ihr Erbe gekauft hatte. Ihr Blick fiel auf Georges Zähne. Es waren richtige Biberzähne, aber einer davon war schief. Er braucht dringend eine Spange, dachte sie und fühlte die allzu vertraute Panik in sich aufsteigen.

„Du hast deinen Job verloren, was?“, fragte George, und im Spiegel wirkten seine Augen noch größer als sonst. „Unseretwegen?“

Guter Gott! „Ja, ich habe meinen Job verloren“, erwiderte sie tapfer. „Aber nicht euretwegen.“

„Aber Maude hat gesagt …“

„Maude ist ’ne dicke, fette Pupsnuss“, warf Julian ein, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen.

„Man nennt Leute nicht Pupsnuss“, entgegnete sie und küsste ihn auf die feuchten Locken.

Julian drehte sich zu ihr um, eine einzelne, winzige Falte auf der kleinen Stirn. Mitchs Stirn, dachte sie. „Wie dann?“, fragte er.

Ziege, dachte sie und stand auf, ihren Sohn auf der Hüfte. „Kommt schon, ihr zwei. Ab ins Bett.“

„Och, Mom …“

Sie nahm Georges Kinn in die Hand. „Morgen kannst du länger aufbleiben. Heute musst du um halb neun im Bett liegen.“

„Warum?“

„Weil ich so müde bin, dass ich gleich umfalle“, murmelte Violet und lenkte ihn aus dem Bad auf den Flur. An der Wand hingen eine Menge Kinderfotos.

George protestierte den ganzen Weg hinunter in den halb ausgebauten Keller des kleinen Hauses, wo sie seit sechs Monaten wohnten. Betsy Ehemann Joey hatte sich dort mit seinen Freunden treffen und Football und Baseball sehen wollen, ohne seine Frau und die drei Kinder zu stören. Fleckige Teppiche auf dem Zementboden, an zwei Wänden Kunststofftäfelung im Pinienholzlook, zwei winzige, fast völlig zugewachsene Fenster unter der Decke, durch die weder Licht noch Luft drang. Eine alte Schlafcouch, auf der sie zu dritt übernachteten.

Sicher, Joey hatte ein wenig gemurrt, als Betsy Violet anbot, sie und die Kinder aufzunehmen, aber er war ein guter Mann, und manchmal fuhr er mit Violets zwei und seinen eigenen drei zu McDonald’s, damit die Frauen sich erholen konnten.

So war Mitch auch mal gewesen. Vor langer, langer Zeit.

Violet ignorierte das aufkeimende Selbstmitleid, brachte beide Jungen zu Bett und wehrte sich gegen die Tränen. Manchmal träumte sie davon, die Uhr zurückzudrehen, bis zu der kurzen Periode ihres Lebens, in der sie gewusst hatte, dass sie geliebt wurde.

Oder es wenigstens geglaubt hatte.

Oben gingen Betsys Söhne mal wieder lautstark aufeinander los. Joey legte eine Doppelschicht in der nahe gelegenen Maschinenfabrik ein und würde nicht vor Mitternacht nach Hause kommen. Violets Kinder dagegen schliefen schon fast, als sie das Licht ausmachte. Gott sei Dank, dachte sie und warf einen Blick zur vibrierenden Decke hinauf. Um Himmels willen, Betsy, bring deine Rabauken endlich ins Bett!

Über ihr ertönte ein Krachen, Betsy begann zu schreien, und jemand weinte.

Das reicht, ich verschwinde von hier. Violet zog ihren alten Daunenmantel über den Jogginganzug und setzte den Spongebob-Hut auf, den sie George zu Weihnachten geschenkt hatte. Natürlich konnte sie nicht einfach ausziehen, aber in der Eiseskälte draußen herumzustehen, war immer noch besser, als zwei Stunden lang mit den Zähnen zu knirschen, bis den beiden kleinen Teufeln ihrer Freundin vor Erschöpfung die Augen zufielen.

„CSI hat angefangen!“, rief Betsy aus dem winzigen Wohnzimmer, als Violet zur Tür eilte. Normalerweise ließ sie sich keine Folge entgehen, aber heute fühlte sie sich alles andere als normal.

„Danke, aber ich brauche dringend frische Luft“, erwiderte sie und riss die Tür auf.

„Willst du deine Kinder etwa bei mir lassen?“, übertönte Betsy das Gekreische ihres Jüngsten.

„Natürlich nicht, Bets, ich gehe nur kurz in den Garten.“

„Hast du den Brief bekommen?“

Violet drehte sich um, nahm den schlichten weißen Umschlag mit Mitchs Handschrift vom Tisch und schob ihn in die Tasche. „Ja.“

Sie schloss die Haustür hinter sich und atmete tief durch. Draußen war es kalt, und sie genoss die frische Luft auf ihrem Gesicht und die Ruhe, die nicht nur ihren lädierten Trommelfellen, sondern auch ihrer Seele guttat. Nach kurzem Zögern holte Violet den Brief heraus. Wie alle bisherigen, enthielt auch dieser die übliche Mischung aus Entschuldigungen, vagen Versprechungen und der Bitte um Verzeihung.

Violet zerknüllte ihn und fühlte die scharfen Kanten an den Lippen, als sie ihn an den Mund presste, um nicht laut aufzuschluchzen. Nach der Scheidung hatte die Wunde in ihrem Herzen gerade zu heilen begonnen, da war der erste Brief gekommen – abgeschickt von einem Postfach in Buffalo. Anfänglich nur mit der monatlichen Zahlungsanweisung für die Jungen. Dann alle zwei Wochen, jetzt fast wöchentlich, auch wenn Mitch nie anrief, nicht einmal, um mit seinen Söhnen zu sprechen. In jedem Brief schwor er, dass er seine Söhne liebte. Und sie auch.

Am schwersten fiel es ihr, seine Briefe zu erwidern. Was schrieb man einem Mann, der einen vor einer Hölle auf Erden bewahrt hatte, nur um einem zehn Jahre später eine andere zu bereiten? Auf dem Tiefpunkt ihres Lebens war ihr Mitch als rettender Engel erschienen. Aber Engel stiegen nicht einfach aus, wenn es hart wurde, die Kinder krank wurden und die ganze Nacht hindurch weinten oder ein halbes Dutzend Dinge gleichzeitig kaputtgingen und repariert werden mussten.

Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, Vi. Und ich mache es wieder gut …

„Mach dich nicht lächerlich“, murmelte Violet und stopfte den Brief wieder in die Manteltasche. Sie brauchte keine Engel mehr, weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart, sie brauchte einen Plan. Fröstelnd setzte sie sich auf eine Stufe, blies in die Handschuhe und wärmte sich das Gesicht.

Nur mit Mühe wahrte sie die Fassung, denn ihre Lage war verzweifelt. Sie hatte ihren Job verloren und brauchte einen neuen, denn das bisschen Geld, das Mitch unregelmäßig schickte, reichte nicht mal für die Jungen. Es gab eine Lösung – doch die war so erniedrigend, dass ihr Stolz sich vehement wehrte. Niemals, dachte sie. Aber die Idee verfestigte sich mehr und mehr, und langsam, aber sicher schmolz ihr Widerstand dahin.

Violet zwang sich, das Für und Wider abzuwägen, und schließlich gab sie nach. Als zeitweilige Notlösung konnte es durchaus funktionieren – bis ihr etwas Besseres einfiel.

Kaum hatte sie sich damit abgefunden, bog ein weißer Wagen um die Ecke, kam im Schein der Straßenlaternen wie eine geisterhafte Erscheinung näher und hielt vor Betsys Haus.

Und als Rudy Vaccaro ausstieg, mit kantigem Kinn und blauen Augen, die wahrscheinlich mehr sahen, als ihr lieb war, schüttelte Violet ungläubig den Kopf und schaute zum Sternenhimmel hinauf. Das ist ein Scherz, oder?

Hätte das Licht der Straßenlaterne die orangefarbenen Strähnen unter dem albernen Hut nicht leuchten lassen, hätte Rudy sie wahrscheinlich gar nicht erkannt. Violet stand auf, als er näher kam, und schaute ihm unsicher entgegen. Aber nur für einen Moment, dann wurde ihr Blick entschlossen, als hätte sie ihn aufgespürt, nicht umgekehrt. Interessant, dachte er.

„Ich habe Darla gefragt, wo Sie wohnen“, begann er, bevor sie etwas sagen konnte.

„Warum?“

„Weil Sie verschwunden sind, bevor ich Ihnen Ihr Trinkgeld geben konnte.“

„Ich habe Sie doch gar nicht bedient.“

„Reine Formsache.“

„Aha. Na ja, dann …“ Mit ernster Miene streckte sie die Hand aus.

Rudy zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche und nahm einen Geldschein heraus. Doch als er ihn auf den dicken Fausthandschuh legte, bemerkte er die Röte an ihren Wangen. Trotz der bitteren Kälte wurde ihm warm.

Überrascht hob sie den Blick. Überrascht und erfreut. „Danke“, sagte sie und steckte den Zwanziger ein. „War’s das?“

Irgendwie ist sie wie das Haus, schoss es Rudy durch den Kopf. Vernachlässigt, viel zu lange geschlossen, das wahre Gesicht verborgen unter den unzähligen Schichten, die harte Jahre hinterlassen haben. „Nein, eigentlich nicht. Ich … wir müssen reden. Über den Gasthof.“

„So?“

„Ja. Darla hat mir erzählt, dass Sie damit gerechnet haben, ihn zu bekommen. Und …“ Ein Windstoß fuhr unter seine Jacke, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter. „Können wir irgendwohin gehen? Um uns in Ruhe zu unterhalten? Irgendwohin, wo es warm ist?“

„Ich kann die Jungen nicht allein lassen.“ Violet warf einen Blick über die Schulter. Im Haus schrie eine Frau. „Sie schlafen.“ Frag mich nicht, sagten ihre Augen.

„Können wir wenigstens reingehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Setzen wir uns in den Wagen?“

„Glauben Sie allen Ernstes, ich steige zu einem wildfremden Mann ins Auto?“

„Verdammt, Violet – ich finde auch schlimm, was passiert ist, okay? Geben Sie mir die Chance, das wiedergutzumachen. Aber wenn das in Ordnung ist, friere ich mir dabei lieber nichts ab.“

„Wiedergutmachen?“, wiederholte sie. „Wie denn?“

„Ich möchte Ihnen einen Job anbieten. Und ein Dach über dem Kopf.“

Sie schnappte nach Luft, und er nutzte die Gelegenheit. „Mein Wagen hat eine Heizung. Und es gibt heiße Schokolade.“

„Heiße Schokolade?“

„Ich bin auf dem Weg hierher an einem Dunkin’ Donut vorbeigekommen.“ Rudy zuckte mit den Schultern. Ihr Blick wanderte zu seinem Wagen hinüber. „Ich war Polizist. Ein guter Polizist. Ich schwöre, bei mir sind Sie sicher.“

„Mehr als Ihr Wort habe ich darauf nicht?“

Er schlug den Kragen hoch. Die Kälte kroch langsam in seinen Körper, und er wollte nicht daran denken, was sie bei bestimmten Teilen seiner Anatomie anrichten konnte. „Zugegeben, Sie haben allen Grund zur Vorsicht. Ich könnte durchaus ein Irrer sein. Ehrlich gesagt, meine Tochter hält mich für einen, weil ich sie hergeschleift habe.“ Rudy beugte sich leicht vor und betrachtete Violets Gesicht. Es war hübsch und weich und rosig von der Kälte. Wie bei einer der alten Porzellanpuppen, die seine Mutter sammelte. „Ich schlage vor, Sie bitten Ihre Freundin, Sie durchs Fenster im Auge zu behalten, und wir bleiben vor dem Haus.“

„Ich weiß nicht …“

„Violet. Bitte. Lassen Sie mich wenigstens versuchen, die Sache in Ordnung zu bringen.“

Sie zögerte einige Sekunden, dann nickte sie, ging die Stufen hinauf und sprach mit jemandem, der hinter der Tür stand. Danach folgte sie ihm zur Straße.

„Wehe, die Schokolade ist nicht mehr heiß“, murmelte sie, als er ihr die Beifahrertür öffnete.

3. KAPITEL

War es wirklich wichtig, wer zuerst auf die Idee gekommen war? Das fragte Violet sich, während sie in Rudys warmem Wagen saß, die Wolldecke von der Rückbank um die Beine, den Duft des großen, kräftigen Mannes ebenso in der Nase wie das süße, würzige Aroma der heißen Schokolade, an der sie nippte. Nein, entschied sie. Hauptsache, alles lief so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Nicht, dass der Gasthof tatsächlich ihrer gewesen war. Nur im Herzen hatte sie sich schon als Eigentümerin gefühlt. Jetzt presste sie die Lippen zusammen und starrte in ihr Getränk. „Sie wollen also, dass die Jungen und ich bei Ihnen einziehen …“

„Na ja, in die Wohnung über der Garage, wenn es Ihnen recht ist.“

Violet versuchte, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie selbst hatte Doris überredet, das Apartment für Familien, die kein Zimmer, sondern eine Ferienwohnung wollten, zu renovieren. Es war nicht groß, hatte nur ein Schlafzimmer, aber im Sommer spendeten ein Dutzend Bäume Schatten. Und die Schlafcouch roch nicht nach benutzten Sportsocken.

Ein Traum, den sie schon zwei Mal aufgegeben hatte, meldete sich zurück …

Hör auf, befahl Violet sich.

„Und als Gegenleistung soll ich Ihnen helfen, den Gasthof wieder in Betrieb zu nehmen“, fuhr sie fort, ohne Rudy anzusehen.

„Und danach das Frühstück für die Gäste machen, wie Sie es bei Doris getan haben.“ Sie spürte seinen Blick an der Schläfe. Warm und ernst. Noch ein Mann, der sie unbedingt retten wollte. „Zu Anfang kann ich Ihnen nicht viel zahlen, aber wenigstens hätten Sie Kost und Logis.“ Er zögerte. „Falls Sie einen Nebenjob annehmen und die Jungen zu Hause lassen wollen … Ich nehme an, auch dafür finden wir eine Lösung.“

Violet drehte sich zu ihm. „Wow! Das ist großzügig.“

„Kein bisschen. Sie würden mir einen riesigen Gefallen tun. Irgendwann müsste ich sowieso jemanden einstellen. Jemand, der sich auskennt, ist doch ideal.“

Sie nippte am Becher und tat so, als ob sie über sein Angebot nachdachte. Er schien ihr Zögern als Verbitterung zu deuten. Kein Wunder.

„Violet“, begann er in seiner halb rauen, halb sanften Art, die ihr unter die Haut ging. Sie musste aufpassen. Zwei Jahre ohne die Berührung eines Mannes waren eine lange Zeit, und eine Nonne hatte sie nie werden wollen. Aber genau deshalb hatte sie noch nicht begeistert zugestimmt. Denn Rudy ­Vaccaros Nähe …

Eine Komplikation, die sie ungefähr so dringend brauchte wie ein Loch in der Herzwand.

„Ich weiß, das hier ist nicht das, was Sie sich erhofft haben“, sagte er. „Aber ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Oder Ihnen den Gasthof überlassen, nur weil …“

„Natürlich nicht! Sicher, ich bin enttäuscht, aber ich mache mir keine Illusionen.“ Sie wusste, dass er das Haus ohne Besichtigung und Rücktrittsrecht gekauft hatte, was verdammt leichtsinnig gewesen war. „Er gehört Ihnen. Ich meine, wenn es kein Testament gab, gab es eben keines, richtig?“

Wieder sah er sie an, halb besorgt, halb beschützend. Lass es, dachte sie, denn ihr Körper, ihre Gefühle und ihr Verstand standen auf drei verschiedenen Blättern, was nicht gut war.

„Doris hat also versprochen, Ihnen das Haus zu vererben?“

Violet nickte. „Einen Monat vor ihrem Tod hat sie geschworen, ein Testament zu machen, damit es keine Zweifel gibt. Ich kannte Doris, seit ich klein war, habe als Teenager im Sommer dort gearbeitet. Ich hätte …“ Ihre Stimme versagte. „Sie hat niemals ein Versprechen gebrochen.“

Andererseits war ihr Leben eine einzige Ansammlung von nicht gehaltenen Versprechen.

„Und Sie haben keine Gelegenheit bekommen, das Haus zu durchsuchen?“

Sie schaute direkt in seine dunklen Augen. „Du meine Güte, was ist bloß los mit Ihnen? Das Testament zu finden, muss doch das Letzte sein, was Sie wollen.“

„Vielleicht will ich nur sicher sein, dass ich mir keine Sorgen machen muss.“

Nach einem Moment wandte sie sich ab. „Kurz vor Doris’ Tod kam ihre Tochter Patty aus Boston und verfrachtete das alte Mädchen in ein Pflegeheim. Und kaum war Doris aus dem Haus, waren die Jungen und ich es auch. Eine Woche später wurde es zum Verkauf angeboten. Ich nehme an, Patty hat sich eine Vollmacht besorgt.“

„Als die alte Lady starb, ging also alles an ihre Tochter?“

„Genau. Und natürlich hat sie mich nicht nach dem Testament suchen lassen.“

„Falls es eines gibt.“

Violet zögerte, dann hob sie den Becher an den Mund. „Falls es eines gibt“, wiederholte sie betrübt.

Einen Arm auf dem Lenkrad, lehnte Rudy sich zurück und betrachtete Violets Profil. Sie hatte den Hut abgenommen, und die Locken kringelten sich um ihr Gesicht. Er spürte eine ungewohnte Mischung aus Frustration und dem Bedürfnis, diese tapfere Frau zu beschützen.

„Ich weiß, ich bin ein Fremder, aber Sie können mir vertrauen, Violet – es ist nicht meine Art, Mütter und Kinder auf die Straße zu setzen.“

„Erstens, ich sitze nicht auf der Straße. Außerdem war es nicht Ihre Schuld. Sie wussten nichts davon.“

„Was für Sie kein Trost ist.“

„Nein, aber …“ Sie spitzte die Lippen und ließ die heiße Schokolade im Becher kreisen. „Hören Sie, es tut mir leid, dass ich vorhin so reagiert habe. Im Restaurant, meine ich. Ich hätte meine Enttäuschung nicht an Ihnen auslassen dürfen.“

„Vergessen Sie’s.“ Er ballte die freie Hand zur Faust, um sich davon abzuhalten, Violet zu berühren – ihre Hand zu ergreifen, die Schulter zu drücken. Was auch immer. „Ihr Ehemann hat Sie und die Kinder verlassen?“

„Ja“, bestätigte sie nach einem Moment. „Wir sind seit einem Jahr geschieden. Aber da ich mich nicht gern bemitleiden lasse …“

„Keine Sorge. Mitleid ist etwas für Leute, die den falschen Weg einschlagen, weil sie die Fallgrube nicht sehen.“

„Und woher wissen Sie, dass es bei mir anders war?“

Rudy zog einen Mundwinkel hoch. „Na gut, einigen wir uns darauf, dass Entscheidungen vor dem einundzwanzigsten Lebensjahr nicht zählen?“

Sie lachte sanft und ein wenig atemlos, aber nur kurz. „Oh. Heißt das …“

„Ja. Ich auch.“ Er seufzte. „Erinnern Sie sich an das kleine, rebellische Wesen, mit dem ich heute Abend im Restaurant war? Meine Tochter. Wir beide sind allein, seit sie sechs Monate alt ist. Dass ihre Mutter noch lebt, weiß ich nur, weil ich regelmäßig nachforsche. Ob sie weiß oder ob es sie interessiert, wie es Stacey und mir geht? Keine Ahnung. Also … was sehe ich gerade in Ihrem Gesicht? Mitleid? Oder Verständnis?“

„Verblüffung. Dass eine Frau so dämlich sein kann.“

„Sie kennen mich nicht, Violet.“

„Ich weiß genug über Sie. Innerhalb von zwei Stunden stehen Sie einer wildfremden Kellnerin gegen ihre ungerechte Chefin bei, geben ihr ein Zwanzig-Dollar-Trinkgeld, bringen ihr eine heiße Schokolade und bieten ihr nicht nur einen Job, sondern auch noch Kost und Logis an. Eine Frau, die sich so jemanden entgehen lässt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Schön blöd.“

„Kann sein. Aber sie war keine Frau, sie war ein Kind. Das waren wir beide. Ich war zwanzig, sie achtzehn. Viel zu jung.“

„Sagt wer?“, entgegnete Violet mit geröteten Wangen. „Ich war achtzehn, als George auf die Welt kam, und ich habe ihn nicht im Stich gelassen. Im Gegensatz zu Mitch, der nach acht Jahren und zwei Kindern zu dem Ergebnis kam … zu welchem auch immer. Leider ausgerechnet in der Woche vor Weihnachten. Das ist jetzt zwei Jahre her.“ Sie lächelte matt. „Ein schönes Fest, glauben Sie mir. Eine Nachricht und ein paar Hundert Dollar auf dem Küchentisch als Abschiedsgeschenk. Obwohl wir, ich jedenfalls, hin und wieder noch von ihm hören.“

Etwas in ihrer Stimme – ein bitterer Nachgeschmack vielleicht – ließ Rudy aufhorchen. Wütend war sie ihm wesentlich lieber als traurig, denn wo Wut war, gab es auch Hoffnung.

„Sieht er die Jungen?“

Ihre Locken zitterten, als sie den Kopf schüttelte. „Obwohl er sagt … er will es … irgendwann.“

„Was zum …“

„Er sagt, er muss sich erst über einige Dinge klar werden.“

„Auch über eine mögliche Versöhnung?“, fragte Rudy leise.

„Wer zum Teufel weiß das?“ Violet rieb sich die Stirn. „Ihr Mund wurde wieder schmal. „Versöhnen kann sich jeder. Sie aufrechtzuerhalten ist etwas ganz anderes.“

Er widerstand der Versuchung, sie zu fragen, ob sie eine Versöhnung wollte. Aber er hatte zweifellos einen wunden Punkt getroffen. Als er entschuldigend nach ihrem Arm tastete, zuckte sie zusammen.

„Hey“, flüsterte er mit belegter Stimme. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ja, ich bin …“ Sie holte tief Luft. „Man kann jahrelang durchhalten, mit dem Notwendigsten auskommen, sich über Kleinigkeiten freuen, über das Lächeln seines Babys oder einen neuen Lippenstift zum Beispiel. Über den ersten warmen Frühlingsabend mit Freunden. Und Stück für Stück gewinnt man wieder Mut. Und Zuversicht. Irgendwann, ohne Vorwarnung, ergibt sich eine Gelegenheit, und plötzlich sieht man wieder nach vorn, will etwas Besseres, will mehr!“

Sie schaute zur Seite, doch ihm entging nicht, wie ihre Augen feucht wurden. „Ich weiß“, sagte er sanft.

„Nein, das wissen Sie nicht!“, explodierte sie. „Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was dieses heruntergekommene, schäbige Gasthaus für mich bedeutet hat! Nicht nur für mich, auch für Doris, die es wie ihr Kind geliebt hat. Für die ihre Gäste wie eine große Familie waren, weil sie ihr das Gefühl gegeben haben, gebraucht zu werden, wichtig zu sein. Und anerkannt.“

Blinzelnd schaute Violet nach vorn. „Ich habe nie erwartet, dass Doris mir das Haus vererbt. Ich habe immer damit gerechnet, dass ihre Tochter es bekommt. Und als sie mir sagte, dass sie es mir hinterlassen wolle … Sie glauben gar nicht, wie geehrt ich mich gefühlt habe. Dass sie mir zutraute, das Beste aus ihrem Geschenk zu machen. Ich hatte Pläne, Rudy“, wisperte sie. „So große Pläne.“

Stirnrunzelnd wischte er ihr mit seinem Ärmel eine Träne von der Wange. „Aber selbst wenn Doris es Ihnen vererbt hätte, wie hätten Sie das alles schaffen wollen? Das Haus kann so nicht eröffnet werden. Erst steht eine Renovierung an.“

Sie trank einen Schluck der inzwischen vermutlich kalten Schokolade und verzog das Gesicht. „Ich wollte es verkaufen“, gab sie zu, ohne ihn anzusehen. „Es verkaufen, von hier verschwinden, meine Ausbildung beenden. Geld zurücklegen, damit die Jungen später aufs College gehen können. Ein Auto mit weniger als 150.000 Meilen auf dem Tacho kaufen. Doris und ich sprachen andauernd davon. Deshalb weiß ich, dass ich das Haus bekommen sollte. Um meinen Traum zu verwirklichen. So, wie sie ihren leben konnte.“

In all den Jahren als Polizist hatte Rudy gelernt, Menschen zu durchschauen und ihre Körpersprache zu deuten. Er erkannte, wie ihr Tonfall sich änderte, sobald sie nicht ehrlich waren. Und in diesem Moment ließ Violet Kildare Alarmglocken in ihm schrillen – laut genug, um bis China gehört zu werden.

„Also wollten Sie das Gasthaus nie übernehmen?“, fragte er wie beiläufig.

„Es übernehmen?“ Sie lachte. „Nein, so wie Doris Hicks wollte ich nie werden.“

„Oh. Na ja. Dann muss ich Sie wohl missverstanden haben.“ Er kniff die Augen zusammen. „Darla schien zu glauben, dass Sie an dem Haus hängen.“

Selbst in der Dunkelheit sah er, wie sie errötete. „Das Haus war nur Mittel zum Zweck“, sagte sie in den leeren Becher hinein, bevor sie ihn ansah und matt lächelte. „Es ist spät. Ich muss zurück, bevor Betsy durchdreht.“

„Heißt das, Sie nehmen mein Angebot nicht an?“

Sie schob den Becher in den Halter unter dem Radio. „Kann ich ein paar Tage darüber nachdenken? Bis die Schule wieder anfängt, also übermorgen?“

„Übermorgen?“, wiederholte er überrascht. „Ich dachte, die Schule fängt am Montag an.“

„Nein, eigentlich schon morgen, aber da haben sie eine Konferenz oder so etwas.“

Verdammt. Er kannte jemanden, der darüber ganz und gar nicht erfreut sein würde. Wieso hatte er angenommen, dass ihm noch mindestens eine Woche bis zu jenem traumatischen Datum blieb?

„Na schön“, murmelte Rudy resigniert, bevor er eine seiner alten Karten aus der Brieftasche nahm. Eine Sekunde lang betrachtete er das winzige, körnige Foto von sich in Uniform, dann reichte er sie Violet. „Meine Handynummer steht drauf, falls Sie die brauchen.“

Sie nickte. „Ich gebe Ihnen dann Bescheid.“ Sie stieg aus und drehte sich um, sichtlich erleichtert, dass sie es hinter sich hatte. „Nochmals danke für das Trinkgeld“, rief sie und eilte davon.

„Was war das denn?“, fragte Betsy, als Violet das Haus betrat. Der Lärmpegel war beträchtlich gesunken, da zwei Drittel ihres Nachwuchses endlich eingeschlafen waren. Nur der kleine Trey lag neben seiner Mutter und lutschte am Daumen, während auf der Mattscheibe gerade CSI zu Ende ging.

Wie die meisten Einwohner von Mulligan Falls wusste auch Betsy längst, dass Rudy der neue Eigentümer des alten Gasthofs war. Wenn man Wert auf Diskretion legte, war es keine gute Idee, Linda Fairweather als Maklerin zu engagieren. Von ihr hatte Violet erfahren, dass Rudy das Haus bar bezahlt hatte. Und dass er es vorher nicht besichtigt hatte. Ziemlich verrückt.

Sie zog den Mantel aus und setzte sich vorsichtig in Joeys Fernsehsessel. Betsy war keine schlechte Hausfrau, aber das Möbelstück trug die Spuren von insgesamt acht Kindern. Nicht, dass Violets eigene besonders ordentlich waren, doch für die Söhne ihrer Freundin war die Welt eine Leinwand, die bemalt werden musste.

„Rudy hat mir meinen alten Job angeboten“, berichtete sie und versuchte, ihre zerzausten Locken mit den Fingern in Form zu bringen. „Sobald der Gasthof wieder eröffnet werden kann. Offenbar will er ihn komplett renovieren. Dabei kann ich auch schon helfen, wenn ich will.“ Betsy hörte nur mit einem Ohr zu. „Außerdem kann ich in die Wohnung über der Garage einziehen.“

Erst jetzt starrte ihre Freundin sie an. „Nimmst du an?“

„Ich habe ihm gesagt, ich denke darüber nach. In ein paar Tagen hast du dein Haus wieder für dich.“

„Habe ich mich je über euch beklagt?“, entgegnete Betsy mit gespielter Entrüstung. „Und wenn es nicht klappt, kannst du jederzeit wiederkommen und bleiben, solange du willst.“

Was heißen sollte, dass Betsy die hundertfünfzig Dollar vermissen würde, die Violet ihr als „Miete“ zahlte.

„Wirklich, ich weiß nicht, wie ich es die letzten sechs Monate ohne dich geschafft hätte.“ Violet meinte es wirklich ernst und drückte Betsy dankbar die Hand.

Betsy schaltete den Fernseher aus und lächelte verschmitzt. „Ich habe durchs Fenster einen Blick auf diesen Rudy geworfen. Sieht er aus der Nähe genauso gut aus?“

Violet hatte mit der Frage gerechnet. Joey war eher der Teddybärtyp – lange Arme, rundlich, ein wenig zottig. Sie zuckte mit den Schultern, obwohl die Erinnerung an Rudys athletische Figur ein allzu vertrautes Kribbeln an allzu lang Vernachlässigtes auslöste. „Tut er wohl, nehme ich an. Obwohl er kein hübscher Kerl ist. Alles ist, wo es sein sollte, aber nichts Ungewöhnliches.“ Außer den Augen, dachte sie. Die konnten so manche Frau dazu bringen, alles zu tun, was er wollte. „Ein kräftiger Bursche. War mal Polizist. In Springfield.“

„Massachusetts?“

„Ja.“

„Ein Flachländer, was?“ Betsy strich ihrem schlafenden Sohn das Haar aus der Stirn. „Was hat ihn dazu gebracht, in diese Einöde zu ziehen?“

„Keine Ahnung. Aber ich wette Dollars gegen Donuts, dass er nicht bleibt.“

„Warum nicht?“

„Weil sie nie bleiben“, antwortete Violet nur.

„Du hast was getan?“, rief Stacey schrill und keinen halben Meter von Rudys Ohr entfernt, als er sie zwei Tage später zu ihrer neuen Schule fuhr. Natürlich war sie stinksauer gewesen, dass sie schon heute hinmusste, bis er sie darauf hingewiesen hatte, dass sie dadurch um das Entfernen der alten Tapeten herumkam.

Trotz der bitteren Kälte war es ein herrlicher Tag. Mit einem wolkenlosen, azurblauen Himmel, von dem die Sonne durch die kahlen Bäume schien und den Schnee glitzern ließ. Im Gasthaus gab es wieder Strom, am Nachmittag wurde Heizöl geliefert, das Telefon sollte morgen angeschlossen werden, und seit gestern füllte sich der neue Müllcontainer mit Linoleum, trostlosem Teppichboden und allem, was bei der Geschmacksprüfung mindestens zwei Gegenstimmen erhielt.

Violet hatte sich noch nicht gemeldet, aber sie hatte bis morgen Zeit, also gab er die Hoffnung nicht auf.

Okay, vielleicht war Hoffnung nicht der richtige Ausdruck. Zuversicht passte vielleicht besser.

Und wenn schon, er war schließlich kein Wörterbuch. Er wusste nur, dass ihre großen grau-grünen Augen, die blasse Haut, ihr Duft und ihre ganz offensichtlich angeschlagenen Gefühle ihm einfach nicht aus dem Kopf gingen. Wenn sie sein Angebot annahm, wurde die Lage vermutlich wesentlich komplizierter, als er es im Moment gebrauchen konnte.

Denn nachdem er an dem Abend mit ihr zusammen im Wagen gesessen hatte, war Rudy nicht mehr sicher, wie lange er noch auf weibliche … Gesellschaft verzichten konnte. Die Art von Gesellschaft, gegen die manche Leute – er warf seiner schmollenden Tochter einen Blick zu – wahrscheinlich etwas einzuwenden hatten. Aber mit dem Problem wollte er sich befassen, wenn es anstand.

Er hatte Stacey erzählt, dass er Violet einen Job angeboten hatte. Und die Wohnung. Wenn sie ablehnte, gab es doch keinen Grund zur Aufregung, oder?

„Beruhige dich, Stacey“, sagte er sanft. „Das hat mit deinem Leben gar nichts zu tun.“

„Nein?“, entgegnete sie empört. Erst jetzt fiel Rudy ein, dass die Richter-Skala, nach der junge Mädchen die Auswirkungen auf ihr Leben bemaßen, ungefähr hundert Mal empfindlicher war als bei anderen Menschen. „Als wäre es nicht schlimm genug, dass wir mitten in diesem beschissenen Winter …“

„Erstens möchte ich das Wort beschissen aus deinem Mund nicht hören. Weil ich es dir verboten habe“, fügte er hinzu, bevor sie widersprechen konnte. „Außerdem habe ich es dir erklärt. Wir müssen das Haus in Ordnung bringen, damit ich Reservierungen für das Frühjahr und den Sommer annehmen kann. Wenn ich Glück habe, bringen die mir genug Geld ein, um die Fenster und die Heizung zu ersetzen. Ich hatte keine andere Wahl, Stacey …“

„Natürlich hattest du die, Dad! Niemand hat dich gezwungen, den Gasthof zu kaufen! Oder Springfield zu verlassen! Oder diese Frau, die wir nicht mal kennen, zu uns einzu­laden …“

„Verdammt, Stacey, es reicht!“

Rudy erschrak über sich selbst. Er schrie seine Tochter nur selten an und hatte noch nie die Hand gegen sie erhoben. Aber wenigstens hatte er ihre Aufmerksamkeit.

Er holte tief Luft. Ein Mal, zwei Mal. „Ich weiß, dass das hier für mich eine Riesenchance ist. Aber für dich sieht es so aus, als hätte ich dein Leben ohne Grund auf den Kopf gestellt.“ Er betrachtete ihr Profil. „Liebling, von der Minute deiner Geburt an war dein Leben auch meines. In vielerlei Hinsicht ist es das auch jetzt noch. Aber manchmal darf man sich eine Gelegenheit nicht entgehen lassen …“ Er umklammerte das Lenkrad. „Ich wusste, wenn ich sie nicht nutze, werde ich es für den Rest meines Lebens bereuen.“

„Was ich davon halte, ist also unwichtig?“

„Das habe ich nicht gesagt. Natürlich ist mir wichtig, was du denkst. Gib dieser Sache eine Chance, Stace. Gib mir eine Chance. Länger als zwei Tage.“

„Wie lange?“

„Ein Jahr.“

„Ein Jahr? Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Doch. Und wenn es nicht klappt, verkaufe ich, und wir ziehen zurück nach Springfield.“

Seine Tochter legte einen gestiefelten Fuß aufs Armaturenbrett. „Versprichst du das?“

„Ich schwöre es. Und nimm den Fuß runter.“ Mit einem dramatischen Seufzer gehorchte sie. „Also? Abgemacht?“

„Ja. Was bleibt mir anderes übrig?“

„Gut. Und jetzt zu Violet“, sagte Rudy, und Stacey ließ den Kopf nach hinten fallen. „Sie wird nicht mit dir den Schrank teilen, und ich brauche eine Köchin.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Es sei denn, du willst um sechs aufstehen und das Frühstück für die Gäste machen.“ Entsetzt riss sie die Augen auf. „Ja, das dachte ich mir.“

„Aber sie hat Kinder, Dad“, sagte Stacey, als wäre das allein schon eine Katastrophe.

„Ja, sie hat Kinder. Na und?“

Sie verdrehte die Augen.

„Okay, Stace. Zum einen hat sie noch nicht Ja gesagt. Zum anderen … seit wann magst du keine Kinder?“

Sie starrte ihn an, als wäre er ein Außerirdischer. „Wie kommst du darauf, dass ich sie jemals mochte?“

Rudy gab nicht auf. „Mit deinen Cousins und Cousinen schienst du dich immer ganz gut zu verstehen.“

„Sicher. Die muss ich auch mögen.“

„Unsinn – du liebst die Knirpse, das weißt du. Und an Thanksgiving warst du verrückt nach der kleinen Haley.“ Genau wie alle anderen in der Familie. „Du hast fast den ganzen Tag mit ihr gespielt.“

Stacey strich sich das frisch gewaschene Haar hinters Ohr. Erstaunlich, was seine entschlossene Tochter mit einem Holzofen, einem Kessel und Wasser bewirken konnte. Das Ohr war von der Kälte gerötet, und am Läppchen baumelte die Kreole, die sie von Mia, seiner Schwester und Haleys neuer Stiefmutter, geschenkt bekommen hatte. „Haley ist ein Mädchen.“

„Und?“

„Kleine Mädchen sind süß. Kleine Jungs …“ Sie schüttelte sich.

„Du bist freiwillig mit Julian in den Waschraum gegangen, als wir im Restaurant waren.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mit ihm zusammenleben will! Und falls es dir entgangen ist, Violet hat ernste Probleme.“

„Die größtenteils daher stammen, dass sie geglaubt hat, sie würde den Gasthof erben.“

Vor ihnen bog ein Schulbus von der Straße ab und steuerte einen roten, von hohen Bäumen umgebenen Backsteinbau aus den Sechzigerjahren an. „Genau“, sagte Stacey und starrte gespannt hinüber. „Du bietest ihr einen Job in dem Haus an, das sie erben wollte, und erwartest, dass es funktioniert? Sag mal, Dad?“

Das Kind ist entschieden zu schlau, dachte Rudy.

„Was denn?“

„Das hier kann unmöglich die richtige Schule sein. Sieh dir all die kleinen Kinder an!“

Rudy hielt auf dem Besucherparkplatz und stellte den Motor ab. „Es ist nicht die falsche Schule“, erwiderte er. „Hier ist alles vom Kindergarten bis zur achten Klasse untergebracht.“

„Ich soll mit den Babys zur Schule gehen?“

Bitte, lieber Gott. Lass uns die nächsten sechs Jahre oder so einfach im Zeitraffer durchlaufen.

Vor sich hinmurmelnd, dass ihre neuen Schulkameraden vermutlich noch auf den Topf mussten, ließ seine Tochter sich ins Schulbüro führen. Erst als die Sekretärin ihm die Formulare für die Anmeldung aushändigte, wurde ihm klar, dass Stacey nicht ganz unrecht hatte.

Wie sollte Violet bei ihm glücklich werden, als Angestellte in einem Gasthaus, das sie zu erben gehofft hatte? Sicher, sie hatte es verkaufen wollen, aber trotzdem …

„So, bitte schön.“ Johnnie, so stand es auf ihrem Namensschild, gab ihm Staceys Impfpass und die Geburtsurkunde zurück. Er überflog die Formulare, die er gerade ausgefüllt hatte, und lächelte zu Stacey hinüber, die an der Tür auf einem Plastikstuhl saß, an einem Fingernagel kaute und aussah, als hätte sie gerade erfahren, dass iPods verboten worden waren. „Kein Hausarzt?“, fragte die Sekretärin.

„Wir sind gerade erst hergezogen.“

Die grauhaarige Lady strahlte ihn an. „Ich kann Ihnen eine Liste unserer Ärzte und Zahnärzte geben, wenn Sie möchten.“

„Danke, das wäre sehr hilfreich.“

„Oh!“ Sie hob den Kopf. „Sie sind der Mann, der den Gasthof der Hicks gekauft hat?“

„Der bin ich.“

Johnnie verschränkte die Arme. „Es war mal so schön dort. Als die beiden noch am Leben waren, meine ich. Aber als Creighton, der Ehemann von Doris, krank wurde, ging es bergab. Sie schaffte es einfach nicht allein. Damals mussten die Gäste ein Jahr im Voraus reservieren. Ich weiß, wir sind hier ein wenig abseits, aber es gibt viel zu erleben. Die Schlachtfelder, die Museen und das Kunstfestival im Sommer. Zum Skilaufen müssen Sie natürlich hoch in den Norden, aber wir haben hier überall Wanderrouten …“

Sie lachte. „Ich klinge wie ein Prospekt, was? Aber es wäre wirklich schön, wenn der Gasthof wieder zu neuem Leben erwacht.“

„Ich werde mein Bestes tun“, versprach Rudy lächelnd.

„So, Stacey.“ Johnnie winkte ihr zu. „Ich bringe dich zur stellvertretenden Direktorin. Sie wird sich um dich kümmern.“

Stacey stand auf wie eine Todeskandidatin, und Rudy fragte sich, ob er sie zu sehr behütet hatte. Vielleicht hätte er ihr mehr neue Erfahrungen zumuten müssen. Sie sah ihn an. Wehe, du umarmst mich jetzt, sagte ihr Blick.

„Ich bin zurück um …“ Er schaute zur Sekretärin hinüber.

„Drei“, ergänzte sie und streckte den Arm aus, um Stacey zu ihrer Chefin zu bringen. Seine Tochter machte zwei Schritte auf sie zu, Rudy einen in Richtung Ausgang, bevor Stacey herumwirbelte, die Arme um seine Taille schlang, ihn sofort wieder losließ und blitzschnell verschwand.

Verblüfft verließ er das Gebäude und fragte sich auf dem Weg zwischen den Kindern hindurch, wie lange er seine Tochter auf die Folter spannen durfte. Wie lange er sie unter Heimweh und dem Verlust ihrer Freunde und gewohnten Umgebung leiden lassen konnte, bevor er nachgab?

Und was, wenn es ihm nicht gelang, den Gasthof wieder in Schwung zu bringen? Begeisterung war ja gut und schön, aber vielleicht war er etwas zu naiv an dieses Projekt herangegangen. Sicher, er hatte ein paar Kurse gemacht und alles gelesen, was er über Frühstückspensionen zwischen die Finger bekam, aber …

„Rudy?“

Überrascht drehte er sich um und schaute in Violets sommersprossiges Gesicht, von kupferfarbenen Locken umrahmt, die sich auf den formlosen Daunenmantel ergossen. Im Sonnenlicht war sie … unglaublich. Er musste sich beherrschen, um sie nicht anzufassen und sich daran zu erinnern, wie eine Frau sich anfühlte. Welches Verlangen sie in ihm wecken konnte.

„Ich habe nach Ihnen gerufen“, sagte sie. „Haben Sie mich nicht gehört?“

Er schüttelte den Kopf. „Die ganzen Kinder … waren so laut.“

Ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Rudy? Es hat vor fünf Minuten geläutet.“

Rudy schaute sich um. Der Pausenhof war menschenleer. Was war los mit ihm? „Ihre Kinder gehen auch auf diese Schule, nehme ich an.“ Etwas Intelligenteres fiel ihm nicht ein.

„George ja. Julian ist noch zu klein“, erwiderte sie und schaute über die Schulter zu dem mit Schlammspritzern übersäten Kombi hinüber, dem man die vielen Winter in Neuengland deutlich ansah. In einem der hinteren Fenster tauchte Julians strahlendes Gesicht auf. Sie winkte ihm zu. „Hat Ihre Tochter sich schon eingewöhnt?“

„Sie ist zwölf. Sich einzugewöhnen, ist nicht gerade ihre Stärke.“

Violet lächelte. Der Sonnenschein spielte mit ihren Locken, und Rudy dachte daran, wie gern auch er damit spielen würde. In dem Moment, in dem er sich sagte, dass er jetzt eine rebellische Tochter und einen maroden Gasthof hatte, schob sich eine Wolke vor die Sonne.

„Die Schule ist in Ordnung“, sagte Violet. „Stacey wird Freunde finden.“ Ihr Mantel öffnete sich leicht, als sie tief durchatmete, und regte Rudys Fantasie an. Er konnte sich gut vorstellen, wie weich und warm Violets Körper unter den dicken Daunen war …

„Ich wollte Sie nachher anrufen, aber wenn Sie schon hier sind … Meine Antwort lautet Ja. Zu dem Job. Na ja, eigentlich zu allem. Zum Kochen, Renovieren … was auch immer, ich bin Ihr Mädchen.“

So solltest du es vielleicht nicht formulieren, dachte Rudy, den Blick auf eine Locke gerichtet, die aufreizend ihren Mund umspielte. „Sind Sie sicher?“

Sie schaute wieder zu Julian hinüber. „Ja, das bin ich. Wir tun alles für unsere Kinder, nicht wahr? Wir stellen ihre Bedürfnisse vor unsere eigenen, meine ich.“

Als sie sich umdrehte, schaute er tief in ihre Augen, die so wachsam und ehrlich zugleich blickten. Wie lange war es her, dass er sich seine eigenen Bedürfnisse auch nur eingestanden hatte? Und musste er ausgerechnet jetzt daran denken? Jetzt, da seine Tochter ihn für einen egoistischen Mistkerl hielt, der ihr junges Leben ruiniert hatte? Noch ist Zeit. Du kannst Violet wegschicken, ihr sagen, dass du einen Fehler gemacht hast …

„Rudy? Geht es Ihnen gut?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ja, alles in Ordnung“, log er.

„Okay. Wann soll ich anfangen?“

„Sofort“, erwiderte er und überraschte sie beide.

„Oh. Ja, warum nicht?“ Violets Lächeln fiel ein wenig zittrig aus. „Schließlich habe ich nichts anderes zu tun, oder? Dann treffen wir uns am Gasthof.“

Rudy sah ihr nach, als sie davonging wie ein langer Wintermantel mit Füßen. Du meine Güte, was mache ich bloß?

4. KAPITEL

Mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen betrat Violet den Gasthof. Vor ihr rannte Julian hinein, während Rudy ihr folgte. So dicht, dass sie seine Wärme spüren und sein Aftershave riechen konnte, und ihre Nervosität hatte auch damit zu tun, dass er eine Hand locker um ihren Ellbogen gelegt hatte. Die zufällige Begegnung auf dem Parkplatz der Schule war zwanzig Minuten her, aber noch immer spürte sie seinen forschenden Blick.

Denn seine Augen hatten viel mehr verraten, als ihm vermutlich bewusst war.

Oder wusste er es?

Auf jeden Fall war ihr trotz der Kälte so warm geworden, dass sie sich fast Luft zugefächert hätte.

„Okay“, sagte Rudy, als sie mitten im Vorraum stehen blieben. „Vergessen Sie nicht, hier wird gerade renoviert.“

Violet öffnete die Augen und schrie auf.

Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der Raum war leer, die Fenster so nackt wie der Holzfußboden. Die Tapete – oder was davon übrig war – sah aus, als hätte eine Riesenkatze ihre Krallen hineingeschlagen. Um an die Enten zu kommen.

Sie hatte die Enten geliebt. Na ja, geliebt vielleicht nicht, denn sie waren furchtbar hässlich gewesen. Aber sie hatten immer etwas Beruhigendes gehabt, etwas Beständiges in einer unberechenbaren Welt.

„Sie haben die Enten umgebracht!“, rief sie und griff unwillkürlich nach Julians Hand.

„Stimmt!“ Rudy schien gar nicht zu merken, wie erschüttert sie war. Er ging in die Hocke und strich über den Fußboden, an dem noch Reste des Belags klebten. „Das ist Eiche. Genau wie die Täfelung! Und die Lichtschalter sind aus Messing! Und sehen Sie sich an, wie hell es ohne die grässlichen Vorhänge ist! Und es ist warm, dabei brennt kein Feuer. Passive Solarheizung … Und dann das hier!“

Er nahm ihre Hand und zog sie in die Küche. „Die Schränke sind aus Kirsche! Haben Sie eine Ahnung, was die neu kosten? Ich muss neue Fliesen legen, aber können Sie sich vorstellen, wie es hier aussieht, wenn die Armaturen ausgewechselt und die Schränke aufgearbeitet sind?“

Endlich erholte sie sich so weit vom Schock, dass sie Rudy zuhören konnte. Und zusehen. Er strahlte übers ganze Gesicht. Wie ein Kind, dachte sie erleichtert. Er liebte das alte Haus so sehr wie sie. Violet setzte sich auf einen der wackligen Stühle, schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

„Mommy?“ Besorgt tätschelte Julian ihr den Rücken. Sie zog ihn an sich und versicherte ihm, dass es ihr gut ginge, dann hob sie den Kopf. Rudy starrte sie entsetzt an. Rudy, der das Haus liebte und sah, was wieder daraus werden konnte.

„Alles in Ordnung“, sagte sie zu ihm und wischte sich halb lachend die Tränen ab. Was musste er von ihr denken? Wie aus dem Nichts tauchte ein mit Wasser gefüllter Bob-der-Baumeister-Becher vor ihr auf.

„Der ist vom Geburtstag meiner Neffen“, erklärte er, bevor er zur Arbeitsfläche ging und den Deckel von einer Dose nahm. Der Duft von richtiger Butter, braunem Zucker, Nüssen und Zimt stieg ihr in die Nase. „Ma ist Ungarin – sie ist dort geboren. Sie verbringt den ganzen Monat zwischen Thanksgiving und Weihnachten mit Backen. Das reicht mindestens bis Ostern.“ In der Dose lagen nur noch ein halbes Dutzend Kekse, kleine Kunstwerke aus Teig, Schokolade und glitzerndem Zucker.

„Ich kann doch nicht …“

„Wir haben noch drei volle Dosen“, unterbrach Rudy sie fast flehentlich. „Glauben Sie mir, Sie tun uns einen Gefallen.“

Julian umklammerte ungeduldig ihren Arm.

„Nimm dir ruhig einen“, sagte sie, und seine großen Augen leuchteten, als er sich einen halbmondförmigen, mit Puderzucker bedeckten Keks nahm.

„Wo ist Ihr Bruder?“, fragte Violet, während sie sich ebenfalls einen Keks nahm, dessen intensiver Geschmack ihr fast den Atem verschlug. Kauend zog sie den Mantel aus und betrachtete die vier Exemplare, die einsam auf dem Boden der Dose lagen.

„Der holt Material“, erwiderte Rudy und nahm sich ebenfalls einen Keks. Da waren es nur noch drei. Julian schaute seine Mutter fragend an, sie nickte, und schon waren es nur noch zwei. „Um den Fußboden abzuschleifen. Laut Wetterbericht wird es wärmer, also können wir die Fenster öffnen.“

Kaffee, dachte sie mit einem der beiden letzten Exemplare zwischen den Zähnen und ging zu dem alten grünen Kühlschrank. Er enthielt eine Dose mit Kaffee, Milch, Orangensaft und drei Becher Joghurt. Nachmittags gibt es immer Tee und Kaffee und die leckeren Kekse seiner Mutter, dachte sie, während sie den würzigen Kaffee in den Filter löffelte und sowohl die Sonne als auch Rudys Blick ihren Rücken wärmten.

„Hat Ihre Tochter sich schon ein wenig eingewöhnt?“

Violet spürte, dass entweder die Sonne hinter einer Wolke verschwunden oder die Frage ein echter Testosteron-Killer war.

„Warum wollen Sie das wissen?“, entgegnete Rudy.

„Na ja, Sie haben so etwas erwähnt, und im Restaurant sah sie nicht besonders begeistert aus. Aber ich weiß, das Alter ist die Hölle.“

Bei ihr war es auch aus anderen Gründen die Hölle gewesen. Sie öffnete den Schrank, in dem früher die Tassen gestanden hatten. Er war leer.

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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